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Ein geheimnisvoller weißer Panther zieht durchs Land. Wer ihn sieht, ringt schon bald mit dem Tod. Auch im Dorf der jungen rebellischen Schwertkämpferin Alena treibt er sein Unwesen. Als ihr Vater schwer erkrankt, hat Alena keine Wahl: Sie muss herausfinden, was es mit dem Dämon auf sich hat. Gemeinsam mit der Vermittlerin Rena, dem Sucher Tjeri und dem Iltismenschen Cchraskar begibt sie sich auf die Reise nach Ekaterin, die Stadt der Farben. Hier gerät sie nicht nur in das Visier des gefährlichen Heilers vom Berg, sondern begegnet auch dem jungen Gildenlosen Jorak. Und sie muss kämpfen – um das Leben ihres Vaters, um ihre Zukunft und um den Jungen, den sie liebt. Auftakt der faszinierend-phantastischen Trilogie von Bestsellerautorin Katja Brandis
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Seitenzahl: 417
Katja Brandis
Tochter der Flammen
Katja Brandis, geb. 1970, studierte Amerikanistik, Anglistik und Germanistik und arbeitete als Journalistin. Sie schreibt seit ihrer Kindheit und hat zahlreiche Geschichten, Romane und Sachbücher für junge Leser*innen veröffentlicht, darunter die Bestsellerserien »Woodwalkers« und »Seawalkers«. Sie lebt mit Mann, Sohn und drei Katzen in der Nähe von München.
Weitere Bücher von Katja Brandis bei Fischer KJB: Daresh – Im Herz des Weißen Waldes Daresh – Im Tal des Kalten Feuers Daresh – Das Land der flüsternden Seen
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden Sie unter www.fischerverlage.de
Rebellin
Der zweite Bürge
Erde und Feuer
Die Prüfung
Der Heiler vom Berge
Verbündete
Das Smaragdschwert
Der weiße Panther
Stadt der Farben
Kerrik und Lilas
Verlorene im Niemandsland
Sturz in die Dunkelheit
Wahrheit
Keldo
Der alte Gildenlose
Unter falschem Verdacht
Versuchung
Die Tunnel
Keldos Geschichte
Drei Gesetze
Der Palast der Trauer
Ein Kuss
Grenzgänger
Der Herzschlag der Dinge
Das Mädchen und die Schlangen
Feuerblüten
Feuer und Eis
Die Macht der Erde
Zurück im Palast
Letzte Chance
Freunde
Anhang
Dank
Hinweis auf Leseprobe
Leseprobe
Ich weiß, was sie vorhaben, dachte Alena ke Tassos. Sie lag auf dem Bauch an der Kante des Hügels und spähte hinunter auf die Straße, die sich durch den schwarzen Vulkansand zog. Neben ihr kauerte Cchraskar und witterte mit den feinen Sinnen des Iltismenschen nach rechts und links. Er und Alena blickten hinüber zu der anderen Seite der Schlucht – wenn man genau hinschaute, bemerkte man Zarko und seine Getreuen, die anderen Jugendlichen des Dorfes Gilmor, die dort hockten. Sie hatten sich zwar gut versteckt, aber es war ein kalter Wintermorgen, und Alena sah die Wolken ihres Atems.
»Sie warten darauf, dass ein Händler vorbeikommt«, flüsterte Alena.
Cchraskar nickte. Seine pelzigen cremefarbenen Ohren zuckten amüsiert. »Na klarr«, knurrte er. »Warenlager auf vier Beinen zu sprengen macht am meisten Spaß.«
Alena grinste. Händler ritten meist auf Dhatlas, horngepanzerten Reptilien. Dhatlas waren riesig und stark, aber schreckhaft. Wenn sie Angst bekamen, gruben sie sich blitzschnell in den Boden um sich zu verstecken – wenn man nicht rechtzeitig absprang, riskierte man verletzt zu werden. Da auf der Handelsstraße, die mitten durch Tassos führte und westlich von Gilmor verlief, ein paarmal am Tag Reisende vorbeikamen, war Dhatlas-Erschrecken viele Winter lang eine von Alenas Lieblingsbeschäftigungen gewesen. Inzwischen fand sie es kindisch. Zarko dachte offensichtlich anders darüber.
»Ich höre was«, sagte Cchraskar.
Gespannt beobachteten sie, wie ein Dhatla am Anfang der Schlucht erschien und in ihre Richtung schlurfte. Noch war es zu weit weg um Einzelheiten erkennen zu können, aber Alena erkannte an seinem Gang, dass es schwer bepackt war und eine lange Reise hinter sich hatte. Ein einzelner Mensch saß inmitten der Waren auf seinem Rücken.
Alena wusste, was Zarko tun würde. Er hatte nicht viel Phantasie. Er würde, wenn das Dhatla in der Mitte der Schlucht war, eine große Flamme neben ihm auflodern lassen. Das genügte normalerweise.
Langsam kam das Dhatla näher. Je mehr Alena von seinem Reiter erkennen konnte, desto nagender wurde das schlechte Gefühl in ihrem Inneren. Es war ein alter Mann der Luftgilde, sie konnte seinen kurzen weißen Bart erkennen. Er wirkte erschöpft. Wahrscheinlich hatte er in Tassos schon viel auszustehen gehabt und dachte jetzt nur daran, wie er sicher durch die Phönixwälder und ins grüne, freundliche Alaak kam. Sicher ahnte er nichts von der Gefahr, die ihm auch so nah der Grenze noch durch die Feuergilde drohte.
