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Das große Finale der »Feuerblüte«-Trilogie Feuer, Wasser, Erde, Luft – diesen vier Gilden gehören die Bewohner Dareshs an. Doch es gibt auch Ausgestoßene, so wie Jorak. Ausgerechnet in ihn hat sich die rebellische Schwertkämpferin Alena verliebt. Und sie hat sich geschworen, nicht zu ruhen, bis er in eine der Gilden aufgenommen wurde. Doch Luft- und Feuer-Gilde stellen Jorak zwei fast unlösbare Aufgaben, und als Alena dann noch durch eine Prophezeiung des mysteriösen Mond-Orakels ins Visier der Mächtigen gerät, muss sie um ihr Leben fürchten … Band 3 des packenden Fantasy-Epos rund um Schwertkämpferin Alena von »Woodwalkers«-Autorin Katja Brandis für alle Fantasy-Fans ab 12 Jahren. Mit mitreißender He-Falls-First-Romance und einer starken Heldin.
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Seitenzahl: 583
Katja Brandis
Orakel des Mondes
Weitere Bücher von Katja Brandis bei Fischer Sauerländer:
Daresh – Im Herz des Weißen Waldes
Daresh – Im Tal des Kalten Feuers
Daresh – Das Land der flüsternden Seen
Feuerblüte – Tochter der Flammen
Feuerblüte – Stadt der Wolkentrinker
Feuerblüte – Orakel des Mondes
Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch
Katja Brandis, geb. 1970, studierte Amerikanistik, Anglistik und Germanistik und arbeitete als Journalistin. Sie schreibt seit ihrer Kindheit und hat zahlreiche Romane und Sachbücher für junge Leser*innen veröffentlicht, darunter die Bestsellerserien »Woodwalkers« und »Seawalkers«. Sie lebt mit Mann, Sohn und drei Katzen in der Nähe von München.
Ärger im Roten Bezirk
Totensee und Lebensbaum
Das Orakel
Mit Axt und Schwert
Der Geschichtenerzähler
Zeit der Wahrheit
Torreventus
Ein schlechter Tausch
Boten des Schattenreichs
Mit Adlerschwingen
Tal der Blumen
Gefangen im Eis
Relgan
Die Hüterin der Vulkane
Nicht stark genug
Auf eigene Gefahr
Anderskind
Die Falle
Alenas Weg
Freund oder Feind
Wie alles begann
Tief unten im Berg
Im goldenen Turm
Dem Tod so nah
In der Falle
In Flammen
Schlangenzahn
Zwischenreich
Drei Kinder und ein Baum
Dank
Als Jorak aus dem Geflügelten Dhatla trat, merkte er, dass ein Krug Polliak weniger besser gewesen wäre. Er drehte den Kopf, um sich von Kerrik zu verabschieden, wobei ihm etwas schwindelig wurde.
Auch Kerrik sah aus, als sei ihm schwindelig –, aber das lag wohl eher daran, dass Jorak ihm in der Schänke erzählt hatte, was er und Alena in Rhiannon, dem Reich der Wolkentrinker, erlebt hatten. »Nicht zu fassen«, sagte Kerrik schon zum fünften Mal an diesem Abend. »Ich meine, ich gönne es dir natürlich, aber beim Erdgeist, ich wünschte, ich wäre dabei gewesen!«
»Du kannst heilfroh sein, dass du nicht dabei warst«, sagte Jorak. Er blickte zum dunklen Himmel hoch und sah am Stand der Sterne, dass der dritte Mond bald aufgehen würde. »Ich muss los. Grüß Lilas von mir und pass auf dich auf im Dschungel!«
»Mach ich.« Kerrik schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter, was durch seine Kraft eine etwas schmerzhafte Angelegenheit war, und bog in den Weg zum Grünen Bezirk ein. Die meisten Menschen der Erdgilde wohnten dort.
Mit einem warmen Gefühl im Inneren blickte Jorak ihm nach. Die Verlegenheit zwischen ihnen war weg, sie hatten miteinander reden können wie früher. Sieht so aus, als wäre unsere Freundschaft auf einem guten Weg, dachte er. Ich könnte mir sogar vorstellen, wieder Expeditionen mit ihm zusammen zu führen. Immerhin ist die Sache mit Alena jetzt geklärt, sie hat sich entschieden, wen von uns beiden sie wirklich will.
Er schulterte sein Reisegepäck und machte sich auf den Weg zu seinem Quartier. Vorsichtig bewegte er sich am Stadtrand entlang und kaute dabei auf einem Stück Brot, das er aus dem Gasthaus mitgenommen hatte. Hier in der Nähe war der Schwarze Bezirk, in dem die anderen Gildenlosen lebten. Prompt heftete sich einer von ihnen an seine Fersen – so, als hätte der Kerl das Essen gerochen.
Jorak kannte ihn. Fenk war ein Schläger, der ihm früher oft die wenige Nahrung abgejagt hatte, die er irgendwo zusammengekratzt oder gestohlen hatte. Unter den Gildenlosen galt das Recht des Stärkeren, jeder war sich selbst der Nächste und kämpfte mit Zähnen und Klauen darum, am Leben zu bleiben. Doch in den letzten Wintern hatte Jorak gelernt, mit seinem Dolch umzugehen, und Kerle wie Fenk wussten inzwischen, dass sie ihn besser in Ruhe ließen. Warum kam er diesmal so dreist näher?
Bloß keine Schwäche zeigen, dachte Jorak und drehte sich um. »Na, Fenk, knurrt dir der Magen schon so laut, dass du dich mit mir anlegen willst?«, sagte er, grinste dabei und setzte den gemeinsten Blick auf, den er zustande brachte.
»Hab gehört, du hattest ’ne Audienz bei der Regentin«, knurrte Fenk und kam noch näher. Seit Jorak ihn das letzte Mal gesehen hatte, schien es ihm nicht gut ergangen zu sein. Unter seinem dünnen Hemd konnte man die hervorstehenden Rippen sehen, und sein Gesicht, auf dem ein struppiger Bart wucherte, wirkte hager und eingefallen. In seinen Augen war ein fiebriger Glanz, der Jorak beunruhigte.
»Geht dich nichts an, Fenk.« Jorak achtete darauf, dem anderen keinen Moment lang den Rücken zuzudrehen.
»Hast bestimmt viel mitbekommen, was? Gold, Juwelen, Wegzehrung frisch aus den Speisekammern?« Fenk leckte sich die Lippen.
Jorak spürte, wie Ärger in ihm aufstieg. »Gar nichts habe ich bekommen. Nur den neuen Umhang. Wahrscheinlich, weil sie vergessen haben, ihn zurückzufordern.«
Er merkte, dass Fenk nicht zuhörte. Das verstand Jorak gut. Wenn man Hunger hatte, echten Hunger, der schmerzhaft in den Eingeweiden wühlte, der die Kraft aus dem Körper stahl, dann genügte der Gedanke an etwas zu essen, um einen schier um den Verstand zu bringen. Besser, ich mache mich aus dem Staub, und zwar schnell, dachte Jorak. Bevor Fenk auf die Idee kommt, mich anzuspringen und niederzuschlagen. Jorak hatte keine Lust, sich auf einen Kampf einzulassen. Der Lärm würde weitere Gildenlose heranlocken, die sich womöglich auf Fenks Seite schlugen.
Zum Glück war ein verlassenes Haus in der Nähe, das Jorak kannte – dank einer seiner Gewohnheiten. Er hatte einmal beschlossen, jeden Tag irgendetwas zu tun, was er nie zuvor getan hatte. So hielt er seinen Geist beweglich. Das Haus zu erkunden war eines dieser Dinge gewesen.
Jorak riss die Tür auf, hechtete ins Innere und warf von innen den Riegel vor, der zwar rostig war, aber noch funktionierte. Brüllend wie ein verwundetes Dhatla warf Fenk sich auf die morsche Tür und machte sich daran, sie zu demolieren. Das störte Jorak nicht weiter. Zwei Atemzüge später war er aus der Hintertür geschlüpft.
Der Appetit war ihm allerdings vergangen. Er schenkte den Rest des Brotes einem mageren, verschüchterten Mädchen, das an einer Straßenecke bettelte. Auch sie war gildenlos, eine Ausgestoßene. Wenn sie ihren Körper jetzt noch nicht anbot, würde sie es vermutlich bald tun.
Nach der Sache mit Fenk ahnte Jorak, dass er den Schwarzen Bezirk in nächster Zeit besser mied. Vielleicht musste er sogar ganz aus Ekaterin verschwinden. Es würde sich in Windeseile herumsprechen, dass er jetzt »reich« war –, ein halbes Dutzend Banden würde versuchen, ihn zur Strecke zu bringen. Ein Gildenloser stand nicht unter dem Schutz des Gesetzes, er war eine leichte Beute.
Jorak überlegte kurz, ob er es riskieren konnte, statt durch den Schwarzen Bezirk quer durch den Roten zu gehen. Gildenlose wie er durften sich dort nicht aufhalten. Aber die Straßen von Ekaterin waren um diese Zeit fast leer, und gerade erst war eine Patrouille der Stadtwache vorbeigekommen. Bis die hier wieder nach dem Rechten schaute, würde es noch dauern. Was soll’s, dachte Jorak und tauchte wieder in die Gassen des Vergnügungsviertels ein. Natürlich waren ihm auch die Schänken hier verboten, aber die Wirtin des Geflügelten Dhatla, in dem er mit Kerrik gewesen war,kannte ihn und riskierte es, ihn hier ab und zu einen Krug trinken zu lassen. Eine ihrer Schwestern war selbst gildenlos – ausgestoßen worden, weil sie Amulette gefälscht hatte, um einen höheren Meistergrad vorzutäuschen.
