Feuer & Gold - Sarah Beth Durst - E-Book

Feuer & Gold E-Book

Sarah Beth Durst

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Beschreibung

Spannende Drachenfantasy mit viel Magie und Romantik

Die 16-jährige Sky gehört zu einer angesehenen Familie von Drachen in Menschengestalt, die angeblich nicht mehr ihr ursprüngliches Aussehen annehmen können. Nur die Fähigkeit, Feuer zu speien, und die Gier nach hochkarätigem Gold sind noch vorhanden. Bis zu dem Tag, an dem ihre Mutter verschwindet, führt Sky ein sorgloses Leben. Doch jetzt ist alles anders: Die Familie verliert auf Beschluss des Drachen-Rates Vermögen und gesellschaftlichen Rang. Sky erträgt nicht, dass Vater und Brüder alle Demütigungen hinnehmen. Sie will wissen, was passiert ist! Hat ihre Mutter ein Verbrechen begangen? Warum hat Skys Freund Schluss gemacht? Ein erster eigener Raubzug soll Licht ins Dunkel bringen ...

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Seitenzahl: 412

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SARAH BETH DURST

Aus dem Englischen

von Bettina Obrecht

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung,

da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf

deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

© Sarah Durst, 2018

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Fire & Heist«

bei Penguin Random House LLL, New York

© 2020 für die deutschsprachige Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem Amerikanischen von Bettina Obrecht

Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski, Saarbrücken

unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com

(Dmitry Arhar, Jojo Textures, Reymo, estevez, Audy 39 (2x), SW Eril)

hf • Herstellung: UK

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-24341-8V001

www.cbj-verlag.de

KAPITEL 1

Gold. Elementsymbol im Periodensystem: Au. Position in Nuklidkarte: 79. Definition im Lexikon: »ein rötlich gelb glänzendes Edelmetall.«

Und man könnte sagen, meine Familie ist besessen von Gold. Zum 40. Geburtstag meiner Mutter gab mein Vater ein Klavier mit Tasten aus 24-karätigem Gold in Auftrag. Der Flügel ist vollständig mit Blattgold überzogen, das kitschigste Instrument, auf dem jemals gespielt worden ist. Nachdem meine Mutter verschwunden war, hat mein Vater versucht, es mit einem Hammer kurz und klein zu hauen, aber mein ältester Bruder konnte ihm das ausreden. Also begnügte er sich damit, die Doppeltüren zum Musikzimmer zu versiegeln.

All das erklärte nur ansatzweise, warum ich gerade kopfüber am Kronleuchter in der Eingangshalle baumelte und inständig hoffte, die Kette, an welcher der Leuchter befestigt war, würde nicht reißen.

Eigentlich hatte ich an diesem Samstagabend ausgehen wollen. Mein Herz war gerade gebrochen worden und ich hoffte auf Linderung der Schmerzen.

In unserer Familie kursieren nämlich Geschichten aus jenen Dunklen Zeiten, in denen wir jagten und gejagt wurden – Geschichten, die davon erzählen, dass unsere Vorfahren sich die Bäuche mit Hirschfleisch vollschlugen, einander mit aufwühlenden Schilderungen über ihre Heldentaten beglückten und dabei das Hab und Gut ihrer verflossenen Liebhaber verbrannten – hin und wieder auch den Liebhaber selbst. Also hatte ich beschlossen, mich auf meine Wurzeln zu besinnen, große Mengen Popcorn mit Butter hinunterzuschlingen, mir dabei einen Actionfilm ohne jegliche Romantik anzusehen und anschließend alles, was mich an meinen Ex-Freund Ryan erinnerte, auf unserem Gartengrill zu verbrennen.

Ich lud Gabriela ein (eine Nicht-Wyvern, die im Fach Wyvern-Geschichte der Neuzeit neben mir sitzt), um nicht ganz allein zu sein. Meine früheren Freunde hatten sich zum selben Zeitpunkt von mir losgesagt wie Ryan. Ich hatte mir eine Kino-Eintrittskarte und einen Eimer voll Popcorn gekauft. Und dann schaffte ich es doch nicht. Ich floh aus dem Kino, ließ Gabriela und das Popcorn im Stich, nahm meine Erinnerungsstücke aber mit: eine Glückwunschkarte zum Valentinstag, die den Ententanz dudelte, ein Foto aus einem Fotoautomaten vom Vergnügungs-Pier in Santa Monica – wir befanden uns damals zu Besuch in unserer kalifornischen Hochburg – und die perfekte (Mini-)Kopie einer Drachenklaue aus Gold mit passender Goldkette. Ryan hatte sie mir zum Geburtstag geschenkt, nur wenige Wochen, bevor er beschlossen hatte, unsere langjährige Freundschaft und unser monatelanges, hingebungsvolles Geknutsche zu beenden. Auf dem Heimweg trug ich die Kette unter meinem T-Shirt verborgen, direkt auf meinem dämlich sentimentalen Herzen.

Ich hatte mich darauf gefreut, mich im leeren Haus ganz meinem Kummer hingeben zu können: laut seufzen, völlig schräg traurige Lieder mitsingen, den Schlafanzug auf links gedreht tragen, weil man viel zu traurig ist, um ihn umzudrehen. Und das alles wollte ich tun können, ohne mir einen Kommentar von meinen Brüdern anhören zu müssen. Keiner von ihnen hat auch nur das geringste Verständnis für anständigen Liebeskummer. Es ist leider auch unmöglich, ihnen aus dem Weg zu gehen, obwohl unser Haus wirklich riesig ist und sechs Schlafzimmer und acht Bäder hat. Keine Ahnung, wofür so viele Bäder gut sind. Mein Bruder Liam, einer der Zwillinge, behauptet, einer unserer Großväter habe eine Schwäche für Sanitärinstallationen gehabt. Angeblich kannte er die aus Heimat nicht und war gerade erst in der Verbannung angekommen. Liam sagt, unser berühmter Großvater habe goldene Badezimmerarmaturen gekauft, dann aber panische Angst vor Dieben bekommen und sie deswegen alle versteckt. Unter den Dielenbrettern eines der sechs Schlafzimmer schlummert also vermutlich ein Vorrat an Wasserhähnen aus purem Gold. In den Sommerferien habe ich mal danach gesucht, hatte aber kein Glück. Es kann gut sein, dass Liam gelogen hat. Es hat seine Freude daran, mich auf die Schippe zu nehmen.

Jedenfalls kam ich nach Hause, schloss die Tür auf, schleuderte die Schuhe von den Füßen, schob die Riegel vor und stellte die Alarmanlage wieder scharf. Dann durchsuchte ich den Kühlschrank nach Resten vom China-Imbiss. Mit einem Karton gebratener Nudeln in der Hand wanderte ich gerade die hintere Treppe zu meinem Zimmer hoch, als ich von der Vorderseite des Hauses her das leise Klirren von zerbrechendem Glas hörte. Ich blieb wie angewurzelt stehen.

Im Geist ging ich alle Möglichkeiten durch: Jemand hat ein Glas fallen lassen (unmöglich, es war ja niemand zu Hause). Irgendein Nippes war in der Nähe einer Kante abgestellt worden und nun von alleine heruntergefallen (möglich, denn wir besitzen jede Menge Nippes). Oder ein Einbrecher hatte sich Zutritt verschafft (unwahrscheinlich, weil der Alarm nicht losgegangen war). Ich war mir sicher, dass die zweite Überlegung zutraf, aber wir sind zu übergroßer Vorsicht erzogen. Also umklammerte ich meinen Nudelkarton und rannte bis ganz nach oben in den Sicherheitsraum.

Der hochflorige Teppich dämpfte meine Schritte. Ich blieb vor der Tür stehen und drückte meinen Finger auf das ID-Feld. Die Tür entriegelte sich nicht. Ich versuchte es mit einem anderen Finger. Nichts klickte, kein Erkennen. Allmählich wurde mir das doch unheimlich. Ich packte die Türklinke und die Tür schwang einfach auf. Alle Überwachungsbildschirme im Raum zeigten nur unbewegte Bilder.