»Der wird bestimmt verletzt, wenn sich sein Dhatla eingräbt«, flüsterte Alena.
»Jedenfalls wird er lange brauccchen, bis er seinen Krempel wieder ausgebuddelt hat«, zischte Cchraskar.
Spontan beschloss Alena, Zarko und seinen Leuten die Suppe zu versalzen – sie konnte die Kerle sowieso nicht ausstehen. Sie konzentrierte sich und murmelte eine Formel, die Feuer aus der Luft rief. Auf der Straße unter ihr erschien ein handhohes, sonnenhelles Flämmchen.
So müde der Händler auch war – er sah die Flamme und begriff die Warnung sofort. Hastig setzte er sich auf und trieb sein Dhatla an, das die kleine Flamme neugierig, aber ohne Angst beäugt hatte. Widerwillig begann das Reptil zu rennen; der Tritt seiner Säulenbeine ließ den Boden erbeben.
Von der Anhöhe gegenüber erschollen Flüche. Zarko richtete sich auf und schüttelte die Faust. Alena sah, dass er sich in seiner Wut ziemlich weit zur Kante vorwagte. Und dass er eine Fackel neben sich gelegt hatte. Schwerer Fehler! Sie murmelte eine zweite Formel. Die Fackel loderte auf. Überrascht wich Zarko zurück. Die Kante bröckelte unter seinen Füßen. Seine Freunde schafften es im letzten Moment, Zarko an seiner Tunika zu packen, aber sie wurde ihm dabei halb über den Kopf gezogen.
Verblüfft blickte der alte Händler auf den Jungen, der halb nackt über ihm baumelte, und duckte sich erschrocken hinter das hornige Nackenschild seines Reittiers. Zehn Atemzüge später verließ das Dhatla die Schlucht und war damit in Sicherheit.
Auch Zarko hatte noch mal Glück gehabt. Zappelnd verschwanden seine Beine über der Kante der Schlucht. Er war nicht wirklich in Gefahr gewesen – der Abhang war nicht besonders steil. Aber es hätte sicher nicht viel Spaß gemacht, ihn hinunterzurollen.
Gut gelaunt krochen Alena und Cchraskar zurück in Richtung der Ebene und machten sich auf den Weg nach Gilmor. Kurz vor dem Dorf verabschiedete sich Alena von ihrem besten Freund – Halbmenschen wie er waren im Dorf nicht gerne gesehen. Alena fand das blödsinnig. Sie kannte Cchraskar seit ihrer Kindheit, sie waren zusammen aufgewachsen.
Als sie sich Gilmor näherte und die ersten schwarzen Pyramiden in Sicht kamen, wandten sich Alenas Gedanken langsam wieder ihrem Alltag zu. Vielleicht kam heute endlich die Nachricht, auf die sie schon seit Ewigkeiten wartete …
Sie hatte Glück. Als sie gerade hinter dem Haus ihre täglichen Übungen durchging, sah sie, wie ein Wühler aus der Erde hervorkam und auf sie zukroch. Schnell steckte sie ihr Schwert weg und nahm dem kleinen Tier die Nachricht ab, die es in einer silbernen Hülse am Hals trug. Das Zeichen des Rates war darauf eingraviert. Alenas Herz schlug schnell. Dieser Brief musste die Antwort auf ihre Frage sein!
Plötzlich hatte sie es gar nicht mehr eilig, das Ding aufzumachen. So viel hing von dieser kleinen Botschaft ab. Was war, wenn der Rat nicht erlaubte, dass sie schon jetzt Meisterin wurde, mit fünfzehn statt mit siebzehn? Alena sehnte sich danach, Meisterin zu werden. Endlich frei sein. Sich von niemandem mehr etwas vorschreiben lassen müssen. Außerdem wollte sie nicht noch länger darauf warten, ihr Meisterschwert zu bekommen. Das Schwert, das sie für den Rest ihres Lebens tragen würde.
Alena drehte die Hülse in der Hand. Sie war nur halb so lang wie ihr kleiner Finger, ein paar Worte passten auf das Blatt in ihrem Inneren, mehr nicht.
Ihr Vater lugte durch die Tür. »Beim Feuergeist, mach das Ding auf, Allie!«, knurrte er. »Ich will wissen, wann ich dein Schwert fertig haben muss.«
Alena hasste es, wenn sich ihr Vater in ihre Angelegenheiten mischte. Sie war längst alt genug, um selbst zu entscheiden, wann sie eine Nachricht aufmachte! »Ach, lass mich doch in Ruhe!«, schoss Alena zurück und stapfte in ihr Zimmer.
Das Zimmer lag an der Außenseite der schwarzen Pyramide und maß in jeder Richtung zwei Menschenlängen. Alena hatte die schräge Metallwand mit einer Drahtbürste bearbeitet, bis alle Rostflecken weg waren und sie sich unscharf darin spiegeln konnte. Wenn sie auf ihrem Bett lag, einer dicken Matte auf dem Boden, reichte sie manchmal hoch, um das kühle, geriffelte Metall der Seitenwand an den Fingerspitzen zu spüren.