Die kühle Nachtluft klärte Joraks Kopf. Wie immer ging er schnell und verzichtete auf eine eigene Fackel. Seine Gedanken schweiften zu Alena, und er kostete die Vorfreude aus, dass sie bald in Ekaterin sein würde. Unglaublich, ein paar Tage konnten einem erscheinen wie ein langer, eisiger Winter –, nur weil man ohne den Menschen auskommen musste, den man liebte …
Eine Straße weiter rief jemand etwas, ein Mann lachte. Jorak schreckte aus seinen glückgetränkten Gedanken auf. Da kamen Leute – und er hatte es viel zu spät gemerkt! Wieso war er nicht auf der Hut gewesen, besonders nach dem Zwischenfall vorhin?
Er schätzte, dass es vier oder fünf Männer waren. Ihrer Sprechweise nach Feuergilde und ihrem Lärm nach ziemlich berauscht. Zum Glück verzweigte sich die Gasse hier. Schnell bog Jorak ab, um die Gruppe zu meiden. Doch als er sah, wer am anderen Ende gerade aus einem Haus kam, drehte er sofort wieder um. Ach du große Wolkenschnecke, eine zweite Patrouille! Jetzt saß er in der Falle.
Jorak entschied sich, es lieber mit den Feuerleuten zu riskieren. Er zwang sich zu gleichmäßigen, ruhigen Schritten und schlug den Kragen seiner Tunika hoch, damit man nicht so leicht sah, dass er kein Gildenamulett trug. Die vier Kerle waren jetzt nur noch fünf Menschenlängen entfernt und kamen schnell näher. Es waren kräftige Burschen, zwar nicht größer als er, aber breitschultriger und muskulöser. Alle vier trugen Schwerter.
Jorak ließ seinen Blick gleichgültig an den Männern vorbeistreifen, als sie ihn passierten, und versuchte, keinerlei Unsicherheit zu zeigen. Das war seiner Erfahrung nach das beste Rezept, Ärger zu vermeiden. Doch diesmal nutzte es nichts.
»He, du da!«, grölte einer der Männer und trat ihm in den Weg.
Jorak schlug einen leichten Ton an. »Falls ihr mich ausrauben wollt, sucht euch lieber jemand anderen – ich hab meine letzten Münzen gerade im Geflügelten Dhatla gelassen.«
Zwei der Männer lachten, der dritte sagte: »Ach wo, wir wollen nur wissen, wie wir von hier aus zum Gildenhaus kommen, tanu, Gildenbruder … du bist doch einer von uns, oder?«
Einen Moment lang entspannte sich Jorak. Er wusste, dass er mit seinen dunkelbraunen Haaren und dunklen Augen wie ein Mensch der Feuergilde aussah, und im schwachen Licht der Gasse erst recht. Vielleicht würde er doch noch davonkommen. Nur wäre es besser gewesen, wenn er seinen Calonium-Armreif abgelegt hätte, hoffentlich verriet ihn das Ding nicht. »Da müsst ihr die Straße hoch, dann links und anschließend bei der kleinen Statue rechts …«
»Klingenbruch, der trägt ja gar kein Amulett – dafür spür ich irgendein komisches Metall an ihm!«, mischte sich einer der Männer ein und packte Jorak an der Vorderseite der Tunika. »He, Leute, das ist ein Gildenloser, mitten im Roten Bezirk!«
Jorak reagierte sofort. Flink wie ein Iltismensch riss er sich los, glitt zwischen den Männern hindurch und rannte die Gasse hinunter. Er war vielleicht nicht so stark wie sie, aber dafür viel schneller. Und während sie anscheinend nur auf der Durchreise waren, kannte er jeden Fußbreit dieser Stadt.
Er hörte, dass die Feuerleute ihn verfolgten, doch sein Vorsprung wurde immer größer. Bis er zum dritten Mal in dieser Nacht Pech hatte. Aufmerksam gemacht von dem Lärm kamen ihm zwei Männer der Luftgilde, wahrscheinlich Händler, entgegen. Viele Händler, die in Ekaterin lebten, kannten und mochten Jorak, aber diese beiden waren Fremde. Und als sie ihn fliehen sahen, versperrten sie ihm den Weg und kamen drohend auf ihn zu.
Jorak stoppte ab, sah sich um. Kein Ausweg in Sicht. Jetzt blieben ihm nur noch die Formeln. Natürlich durfte ein Gildenloser sie nicht benutzen, aber daran hatte er sich nie gehalten. Er konzentrierte sich und murmelte die Formel, die Feuer aus der Luft rief. Eine Flamme loderte zwischen ihm und den beiden Neuankömmlingen auf und ließ sie erschrocken zurückweichen.
Doch die Flamme war längst nicht so groß, wie er geplant hatte. Und als er versuchte, die Formel für eine Sturmböe hinzukriegen, spürte er, dass auch das nicht klappen würde. Verdammt, ich habe zu viel getrunken, dachte Jorak verzweifelt. Außerdem fiel es ihm schwer, sich zu konzentrieren. Immer wieder musste er daran denken, was passieren würde, wenn sie ihn zu fassen bekamen. Dann konnten sie ihn nicht nur straffrei verprügeln, sondern sogar töten, und die Stadtwache würde gar nicht daran denken einzugreifen. Was für eine Ironie – hatte er die furchtbare Außengrenze Dareshs und den brutalen Stadtstaat Rhiannon überlebt, nur um hier auf seinem Heimatterrain erledigt zu werden?
Konzentrier dich, Jo, dachte er und schloss die Augen, um seine Kräfte zu sammeln. Wenn dieser letzte Versuch nicht klappte, musste er seinen Dolch ziehen und kämpfen.
»Moment mal«, sagte jemand laut.Eine klare, weibliche Stimme. Jorak erkannte sie sofort, und sein Herz setzte einen Schlag aus. Alena!
Er riss die Augen wieder auf und sah, dass sich hinter den beiden Männern der Luftgilde die schlanke Gestalt eines Mädchens gegen den Hintergrund des Fackelscheins abzeichnete. Alena zog ihr Schwert und ging in Kampfpose, alles in einer einzigen geschmeidigen Bewegung. Das Licht glänzte auf der Klinge, auf dem grünen Edelstein im Griff ihrer Waffe.
»Ihr hattet doch nicht etwa vor, meinem Freund zu schaden?« Die kalte Wut in Alenas Stimme ließ die beiden Händler zurückweichen. Sie verzichteten auf eine Antwort und verdrückten sich in eine Seitengasse. Doch gleich darauf echote der Lärm von rennenden Füßen, von aufgeregten Stimmen in der Gasse – die vier Feuerleute waren eingetroffen! Sie starrten Alena verblüfft an, dann rissen auch sie ihre Waffen heraus.
Besser, ich gehe aus dem Weg, dachte Jorak und zog sich in den Eingang eines kleinen Lagerhauses zurück. Keinen Moment zu früh, schon klang ihm das Geräusch von Stahl, der auf Stahl trifft, in den Ohren.
Es war ein ungleicher Kampf. Alena kämpfte leichtfüßig, mit kühler Präzision, während die vier Männer plump und langsam versuchten, ihrer Klinge auszuweichen und dabei selbst irgendwie anzugreifen. Als ihnen klarwurde, mit was für einer Gegnerin sie es zu tun hatten, war es fast zu spät. Nach zehn mal zehn Atemzügen machten sich die Männer taumelnd und fluchend in Richtung Gasthäuser davon.
Jorak musste grinsen. Wetten, dass die Kerle nie jemandem von dem kleinen Zwischenfall erzählen würden? Wahrscheinlich hätte ihnen sowieso niemand geglaubt, dass sie zu viert nicht gegen ein siebzehnjähriges Mädchen angekommen waren. Aber auch er selbst hatte wenig Lust, jemandem von der Sache zu erzählen. Dass er sich von seiner Freundin retten lassen musste, war schon ein wenig peinlich.
Alena steckte das Smaragdschwert weg und kam besorgt auf ihn zu. »Alles klar bei dir?«
Jorak nickte, obwohl ihm noch immer die Knie zitterten. »Die Zeit in Rhiannon hat mich wohl unvorsichtig gemacht. So knapp ist es schon lange nicht mehr gewesen. Was machst du eigentlich hier? Du wolltest doch erst in ein paar Tagen nachkommen?«
»Bedank dich bei meinem Vater«, meinte Alena. »Der hatte irgendwie eine Vorahnung und hat mir geraten, früher abzureisen. Erst habe ich drüber gelacht, dann hab ich’s doch getan.«
Sie nahmen sich in die Arme, küssten sich. Es war ein unglaubliches Gefühl, Alena wieder bei sich zu haben, und Jorak genoss jeden Atemzug. Doch viel Zeit hatten sie dafür nicht. »Besser, wir verziehen uns«, sagte er. »Bevor die Stadtwache doch noch auf die Idee kommt nachzuschauen, was hier los ist.«
Ohne sich abzusprechen, schlugen sie eine ganz bestimmte Richtung ein. Hier in Ekaterin hatten sie ein Versteck, das ganz ihnen gehörte und das für sie beide ein magischer Ort war. Alena wusste, dass sich der Haupteingang hier in der Nähe befand, aber um ihn zu erreichen, mussten sie ein Stück weit in den Schwarzen Bezirk hinein, die Gegend der Gildenlosen. Alena schauderte, als ihr der Gestank nach menschlichen Ausscheidungen und verrottenden Dingen – Gemüseresten, ungegerbten Häuten, Tierkadavern – entgegenschlug. Im schwachen Licht konnte sie die ersten Hütten und selbst gegrabenen Erdhöhlen erkennen. Kein Wunder, dass Jorak das Risiko einging, immer irgendwo anders in der Stadt unterzuschlüpfen.