Der Nudelkarton rutschte mir aus der Hand und klatschte auf den Boden. Die Nudeln verteilten sich auf dem Teppich. Ich hechtete los und schlug mit der flachen Hand auf den Hauptalarm.

Stille. Kein rotes Blinklicht. Keine Sirene.

Ich schnappte mir das Telefon. Dieselbe Stille. Und im ganzen Haus gab es kein Handy. Die benutzen wir nicht, weil es zu einfach ist, diese Dinger zu hacken und zu orten.

Ich wusste genau, was ich eigentlich als Nächstes tun musste: mich in den Schutzraum begeben, die Tür dreimal verriegeln und ausharren, bis mein Vater nach Hause kam und ich die Entwarnung hörte. Wir hatten das Dutzende Male geübt. Im Lauf der Jahre hatten meine Brüder und ich unsere Lieblingssnacks und -spiele im Schutzraum gebunkert, um uns während eines längeren Probealarms die Zeit zu vertreiben. Aber das hier war keine Übung und meine Brüder waren nicht zu Hause. Also tat ich etwas Dummes. Ich stand im Schutzraum mitten in den Nudeln, flimmernde Bildschirme vor mir – und verlor die Beherrschung.

Ich heiße Sky Hawkins. Meinen Nachnamen kennt Ihr vielleicht aus der Zeitung oder aus dem Fernsehen. Wir sind Wyverns, entfernt verwandt mit König Atahualpa (der das Inkareich rettete), Sir Francis Drake (der Pirat, den die englische Königin zum Ritter schlug) und mit dem Typen, der den kalifornischen Goldrausch auslöste und dem, der den Goldrausch beendete. Wir sind Milliardäre, die die Hälfte ihres Vermögens an einen Aktienbetrüger verloren, und Promis, deren Mutter während des Skandals verschwand. Und ich war die jüngste Debütantin, mit der ihr Freund in diesem Chaos in aller Öffentlichkeit Schluss gemacht hat, genau am letzten Tag der Abrechnung. Es war ein beschissener Monat gewesen und ich hatte absolut keine Lust, jetzt auch noch »zu Hause ausgeraubt« auf die Liste all der Dinge zu setzen, die schiefgelaufen waren.

Wenn ich die Beherrschung verliere, explodiere ich nicht, sondern schrumpfe zusammen. Die Welt zieht sich um mich und demjenigen, der mir etwas angetan hat, ganz eng zusammen. Die Zeit scheint langsamer zu vergehen und alles leuchtet hell und sieht gestochen scharf aus. Tunnelblick nennt mein Vater das.

Mein Herzschlag beschleunigte sich. Adrenalin schoss durch meine Adern. Aber ich fühlte mich ganz ruhig, als würden Vergangenheit und Zukunft nicht mehr existieren und es gäbe nur noch diesen Moment – ich hier oben, der Eindringling (oder die Eindringlinge) unten.

Ich bückte mich nach meinen Essstäbchen (denn jede Waffe ist besser als gar keine) und schlich den Flur entlang in Richtung Treppenhaus. Meine Schritte waren unhörbar. Der Teppich ist so dick und ich war barfuß. Oben an der Prunktreppe hielt ich an und lauschte: Keine Schritte. Keine Stimmen. Kein weiteres Splittern von Glas.

Die Treppenstufen knarrten unter Umständen, wenn man nicht wusste, wo man den Fuß aufsetzen musste – ich wusste es aber, denn ich hatte es oft geübt, wenn ich mir einen Mitternachtssnack aus der Küche holte. Ich schlich die geschwungene Treppe hinunter und ließ meinen Blick durch die Eingangshalle wandern. Nur wenig Licht brannte. Strahler waren auf die Lieblingsstatuen meines Vaters und auf Bildnisse unserer berühmteren Vorfahren gerichtet. Schatten zogen sich kreuz und quer über den Kachelboden. Die Scheiben zu beiden Seiten der breiten Eingangstür waren intakt und die Tür noch immer verschlossen und dreifach verriegelt.

Ich duckte mich in den Schatten und kroch durch die Eingangshalle zum Esszimmer hinüber. Keine Eindringlinge. Keine zerbrochenen Fensterscheiben. Ich durchquerte die Eingangshalle erneut, warf einen Blick in den vorderen Salon – auch hier kein Anzeichen für ein gewaltsames Eindringen. Dann überprüfte ich die Kellertür, aber der Riegel war unberührt. Seltsam. Sehr seltsam. Der Eindringling kannte unser Sicherheitssystem und wusste, wie er es ausschalten konnte. Angesichts dieser Tatsache musste ich davon ausgehen, dass er auch den Grundriss unseres Hauses kannte und wusste, in welchem Raum sich die wertvollsten Objekte befanden. Aber der Dieb hatte weder die Porzellanvitrine mit den goldenen Tellern angerührt, noch war er in den Weinkeller hinabgestiegen, der zur Schatzkammer führte. Und er hatte keines der Schlafzimmer nach persönlichem Schmuck durchwühlt. Er hatte sich die Vorderseite unseres Hauses ausgesucht. Und hier befanden sich nur die Eingangshalle, das Esszimmer, der vordere Salon … und das Musikzimmer. Moms Flügel.

Auf keinen Fall würde ich zulassen, dass jemand das Instrument stahl.

Dad sagt immer, einen Raubzug durchzuführen, sei so ähnlich wie Schach spielen: Du durchdenkst jede Möglichkeit und hast immer einen Plan B. Einen Raubzug zu verhindern, ist allerdings etwas anderes. Ich musste improvisieren. Ich hasse es, wenn ich improvisieren muss.

Vorsichtig und ganz ruhig schlich ich durch die Eingangshalle und spähte durchs Schlüsselloch. Zuerst sah ich nur das Klavier selbst, das im Mondlicht funkelte. Ich dachte an Mom, wie sie Bach übte, Ton für Ton, während aus den Zimmern meiner Brüder ganz andere Musik plärrte. Ich saß dann immer gern auf dem Sofa am Fenster, machte meine Hausaufgaben und hörte ihr zu.

Ein schwarzer Schatten glitt vors Schlüsselloch. Ich zuckte zurück. Mein Herz klopfte wild, aber ich zwang mich, noch einmal hinzusehen. Ich musste wissen, womit ich es zu tun hatte. Diesmal entdeckte ich drei Männer, ganz in schwarz gekleidet mit Masken vor den Gesichtern. Zwei hoben eine Seite des Flügels hoch, der dritte schob ein Transportbrett mit Rollen unter eines der Beine. Ich duckte mich.

Drei Männer. Mit einem konnte ich fertig werden. Vielleicht mit zweien, wenn ich es klug anstellte. Aber nicht mit dreien.

Denk nach, Sky, redete ich mir zu. Denk schnell.

Die Männer hoben den Flügel auf den Rollwagen. Das bedeutete, dass sie das ganze Ding mitnehmen wollten. Da sie nicht aus dem Fenster steigen konnten – die waren viel zu schmal für einen Flügel – mussten sie die Doppeltür öffnen, die Dad versiegelt hatte. Wenn ich sie dabei aufhalten konnte … wenigstens bis jemand anderes nach Hause kam …

Ich wirbelte herum und ließ meinen Blick durch die Eingangshalle wandern. Statuen, Vasen mit Blumen, Spiegel an der Wand … Neben der Tür stapelten sich Briefe, daneben lag die Angelausrüstung meines Bruders Tuck. Es war sein neuestes Hobby, nachdem er als Bienenzüchter gescheitert war. (Im Ernst … Tuck und Bienen?) Ich stürzte mich auf Tucks Ausrüstung. Es war keine Angel dabei, aber in der Kiste befanden sich allerlei Gerätschaften, viele Meter Angelschnur und ein scheußlicher karierter Hut.