Neben der Tür lehnte ihr Lehrlingsschwert, frisch poliert wie immer. Auf dem Boden lagen Grasmatten, abgewetzt von ihren nackten Füßen und grau von der Asche, die sie aus der Schmiede hereingeschleppt hatte. Doch so ein bisschen Asche störte niemanden, der wie Alena zur Feuergilde gehörte.
Im Regal an der anderen Wand lagen einige Messer und Werkzeuge, die sie in den letzten Wintern geschmiedet hatte, ein paar zusammengefaltete Tuniken und die engen Hosen, die sie gerne trug. Außerdem das seltsam geformte Gehäuse einer Singenden Seeschnecke, die ihr Tante Nana mal mitgebracht hatte, und anderer Krimskrams. Dazu ein Dutzend Schriftrollen – das Sturmläufer-Epos, Barsoks Geschichte Dareshs, Heldensagen der Feuergilde und vieles andere. Alena las alles, was sie in die Finger bekam.
Ihre wirklich wichtigen Sachen hatte Alena in einer ausgehöhlten Stelle der Schlafmatte versteckt. Gedichte, die sie selbst geschrieben hatte. Niemand wusste, dass es sie gab. Die Leute würden sie ja doch nur mit denen ihres Vaters Tavian vergleichen, und die waren wunderschön. Eine Kette, die Alena sich gemacht hatte – sie hatte dafür heimlich ein paar Brocken Telvarium aus dem Erzlager ihres Nachbarn genommen. Das war keine gute Idee gewesen, aber die Kette gefiel ihr immer noch. Die Kralle eines Rubinvogels, die ihr Cchraskar geschenkt hatte. Und dann noch der komplett erhaltene Schädel eines Wühlers, weiß und glatt und vollkommen.
Alena warf sich auf ihr Bett und starrte zur Decke. Schon nach kurzer Zeit hielt sie es nicht mehr aus. Mit zitternden Fingern pulte sie die Botschaft aus der Silberhülse und rollte das Blatt auseinander.
Tani, Gildenschwester,
die Arbeiten, die Ihr uns gesandt habt, sind ausreichend, um Euch zur Meisterschaft zuzulassen. Obwohl Ihr offiziell nicht alt genug seid.
Alena fühlte, wie das Glücksgefühl in ihr hochquoll wie Lava, ihr den Atem nahm. Doch dann las sie weiter.
Bitte gebt Bescheid, wer Eure beiden Bürgen sind. Dann seid pünktlich zur Wintersonnenwende im Turm des Rates, und bringt Euer Meisterschwert mit.
Das Glücksgefühl zerstob. Alena stopfte die Nachricht in die Kapsel zurück und schleuderte das ganze Ding an die Wand. Bürgen zu finden, das war das Problem. Sie hatte gehofft, es würde sich irgendwie von selbst lösen. Hatte es natürlich nicht. Sie musste noch einmal versuchen im Dorf herumzufragen. Einen Bürgen hatte sie immerhin schon – ihren Vater. Tavian ke Tassos. Aber selbst ein berühmter Schwertkämpfer und Schmied wie er konnte nicht wettmachen, dass niemand sonst für seine Tochter bürgen wollte.
Es klopfte an der Außentür der Schmiede. Alena regte sich nicht, blieb einfach liegen. Sie wollte jetzt niemanden sehen. Die Tür quietschte an rostigen Angeln, als ihr Vater öffnete. »Friede den Gilden, Marvy. Wie siehst du denn aus?«
Marvys Stimme klang schüchtern. Wie immer. »Ach, mir ist ein Holzklotz ins Feuer gefallen. Das gab ganz viele Funken.«
»Und dein Meister will dir keine neue Tunika kaufen? Obwohl da zwei Dutzend Löcher drin sind?« Ihr Vater seufzte. »Sag Alena, sie soll dir einige von ihren Sachen geben.«
»Mach ich. Danke!«
Ein paar Atemzüge später schlüpfte das Mädchen in Alenas Zimmer, die Wangen noch gerötet von der Kälte. Alena hob nur kurz den Kopf und starrte dann wieder an die Decke. Marvy war dünn und hatte struppige Haare, die die Farbe von Steppengras hatten. Manchmal roch sie auch nicht allzu gut. Gelegentlich wünschte Alena sie hätte an diesem einen grässlichen Tag vor einem Winter nicht verhindert, dass ihr Meister Marvy wieder mal verprügelte. Seither lief Marvy, die einen Winter jünger war als Alena, ihr nach und war kaum abzuschütteln. Denn obwohl sich Marvys Meister bitter bei Alenas Vater beschwert hatte, hatte sich die Baumratte seither nicht mehr getraut zuzuschlagen. Er wusste genau, wer von ihnen beiden besser mit dem Schwert umgehen konnte. Nämlich Alena.