»Wo hast du eigentlich Cchraskar gelassen?«, fragte Jorak jetzt leise.
»Ach, der jagt sich gerade sein Abendessen. Ich schätze, er wird bald wieder auftauchen.«
Sie fanden die richtige Erdhöhle und krochen hinein. Alena war unruhig. Würde alles noch so sein wie letzten Winter, oder hatte jemand das Versteck entdeckt? Vielleicht hatte sich irgendein anderer Gildenloser im Vorraum eingenistet, so dass sie nicht durch die geheime Tür in Keldos ehemalige Gemächer kamen?
»Keine Sorge«, flüsterte Jorak, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Gleich nachdem ihr aus Ekaterin weg wart, habe ich eine Familie von Iltismenschen gebeten, hier einzuziehen. Seither hat sich niemand mehr hergetraut.«
Alenas Gedanken wanderten zu Keldo. Der reiche Händler war, wie sich erst nach seinem Tod herausgestellt hatte, ihr Verbündeter gewesen. Ohne sein geheimes Wissen hätten sie und ihre Gefährten den Kampf gegen den Propheten des Phönix nicht überlebt. Und Keldos Kammern, in denen er sich vor der Welt zurückgezogen hatte, waren zu ihrem Versteck geworden. Ob es Keldo recht gewesen wäre, dass sie und Jorak immer wieder hierherkamen? Bestimmt, dachte Alena. Schließlich ist auch er von seiner Gilde – den Wasserleuten – ausgestoßen worden.
Die Iltismenschen waren gerade auf der Jagd, und so durchquerten Alena und Jorak den Vorraum schnell und öffneten die verborgene Tür. Abgestandene Luft flutete ihnen entgegen. Alena nahm einen Kerzenhalter, rief eine Flamme herab und sah sich um. Sie wanderten durch die prächtigen Räume, in denen sich edle, geschnitzte Möbel befanden, die Kissen darauf mit Goldfäden bestickt. Auf den Tischen standen kunstvoll geschmiedete Schalen und Kerzenleuchter. Der große Vorratsraum war gefüllt mit ganzen Krügen voller Wasserdiamanten, Ballen edler Stoffe, Gewürze und seltener Kräuter; in einer Ecke häuften sich Oriak- und Schneehörnchenfelle.
»Sieht alles noch genauso aus wie zuvor«, stellte Alena fest. Plötzlich war sie verlegen. In jeder Ecke schienen Erinnerungen zu lauern. Als sie das letzte Mal zusammen hier, in Keldos Versteck, gewesen waren, hatte sie Jorak noch nicht ausstehen können. War sie damals ein anderer Mensch gewesen? Oder er? Ja. Und wahrscheinlich war sie einfach zu blöd gewesen, um zu kapieren, dass er jemand Besonderes war.
Rasch durchsuchten sie den Lagerraum neben der Küche und sortierten mit spitzen Fingern alles aus, was in der Zwischenzeit verdorben war. Zum Glück waren noch genügend getrocknete Kräuter da.
Sie brauten daraus einen Krug frischen Cayoral und setzten sich an den großen Tisch im Hauptraum. Jorak nahm seinen Becher in beide Hände und wärmte sich daran. Er ist ganz schön still, dachte Alena. Sie hätte gerne gewusst, was ihm durch den Kopf ging.
»Ich kann so nicht weiterleben«, sagte Jorak plötzlich. Seine Stimme klang gepresst. Als Alena ihm erschrocken die Hand auf den Arm legte, fühlte sie die Anspannung in seinem Körper.
»Früher hat mir das nicht ganz so viel ausgemacht«, fuhr er fort. »Ein Ausgestoßener zu sein, mich durchschlagen zu müssen, ständig auf der Hut zu sein. Aber seit Rhiannon …«
Alena nickte. »Auf der anderen Seite der Grenze bist du ein paar Wochen lang ein normaler Bürger gewesen. Wenn du dortgeblieben wärst und dem Rat der Fünf nicht die Meinung gesagt hättest, dann müsste ich mich wahrscheinlich vor dir verbeugen und dich ›edler Herrscher‹ nennen oder so was. Und hier …«
Sie brauchte nicht weiterzusprechen, der Schreck über den Angriff vorhin saß ihnen beiden noch in den Knochen. Also fragte sie einfach: »Was wirst du tun?«
Jorak blickte hoch, sah ihr direkt in die Augen. »Gilt dein Angebot noch? Du weißt schon, welches.«
»Das war kein Angebot, das war ein Schwur. Natürlich gilt er.« Alena wusste noch genau, was sie ihm in der Felsenburg der Regentin gesagt hatte. Ich schwöre, dass ich dir helfen werde, von einer Gilde anerkannt zu werden. Und wenn die Vulkane von Tassos dabei verlöschen, dann sei’s drum. Alle hatten sie für verrückt erklärt. Denn Joraks Mutter gehörte der Luftgilde an, sein Vater der Feuergilde – Jorak hatte das Pech gehabt, dass keine der beiden Gilden ihn anerkannt hatte, als er noch ein Kind gewesen war. Inzwischen war er zwanzig Winter alt. Weit über das Alter hinaus, in dem man sich noch um Mitgliedschaft bewerben konnte.
»Aber du musst dir überlegen, in welche Gilde du überhaupt eintreten willst«, fiel Alena ein. »Feuer oder Luft. Beides geht nicht.« In ihren Tagträumen sah sie ihn längst im Schwarz der Feuerleute, das neue Amulett mit dem Flammensymbol um den Hals. Doch sie hatte nicht vor, ihm das zu gestehen.
Jorak verzog das Gesicht. »Das wird schwer. Beides wäre am besten, ich fühle mich ziemlich halb-halb. Lass mich darüber nachdenken, ja? Immerhin muss ich über meine Zukunft entscheiden. Morgen sage ich es dir.« Er zögerte. »Übrigens … es könnte sein, dass ich den Calonium-Armreif eine Weile ablegen muss. Das Ding verrät mich, jeder Mensch der Feuergilde spürt es an mir.«
Ihre Armreife waren ein Symbol ihrer Liebe, sie hatten sie gemeinsam geschmiedet. Alena schmerzte es, dass Jorak den Armreif ablegen wollte, aber sie verstand seine Gründe. »Du kannst ihn abgeschirmt bei dir tragen«, erklärte sie ihm. Zum Glück fanden sie in Keldos Lager einige flache Dosen aus Nachtholz, in die der Armreif genau hineinpasste.
In dieser Nacht lagen sie lange wach. Alena starrte mit hinter dem Kopf verschränkten Armen in die Dunkelheit. Sie hatte eine bittere Ahnung davon bekommen, was es bedeutete, einen Ausgestoßenen als Gefährten zu haben. Wenn er gildenlos bleibt, dann werden wir ständig kämpfen müssen, dachte Alena. Wir werden nie einfach so in eine Schänke gehen, zusammen durch einen der Bezirke schlendern können. Zusammenleben? Können wir vergessen, die Gilde würde mich sofort ächten. Ich dürfte ja eigentlich nicht mal mit ihm reden. Ein kleiner Fehler und mein Leben ist genauso ruiniert wie seins.
Und was war mit ihrer eigenen Zukunft? Sie wusste noch immer nicht, was ihr Weg war, wie sie ihren Lebensunterhalt verdienen sollte –, daran hatten ihre Erkundungen jenseits der Grenze nichts geändert. Alle anderen jungen Meister hatten längst ihren Platz im Leben gefunden, nur sie driftete noch herum und hatte nicht einmal eine vage Ahnung von dem, was sie machen konnte und wollte. Nicht mal die Schmiede ihres Vaters zu übernehmen ging jetzt. Natürlich, sie konnte ihre eigene Schmiede aufmachen, aber das reizte sie nicht wirklich.
Alena fühlte sich fast erdrückt von all diesen Problemen. Aber dann dachte sie trotzig: und wenn schon. Wir schaffen das – irgendwie. Und ich gebe Jorak nicht auf – komme, was wolle!
Es war das erste Mal, dass Rena eine Todeszeremonie der Wassergilde miterlebte. Still stand sie neben Tjeri, ihrem Gefährten, zwischen den anderen Leuten und wartete ab. Ihre bloßen Füße gruben sich in den feuchten Sand des Ufers und fühlten sich an, als würden sie bald abfrieren. Es war früher Morgen, noch schwebte Nebel über dem Heiligen See nahe Xanthu. Mit einem Schauder sah Rena, dass sich Hunderte von weißen Fischen im Flachwasser eingefunden hatten –, sie wussten aus Erfahrung, was bald kommen würde.
Nur wenige Schritte von den Fischen entfernt, am Ufer, hatte sich eine dichte Menschenmenge versammelt. Der Große Udiko war ein berühmter Sucher gewesen, er hatte vielen Bewohnern Dareshs geholfen. Viele von ihnen waren heute gekommen, um Abschied zu nehmen. Rena bemühte sich mit ihnen gemeinsam, das Ner’uljipa zu sprechen, die Abschiedsformel der Wassergilde. Sie ärgerte sich darüber, dass sie sich im fünften Satz verhaspelte, und bewegte lieber nur noch die Lippen.
Sie spürte, wie Tjeri neben ihr mit den Tränen kämpfte, und nahm tröstend seine Hand. Als er von Udikos Tod erfahren hatte, hatte er seinen Suchauftrag in Alaak sofort abgebrochen, um hier sein zu können.