Hinter mir hörte ich ein Zischen. Ich wandte mich um und entdeckte eine längliche verkohlte Stelle in der Tür zum Musikraum. Er wurde immer länger. Zentimeter um Zentimeter zog er sich von oben nach unten. Dad hatte die Scharniere verschmolzen und nun bahnten sich die Diebe ihren Weg ins Freie.

Ich schnappte mir den Anglerhut, rannte wieder zur Tür und stülpte ihn so über den Türknauf, dass der Blick durch das Schlüsselloch versperrt war. Dann schritt ich hastig zur Tat: Ich nahm die Angelschnur und wickelte sie um die Sockel der Statuen und um einige Tisch- und Stuhlbeine. Es war ein schlichter Plan: Ich wollte die Diebe ausbremsen.

Der verkohlte Streifen erstreckte sich inzwischen über eine ganze Türseite und bewegte sich jetzt nach rechts. Blaue Flammen durchbrachen die Glut. Es sah aus, als stammten sie von einem Schneidbrenner, aber ich hätte eine Schubkarre voller Gold darauf verwettet, dass ich es hier nicht mit normalen menschlichen Dieben zu tun hatte und es sich auch nicht um eine normale Lötlampe handelte.

Das hier waren Wesen wie wir. Wyverns, Wer-Drachen, also entfernte Nachkommen der (ausgestorbenen) mächtigen Drachen aus alter Zeit, die einst die Himmel von Heimat beherrscht hatten. Mit anderen Worten: Die Männer waren gefährlich.

Spätestens jetzt wäre es an der Zeit gewesen, mich im Schutzraum zu verstecken. Aber ich zögerte immer noch. Die Angelschnur brachte sie vielleicht zu Fall (bestenfalls) oder hielt sie ein paar Minuten auf (zweitbester Fall), aber sie würde sie nicht stoppen. Hätte ich nur einen Alarm auslösen können …

Da hatte ich eine Idee. Wäre ich eine Comic-Figur, hätte über meinem Kopf eine Glühbirne aufgeleuchtet.

Die komplette Alarmanlage wurde von einem einzigen Computersystem gesteuert. Aber wir hatten auch ganz normale, batteriebetriebene Rauchmelder, die mein Vater immer verfluchte, wenn die Batterien leer waren und sie zu piepsen begannen. Wir brauchten keine teuren Geräte, denn vor Feuer haben wir keine Angst, nur vor Diebstahl. Einer der Rauchmelder hing an der Decke der Eingangshalle, neben dem Kronleuchter.

Ich rannte die Treppe hoch und erklomm das Geländer. Der riesige Kronleuchter hing nur etwas mehr als einen Meter neben mir, so nah, dass man die Glühbirnen auswechseln konnte. Der Rauchmelder befand sich ein Stück dahinter. Ich packte einen der goldenen Arme des Kronleuchters und stellte mich darauf. Er schaukelte unter meinem Gewicht.

Langsam schob ich mich näher an den Rauchmelder heran. Jetzt musste ich ihn nur noch auslösen. Ich brauchte etwas, was ich anzünden konnte. Ich wühlte in meiner Tasche nach den Essstäbchen.

Du kannst das schaffen, redete ich mir gut zu. Atme. Bleib ruhig. Zentriere dich.

Ich versuchte, mir die Anweisungen in Erinnerung zu rufen, die mir eingebläut worden waren. Nimm die Flamme ganz tief aus deinem Inneren, denke an Wärme, glaube an die Hitze. Und träum davon, dass du in deiner wahren Gestalt in den Himmel fliegst, mit deinen eigenen Flügeln. Spüre die Sonnenstrahlen auf deinen Schuppen, die Welt unter deinen Klauen.

Ich formte ein O mit den Lippen und stieß einen feinen Feuerfaden aus. Die winzige Flamme erreichte das Essstäbchen und erlosch. Unter mir ächzte das Holz der Zimmertür.

Blende das aus, redete ich mir zu.

Ich konzentrierte mich, atmete aus, beschwor neues Feuer. Die Flamme schoss durch meine Kehle und aus meinem geöffneten Mund. Das Essstäbchen fing Feuer. Ich lehnte mich vor, streckte den Arm aus und hielt das brennende Essstäbchen so, dass der Rauch in Richtung Rauchmelder emporstieg.

Asche fiel zu Boden und im selben Moment kippte die Tür zum Musikzimmer nach vorn. Die Männer fingen sie auf, bevor sie auf den Boden krachte. Sie trugen die Tür ins Musikzimmer zurück und stellten sie an die Seite. Hinter ihnen klaffte eine breite Öffnung. Sie schickten sich an, den Flügel in die Eingangshalle zu rollen. Der erste der Männer ging rückwärts und blieb mit den Füßen an der Angelschnur hängen. Er verlor das Gleichgewicht und fiel, zog dabei die Schnur mit – und riss die Statue von Sir Frances Drake, an dem die Schnur festgemacht war, zu Boden. Und diese wiederum riss die Beistelltische um. Dieb, Statue und Tische, alles knallte auf den Boden. Die Blumenvase zersprang, Glasscherben stoben über den Fliesenboden. Und der Rauchmelder heulte los.

Meine Finger rutschten ab und ich fiel nach hinten, baumelte an den Knien mit dem Kopf nach unten am Kronleuchter. Fluchend halfen zwei der Männer dem dritten, der gestürzt war, wieder auf die Füße. In diesem Moment flog die Haustür krachend auf. Eine vertraute Gestalt erschien im Türrahmen. Mein Vater stemmte die Hände in die Hüften.

»Ihr seid richtige Idioten!«, rief er aus. »Nennt mir einen Grund, warum ich euch nicht alle enterben sollte.«

Die drei Diebe unter mir standen plötzlich stramm.

Oh nein, dachte ich.

»Räumt dieses Chaos auf und kommt danach in mein Büro«, sagte Dad. »Und holt eure Schwester von der Decke herunter. Wir sind keine Affen und sollten uns nicht benehmen, als wären wir welche.«

Meine drei Brüder sahen zu mir hoch, wie ich da so mit den Kniekehlen am Kronleuchter über ihnen baumelte. Ich winkte ihnen zu und schenkte ihnen ein schwaches Lächeln.

KAPITEL 2

Ich habe drei Brüder: Liam, Tuck und Charles (niemals Charly!). Alle älter als ich. Charles ist 19, hat eine Frisur wie ein Investment-Banker und sorgfältig trainierte Muskeln. Liam und Tuck sind 18, zweieiige Zwillinge – Liam ist immer gut angezogen und stolziert herum wie ein Pfau. Tuck trägt gerne mal einen Filzhut. Ich bin mit meinen 16 Jahren das »Baby«. Die Leute haben früher immer behauptet, meine Mutter habe es so lange weiterversucht, bis sie ein Mädchen bekommen hat. Meine Brüder meinten, sie hätte rechtzeitig aufhören sollen. Das sagten sie in letzter Zeit nicht mehr. Genau genommen erwähnten sie unsere Mutter überhaupt nicht mehr, denn Schweigen, Unterdrücken und Leugnen sind bewährte Methoden, wenn es darum geht, Familienprobleme in den Griff zu bekommen.

Als wir jünger waren, bin ich meinen Brüdern auf Schritt und Tritt nachgelaufen wie ein kleines Hündchen. Sind sie aufs Dach geklettert, bin ich auch aufs Dach geklettert. Haben sie sich in ein Lokal für Menschen geschlichen, habe ich mich auch in dieses Lokal geschlichen. Haben sie einen Juwelier ausgeraubt, habe ich … na ja, eigentlich nur zugesehen. Dad hatte ziemlich strenge Ansichten darüber, in welchem Alter man seine Verbrecherlaufbahn beginnen durfte.