»Es heißt, du hast eine Nachricht bekommen«, sagte Marvy. »Vom Rat.«
In kleinen Ortschaften sprach sich alles so fürchterlich schnell herum. Es hatte keinen Sinn, zu lügen. »Ja«, erwiderte Alena und seufzte tief. »Sie wollen mich zulassen. Aber ich habe immer noch keinen Bürgen.«
»Ich würde für dich bürgen, wenn ich könnte!«
»Tja, nett von dir. Aber du bist nun mal keine Meisterin.«
»Hast du den Vater von Kilian und Jelica schon gefragt?«
»Hat keinen Sinn. Zu dem war ich mal frech. Das hat der kein bisschen vergessen, fürchte ich.« Müde fuhr sich Alena durch die glatten rotbraunen Haare. Sie waren länger als bei Lehrlingsmädchen üblich und fielen ihr bis auf die Schultern. Es hatte viele Kämpfe mit ihrem Vater gekostet, bis er das akzeptiert hatte.
»Was ist mit Meisterin Kyria?«
»Die war entsetzt, dass ich deinem Meister gegenüber so respektlos war. Zu der brauche ich erst recht nicht zu gehen.«
»Oh«, sagte Marvy und schwieg eine Weile, dachte angestrengt nach. »Vielleicht der alte Dozek. Der mochte deine Mutter, hab ich gehört.«
Hoffnung keimte in Alena auf. »Ja, das wäre vielleicht was. Er ist zwar unglaublich alt, aber das macht ja nichts. Hauptsache, er bürgt für mich.« Warum war sie nicht schon längst auf ihn gekommen? Soweit sich Alena erinnern konnte, war er einer der wenigen Dorfbewohner, mit dem sie noch nie aneinandergeraten war und der ihrem Vater seine Vergangenheit nicht vorwarf.
»Gut. Gehen wir«, sagte Alena, rollte sich mit einer geschmeidigen Bewegung von ihrer Schlafmatte und schnallte sich ihr Lehrlingsschwert um. »Ich muss zurück sein, bevor der erste Mond aufgeht. Kampftraining.«
Das Dorf Gilmor war nicht groß, nur ein paar hundert Menschen lebten hier. Fast alle waren Feuerleute; für alle anderen Gilden war der Norden von Tassos eine gefährliche Gegend. Wie schwarze Skelette ragten die Phönixbäume rund um den Ort in den Himmel, ihre schweren, öligen Äste gingen in regelmäßigen Abständen in Flammen auf. So düngten sich die Bäume selbst, nur so schafften sie es, in der kargen Gegend zu überleben.
Gerade hüllte sich einer der Bäume rechts von ihnen in eine Feuerwolke. Alena genoss die Wärme und sog den herben Geruch nach Rauch und Harz ein. Schade, dass sie keine Zeit hatte, im Wald heimlich ein paar neue Formeln auszuprobieren. Neulich hatte ihr Vater ihr gezeigt, wie man Kaltes Feuer rief. Das war schwierig und gefährlich – also genau Alenas Sache.
Sie durchquerten das Dorf, Marvy immer einen Schritt hinter ihr.
Auf halbem Weg sah sie, dass Zarko und seine Getreuen am Rand des Dorfplatzes herumhingen. Alle waren sie da – Zarko, Rayka, deren kleiner Bruder Olkie, Doreal, die Geschwister Kilian und Jelica.
Rostfraß, dachte Alena alarmiert und sah sich nach einer Möglichkeit um, ihnen auszuweichen. Zarkos Leute waren die Letzten, denen sie jetzt begegnen wollte. Wahrscheinlich waren sie immer noch wütend und überlegten, auf welche Art sie sich am besten rächen könnten. Das konnte riskant werden! Aber es war schon zu spät, einen anderen Weg zu nehmen. Alena fühlte die Blicke, als sie und Marvy über den Platz gingen. Aber Zarko griff nicht an. Wahrscheinlich, weil Marvy bei ihr war. Ich wette, er will keine Zeugen, und wartet, bis er mich allein erwischt, dachte Alena. Als sie endlich die verschlungenen Pfade jenseits des Dorfes erreicht hatten, atmete sie freier.
Das Haus des alten Dozak lag außerhalb, ein ganzes Stück Fußmarsch entfernt. Er scherte sich wenig um das, was die anderen im Dorf taten. Brauchte er auch nicht. Sie kamen ja doch alle zu ihm, um Lederscheiden für ihre Schwerter anfertigen zu lassen. Darin war er ungeschlagen – oder er war es jedenfalls gewesen.
Es schien unendlich lange zu dauern, bis Alena Schritte heranschlurfen hörte und sich die Tür vor ihnen öffnete. Mit trüben Augen spähte der alte Dozak, ein baumlanger Kahlkopf, auf sie herunter. »Friede den Gilden, Meister Dozak«, sagte Alena höflich und verbeugte sich.
Der Alte runzelte die Stirn und deutete mit einer langsamen Bewegung auf seine Ohren.
»Ich bin’s, Alena – die Tochter von Tavian und Alix!«, brüllte Alena.
Verständnislos blickte der alte Dozak sie an. In seinem Blick war kein Funken des Erkennens.
Marvy und Alena sahen sich an.