Udikos massiger Körper wurde in ein Kanu getragen und von zwei Hütern hinausgerudert. Rena wandte den Blick ab, als die Leiche in den See fiel –, sie wollte nicht sehen, wie sich die Fische darüber hermachten. Tjeri hatte ihr das Ritual schon oft erklärt, aber so richtig hatte sich Rena nie an diese Art der Bestattung gewöhnen können. Sie war einfach zu verschieden von dem, was sie aus der Erdgilde gewohnt war. Wie der Grund des Gewässers wohl aussah – der Boden dicht bedeckt von weiß gebleichten Knochen und Schädeln?
Die Hüter des Heiligen Sees hatten sich zurückgezogen, hielten sich im Hintergrund. Es war die Aufgabe der Gäste, die Totenreden zu halten. Jeder, der eine Erinnerung beitragen wollte, konnte es tun. Tjeri war der Erste, der vortrat.
Rena ließ die Augen nicht von ihm. Er sah gut aus in seiner förmlichen dunkelblau-silbernen Tunika. Sein kurzes dunkles Haar glänzte wie poliertes Nachtholz. Zwei Libellen umschwirrten ihn, und aus dem Gestrüpp an den anderen Seiten des Sees lugten viele Augen; auch seine nichtmenschlichen Freunde spürten seine Trauer und blieben in seiner Nähe.
»Dass Udiko mich damals als seinen letzten Lehrling annahm, hat mein Leben bestimmt«, sagte Tjeri. Er hatte sich wieder gefangen, und nur wer ihn gut kannte, konnte hören, dass seine Stimme leicht zitterte. »Der Alte konnte ein echter Bastard sein, grob und respektlos. Besucher, die ihm nicht gepasst haben, hat er einfach aus der Kuppel geworfen. Aber wer ihn besser kennengelernt hatte, der merkte schnell, dass er ein wunderbarer Mensch war, einer, dem man bedenkenlos vertrauen konnte.« Tjeri erzählte ein paar Anekdoten aus seiner Zeit mit Udiko. Dann sagte er schlicht: »Er hat mir mehr bedeutet als mein wirklicher Vater«, senkte kurz den Kopf und überließ dann seinen Platz einer Frau, die berichtete, wie Udiko ihrem Kind das Leben gerettet hatte.
Es dämmerte schon, als endlich der letzte Besucher seine Erinnerung an Udiko vorgetragen hatte. Renas Füße schmerzten und fühlten sich gleichzeitig an wie Eisklumpen; am liebsten hätte sie sich vor einem Lagerfeuer aufgetaut. Doch als Tjeri vorschlug: »Lass uns in einem See übernachten, unter freiem Himmel«, nickte sie. Sie wusste, dass er das jetzt brauchte.
Langsam wanderten sie Richtung Norden und ließen sich in das ruhige silberne Wasser des Vanatu-Sees gleiten, der sich Hunderte von Baumlängen weit erstreckte, bis fast vor ihre Haustür. Im Wasser war Tjeri in seinem Element, er schwamm kraftvoll und geschmeidig. Aber nach fünfzehn Wintern mit ihm in Vanamee war auch Rena eine gute Schwimmerin, und sie schaffte e mitzuhalten.
Als sie ein gutes Stück vom Festland entfernt waren, gaben sie etwas Luft in die Schwimmhaut, ließen sich auf dem Rücken treiben und blickten in den sternbesetzten Himmel. Nur die Rufe der Gelbspötter und das leise Sirren einzelner Mücken begleiteten sie. Sie begannen zu reden – über das Leben, über das Sterben, über Freunde, die sie an den Tod verloren hatten. Schon seltsam, wie man nach einer Bestattung auf einmal über so was spricht, dachte Rena. Dabei zähle ich erst fünfundreißig Winter und Tjeri ist nicht viel älter.
»Ich muss unbedingt mal wieder meinen Baum besuchen«, sagte Rena.
»Ja, mach das«, meinte Tjeri. »Möchtest du, dass ich mitkomme?«
»Das wäre schön. Du musst dir ganz genau einprägen, wo er steht. Du weißt ja, was du zu tun hast, falls ich vor dir sterbe …«
Er grinste. »Ich habe mir längst gemerkt, wo er steht. Du hast mal wieder vergessen, dass du den Bund mit einem Sucher geschlossen hast.«
»Gib bloß nicht so an«, gab Rena lächelnd zurück, rollte die Kapuze ihrer Schwimmhaut aus und legte den Kopf hinein, um zu schlafen. Sie war froh, dass es Tjeri schon etwas besser ging.
Sie hatte ihren Baum im Alter von zehn Wintern gefunden, als ihr Onkel sie mal wieder zum Holzsammeln in den Weißen Wald ausgeschickt hatte. Erschöpft und hungrig war sie auf eine Lichtung gehinkt – und hatte die Luft angehalten beim Anblick einer großen, frei stehenden Viveca, die ihre Äste majestätisch über die Lichtung wölbte. Ihre Blätter waren silberweiß und glänzten, als der Wind in die Baumkrone fuhr, wie Tausende von kleinen Spiegeln im Sonnenlicht. Wie alle Menschen der Erdgilde konnte auch Rena Bäume im Wind sprechen hören, und das Gedicht, das die Viveca flüsterte, verzauberte sie mit seiner schlichten Schönheit.
Sofort entschied sich Rena, bei diesem Baum zu rasten. Um ihn herum wuchs dichtes weiches Wintergras, und sie machte es sich darin gemütlich und lehnte sich gegen den Baumstamm. Von hier aus hatte man einen herrlichen Blick über die Lichtung. Es war ein kalter Tag, doch der Stamm schien Wärme auszustrahlen. Zwischen den Blättern hingen noch ein paar kleine dunkle Früchte, ein wenig verschrumpelt, aber süß von der Herbstsonne. Rena brauchte nur die Hand auszustrecken, um sie zu pflücken. Sie fühlte sich geborgen wie selten zuvor.
Seit diesem Tag kehrte sie immer wieder zu der Viveca zurück, zu ihrem Lieblingsplatz. Im Frühling und Sommer blühte der Baum in prachtvollem Rot, im Herbst war er überladen mit schmackhaften Früchten, die er freigiebig anbot. Dieser Baum war ein einziges Geschenk, das Wunder ihrer Kindheit.
Als ihr Onkel und Lehrmeister sie drängte, endlich einen Lebensbaum zu pflanzen – so war es in der Erdgilde Sitte –, sagte Rena: »Brauche ich nicht. Ich habe schon einen.« Als er die Stirn runzelte, nahm sie ihn zum ersten Mal mit auf die Lichtung, zu der Viveca. Ihr Onkel warf einen langen Blick auf den Baum und nickte. Dann half er ihr, den grünen Stoffstreifen mit ihrem Namenszeichen am Stamm zu befestigen und sich mit dem Baum bekannt zu machen. Seitdem war die Viveca ganz offiziell ihr Baum, und Renas Herz klopfte vor Freude.
Inzwischen wohnte Rena mehrere Tagesreisen entfernt an der Grenze zu Vanamee, sie konnte ihren Lebensbaum nicht mehr so oft besuchen. Zu ihm zurückzukehren war wie immer ein Fest. Obwohl es Spätsommer war, blühte die Viveca noch, und ihr Duft durchzog die geschützte, sonnenbeschienene Lichtung. Tjeri ließ sich ein Stück entfernt im Gras nieder und stützte sich auf einen Ellenbogen. »Lass dich nicht stören, ich schaue unauffällig zu …«
Rena setzte sich neben den Stamm und streckte sanft die Hand aus, legte sie auf die glatte Rinde. Die Aura der Viveca war stark und warm, hüllte Rena ein wie eine Umarmung. »Ich bin es«, sagte Rena leise, aber das war gar nicht nötig, schon veränderten sich die Gedichte, die ihr Baum im Wind flüsterte, hießen sie willkommen.
»Kann gut verstehen, dass du hier begraben sein willst«, seufzte Tjeri zufrieden und kaute auf einem Grashalm. »Das hier ist einer der schönsten Flecken von ganz Daresh. Das Seenland ausgenommen.«
Rena ging zu ihm hinüber. »So, jetzt muss ich dir noch genau zeigen, wo ich später mal zwischen den Wurzeln liegen will. Du wirst das schließlich eines Tages organisieren müssen.«
Doch Tjeri schüttelte den Kopf und zog sie neben sich ins weiche Gras. Sanft nahm er ihre Hand. »Erklär das vielleicht besser auch jemand anderem.«
»Wie meinst du das?« Gedanken rasten durch Renas Kopf. Er schien zu denken, dass er früher sterben würde als sie! War er krank? Hatte er ihr etwas verschwiegen? Hatte der Angriff des Eis-Dämons im letzten Winter ihn irgendwie vergiftet?
»Erstens habe ich als Sucher eine Berufung, die nicht ganz ungefährlich ist«, sagte er ruhig. »Und zweitens hatte ich, als ich damals aus dem Kerker der Felsenburg zurückkam, so eine Art Vision, eine Traumsuche. Ich weiß, wie alt ich werde, und ich habe kein Problem damit. Es ist noch einige Winter hin, keine Sorge.«
»Ah. Eine Vision.« Rena war etwas wohler zumute. Sie glaubte nicht an solche Dinge. Aber gefährlich war an Visionen, dass sie zu selbsterfüllenden Prophezeiungen werden konnten. Wenn er an die Vision glaubte, verhielt sich Tjeri vielleicht so, dass er nicht alt wurde … und dann würde wahr werden, was er gesehen hatte.