Mir war aber nicht klar, dass man irgendwann ein Alter erreicht, in dem man sich selbst ausrauben darf.

»Wärt ihr so freundlich, mir zu erklären, warum ihr versucht habt, das Klavier zu klauen?«, fragte ich.

Keiner antwortete mir. Stattdessen zogen sie ihre Masken herunter, funkelten einander an, als könnten sie mit den Augen Flammen speien. (Können wir nicht. Nur aus dem Mund).

»Liam.« Charles war es gelungen, ein Maximum an Missbilligung in diese zwei Silben zu legen. Es war eine Fertigkeit, die er sich aufgrund seiner Stellung als Ältester und derjenige, der die Verantwortung trug, zugelegt hatte. So führte er sich seit dem Tag auf, an dem er seine vierjährige Schwester dabei erwischt hatte, wie sie sein Geburtstags-Essen probiert hatte – dabei wollte ich doch nur sichergehen, dass alles in Ordnung war. So fürsorglich bin ich nun mal. Außerdem war ich neugierig darauf, wie Hirsch-Pizza schmeckt. (Nur um das festzuhalten: Sie schmeckt komisch).

»Ich habe alles überprüft«, sagte Liam. Wenn Charles der zuverlässigste der drei Brüder ist, dann ist Liam der nachlässigste. Mom hat immer gesagt, er würde seinen Kopf vergessen, wenn der nicht an seinem Hals festgewachsen wäre. Daraufhin hat er einmal in einem Perückengeschäft ein paar Plastikköpfe gekauft und sie überall herumliegen lassen, sodass Mom sie finden musste.

»Offensichtlich nicht gut genug.«

»Sie war weg!«, schrie Liam. »Der Film fing Viertel nach sieben an, 90 Minuten Laufzeit, dazu die Vorfilme. Danach wollte sie draußen am Grill bleiben.«

Er hatte sich meine Pläne gemerkt? Ich hatte gedacht, mir hätte überhaupt keiner zugehört, als ich davon erzählt hatte, schon gar nicht Liam, der eigentlich nie etwas ernst nahm, was ich sagte. Oder was jemand anderes sagte.

Als Gabriela mich abholte, hatte noch nicht einmal jemand unseren traditionellen Abschiedsgruß gesagt: »Tschüs, amüsier dich beim Sturm auf die Festung.«

»Alle waren weg, genau wie geplant. Ich bin einmal rumgegangen und dann hier rein und habe die Kameras ausgeschaltet, alles wie geplant.«

Liam war in unserer Familie der Fachmann für alles, was ein Kabel hatte. Er spielte total gerne mit allem herum, was elektrisch war oder explodieren konnte. Als kleiner Junge hat er ständig aus Versehen den Fernseher in die Luft gejagt. Wie Kinder das halt so machen.

Ich baumelte immer noch am Kronleuchter und allmählich bekam ich Kopfschmerzen.

»Jungs, mir ist klar, dass es jede Menge zu bereden gibt, aber hättet ihr was dagegen, mich erst runterzuholen?«

Ich beugte mich nach oben und versuchte, einen Arm des Kronleuchters zu packen. Meine schweißnassen Fingerspitzen berührten das Metall, rutschten ab und ich fiel wieder nach unten. Autsch. Außerdem piepte der Rauchmelder so laut, dass der Ton in meinem Schädel hallte.

»Du hättest sehen müssen, dass sie nach Hause gekommen ist«, fauchte Liam und bohrte Charles seinen Finger in die Schulter. »Wenn du auf deiner Position gewesen wärst, wie ist sie dann an dir vorbeigekommen? Erklär mir das mal.« Er bohrte wieder. Bohr, bohr, bohr.

Charles hielt Liams Finger fest.

»Aua.«

Charles ließ ihn los. »Tuck hat beim Fenster Hilfe gebraucht«, sagte er. Er redete so überzeugend, als könnte er niemals an etwas schuld sein. Im Fall von Charles war höheres Alter mit einer gewaltigen Dosis Überheblichkeit verbunden. Als ältester Bruder war er der Chef und gab bei allen Unternehmungen den Ton an.

Tuck kickte die Glasscherben der Vase in der Mitte des Raums zu einem Haufen zusammen. »Du hättest die Tür nicht aufbrechen müssen. Noch drei Minuten und sie wäre geschmolzen«, knurrte er. Tuck war immer der Meinung, er könne jede Aufgabe erledigen, wenn er sich nur ein paar Minuten lang Mühe gab. Danach verlor er in der Regel das Interesse. Aber von allen dreien konnte er das mit den Flammen am besten. Das war allerdings eine angeborene Begabung, er hatte es nicht speziell geübt. Ihm wäre es überhaupt nicht schwergefallen, dieses Essstäbchen anzuzünden.

»Du konntest die Hitze nicht aufrechterhalten«, sagte Charles.

»Du hättest nur etwas warten müssen.« Wieder knurrte Tuck leise. Er durchlief gerade eine Nuschel-Phase, hatte Mom gesagt. Dad brüllte ihn ständig an, er solle lauter sprechen.

»Ich habe lange genug gewartet«, sagte Charles. »Das war nicht die Stunde der Amateure. Es sollte perfekt laufen. Alle sollten ihre Sache richtig machen. Wenn es klar gewesen wäre, dass du es nicht schaffst, hätte ich dich ersetzen müssen.«

»Eigentlich bist du ja der Einzige, der seine Sache nicht richtig gemacht hat, Charles«, stellte Liam fest. »Du hast deinen Posten verlassen. Du hast sie durchschlüpfen lassen. Du hast das Fenster eingeschlagen, anstatt Tuck zu erlauben, das Glas zu schmelzen. Und durch das Geräusch ist sie wahrscheinlich erst auf uns aufmerksam geworden …«

Ich mischte mich noch einmal in den Streit ein. »Hallo? Ich bin hier oben?«

Sie beachteten mich immer noch nicht. Stattdessen machten sie einander wütende Vorwürfe, bis sie sich inmitten umgestürzter Statuen und Glasscherben Nase an Nase gegenüberstanden. Aus Liams Mundwinkeln stiegen bereits dünne Rauchfädchen auf und Charles hatte die Hände zu Fäusten geballt. Tuck machte ein Gesicht, als würde er sich am liebsten unter dem Tisch verstecken. Brüder können solche Idioten sein.

Ich breitete die Arme aus und fing an zu schaukeln. Der Kronleuchter quietschte, aber er schaukelte mit. Ich streckte die Arme nach dem Treppengeländer aus, als sei ich eine Trapezkünstlerin, die sich gerade auf den Sprung ans nächste Trapez vorbereitet. Meine Fingerspitzen streiften das Holz. Ich schwang zurück, dann wieder nach vorn. Der Kronleuchter quietschte noch lauter. Ich hörte, dass der Gipsputz an der Decke Risse bekam. Das Schaukeln am Kronleuchter war wohl keine gute Idee. Dann griffen meine Hände nach dem Geländer. Gleichzeitig kam ein Teil der Decke herunter. Ich umklammerte das Geländer und der Kronleuchter fiel nach unten. Nach dreißig Zentimetern fingen die Kabel ihn auf.

Meine drei Brüder sahen nach oben. Ich kletterte über das Geländer. Der Kronleuchter hing noch an einem Kabel wie ein loser Zahn. Risse überzogen die Decke.