Alena seufzte tief. »Tja, einen Versuch war’s wert.«
Als sie zurückkamen, war es schon fast Zeit für Alenas Unterricht. Hastig verabschiedete sie sich von Marvy und ging mit langen Schritten zu ihrem Haus zurück. Zu spät zum Essen heimkommen, die Arbeit in der Schmiede schwänzen, mit Blauem Feuer experimentieren – das ging alles noch. Aber zu spät zum Schwerttraining zu kommen war für ihren Vater eine Todsünde und bedeutete ein fürchterliches Donnerwetter.
Schnell zog sich Alena um und legte die schwarze Tracht an, die ihre Gilde zum Kampf trug. Sie nahm sich eins der hölzernen Übungsschwerter und ging hinaus zu dem kleinen freien Platz hinter der Schmiede. Tavian stand schon da und ging seinen eigenen Drill durch. Seine Bewegungen waren gedankenschnell und fließend, tänzerisch elegant, obwohl er seit einer schweren Verletzung leicht hinkte. Er ist verdammt gut – aber in zwei, drei Wintern bin ich auch so weit, dachte Alena trotzig und legte die Hände fest um das glatte Holz.
Sie versuchte, sich anzuschleichen, ihren Vater zu überraschen. Doch Tavian hatte sie längst bemerkt. Mit einem hellen Laut trafen ihre Holzschwerter zusammen. Alena parierte den Schlag und ging zum Angriff über, legte ihre ganze Wut und Enttäuschung hinein. Zwang ihren Vater sich voll zu konzentrieren. Ein berauschender Gedanke durchschoss Alena: Vielleicht schaffe ich es diesmal, ihn zu besiegen. Ein einziges Mal nur, ein einziges Mal! Doch einen Atemzug später setzte sie einen Schlag falsch an. Mühelos blockte Tavian ihn ab und hebelte Alenas Schwert nach unten. Die Holzspitze bohrte sich in den schwarzen Sandboden. Alena war froh, dass bei ihren Übungen nie jemand zusehen durfte. Das war ein Anfängerfehler gewesen.
»Du bist nicht bei der Sache«, sagte ihr Vater. »Was stand in diesem Brief?«
Die trotzige Antwort lag Alena schon auf der Zunge. Heraus kam dann doch die Wahrheit. Als könnte ihr Vater einfach so alles in Ordnung bringen. »Sie wollen einen zweiten Bürgen. Ist ja klar. Aber ich weiß nicht, wen, ich habe schon jeden gefragt.«
»Vielleicht kenne ich jemanden, der es machen würde«, sagte Tavian. »Jemand, den du zum Glück noch nicht vergrätzt hast.«
»Wer?« Alena ließ das Holzschwert sinken. Sie konnte sich jetzt nicht auf den Kampf konzentrieren.
»Deine Tante Nana.«
Alena bekam einen Lachkrampf. »Das meinst du nicht ernst, oder?«
Ihr Vater lächelte. »Doch, und ob. Die Frau, die du Tante Nana nennst, ist in Wirklichkeit nicht mit uns verwandt und heißt Rena ke Alaak. Hast du das nie mitbekommen?«
»Tante Nana ist Rena ke Alaak?« Alena kam sich dumm vor. Vielleicht hatte sie einfach nie danach gefragt. Oder sie hatte es wieder vergessen. Als Kind hatte ihr dieser Name sicher nichts gesagt. Doch inzwischen kannte sie die Geschichten alle. Wie Rena, damals ein Mädchen in Alenas Alter, die geheimnisvolle Quelle berührt hatte. Wie sie aufgebrochen war, um die vier verfeindeten Gilden Dareshs – Feuer, Wasser, Erde und Luft – zum Frieden zu bewegen und der skrupellosen Regentin Einhalt zu gebieten. Wie sie und das Volk von Daresh das mit der Hilfe von Alix, Alenas Mutter, tatsächlich erreicht hatten. Wie Rena später, als ein Bürgerkrieg zwischen Menschen und Halbmenschen drohte, das fast Unmögliche geschafft und zwischen beiden Seiten vermittelt hatte. Es war nicht ganz einfach, diese strahlende Heldin mit der Tante Nana zusammenzubringen, die Alena kannte.
Doch dann fiel Alena etwas Fürchterliches ein. »Ich denke, sie gehört zur Erdgilde?! Kann sie da vor unserem Rat für mich bürgen?«
»Hm, ich hoffe schon. Seit dieser Sache mit der Regentin ist sie so eine Art Ehrenmitglied der Feuergilde. Und sie war eine gute Freundin deiner Mutter. Es ist kein Zufall, dass dein Name so ähnlich klingt wie ihrer – du bist nach ihr benannt worden.« Tavian blickte sie amüsiert an. »Einen berühmteren Bürgen hat hier im Dorf noch niemand gehabt. Glaubst du, du kommst damit klar?«
»Wart mal ab, ob sie es überhaupt machen will!«
»Jedenfalls schreibe ich ihr gleich eine Nachricht.« Mit langen Schritten ging ihr Vater ins Haus zurück. Skeptisch blickte ihm Alena nach.