»Weißt du was, wir könnten beim Mond-Orakel vorbeischauen«, schlug Rena vor. Sie schaffte es schon fast, heiter zu klingen. »Das ist nur ein paar Stunden Fußmarsch von hier. Dann soll uns das Orakel einen Tipp geben, wer wessen Begräbnis organisieren muss.«
Tjeri horchte auf. »Das Orakel, diese drei eigenartigen Kinder? Ja, das fände ich interessant. Man hört ja so viel davon in letzter Zeit. Warst du schon mal da?«
»Nein – aber das wäre doch ein guter Anlass«, meinte Rena. Sie gestand sich ein, dass auch sie neugierig war auf das Orakel. So etwas hatte es auf Daresh noch nicht gegeben. Ein guter Grund, um es sich anzusehen, selbst wenn ihre Frage nicht gewesen wäre.
Als Alena erwachte, merkte sie, dass Jorak wieder – oder immer noch? – mit offenen Augen an die Decke des Verstecks starrte. Sie legte den Arm über ihn. Ob er sich schon entschieden hatte? »Na, hast du gar nicht geschlafen?«
Ein brauner pelziger Kopf mit runden Ohren und menschlichen Zügen tauchte über der Kante des Bettes auf. »Nee, die Jagd war zzu gut heute, viel zzzu gut.«
Alena warf ein Kissen nach ihm und brüllte: »Cchraskar, du sollst mich nicht immer erschrecken! Außerdem will ich nicht, dass du hier einfach so reinplatzt!« Sie war froh, nicht bei Zärtlichkeiten mit Jorak ertappt worden zu sein.
Jorak lächelte nur. Er hatte wohl tatsächlich kein Auge zugetan und mitbekommen, dass der junge Halbmensch früh am Morgen eingetroffen war. »Schade um das Kissen. Ich wette, gleich fliegen die Federn.«
»Yau! Gute Idee«, maunzte Cchraskar, warf sich auf das Kissen, verbiss sich darin und rollte damit durch den Raum.
»Gut, dass es im Versteck reichlich Bettzeug gibt«, meinte Alena. Sie stützte sich auf die Ellenbogen, damit sie Jorak besser in die Augen sehen konnte. »Also, fangen wir noch mal von vorne an. Hast du dich für eine Gilde entschieden?«
Er seufzte tief. »Nach stundenlangem Grübeln, ja. Für Luft.«
Alena war enttäuscht. Er wollte nicht in ihre Gilde! Sie hatte gehofft, sie könnte ihre Welt mit ihm teilen. Die Talente, die er dafür brauchte, hatte er ja.
»Ich musste auch daran denken, wofür ich die besseren Voraussetzungen habe«, versuchte Jorak zu erklären. »Ich bin in Nerada aufgewachsen, bei den Luftleuten, meine Mutter hat mir alles beigebracht, was ein Händler können muss. In der Feuergilde wäre ich vermutlich nie gut genug, um irgendeiner Berufung zu folgen. Diese Welt ist mir noch zu fremd.«
»Das ist kein Problem – ich könnte dir alles beibringen, was du wissen musst!«
»Nein«, sagte Jorak, und auf einmal war sein Gesicht eine Spur kühler als zuvor. »Ich will es bei Luft versuchen.«
»Gut«, sagte Alena schnell. Er sollte nicht denken, dass sie ihn bevormunden wollte. »Dann müssen wir uns jetzt überlegen, wie wir es anstellen, dass du aufgenommen wirst.«
»Das ist genau das Problem.« Jorak wand sich eine von Alenas glatten rotbraunen Haarsträhnen um den Finger. »Ich habe mich schon ein halbes Dutzend Mal beim Rat beworben, und ich fürchte, die kriegen höchstens einen Wutanfall, wenn ich mich schon wieder melde.«
»Aber du bist nicht mehr derselbe Mensch, der sich damals beworben hat! Du hast die Grenze überquert, hast im Thronsaal vor der Regentin gestanden –, und du hast in Rhiannon eine Formel gefunden, die hier unbekannt ist.« Alena erinnerte sich noch gut an die drei Tornados, die Jorak mit dieser Formel rufen konnte!
»Stimmt, die Formel ist ein Tauschgut der Extraklasse.« Joraks Miene wurde wieder etwas heiterer. »Mit etwas Glück nehmen sie mich in die Gilde auf, nur um an die Formel heranzukommen.«
»Nur musst du ihnen irgendwie das Angebot machen. Und das geht schlecht, wenn sie nicht mehr mit dir reden.« Alena überlegte. »Ich glaube, das ist ein Fall für einen anonymen Brief.«
Jorak grinste. »Das ist gut. Ich habe noch nie einen anonymen Brief geschrieben. Zählt also als etwas Neues für den Tag.«
In der Bibliothek des Verstecks war reichlich Schreibmaterial. Zusammen setzten sie sich daran, die Botschaft zu formulieren. Einen geeigneten Empfänger dafür wusste Jorak schon: Zurzeit hielt sich, wie er gehört hatte, ein mächtiger Meister vierten Grades namens Elaudio in Ekaterin auf. Wenn sie es schafften, ihn zu überzeugen, dann war das ihr Freibrief für eine Audienz beim Hohen Rat der Luftgilde. Er befand sich in Eolus in der fernen Provinz Nerada.
»Hast du Elaudio schon mal gesehen?«, fragte Alena neugierig.
Jorak nickte. »Ja, auf dem Markt. Er hat immer eine zahme Bolgspinne dabei, die auf ihm herumkriecht, und dazu einen Schwarm von Leibwächtern um sich.«
Nach langem Brüten über die richtigen Formulierungen hatten sie die Nachricht zusammen. Jorak übersetzte sie in die alte Handelssprache, um zu signalisieren, dass sie von jemandem aus der Luftgilde kam, und schrieb in seiner besten Schönschrift:
Meister Elaudio,
es gibt eine Formel der Luftgilde, die bisher niemand außer mir kennt. Ich habe sie auf einem alten Pergament entdeckt und ausprobiert. Sie hat eine sehr starke Wirkung. Wenn Ihr mehr über die Formel erfahren wollt, dann findet Euch morgen Nacht bei Aufgang des dritten Mondes allein an der Stelle ein, an der früher der Palast der Trauer gestanden hat.
»Er wird platzen vor Neugier«, meinte Jorak zufrieden.
Alena war sich nicht ganz so sicher. »Aber was ist, wenn er nicht kommt? Vielleicht sollten wir ihm lieber einen Treffpunkt in der Stadt nennen. Der Weg den Hügel hinauf zur Palastruine ist beschwerlich. Vielleicht hält er es für einen schlechten Scherz und entscheidet, dass es ihm nicht der Mühe wert ist. Und was, wenn er nicht mit sich handeln lässt?«
»Er wird. Der Handel ist seine Berufung. Er hat aus einem kleinen Stützpunkt am Rand von Nerada ein reiches Netzwerk von Handelsposten gemacht, so was schafft man nur mit viel Geschick.«
Doch Alena war noch nicht beruhigt. Und so wie ihr Vater nahm sie es ernst, wenn sie ein schlechtes Gefühl hatte. »Er wird nicht allein kommen.«
»Ich auch nicht. Oder wollt ihr etwa daheimbleiben, Cchraskar und du?«
»Vergisss es!«, fauchte Cchraskar durch die halb offene Tür.
»Na also, dachte ich mir«, sagte Jorak und lachte.
Das Mond-Orakel lag am Rand der Alestair-Berge, nahe der Felsenburg der Regentin. Schroff, fast ohne Übergang, erhoben sich die grauen Zinnen des Gebirges aus der grün bewachsenen Ebene, ließen den Tempel an ihrem Fuß winzig erscheinen.
Neugierig blickte Rena von einem Hügel aus auf den Tempel des Orakels hinunter. Mit seiner Kuppelform glich er einem Erdhaus, aber er war nicht mit Gras überwachsen, sondern schien aus weißem Stein gebaut zu sein. Fünf Baumlängen weit um den Tempel herum schien eine Art Bannmeile zu verlaufen, dahinter sah Rena ein Lager, Dutzende von Menschen in Zelten und provisorischen Unterkünften aus Zweigen. Der Rauch der vielen Feuerstellen stieg ihr in die Nase.
»Sieht so aus, als hätte das Orakel jede Menge Besuch«, meinte Tjeri.
Als sie durch das Lager wanderten, sah Rena an Kleidung, Ausrüstung und Gildenzeichen, dass hier Menschen aus ganz Daresh, aus allen Provinzen und Gilden, zusammengekommen waren. Sie tauschte einen Blick mit Tjeri, und er nickte. So eilig hatten sie es nicht – erst wollten sie herausfinden, was das hier für Menschen waren. Sie steuerten eine der Feuerstellen an. Fünf Leute der Luftgilde – zwei davon mit einem Pfadfindervogel auf der Schulter – saßen dort und kochten gerade in einer geschwärzten Eisenkanne Wasser für Cayoral auf.
»Friede den Gilden«, sagte Tjeri und hob die Hand. Eine seiner Libellen ließ sich davon nicht stören und hockte weiter auf seinem Handgelenk.
Ein bärtiger Mann etwa Mitte zwanzig winkte sie näher und lud sie mit einer Handbewegung ein, sich zu setzen. Er schenkte ihnen zwei Becher Cayoral ein. »Na, wollt ihr auch eine Deutung?«
»Ich nicht, ich habe in meinem Leben schon ein paar zu viel bekommen«, meinte Tjeri und zog eine Grimasse. »Aber meine Gefährtin hat eine Frage.«
Der Mann lachte bitter auf. »Na, dann viel Spaß beim Warten!«
»Wieso? Wie lange seid ihr denn schon hier?«, fragte Rena erstaunt.