Alle drei sagten im gleichen Tonfall: »Sky!«

Ich flitzte den Flur entlang in Richtung Schutzraum. Mir war etwas eingefallen: Meine bekloppten Brüder hatten es zwar nicht geschafft, den Flügel zu stehlen, aber es war ihnen immerhin gelungen, unser gesamtes Alarmsystem auszuschalten – und das bedeutete, dass wir jedem noch so bekloppten Dieb, der uns heute Abend vielleicht einen Besuch abstatten wollte, schutzlos ausgeliefert waren. Da es das Werk meiner Brüder war, bedeutete es, dass ich vielleicht herausfinden konnte, wie sie es gemacht hatten. Wenn sie das System einfach über die Software ausgeschaltet hatten, war die Reparatur eine einfache Sache. Die entsprechenden Codes kannte ich auch. Wenn Liam an der Hardware herumgebastelt hatte … konnte das schon etwas schwieriger werden. Egal, was meine Brüder in diesem Moment unten in der Eingangshalle anstellten, war es eine bodenlose Dummheit, das ganze Sicherheitssystem ausgeschaltet zu lassen. Ich machte einen großen Schritt über die ausgekippten chinesischen Nudeln und betrat den Schutzraum.

Mein Vater war schon da. Er lag auf dem Rücken unter dem Tisch. Die Bildschirme flimmerten immer noch.

»Reich mir mal das Isolierband«, sagte er ohne Umschweife.

Ich entdeckte die Rolle auf dem Tisch neben den Stiften und reichte sie ihm. Ich hätte wissen müssen, dass er hier sein würde. Dad war besessen vom Thema Sicherheit. Das war wohl unvermeidlich, wenn man bedenkt, wer und was wir waren.

Er nahm das Band, knurrte so etwas wie ein Dankeschön und sagte: »Lass mich raten: Du bist selbstständig und ohne fremde Hilfe vom Kronleuchter geklettert und gleich hierhergekommen, um das Sicherheitssystem wieder einzuschalten, anstatt bei deinen Brüdern zu bleiben und ihnen beim Aufräumen zu helfen.«

Ich zögerte einen Moment lang. Welche Antwort war jetzt die richtige? Da ich nur die Wahl zwischen der Wahrheit oder einer offensichtlichen Lüge hatte, entschied ich mich für die Wahrheit. »Ja?«

Er wedelte mit dem Isolierband vor meinem Gesicht herum und schimpfte: »Nicht fragen. Antworten. Du musst lernen, mit mehr Überzeugung zu sprechen. Kein Team wird dich als Anführerin akzeptieren, wenn du kein Selbstvertrauen ausstrahlst. Noch ein Versuch.«

»Ja, Dad. Ich bin vom Kronleuchter heruntergeklettert und direkt hierhergerannt.«

»Du hast den Kronleuchter kaputt gemacht.«

Es war keine Frage, aber ich hielt es für besser, dennoch zu antworten. »Ja.«

Er grunzte, entweder amüsiert oder verärgert. Ich tippte auf verärgert. Er hatte seit Wochen nicht mehr gelacht – seitdem Mom weggegangen war.

»Und du hast deine Brüder mit dem ganzen Chaos da unten ihrem Schicksal überlassen.«

Auch darauf gab es nur eine Antwort. »Ja.«

»Drück auf Reset«, sagte Dad.

Ich stellte einen roten Schalter auf »aus«, dann auf »an«. Die Computer rauschten, als sie wieder hochfuhren. Ich drückte die Power-Schalter auf allen Bildschirmen. Einer nach dem anderen erwachte blinkend wieder zum Leben. Sehr schön. Kann ja sein, dass jeder meiner Brüder eine bestimmte Begabung hat, aber Dad kann einfach alles. Tatsächlich war mir noch nichts untergekommen, was er nicht perfekt beherrschte. Er hatte die Messlatte für uns alle auf eine unerreichbare Höhe gelegt. Und das erklärt wohl einige der Probleme, die meine Brüder so haben. Ich natürlich nicht. Ich habe keine Probleme.

Bis auf ein gebrochenes Herz, musste ich zugeben.

»Probier das Telefon aus.«

Ich hob den Hörer hoch. Kein Freizeichen. »Noch nicht.«

Ächzend widmete sich mein Vater wieder den Kabeln. Sein Körper verdeckte mir die Sicht. Ich ging in die Hocke, um besser sehen zu können, was er tat.

»Geh mir mal aus dem Licht«, beschwerte er sich.

»Zeigst du’s mir?«, fragte ich.

»Das musst du nicht können.«

Abgesehen davon, dass Dad konsequent unser Haus beschützte, sah er sich auch gerne als mein Beschützer. Es machte mich wahnsinnig, wenn er sich weigerte, mir Dinge zu erklären, die meine Brüder ganz offensichtlich wussten – angeblich zu meiner eigenen Sicherheit. Ich wusste nicht, ob es daran lag, dass ich die Jüngste war, oder daran, dass ich noch keinen eigenen Raubzug ausgeführt hatte, oder woran sonst. Für Wesen wie uns ist es ein wichtiger Meilenstein im Leben, den ersten Raubzug auszuführen, wichtiger noch als sprechen, laufen oder rechnen zu lernen.

»Wenn ich gewusst hätte, wie das geht, hätte ich vielleicht nicht von der Decke baumeln müssen und der Kronleuchter wäre noch heil«, stellte ich fest.

Er dachte einen Moment lang darüber nach, dann winkte er mich zu sich. Ich legte mich auf den Rücken, schob mich neben meinen Vater unter den Tisch und betrachtete das Kabelwirrwarr. So nah war ich meinem Vater vermutlich seit Jahren nicht gewesen. Unsere Familie hält nicht besonders viel von körperlicher Nähe. Meine Mutter hatte mich ungefähr einmal im Jahr in den Arm genommen, in der Regel an meinem Geburtstag. Und daran, wann mein Vater mich zuletzt in den Arm genommen hatte, konnte ich mich nicht mal mehr erinnern. Er roch nach Rauch. Nicht nach Zigarettenrauch, sondern nach dem Rauch von Holzfeuer. Kiefernholzrauch, der immer ein bisschen an den Winter erinnert, sogar im Frühling. Diesen Geruch hatte ich schon immer geliebt. Er gab mir ein Gefühl von Sicherheit.

Dad zeigte mir die verschiedenen Kabel und erklärte mir, mit welchen Tücken zu rechnen war, wenn man ein Alarmsystem ausschalten wollte. Liam hatte die Kabel in einer bestimmten Reihenfolge gekappt, um die zusätzlichen Alarmanlagen nicht auszulösen … diejenigen, die für den Fall da waren, dass jemand versuchte, das System lahmzulegen. Wenn man aber das System nicht kannte, war man besser beraten, wenn man die Software hackte. Man konnte nie wissen, ob jemand seine Hardware nicht mit einer Bombe verbunden hatte.

»Du kappst das verkehrte Kabel und – wumm.« Er arbeitete flink, legte die Kabelenden frei und verdrehte sie miteinander. »Später ersetze ich alle Kabel, aber mit dieser provisorischen Reparatur funktioniert das System erst mal wieder.«

»Und was ist, wenn jemand reinkommt, während wir das System wieder in Ordnung bringen?«, fragte ich.

Seine Hände hielten einen Moment lang still. Schatten lagen auf seinem Gesicht, aber ich glaubte, ein Zucken in seinen Wangen zu erkennen. Ein Lächeln? Eine ärgerliche Grimasse? Ich konnte es nicht deuten. Endlich sagte er auf seine schroffe Art: »Ich erwähne das nicht häufig genug, aber ich bin stolz auf dich, Sky.«

Ich spürte, wie mir warm wurde, und jetzt zuckte es in meinem Gesicht. Nur ein bisschen Staub in den Augen.

»Du benutzt einen Zauber«, vermutete ich. Es kostete Gold, einen Zauber zu erwerben und ihn einzusetzen. Wir verlassen uns deswegen in der Regel lieber auf menschliche Alarmsysteme, aber ich wusste, dass mein Vater dennoch einiges auf Lager hatte.

»Ja, natürlich.«

»Dann wusstest du, dass ich wieder zu Hause war.«

Er lächelte – ein seltener Anblick. Ich starrte auf seinen lächelnden Mund in seinem Bart.

»Ja, natürlich«, sagte er noch einmal.