Als Rena heimkam, war Tjeri mal wieder im Wasser. Er ließ sich gemütlich auf dem See treiben, eine winzige Gestalt in der Ferne. Rena wusste, dass er bald an Land kommen würde. Die Libellen, die sie umschwebten, und die Salamander, die sich zwischen den Stelzen ihres Pfahlhauses schlängelten, würden ihm von Renas Rückkehr berichten. Sie kochte eine Kanne Cayoral, zog den dicken Winterumhang enger um ihren Körper und setzte sich im Schneidersitz auf die Schwimmplattform vor dem Haus, um auf ihn zu warten. Meist war das in dieser Jahreszeit kein Vergnügen, aber heute war ein milder Tag, nur an den Rändern des Sees glitzerte dünnes Eis.
Rena freute sich auf Tjeri – selbst nach vierzehn gemeinsamen Wintern noch. Sie hatten sich bei ihrer Reise durchs Seenland kennen gelernt, damals, als Rena die schwierige Aufgabe gehabt hatte, den Kontakt zu den Halbmenschen wieder aufzunehmen und einen Mord aufzuklären. Nach und nach war aus ihrer Affäre mit dem jungen Sucher und Agenten der Wassergilde mehr geworden, viel mehr. Schon einen Winter später hatten sie, wie es die Tradition seiner Gilde war, eine Muschel mit ihren Namenszeichen versehen und so den Bund geschlossen. Seither lebten sie an der Grenze zwischen Renas Heimat Alaak und Vanamee, dem Seenland. In einem Haus, dessen Front in den See hineinragte und dessen Rückseite in die Flanke eines Hügels reichte.
Für jedes wichtige Ereignis ihrer gemeinsamen Zeit hatten sie – wie es Sitte war – ein kleines Symbol in die andere Seite der Muschel geschnitzt. Es waren zwei Dutzend bisher, denn sie hatten eine stürmische Zeit hinter sich, voller Glück und Kummer. Es war ein harter Schlag gewesen, dass sie keine Kinder bekommen konnten. Und im letzten Winter hatte Rena sich dazu hinreißen lassen, mit einem der Männer zu schlafen, die zu ihr kamen, um ihren Rat zu erbitten.
»Wieso habe ich mich eigentlich all die Winter beherrscht, beim Brackwasser?«, hatte Tjeri sie angeschrien, als sie es ihm gestanden hatte. Bald darauf hatte sie erfahren, dass er seit neuestem mit einer hübschen blonden Frau aus seiner Gilde schwamm. Mit Mühe und Not hatten sie es geschafft, ihre Liebe zu retten.
»He, woran denkst du?« Eine feuchte Hand kitzelte sie im Nacken. Mit einer übertriebenen Grimasse zuckte Rena zurück. »Du sollst dich nicht immer anschleichen, verdammte Blattfäule!«
»Ich bin ganz laut aufgetaucht«, behauptete Tjeri und küsste ihren Hals. Dann setzte er sich ihr gegenüber und nahm sich eine Tasse Cayoral. Seine verschmitzten dunklen Augen musterten sie. Er hatte sich kaum verändert, seit sie ihn kennengelernt hatte, nur sein kurzes dunkelbraunes Haar war von ersten silbernen Fäden durchzogen. »Wie war’s im Ort?«
»Mal wieder Scharen von Leuten, die wollten, dass ich bei ihrem Streit vermittle. Das einzig Ungewöhnliche war eine Botschaft von Tavian. Er fragt, ob ich kommen könnte. Alena braucht dringend einen Bürgen, damit sie die Meisterprüfung ablegen kann.«
»Und, wirst du’s machen?«
»Wahrscheinlich schon. Sie hat sonst niemanden.«
Tjeri hob die Augenbrauen. »Für diesen Wildfang willst du deinen guten Ruf aufs Spiel setzen? Das gibt nur Ärger.«
»Ich schulde es Tavian«, sagte Rena. Erklärungen waren überflüssig – Tjeri wusste, wovon sie sprach. Hätten Tavian und Alix ihnen nicht vor vielen Wintern beim Kampf um den Smaragdgarten geholfen, würde Alix noch leben … und Alena hätte noch eine Mutter. Unwillkürlich drehte Rena den breiten silbernen Ring an ihrem Finger. Der unscheinbare Kristall, der darin eingebettet war, hatte ihr damals den Weg zum Smaragdgarten gewiesen.
»Du kannst nichts dafür, dass es so gekommen ist«, sagte Tjeri und seufzte.
»Kann sein«, erwiderte Rena. Doch das änderte nichts an ihren Gefühlen. Außerdem war Tavian längst ein Freund geworden. Wenn er und Alix’ Tochter sie brauchten – das hatte Rena sich schon vor langer Zeit geschworen –, würde sie für die beiden da sein. »Weißt du was, ich entscheide es vor Ort. Mal schauen, wie Alena sich entwickelt hat, seit ich das letzte Mal da war. Wann war das noch?«
»Als hier der große Sturm war und uns das verdammte Dach weggeflogen ist. Häuser sind furchtbar unpraktisch.«
Rena lächelte. Die Menschen der Wassergilde bewohnten Luftkuppeln tief unten in Seen. »So lange ist das schon wieder her? Noch ein Grund mehr, mal wieder vorbeizuschauen. Ich reise in den nächsten Tagen los. Mit etwas Glück bin ich in zwei Wochen zurück. Ist ja keine große Sache.«
Sie ahnte nicht, wie sehr sie sich damit irrte.