Diesmal antwortete eine junge Frau. »Ich erst seit zwei Wochen, aber er da ist schon drei Monate hier und Grawo schon seit letztem Sommer.«
»Seit letztem Sommer?!«
Grawos Gesicht war zerfurcht, seine grauen Haare lang und zottelig. Ganz langsam blickte er auf. Seine Augen waren trübe. Erloschen, dachte Rena. »Meine Tochter wird vermisst«, murmelte er. »Seit letztem Frühjahr. Wir waren auf Handelsreise durch Alaak, als sie verschwunden ist. Ich muss wissen, was mit ihr geschehen ist. Ob sie noch lebt.«
Mitleidig blickte Rena ihn an. Die Ungewissheit musste schlimm sein.
»Aber wieso habt ihr keinen Sucher beauftragt?«, fragte Tjeri verständnislos.
Der Alte seufzte. »Wisst Ihr, was das kostet? So was kann ich mir nicht leisten.«
Tjeris Augen waren ganz schmal geworden. Abrupt stand er auf. »Komm, Rena. Wir gehen jetzt zum Orakel. Ich hätte inzwischen auch eine Frage. Nämlich, warum diese Leute hier nicht wenigstens ihr Anliegen vortragen dürfen.«
Sie bedankten sich für den Cayoral und machten sich auf den Weg.
»Du wirst ihm helfen, nicht wahr?«, fragte Rena ihren Gefährten leise.
Tjeri ließ den Blick nicht von den Toren des Tempels, denen sie sich näherten. »Ja, ich übernehme seine Suche und verzichte auf den Lohn.« Er verzog das Gesicht. »Jedenfalls, wenn wir heil wieder rauskommen und uns das Orakel nicht in ein paar wollköpfige Tunnelschnecken verwandelt.«
Die zwei Menschenlängen hohen Tore waren aus poliertem Silber, in das ein Abbild des nächtlichen Himmels eingraviert war. Dareshs drei Monde – Ellowen, Deeowen und Benawen – waren in verschiedenfarbigen Metallen eingefügt. Irgendjemand mit viel Geld hält große Stücke auf dieses Orakel, ging es Rena durch den Kopf.
Vier bewaffnete Wachen standen neben dem Tor stramm. Als Rena sich näherte, hoben sie ihre Schwerter – und ließen sie wieder sinken, als der kommandierende Offizier Rena erkannte und seinen Leuten ein Handzeichen gab.
»Seid gegrüßt, Rena ke Alaak«, sagte er. »Schön, dass Ihr wieder in der Gegend seid. Ihr sucht eine Deutung?«
Es hat doch seine Vorteile, berühmt zu sein, dachte Rena. Seit ihren Friedensmissionen war sie auf Daresh bekannt und geachtet. Der Mann vor dem Tor musste ein Offizier sein, der sie aus der Burg kannte. Zum Glück ließ ihr Namensgedächtnis Rena nicht im Stich. »Das tue ich, Lanjo. Außerdem bin ich schlicht und einfach neugierig.«
»Verständlich. Ich lasse Euch gleich anmelden.«
Einer der Soldaten verschwand durch einen kleineren seitlichen Eingang und kam kurz darauf zurück. »Geht klar, sie sind bereit.«
Das große Tor öffnete sich knarrend. Bevor Rena und Tjeri hindurchgingen, winkte Lanjo Rena noch einmal beiseite. Plötzlich war seine Stimme eindringlich. »Wenn ich Euch einen Tipp geben darf, Meisterin, fragt sie auf keinen Fall nach ihren …«
»Wo bleiben denn diese Besucher?« Eine schrille Stimme aus dem Inneren schreckte Rena auf. Suchend blickte sie sich um und erkannte eine Erdgildenfrau mit verkniffenem Gesicht, die eilig auf sie zuwatschelte. Sie trug eine kostbare silberne Robe mit dem gleichen Sternenmuster wie das Außentor, doch an ihr wirkte die Kleidung nicht elegant, sondern beulte sich aus wie ein Rübensack.
»Sie kommen ja schon, Ellba, reg dich ab«, brummte der Offizier.
Rena und Tjeri gingen in den Innenhof und sahen sich um. Sie standen in einem großen Garten mit Obstbäumen, Büschen und Wiesenflächen. In seiner Mitte erhob sich das weiße Gebäude. Unter den Bäumen liefen drei blonde, dünne und blasshäutige Kinder umher – die Drillinge! Gemeinsam bildeten sie das Mond-Orakel.
Rena schätzte die Kinder auf acht oder neun Winter. Sie sahen sich so ähnlich, dass es schwer war, sie zu unterschieden.
Anderskinder nannte man solche Menschen mit besonderen Fähigkeiten auf Daresh. Es kam selten vor, dass eines geboren wurde, und meistens starben sie jung, nicht immer durch natürliche Ursachen. Ein solches Anderskind hatte Rena schon kennengelernt: Moriann, die Tochter einer früheren Regentin. Sie konnte Gegenstände zum Leben erwecken. Eines Tages machte sie den Fehler, in eine der Säulen des Sommerpalasts hineinzugehen … und fand nicht mehr hinaus. Sie war Herrscherin und Gefangene des Palasts zugleich gewesen, bis das Gebäude im letzten Winter beim Kampf gegen Cano, den einstigen Propheten des Phönix, zerstört worden war.
Die Kinder beachteten die Besucher nicht. Unbekümmert spielten sie auf der Wiese, als gäbe es im Garten niemanden außer ihnen.
»Wer seid Ihr?«, keifte die Alte, als sie Rena und Tjeri sah. »Wichtige Persönlichkeiten, ha, Ihr kommt nicht vom Rat, das sehe ich! Wieso haben die Wachen Euch einfach so hereingelassen? Ihr wollt sicher nur die Kinder stören!«
In Tjeris dunklen Augen blitzte der Schalk auf. Er machte einen Schritt vor und ergriff die Hand der Frau. »Wir sind hier, weil wir schon viel von Euch gehört haben, alle haben uns gesagt, Ellba ist es, die ihr besuchen solltet, Ihr hättet so viel zu erzählen«, sagte er. Verblüfft starrte die Alte ihn an, versuchte wohl zu entscheiden, ob das alles Ironie oder womöglich doch ernst gemeint war.
Rena nutzte Tjeris Ablenkungsmanöver sofort und schlenderte auf die Kinder zu. »Hallo«, sagte sie beiläufig. »Wie heißt ihr? Ich bin Rena.«
Zwei der Kinder waren Mädchen, das dritte ein Junge. »Xaia«, sagte das eine Mädchen, »Daia«, das andere, »Taio«, meinte der Junge.
Sie schienen nicht sehr neugierig. Rena entschied sich, noch ein bisschen mehr zu erzählen, vielleicht tauten die drei dann auf. »Ich bin hier in der Gegend aufgewachsen und gerade da, um meinen Lebensbaum zu besuchen. Eine wunderschöne, zweihundert Winter alte Viveca auf einer kleinen Lichtung westlich von hier. Sagt mal, aus welcher Gilde seid ihr eigentlich? Erde?«
Keine Antwort, nur leere Gesichter. Oje, falsche Frage, dachte Rena. Wahrscheinlich sind sie nie aufgenommen worden. Hätte ich besser vorher rausfinden sollen. War es das, was mir der Offizier sagen wollte –, dass ich sie nicht nach ihrem Element fragen soll?
»Deutungen können wir nur machen, wenn die Monde aufgehen«, sagte eines der Mädchen, wahrscheinlich war es Daia.
»Inspiriert euch das?« Rena war gespannt.
»Es geht eben vorher nicht.«
»Macht euch das eigentlich Spaß, Deutungen zu treffen, Vorhersagen zu machen?«
Die drei Kinder zuckten die Schultern. »Manchmal ist es ganz lustig«, sagte Xaia. Rena konnte sie nur dadurch unterscheiden, dass sie ein Armband aus geflochtenem Gras trug.
Rena entschied, sich ein Stück weit vorzuwagen. »Ihr habt wahrscheinlich ganz schön zu tun, was? Manche Leute vor dem Tor warten schon seit Monaten auf eine Antwort von euch.«
»Sie sind dumm«, sagte Taio. »Warum gehen sie nicht einfach wieder?«
»Weil ihre Fragen für sie sehr wichtig sind«, meinte Rena geduldig und dachte: Verurteile sie nicht. Wahrscheinlich haben sie ihr halbes Leben hier drin verbracht, sie wissen nichts von der Welt. »Ich hätte auch eine Frage. Es wäre toll, wenn ihr mir die beantworten könntet.«
»Vielleicht«, sagte Daia keck. »Sag mir, was du wissen willst!«
Rena schloss kurz die Augen. Plötzlich hatte sie Angst, ihre Frage zu stellen. Vielleicht war es besser, wenn sie die Antwort nicht wusste. Nein, sie musste es wissen, sie wollte nicht, dass Tjeri sich da in etwas hineinsteigerte. »Wer wird zuerst sterben, ich oder mein Gefährte?«
Die Kinder nickten. Im Hintergrund hörte Rena wieder die keifende Stimme ihrer Aufpasserin, die schnell näherkam. Anscheinend konnte Tjeri sie nicht länger in Schach halten. »Oje, da kommt Ellba«, entfuhr es Rena. »Ist sie eigentlich mit euch verwandt, eure Mutter oder Tante oder so?«
In dem Moment, da Rena ihre Eltern erwähnte, veränderten sich die Gesichter der drei Kinder – kalt und hasserfüllt wurden sie. Plötzlich fiel Rena wieder ein, dass dies hier unberechenbare Anderskinder waren.