»Aber du hast sie nicht gewarnt.«

»Ich wollte sie doch auf die Probe stellen.«

Ich war versucht, ebenfalls zu lächeln, aber dann fiel mir das Durcheinander in der Eingangshalle ein, die Statuen, die Vase, der Kronleuchter. Wenigstens war keinem meiner Brüder eine der Statuen auf den Kopf gefallen. »Sie sind sauer auf mich.«

»Sie sind sauer auf sich selbst«, verbesserte er.

»Und auf mich.«

»Und auf dich.«

Ich seufzte und dann fragte ich mich, ob dieser neuerdings plötzlich so stolze Vater sich auf ein richtiges Gespräch mit mir einlassen würde.

»Sie sind in letzter Zeit nonstop sauer. Alle sind sauer.«

Dad nahm die Arbeit an den Kabeln wieder auf. Seine großen Hände arbeiteten zügig mit den zarten Strängen. Er nahm sich einen Computer nach dem anderen vor. »Es sind schwierige Zeiten.«

Ich holte tief Luft. »Kannst du mir denn sagen …«

»Nein.« Er fiel mir ins Wort. »Es ist besser, wenn du nichts weißt.«

»Wie beim Sicherheitssystem? Dad … je mehr ich weiß, desto sicherer bin ich.«

Jetzt machte er ein trauriges Gesicht. »Das ist nicht richtig. Und je älter du wirst, desto besser wirst du verstehen, wie absolut unrichtig das ist. Ich habe viele Dinge über die Welt erfahren, die ich lieber wieder vergessen würde. Bewahre dir deine Unschuld so lange wie möglich, Sky. Sie ist eine wertvolle Sache.«

»Ich bin kein Baby mehr«, sagte ich. »Und sie …«

»Genug.«

Charles mochte ja fähig sein, einen Namen in Missbilligung zu tränken, aber Dad ist ein Meister darin, ein einziges Wort mit einem ganzen Universum an Bedeutung aufzuladen. In dieses eine Wort »genug« hatte er Trauer, Zorn und alles andere gepackt. Ich änderte meine Taktik.

»Warum haben Charles, Liam und Tuck versucht, den Flügel zu stehlen? Er ist so einzigartig, dass man ihn nicht verkaufen kann. Und wenn es ihnen nur ums Gold ging, wäre es einfacher gewesen, den Flügel gleich vor Ort zu zerlegen und dann durchs Fenster zu klettern.«

»Darum drehte es sich bei der Prüfung ja gerade. Kompletter Flügel.«

»Warum?«, fragte ich. »Wann könnte diese Situation eintreten?«

Soweit mir bekannt war, besaßen nicht viele Leute goldene Flügel.

Seine Hände erstarrten wieder. »Sie brauchten Ablenkung wegen morgen.«

»Was ist …« Ich brach ab. Wie hatte ich das vergessen können? Morgen. Moms Geburtstag. »Oh.«

Es war keine befriedigende Antwort. Mir war nicht klar, wie das zusammenhing – heute sollten sie Moms Flügel stehlen, um den morgigen Tag besser ertragen zu können? Für meinen Vater ergab die Sache offenbar einen Sinn, und genauso offensichtlich wollte er nicht darüber sprechen. Aber da war noch eine Frage, die ich ihm gerne stellen wollte, eine, die ich nicht zu stellen gewagt hatte, seit sie verschwunden war. Aber heute war er ja stolz auf mich, da konnte ich es vielleicht wagen …

»Meinst du, sie lebt noch?«

»Ja.«

Ich atmete auf. Er hatte nie angedeutet, dass sie vielleicht nicht mehr lebte, aber insgeheim hatte ich mir Sorgen gemacht. Niemand hatte mir etwas erzählt, als es passiert war. Mom war in einer Mission unterwegs gewesen, die darauf abzielte, unseren Reichtum dramatisch zu steigern – das Übliche eben. Aber dann war etwas schiefgelaufen. Oder, um genauer zu sein: Sie hatte einen Fehler gemacht. Und sie war nicht zurückgekommen. Und deswegen war die ganze Familie in Ungnade gefallen.

Unwillkürlich dachte ich: Wenn sie noch lebte, warum war sie nicht zurückgekommen oder hatte uns eine Nachricht geschickt oder irgendwie Kontakt aufgenommen? Waren wir ihr gleichgültig?

»Braucht sie Hilfe?«, fragte ich.

»Nein.«

Hätte ich ihn nur zwingen können, mir mehr zu erzählen! Bestimmt konnte die Wahrheit nicht schlimmer sein als all die Schreckensbilder, die ich mir ausgemalt hatte: meine Mutter tot oder schwer verletzt. Oder sie saß in der Falle. Oder ein verrückter Wissenschaftler führte in seinem geheimen Labor grausame Experimente an ihr durch. Egal, was sie getan hatte – gemeinsam konnten wir doch alles wieder in Ordnung bringen, oder nicht? Genau wie das Sicherheitssystem. Wir mussten dazu nur wissen, welche Kabel wir reparieren mussten. Wir waren eine fantastische Familie. Mir war immer gesagt worden, wenn wir nur zusammenhielten, konnten wir alles erreichen. Und jetzt sollte ich nicht einmal Fragen stellen.

Ich dachte an Ryan und daran, dass ich uns ebenfalls für ein fantastisches Team gehalten hatte, das durch dick und dünn ging und all so was. Ich war davon ausgegangen, dass wir für immer zusammenbleiben würden. Ich hatte sogar schon von unserem Hochzeitstag geträumt – den kompletten, bekloppten Hochzeitstraum einschließlich cremefarbenem Kleid und Blumenstrauß, der farblich zu den Tischdecken passte. Als wäre das etwas, was mich normalerweise interessierte. Emma und Emily, meine besten Freundinnen (vielmehr: meine ehemaligen besten Freundinnen), hatten sich bereits als Brautjungfern-Duo angemeldet. Ryan und ich brauchten nichts weiter zu tun, als noch ein paar Jahre zusammenzuhalten. Stattdessen hatten wir uns nach gerade mal knapp acht Monaten getrennt. Na ja, eigentlich nach 16 Jahren, aber es war nicht einmal ein Jahr her, dass wir uns zum ersten Mal richtig geküsst hatten.

Ich kannte Ryan schon, als wir noch in den Windeln lagen. Nicht, dass ich mich daran erinnern konnte. Aber ich habe Fotos gesehen. Ich hatte Rattenschwänze. Er hatte ein hinreißendes pralles Bäuchlein. Unsere Familien verbrachten meist den Sommerurlaub gemeinsam in der kalifornischen Festung – einer der Staaten, in denen wir Wyverns regieren. Dort haben wir beide schwimmen gelernt und wie man sich vor Hausarbeiten drückt. Ich erinnere mich, dass wir viele Stunden in Höhlen am Strand verbracht hatten, dass wir uns Spiele ausdachten und gemeinsam das Feuerspeien übten. Wir hatten sogar hier auf seinem Familiensitz in Aspen eine geheime Nische, versteckt hinter dem Garten oben auf einer Klippe. Von dort aus hat man einen Blick über die Berge und einen See. Dort hatte ich ihn mit sechs Jahren zum ersten Mal direkt auf den Mund geküsst. Er hatte sich einfach nur den Mund abgewischt.

Mit acht Jahren beschloss ich, ihn zu heiraten. Ich achtete natürlich darauf, es ihm nicht zu verraten, denn es ist ja allgemein bekannt, dass man Jungs solche Geheimnisse nicht anvertrauen darf. Immerhin informierte ich meine Eltern, nur für den Fall, dass sie schon Vorbereitungen treffen wollten. Es interessierte sie nicht. In unserer Kultur bevorzugt man arrangierte Ehen, hauptsächlich, damit der Genpool stark genug bleibt, um die Eigenschaften von Ex-Drachen zu bewahren, aber auch nicht so inzestuös, dass die Kinder mit Schuppen statt mit menschlicher Haut geboren werden. Da Ryan nur ein halber Wer-Drache ist – seine Mutter ist ein Menschenwesen – und ich von beiden Seiten ein Wer-Drache, ging ich davon aus, dass alle damit einverstanden sein würden, dass er mich heiratete.