Es war am einfachsten, so zu tun, als wäre alles wie immer. Alena half in der Schmiede und legte letzte Hand an ihre Meisterarbeit, ein Messer mit schmaler, etwas mehr als handlanger Klinge und einem Griff aus Schlangenbaumholz. Ob das dem Gildenrat gefallen würde – oder war ihnen der Entwurf zu schlicht, zu schmucklos? Gestern hatte sie einen richtig üblen Traum gehabt. Sie hatte vor dem Rat gestanden und hatte auf einmal gar nichts mehr gewusst. Keine einzige Antwort hatte sie rausgebracht. Und als sie dem Prüfer das Messer zeigte, hatte er gesagt: »Ganz nett, aber wo ist Eure Meisterarbeit?«
Ugh. Alena zwang sich, den Gedanken von sich zu schieben. Jetzt musste das blöde Ding erst mal fertig werden. Wochenlang arbeitete sie schon daran, zwei Fehlversuche hatte sie weggeworfen. Aber diesmal sah das Messer perfekt aus. Heute wollte sie die Klinge noch einmal schleifen und polieren. Kritisch prüfte sie die Schneide mit dem Daumen …
»Hallo, Alena.«
Alena fuhr herum. Eine zierliche Frau mit klugen Augen stand im Eingang der Schmiede. Sie trug ihr hellbraunes, leicht gelocktes Haar offen, es fiel über den Rücken ihrer schlichten Tunika. Ziemlich dünne Arme, wenig Kraft, trägt nur ein einfaches Lehrlingsschwert, schätzte Alena sie blitzschnell ab. Und begriff mit Verspätung, dass sie Tante Nana gegenüberstand.
Plötzlich kam ihr der Name kindisch vor, und sie wusste, sie würde ihn nicht mehr über die Lippen bringen. »Hallo … Rena«, sagte sie verlegen.
»Oh, du hast dich geschnitten«, bemerkte die Frau und sah sie forschend an. »Tut mir leid, ich habe dich abgelenkt.«
Alena blickte auf ihre Hand. Ja, das Messer war scharf. Und sie hatte es sich gerade ordentlich über den Daumen gezogen. Blut tropfte auf den Boden. Verlegen holte sie einen Lappen und band ihn sich um den Finger. Warum hörte diese Frau nicht endlich auf, sie so anzusehen? Das machte sie nervös!
»Pa holt gerade Nachschub – wir haben kaum noch Caradium, und das Kupfer geht uns auch bald aus«, sagte Alena, weil ihr nichts Besseres einfiel. »Wollt Ihr … äh, willst du … drinnen auf ihn warten?«
Die Frau musste lachen. »Was ist denn mit dir los? Wir kennen uns schon eine Weile, weißt du nicht mehr?«
»Ja, schon.« Nur vorher wusste ich nicht, wie berühmt du bist, du blöde Motte. Verlegen wickelte Alena den Dolch in ein Tuch und legte ihn weg. Sie würde später daran weiterarbeiten.
»Frisch geschmiedet?«, fragte Rena.
»Ja.« Alena wollte Rena das Messer noch nicht zeigen. Nicht, bevor es fertig war und sie sicher sein konnte, dass es wirklich toll geworden war. Sie ging voran in den Wohnteil der schwarzen Pyramide. »Magst du etwas trinken? Cayoral?«, fragte Alena und war froh, als Rena nickte. Wenn sie Cayoral kochte, hatten ihre Hände etwas zu tun, dann fühlte sie sich wohler.
Schließlich saßen sie sich gegenüber. Alena merkte, wie ihre Schüchternheit langsam schwand. Es half, wenn sie wenigstens ab und zu daran dachte, dass das da vor ihr Tante Nana war.
»Danke, dass du so schnell gekommen bist«, sagte sie. »Ganz schön nervig, was der Rat verlangt.«
»So sind die Gesetze der Gilde eben. Glaubst du, du kannst die Prüfung schaffen?«
Alena entschied sich, ihre Albträume nicht zu erwähnen. Sonst überlegte es sich Rena vielleicht noch mal, ob sie sich für sie einsetzte. »Ja. Pa sagt, ich bin im Kampf schon so weit wie eine Meisterin zweiten Grades«, berichtete sie. »Schmiedekunst, Metallkunde, Heilkunde und so weiter … ach, das wird schon klappen. Fehlt nur noch ein Bürge.«
Der Wink mit dem Zaunpfahl ging ins Leere. Rena lehnte sich gemütlich zurück. »Was machst du eigentlich in deiner freien Zeit – so zum Spaß? Spielt ihr immer noch dieses Spiel, bei dem man eins von diesen Feuer speienden Viechern berühren muss ohne Verbrennungen abzubekommen?«
»Du meinst Neck-das-Tass. Nein, das ist was für Kinder. Das habe ich so mit fünf gespielt.« Langsam wurde Alena ungeduldig. Es ging hier nicht um irgendwelche dämlichen Spiele, sondern um ihre Meisterschaft! »Ich bin gern mit den Iltismenschen unterwegs. Und ich experimentiere viel mit Feuer.«
»Das hat deine Mutter auch gerne gemacht.« Rena lächelte. »Hat dir schon mal jemand gesagt, wie ähnlich du Alix siehst? Letzten Winter ist es mir nicht so aufgefallen, aber diesmal …«
»Ach ja?«, fragte Alena. Musste das sein, dass jeder sie mit ihrer Mum verglich? Das hatte sie noch nie leiden können. »Und, was ist jetzt – bürgst du für mich?«, entfuhr es ihr.