»Na, dann noch viel Spaß«, sagte Rena hastig und zog sich zurück.
Wie sich herausstellte, beruhigte sich Ellba sogleich, als Rena wieder Abstand zu den Kindern wahrte. »Sie sind sehr empfindlich, müsst Ihr wissen«, belehrte sie die Besucher mit strenger Miene.
Hab ich gemerkt, dachte Rena.
»Ellba ist schon seit zwei Wintern hier«, erzählte Tjeri munter. »Sag mal, Ellba, wo kommen die Kinder eigentlich her? Hier aus der Gegend?«
»Nein, nein, sie sind aus dem Karénovia-Tal an der Grenze von Alaak zu Tassos und Vanamee. Aus dem gleichen Dorf wie ich«, berichtete Ellba in wichtigem Ton. »Wir haben die Kinder erst entdeckt, als die Eltern einen Unfall hatten und gestorben sind, möge der Erdgeist ihnen gnädig sein! Sie müssen die Kleinen versteckt gehalten haben. Aber nach dem Unfall kam natürlich alles ans Licht, ha, so was geht schließlich nicht, so was kann man doch einfach nicht machen, Kinder verstecken!«
»Haben die drei um ihre Eltern getrauert?«, fragte Rena neugierig. Nach der Reaktion der Kinder vorhin zweifelte sie daran.
»Getrauert?« Ellbas Stimme wurde noch ein wenig schriller. »Keine Träne, keine! Ehrlich gesagt, sie waren uns ein bisschen unheimlich. Niemand wollte sie aufnehmen. Schließlich habe ich mich erbarmt, ich, obwohl mir schon damals der Rücken weh tat und ich manchmal kaum gehen konnte!«
Tjeri fragte: »Wann hast du gemerkt, dass sie … besondere Fähigkeiten haben?«
»Ich habe sie beobachtet bei ihren seltsamen Spielen und habe genau zugehört bei dem, was sie gesungen haben, ha, sonst hat das keiner gemacht! Dabei habe ich gemerkt, dass sie die Zukunft vorhergesagt haben. Gleich habe ich das dem Rat gemeldet. Tja, und heute weiß der Rat gar nicht mehr, wie er ohne meine drei auskommen soll. Jawohl!« Stolzgeschwellt blickte Ellba zu Xaia, Daia und Taio hinüber, die die Erwachsenen nicht mehr beachteten. Doch dann stutzte sie. »Oje, ich muss noch das Essen machen! Sie werden leicht wütend, wenn es nicht pünktlich auf dem Tisch steht. Ihr könnt gerne hier im Garten warten. Aber nur bis der Mond aufgeht. Sie mögen es nicht, wenn man sie bei den Vorhersagen beobachtet, das mögen sie ganz und gar nicht!«
»Vielen Dank«, sagte Tjeri freundlich. »Wir machen es uns bequem.«
Sobald sie allein waren, wurde er schlagartig ernst. »Und, was hast du herausgefunden?«
»Leider nicht viel. Auf den ersten Blick wirken sie wie normale Kinder, aber das sind sie nicht. Bei vielen Themen blocken sie sofort ab.«
Er verzog das Gesicht. »Es würde mich sehr interessieren, was für ein seltsamer Unfall das war, bei dem ihre Eltern umgekommen sind.«
»Ja, mich auch«, gestand Rena und blickte hinüber zu den Kindern. »Glaubst du, dass wir hier in Gefahr sind? Ich fürchte, ich war ihnen nicht sonderlich sympathisch. Warum habe ich mich bloß nicht besser vorbereitet?«
»Womit denn vorbereiten? Habe ich irgendwelche dicken Schriftrollen über das Orakel übersehen?« Tjeri neckte die Libelle, die sich auf seiner Hand niedergelassen hatte. »Lass uns einfach mal abwarten, was die drei zu deiner Frage sagen. Meinst du, sie können wirklich in die Zukunft sehen?«
»Ich hoffe es sehr«, sagte Rena trocken. »Sonst wird der Rat gerade fein an der Nase herumgeführt.«
Es war eine warme Sommernacht, und da die beiden ersten Monde am Himmel standen, lag ein sanfter Schimmer über der Landschaft. Joraks Atem ging schnell, als er sich einen Pfad durchs hüfthohe Gestrüpp von Silberthymian und Disteln bahnte.
Es war ein Fehler, diesen Treffpunkt zu wählen, ging es ihm immer wieder durch den Kopf, während er die Fackel hob, um einen guten Blick auf den Pfad zu haben. Zwar hatten sie auf dem Hügel außerhalb der Stadt einen guten Blick auf die Umgebung und reichlich Platz, um seine drei Tornados zu demonstrieren. Aber im freien Gelände war die Flucht auch viel schwerer, wenn sie Pech hatten und Elaudio sich als nicht vertrauenswürdig erwies. Und seit der Palast der Trauer im letzten Winter abgebrannt war, erschien ihm das Gemäuer noch unheimlicher als zuvor. Wie die Rippen eines toten Tieres ragten die übrig gebliebenen Säulen in den Himmel, der einst weiße Stein war vom Feuer geschwärzt. Es beruhigte Jorak, dass er Alena und Cchraskar in der Nähe wusste. Sehen konnte er sie nicht, sie schlichen ihm gut versteckt nach und würden sich etwas westlich von hier auf Beobachtungsposten begeben.
Pünktlich kurz vor dem Aufgang des dritten Mondes war Jorak an Ort und Stelle. Von hier oben konnte man auf die Lichter der Stadt herunterblicken. Wer sich auskannte, konnte sogar die einzelnen Bezirke erkennen. Jorak hörte Elaudios Herannahen schon von weitem. Schnaufend wie ein krankes Dhatla arbeitete er sich durchs Gebüsch, eine kleine Laterne in der Hand, und unterhielt sich dabei wütend mit sich selbst oder vielleicht mit seiner Spinne. Jorak musste lächeln, auch wenn er nervös war. Wachsam hielt er die Augen nach Leibwächtern offen, aber er sah keine. Wetten, die lagen irgendwo auf dem Bauch im Gebüsch – so wie Alena?
Jetzt hatte der Mann ihn erreicht. Mit einem Schaudern sah Jorak die fast kopfgroße schwarze Spinne, die auf seiner Brust hockte. Eine so riesige Bolgspinne hatte er noch nie gesehen, sie musste mehr als zwanzig Winter alt sein.
Elaudio hob seine Laterne, musterte Jorak mit zusammengekniffenen Augen. »Ihr seid also der Kerl, der mich herzitiert hat«, brummte er. »Musste einen Galaempfang dafür sausen lassen! So was schätze ich gar nicht!«
Äußerlich gelassen hielt Jorak dem Blick stand. Er trug eine neue Tunika und hatte seinen Umhang so um Hals und Nacken drapiert, dass man nicht sehen konnte, ob er ein Gildenamulett hatte oder nicht. Die übliche Begrüßung Friede den Gilden hatte Jorak schon lange nicht mehr über die Lippen gebracht, also sagte er einfach: »Freut mich, dass Ihr hergefunden habt.«
Angewidert sah sich Elaudio um. »Scheußlicher Fleck Erde, das hier. Hoffe, wir brauchen nicht allzu lange zu bleiben. Wer beim Nordwind seid Ihr eigentlich?«
»Das tut erst mal nichts zur Sache«, sagte Jorak. Vielleicht hatte Elaudio schon von seinen vielen Versuchen gehört, in die Gilde aufgenommen zu werden –, Jorak wollte nicht, dass der Mann zu früh ahnte, worauf das Geschäft hinauslaufen sollte. »Ich habe von Euren guten Verbindungen zum Rat gehört und brauche einen Fürsprecher. Vielleicht kann ich Euch ja davon überzeugen, mein Anliegen zu unterstützen.«
»Möglich«, knurrte der Mann. »Aber ich warne Euch, ich bin nicht leicht zu beeindrucken. Bin durch alle Provinzen gereist, hab schon viel gesehen. Also los, wollt Ihr mir Eure tolle Formel vorführen oder nicht?«
»Moment noch«, sagte Jorak vorsichtig. »Erst brauche ich Euer Versprechen, dass Ihr nur dem Rat von dem erzählen werdet, was Ihr heute hier sehen …«
Mit erstaunlicher Schnelligkeit schoss Elaudios Hand vor und packte Joraks Umhang. Ebenso schnell hatte Jorak den Arm hochgerissen, um sich zu schützen. Doch der Händler hatte so viel Kraft, dass die Schließe des Umhangs aufsprang und der schwere dunkle Stoff zu Boden fiel.
»Dacht ich’s mir doch!«, brüllte Elaudio und stieß Jorak vor die Brust, dass er zurücktaumelte. »Gut angezogen, aber doch ein verdammter Gildenloser. An der Begrüßung verraten sie sich immer. Hast du mich nur herbestellt, um mich auszurauben? Wachen! Wachen!« Es raschelte im Gebüsch, und drei schwer bewaffnete, stämmige Männer stürzten heran.
Doch diesmal hatte Jorak nichts getrunken, er war ausgeruht und gesund. Er schloss einen kurzen Moment die Augen, konzentrierte sich, rief all seine Kraft zusammen. Dann murmelte er, fast ohne die Lippen zu bewegen, die Formel, die er in Rhiannon entdeckt hatte. Er fühlte, wie die Kraft durch ihn hindurchströmte. Ein tiefes Brausen erklang, das in ein Donnern überging. Im schwachen Licht der Monde erhob sich eine wirbelnde Säule aus Luft, dann eine zweite, eine dritte. Sie schienen bis zu den Wolken zu reichen. Ein zweiter Befehl, und die Säulen begannen zu tanzen, auszuschwärmen, Elaudio und Jorak zu umkreisen und die Wachen zurückzudrängen.