Mom mochte es nicht, wenn ich uns als »Wer-Drachen« bezeichnete.

»Wir sind Wyverns«, sagte sie immer. »Sei stolz darauf. Du kannst unsere Herkunft über Generationen zurückverfolgen, bis zu den Zeiten, bevor wir Heimat verlassen und ins Exil gehen mussten.«

Aber seit ich zum ersten Mal von Werwölfen gehört hatte, mochte ich das Wort Wer-Drache. Es beschreibt uns genau und hat so eine schöne Doppelbedeutung mit dem Fragewort: »Wer?«. Wer waren unsere Vorfahren? Drachen. Und jetzt waren wir Wer-Drachen, Menschen, die sich in Drachen verwandeln konnten. Oder Drachen, die sich in Menschen verwandeln konnten. Wie man’s nimmt.

Tatsache war allerdings, dass sich kein Wyvern mehr in einen Drachen verwandelt hatte, seit Sir Francis Drake damals im 16. Jahrhundert mit seinem Drachenfeuer die Spanische Armada versenkt hatte. Die Fähigkeit, unsere Gestalt zu wandeln, ist schon vor Jahrhunderten verloren gegangen. Aber wir alle erlernten die nützliche Kunst des Feuerspeiens. Und wir waren alle ziemlich feuerresistent. Und das ist ein enormer Vorteil, wenn es zum Beispiel um frisch gebackene Kekse geht. Man muss nicht warten, bis sie abgekühlt sind und man braucht keine Topflappen. Einfach ran an die Kekse, wenn sie noch im Ofen sind. Und es besteht auch nicht die Gefahr, sich den Gaumen zu verbrennen. Wir halten geschätzt 1000° Celsius aus. Anders ausgedrückt können wir einen Marshmallow auf den Finger spießen und ihn über dem Feuer grillen, aber ein Schneidbrenner würde uns verletzen. Der durchschnittliche Propangasbrenner ist etwa 2000° Celsius heiß und sauerstoffgespeiste Brenner erreichen locker mal sengende 2750°. Diese netten kleinen Details lernt man automatisch, wenn einem die Feuerkraft buchstäblich angeboren ist.

Außerdem haben wir alle, wie bereits erwähnt, eine große Vorliebe für Gold. Und genau diese Tatsache machte es so merkwürdig, dass mein Vater ausgerechnet den Flügel als Zielobjekt für meine Brüder ausgewählt hatte. Kann ja sein, dass mein Vater das Instrument am liebsten zertrümmert hätte, aber niemals würde er wollen, dass so viel Gold das Haus verlässt.

»Was sollten sie mit dem Flügel machen, nachdem sie ihn gestohlen haben?«

»Was hättest du denn damit gemacht?«, fragte Dad.

Ich hätte überhaupt nicht versucht, ihn zu stehlen. Auf unserem Anwesen gab es zahlreiche wesentlich leichter transportierbare Wertgegenstände. Außerdem war es das Klavier meiner Mutter. Aber Dad wollte etwas anderes hören.

»Ich hätte die Tasten rausgerissen und daraus Halsketten für besondere Gelegenheiten gemacht.«

»Ich schenke dir eine Halskette. Sechs Unzen, Gold«, sagte Dad entschlossen. »Die hast du dir mit deiner heutigen Arbeit verdient.«

Ich dachte an den Kronleuchter. Er hatte die Decke noch nicht gesehen. Außerdem wusste ich, dass er an diesen Statuen hing, und sehr wahrscheinlich hatten sie Schaden genommen. Die Vase ließ sich auf keinen Fall mehr retten (allerdings war sie nicht aus Gold, daher war sie ihm wahrscheinlich gleichgültig). »Ich habe Chaos angerichtet.«

Er seufzte. »Deine Mutter hat Chaos angerichtet. Wir versuchen, aus den Trümmern, die sie hinterlassen hat, das Beste zu machen.«

Er schob sich unter dem Computertisch hervor und stand auf. Um uns herum zeigten die Monitore jetzt verschiedene Bilder aus unserem Haus, auch von der Eingangshalle. Tuck kehrte die Glasscherben in den Mülleimer, während Charles und Liam die Statue von Sir Francis Drake auf ihr Podest wuchteten. Charles hatte sein Hemd ausgezogen, weil er auf seine Muskeln so ähnlich abfährt wie ein Kleinkind auf seinen Teddybären.

»Hasst du sie?«, fragte ich. »Suchen wir deswegen nicht nach ihr?«

»Gefühle spielen hier keine Rolle«, sagte Dad. »Glaub mir einfach, wenn ich dir sage, dass es zum Besten für unsere Familie ist.« Ich wollte nachhaken, aber sein Ton war endgültig. »Du brauchst nachher nicht in mein Büro zu kommen, wenn ich mit deinen Brüdern rede. Du solltest jetzt gehen und dir dein … Popcorn, nicht wahr … besorgen.«

Ich nickte und fragte mich, woher er das wusste. Ich hätte nicht gedacht, dass er zugehört hatte, als ich über meine Pläne für heute Abend geredet hatte, oder dass ihm klar war, dass es heute genau einen Monat her war, dass Ryan sich offiziell von mir getrennt hatte … vor allen Wyverns, die sich zum Tag der Abrechnung versammelt hatten – darunter auch Emma und Emily und alle Wyverns, die ich für meine Freunde gehalten hatte.

»Mit ganz viel Butter.«

Schon wieder lächelte er fast. Das war schon das zweite Mal in einem einzigen Gespräch gewesen. Früher hatte er andauernd gelächelt und gelacht, ein herzhaftes, schallendes Lachen, das durch das ganze Haus hallte. Mom hatte sein Lachen mitgenommen, als sie gegangen war.

Dann verschwand das Lächeln und er blickte wieder düster drein wie ein Schatten. »Du musst vergessen, dass dieser Junge existiert. Und vergiss deine Mutter. Sie haben unser Vertrauen missbraucht und uns bleibt nur eins: Wir müssen nach vorne blicken.«

Ich sah ihm in die Augen, den Kopf im Nacken, weil er über einen halben Meter größer ist als ich.

»Und du? Machst du das? Blickst du nach vorne? Kannst du vergessen?«

Dad musterte mich, als überlege er, welche Antwort für mich geeignet sei. Hätte ich mich doch nur getraut, ihn anzuschreien: Sag doch einfach, was du sagen willst!

»Natürlich nicht. Aber das heißt nicht, dass ich dir nicht etwas Besseres wünsche. Du hast nichts getan, womit du all das hier verdient hast.«

Ich spürte einen Kloß im Hals. Mein Vater zeigte niemals seine verletzliche Seite. Er war so unerschütterlich wie die Mauern einer Festung.

»Willst du vielleicht …« Ich schluckte. Er sah mich abwartend an. »… Popcorn? Ich gebe dir gerne was ab.«

»Danke«, sagte er ernsthaft. »Kann ich mir das für ein andermal aufheben? Ich muss meine Arbeit erledigen und meine Söhne ausschimpfen.«

Er schockte mich aufs Neue, indem er meine Stirn küsste. Dann marschierte er aus dem Schutzraum. Ich wandte mich um und beobachtete ihn über die Kameras. Mein sonst so vollkommen beherrschter, immer starker Vater hielt im Flur kurz an und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen.

KAPITEL 3

Beim Frühstück am nächsten Morgen herrschte eine angespannte Stimmung. Wäre ich doch nur in meinem Zimmer geblieben und hätte den Rest Popcorn verputzt, anstatt mich von Tucks verlockenden, selbst gemachten Pfannkuchen in Versuchung führen zu lassen! (Ich liebe Pfannkuchen. Leute, die keine Pfannkuchen mögen, sind mir zutiefst suspekt).

Dad saß am Tischende, meine Brüder und ich an den beiden Seiten. Moms Stuhl war nicht nur leer, sondern stand gar nicht mehr da.

Beim ersten Frühstück nach ihrem Verschwinden war ich nach unten gekommen, hatte ihren leeren Stuhl entdeckt und war in Tränen ausgebrochen. Dad hatte den Stuhl sofort weggeräumt. Und das war natürlich noch schlimmer – ich hatte noch mehr geweint.

Jetzt sah ich einfach nicht mehr hin. Keiner von uns sah dorthin. Wir sahen einander auch nicht an, denn Blickkontakte konnten ein Gespräch auslösen, das dann womöglich Gefühle auslöste. Und wer will das schon. Besonders am frühen Vormittag.

Tuck grillte ein paar Scheiben Speck, indem er Flammen über einen Teller pustete. Er reichte den Teller Liam, der ihn an Charles weiterreichte und der ihn an mich. Als der Teller bei mir ankam, ertränkte ich ihn in Ahornsirup und fand, dass gebratener Speck die verlegene Stimmung aufwog. Ich nahm mir einen weiteren Pfannkuchen.

Als ich diesen Pfannkuchen zur Hälfte aufgegessen hatte, brach Dad das Schweigen – auf eine für ihn typische Weise.

»Liam, ich möchte, dass du bei Maximus einen neuen Schutzzauber kaufst. Extra-feuerresistent bis 2000°, in flüssiger Form, damit wir ihn in die Farbe für die Eingangshalle mischen können. Nimm Sky mit.«

»Aber Sky …«

»Habe ich mich so angehört, als wollte ich darüber diskutieren? Sky weiß, wie sie sich zu benehmen hat.« Er warf mir einen strengen Blick zu. »Sky, du überlässt Liam die Führung. Du hast lediglich die Rolle der Beobachterin. Maximus ist empfindlich. Seitdem er seine Frau verloren hat, wird er immer reizbarer. Aber er ist einer der wenigen Wyvern-Zauberer, der überhaupt noch Geschäfte mit uns macht. Also müssen wir wohl oder übel mit ihm zurechtkommen. Ihr beide achtet bitte darauf, dass ihr ihn nicht verprellt!«

Ich stopfte mir den Mund mit Blaubeerpfannkuchen voll, um nicht versehentlich etwas zu sagen, was Dad zu einer Rücknahme seiner Entscheidung bewegen könnte. Meine Brüder nehmen mich normalerweise nie mit, wenn es um Familiengeschäfte geht. Ich spürte, wie sich mein Herzschlag beschleunigte. Zuerst hatte mir Dad das Sicherheitssystem gezeigt und jetzt schickte er mich los, um einen Zauberer kennenzulernen! Nur als Beobachterin zwar, aber immerhin – das war ein Anfang!

Menschen wissen über Wyverns Bescheid, seit König Atahualpa im Jahre 1533 unsere Existenz enthüllt hat. Aber dass einige von uns gleichzeitig auch Zauberer sind, ist ein sorgsam gehütetes Geheimnis. (Ehrlich gesagt, ist es erstaunlich, dass Menschen noch nicht darauf gekommen sind. Merlin zum Beispiel hat sich ja nicht gerade vornehm zurückgehalten). Jedenfalls war es eine große Sache, dass ich bei einer Verhandlung mit einem der Zauberer anwesend sein durfte. Es bedeutete, dass Dad mir vertraute.

Liam warf mir einen vielsagenden Blick zu. Es war klar, dass er lieber eine Giftkröte mitgenommen hätte als seine kleine Schwester. Ich wollte ihm am liebsten sagen, dass es ja nicht meine Schuld gewesen ist, dass a) mir niemand etwas von ihrer Prüfung verraten hatte und b) keiner bemerkt hatte, dass ich nach Hause zurückgekommen war. Allerdings war es durchaus mein Fehler gewesen, dass ich mich nicht an die Vorschriften gehalten und mich nicht in den Schutzraum zurückgezogen hatte. Aber bis jetzt hatte niemand diesen Punkt erwähnt. Wahrscheinlich, weil Dad es ganz offensichtlich nicht als Fehler betrachtete.

Charles wich meinem Blick aus und tat so, als gäbe es mich gar nicht, was, wie ich fand, gar nicht zu seinem ach-so-reifen Gebaren passte. Und Tuck versuchte, mich mit Blicken zu töten, während er sich selbst Pfannkuchen in den Mund stopfte. Vielleicht konnte eine entsprechende Menge Ahornsirup die Laune aller Anwesenden verbessern. Oder sie suchten einfach jemanden, dem sie die Schuld an allem, was im Lauf des letzten Monats schiefgelaufen war, in die Schuhe schieben konnten.

Ich wusste schon, wem ich die Schuld gab. Mom. Und Ryan.

Was auch immer Mom getan hatte – es hatte unser Leben komplett auf den Kopf gestellt. Sie hätte Rücksicht auf uns nehmen müssen. Die Familie steht an erster Stelle. Sie hätte uns mit dem Chaos, das sie angerichtet hatte, nicht im Stich lassen dürfen.

Und Ryan hätte mir beistehen müssen. Er aber hatte sich in dem Moment von mir abgewandt, als ich ihn am meisten brauchte – auf Wunsch seiner Familie. Genauso wie alle unsere sogenannten Freunde – sie wollten nicht mit unserem entehrten Namen in Verbindung gebracht werden. Als es eng wurde, hatte Ryan sich für seine Familie entschieden, nicht für mich.

Mom hatte die Familie nicht an die erste Stelle gesetzt und ich hatte dabei verloren. Ryan hingegen hatte die Familie an die erste Stelle gesetzt, aber dabei hatte ich auch verloren.

Es wäre eigentlich schön gewesen, wenn alles, was wir jetzt durchmachten, meine Brüder und mich enger zusammengeschweißt hätte, anstatt uns gegeneinander aufzubringen. Schweigend frühstückten wir zu Ende und gingen dann in unsere Zimmer, um uns fertig anzuziehen.

Liam erwartete mich etwas später in der Eingangshalle. Er trug einen langen Trenchcoat über einem Anzug und hatte sein Haar zu der Frisur gegelt, die ich immer »modebewusster Igel« nenne. Aber Liam mag es nicht, wenn ich das sage.

»Schöne Frisur«, sagte ich.

»Lass es«, warnte er mich.

»Früher hattest du mal Humor.«

»Und auf diesem Tisch stand früher mal eine Vase.«

Meine Brüder hatten die Eingangshalle komplett aufgeräumt. Alle Statuen standen wieder auf ihren Podesten, die Glasscherben waren weggekehrt und der Tisch, auf dem früher mal die Vase gestanden hatte, war leer. Ich sah nach oben. Der Kronleuchter war wieder befestigt und die Risse in der Decke waren mit Spachtelmasse geflickt.

Vor einem Jahr hätte da gleich ein neuer Kronleuchter gehangen und auf dem Tisch hätte eine neue Vase gestanden. Ich weiß, ich weiß, armes kleines reiches Mädchen. Während ich das sage, spielt im Hintergrund die kleinste Geige der Welt eine herzzerreißende Melodie. Aber die Vase und der Kronleuchter waren nur ein Symbol dafür, dass wir nicht nur unser halbes Vermögen, sondern auch unseren Platz in der Gesellschaft verloren hatten – und natürlich Mom. Selbstverständlich machte es mir etwas aus, dass diese Dinge fehlten. Wenn ich so durchs Haus ging, fühlte sich das in letzter Zeit so an, als würde eine alte Wunde immer wieder aufgerissen. Alles erinnerte mich an sie.