Der Händler – und die Männer, die ihm zu Hilfe eilen wollten – blieben erschrocken stehen. Aber nicht lange. Dann rief Elaudio »Na warte!« und begann ebenfalls, die Lippen zu bewegen. Ein heftiger Windstoß fegte über den Hügel und brachte eine Seitenwand der Ruine zum Einsturz. Jorak musste die Arme um die Reste einer halb verfallenen Säule schlingen, um nicht umgeworfen zu werden. Seine Tornados wurden vom Wind zerfasert, sie schwankten, drohten, in sich zusammenzustürzen.
Ach du große Wolkenschnecke, dachte Jorak erschrocken. Seine Demonstration war gerade dabei, ziemlich spektakulär in die Hose zu gehen! Stark war er, dieser Elaudio, und viel besser ausgebildet als er selbst. Doch Jorak war nicht bereit aufzugeben. Er sammelte all seine Kraft, um den Wind zu besänftigen, zu bremsen und gleichzeitig seine arg wackeligen Tornados aufrecht zu halten. Es klappte.
Elaudio runzelte die Stirn, und ganz plötzlich ließ der Wind nach.
Doch Jorak hatte keine Zeit aufzuatmen. Etwas Schwarzes sauste ihm entgegen, prallte auf seine Brust. Haarige Beine liefen über seinen Hals, auf sein Gesicht zu. Die Bolgspinne! Giftig war sie nicht, aber dieses Biest war so groß, dass es sich auf sein Gesicht legen und dort festklammern konnte, bis er erstickt war!
Voller Ekel griff Jorak nach der Spinne, versuchte, sie von sich herunterzureißen. Doch die Insektenbeine hakten sich in seine Kleidung, unaufhaltsam strebte das Tier auf seinen Mund zu. Irgendwo im Hintergrund hörte er Elaudio lachen.
Jetzt könnte Alena langsam mal eingreifen, dachte Jorak verzweifelt. Verdammt, wo ist sie? Wo ist Cchraskar?
Bilder rasten durch seinen Kopf. Er hatte mal mit Bolgspinnen zu tun gehabt, als er auf dem Tiermarkt ausgeholfen hatte. Der Händler hatte ihm erklärt, mit welchem Griff man sie wieder unter Kontrolle bekam, wenn sie Ärger machten. Es gab da einen bestimmten Punkt knapp hinter dem Kopf, wenn man den mit drei Fingern einklemmte … aber wo hatte dieses Biest überhaupt seinen Kopf? Er fühlte nur einen runden Leib und jede Menge Beine! Und es hatte schon sein Kinn erreicht, er schaffte es nicht, es festzuhalten oder von sich herunterzureißen. Vielleicht sollte er sich auf den Boden werfen und das Vieh einfach unter sich zerquetschen …
Es war sein Glück, dass Elaudio in diesem Moment die Fackel hob, vielleicht um das Schauspiel besser zu genießen. Jorak sah kreisrunde schwarze Augen ganz nah vor sich, und plötzlich wusste er wieder, wo der Lähmungspunkt war. Instinktiv griff er zu, richtig diesmal. Die Spinne spürte, dass es ihr an den Kragen ging, und begann zu zappeln, versuchte zu fliehen. Aber es war zu spät. Einen Atemzug später hing sie schlaff in Joraks Griff.
Jorak wartete einen Moment, bis sein Atem wieder ruhiger ging. Dann sagte er in gespielt gleichmütigem Ton: »Dürfte ich Euch die hier zurückgeben?« und hielt Elaudio die erstarrte Bolgspinne hin.
Vorsichtig nahm Elaudio das haarige Tier. Er massierte es kurz, bis es sich wieder bewegte, dann streichelte er es und setzte es sich auf die Schulter. Als Elaudio sich wieder Jorak zuwandte, lächelte er. »Du hast es geschafft, Junge«, sagte er. »Ich bin beeindruckt. Ein Schwächling bist du nicht, und diese drei Tornados sind ein nettes Spielzeug. Jetzt weiß ich auch, mit wem ich’s zu tun habe. Du bist der Kerl, der mit dem Feuergildenmädel über die Grenze gegangen ist, stimmt’s?«
»Ja«, sagte Jorak. »Mein Name ist Jorak ke Tassos.« Er war so erschöpft, dass er sich erst einmal auf einen Säulenstumpf setzen musste. Es kostetete ihn immer enorme Kraft, die Tornados zu rufen.
»Also, was willst du?«, fragte Elaudio. »Ich gebe dir fünfhundert Tarba, ein starkes Dhatla und ein Haus in einem meiner Handelsposten, wenn du mir die Formel nennst.«
Jorak schluckte. Ganz offensichtlich waren seine Tornados mehr als ein Spielzeug, sonst hätte Elaudio nicht so viel geboten – und ganz sicher würde er sich noch hochhandeln lassen. Das hieß, er, Jorak, wäre reich, von einem Tag auf den anderen. Aber er wäre immer noch der verdammte Gildenlose, den jeder mit Abscheu ansah. Er zwang sich »Kein Interesse« zu sagen.
»Hm … zusätzlich eine hübsche Frau, ganz für dich allein?«
»Danke. Hab ich schon.«
»… und dazu einen eigenen Pfadfindervogel, der dich durchs Grasmeer führt, der dir verbunden ist wie ein Freund und Bruder?«
»Seinen Pfadfinder bekommt man vom Rat, und dazu muss man der Gilde angehören«, sagte Jorak bitter. Pfadfinder waren ganz besondere Vögel – sie waren sehr klug und standen mit »ihrem« Menschen in geistigem Kontakt. Außerdem hatten sie einen untrüglichen Orientierungssinn. Ohne einen dieser Vögel als Begleiter verirrten sich im Grasmeer von Nerada selbst Menschen, die dort ihr ganzes Leben verbracht hatten. Jorak hatte, als er im Grasmeer aufgewachsen war, viele Winter lang von einem eigenen Pfadfinder geträumt, aber irgendwann die Hoffnung aufgegeben.
Gut gelaunt schlug Elaudio ihn auf die Schulter und störte sich nicht daran, dass Jorak zurückzuckte. »Jetzt weiß ich, was du willst. Lass mich raten. In unsere Gilde aufgenommen werden, stimmt’s? Im Austausch gegen die neue Formel?«
»Ja«, sagte Jorak schlicht. »Werdet Ihr mich unterstützen?«
»Jedenfalls werde ich dem Hohen Rat eine Botschaft schicken und ihnen empfehlen, dich dein Anliegen vortragen zu lassen. Mehr kann ich nicht tun.« Elaudio lachte. »Du könntest sogar Erfolg haben, ja, möglich ist’s. Aber weißt du, was für ein gefährliches Spiel du spielst? Der Rat ist tausendmal mächtiger als du, und du willst ihm die Bedingungen diktieren. Ich hoffe für dich, Junge, dass du damit davonkommst!«
»Viel habe ich nicht zu verlieren«, sagte Jorak und sah zu, wie Elaudio sich mit seinen Leibwächtern den Weg durch die Sträucher zurück in die Stadt bahnte.
Als die Männer weg waren, kroch Alena ganz in der Nähe aus dem Gebüsch und klopfte sich den Dreck von der Tunika. Neben ihr klaubte sich Cchraskar mit verzogenem Gesicht Disteln aus seinem cremefarbenen Bauchfell. »Das hast du prima gemacht, Jo«, sagte Alena fröhlich. »Mit etwas Glück können wir schon bald nach Nerada aufbrechen!«
Jorak nickte, seufzte und setzte sich erst mal. Grinsend holte Alena eine kleine Flasche aus einer Tasche ihrer Tunika und hielt sie ihm hin. »Wie wär’s mit einem Schluck Grünkorn-Schnaps auf den Schreck?«
»Ja, ich glaube, den kann ich jetzt gebrauchen«, sagte Jorak verlegen, setzte die Flasche an die Lippen und nahm einen Schluck von der bitteren Flüssigkeit, die nach Kräutern und den Tiefen des Waldes schmeckte. Auf einmal war er froh, dass Alena vorhin nicht eingegriffen hatte. Hatte er sich schon zu sehr daran gewöhnt, dass sie ihn im Notfall aus der Patsche holte? Dabei war er immer so stolz darauf gewesen, sich selbst helfen zu können.
Jorak verdrängte den Gedanken. »Komm, lass uns zurückgehen nach Ekaterin«, sagte er und stand auf.
Vor dem Aufgang des ersten Mondes scheuchte Ellba Rena und Tjeri ins Haus, damit das Mond-Orakel ungestört seine Rituale vollziehen konnte. Kurz bevor Tjeri ins Innere ging und die Tür hinter sich schloss, warf er einen Blick zum Himmel und runzelte die Stirn. »Schau mal, eine Flederkatze! Seit wann gibt’s die denn hier?«
»Was? Nein, du musst dich irren, es leben keine Flederkatzen in Alaak.«
»Vielleicht hat sie sich verirrt und wollte ganz woandershin.« Tjeri setzte sich an den großen runden Tisch, an dem Ellba gerade die Essensreste abräumte. Sie hatte ihnen nichts angeboten; so weit ging ihre Gastfreundschaft dann doch nicht. Rena war nicht traurig deswegen; es roch muffig in dem niedrigen, dunklen Tempel und ein wenig nach angebranntem Blätterbrei.