Rena beobachtete sie weiterhin genau und verbarg das nicht. »Gib mir einen Tag Zeit«, bat sie ruhig. »Morgen sage ich es dir.«
Alena war froh, als sie die Tür der Werkstatt klappern hörte – ihr Vater war zurück. Während der Begrüßung schaffte es Alena, sich davonzuschleichen. Niedergeschlagen warf sie sich auf ihre Schlafmatte. Wieso hatte sie ihre große Klappe nicht wenigstens diesmal halten können? Morgen musste sie das schaffen!
In dieser Nacht holte sich Alena den alten schwarzen Umhang ihrer Mutter, den sie oft trug, und deckte sich damit zu. Er war schon ziemlich zerschlissen, aber er trug in einer Ecke Alix’ Namenszeichen, und manchmal bildete sie sich ein, es hinge noch etwas von ihrem Geruch darin. Was natürlich Blödsinn war, schließlich war Alix ke Tassos seit vierzehn Wintern tot. Doch Alena fühlte sich geborgen, wenn sie sich in den Umhang einwickelte.
Und vielleicht hielt er die Träume ab.
Normalerweise wachte Alena spät auf. Sie liebte es, noch eine Weile im Bett vor sich hin zu dösen. Doch diesmal war sie schon früh auf den Beinen und arbeitete in der Werkstatt an ein paar Gravierungen. Sie war gespannt, was Rena tun würde.
Nicht viel, wie sich herausstellte. Sie spazierte umher, schaute sich alles an und ging in die kleine Schänke. Ein paarmal sah Alena sie mit Dorfbewohnern reden. Sogar mit Marvys Meister plauderte sie. Sie holt sich all den Klatsch und Tratsch über mich, ohne sich meine Version davon anzuhören, dachte Alena feindselig. Es war eine miese Idee, sie zu fragen, ob sie mir helfen kann!
Achselzuckend ging Alena ihren eigenen Aufgaben nach und kümmerte sich nicht mehr um ihre seltsame Tante. Heilkunde-Lektionen, alte Schriften der Feuergilde studieren, Arbeit an ihrem Messer, Schwerttraining – die Tage glichen sich jetzt, so kurz vor der Prüfung. Irgendwann fühlte sich Alenas Kopf an, als würde er gleich platzen wie ein reifer Ballonkürbis. Sie entschied sich, ein bisschen zu verschnaufen. Ohne nachzudenken, schlug sie den Weg zum Phönixwald ein.
Dass es eine schlechte Idee gewesen war, ausgerechnet dorthin zu gehen, merkte sie, als sie Jelica und Kilian sah. Wo die Geschwister waren, konnten Zarko und die anderen nicht weit sein. Eigentlich schade, dachte Alena. Sie fand die beiden nett. Jelica war ein fröhliches Mädchen mit dunklen Haaren; sie schmiedete ihren eigenen Schmuck und war wie ihr Bruder eine gute Kämpferin. Nach dem, was Marvy erzählt hatte, war sie längst nicht so brav, wie sie aussah. Kilian war ein großer, schmaler Junge, der sich für alte Dokumente und Landkarten interessierte. Manchmal nickte er Alena zu, wenn er allein unterwegs war. Von Marvy, die immer über alles Bescheid wusste, hatte sie erfahren, dass er eine Schriftrolle mit Tavians Gedichten daheim hatte. Es würde bestimmt Spaß machen, mal mit ihm darüber zu reden – welche ihm am besten gefallen und welche ich besonders gut finde, dachte Alena.
Jetzt hatten die Geschwister sie bemerkt. Sie blickten Alena an, und sie konnte ihnen die Unsicherheit anmerken, ob sie Alena neutral oder als Feindin behandeln sollten. Sieht nicht so aus, als hätten sie vor, mich anzugreifen, dachte Alena. Ich könnte einfach mit ihnen reden. Aber ihr fiel nichts ein, was zur Situation passte. Schließlich brachte sie einfach nur »Hallo! Was macht ihr da?« heraus.
»Ein paar von den Bäumen sind fast reif – wir probieren, ob wir ihnen das Öl irgendwie abzapfen können«, sagte Kilian zögernd und hielt ein Gefäß hoch. »Das wäre …«
In diesem Moment tauchten Zarko, Rayka und zwei andere Jugendliche aus dem Dorf hinter einem Felsen auf. Als sie Alena sahen, gingen sie schneller. Zarko erkannte man schon von weitem, seine blonden Haare leuchteten in der Sonne.
O nein. Alena ärgerte sich über ihre Unvorsichtigkeit. Diesmal war sie allein. Eine perfekte Gelegenheit für Zarko, sich für die Sache mit dem Dhatla zu rächen. Nichts wie weg hier! Aber es war zu spät, die anderen hatten sie schon umringt. Alena blickte sich nach einem Ausweg um, aber Zarkos Gefährten hatten sie geschickt in die Zange genommen.
Ihr wurde mulmig zumute. Klar, sie hatte ihr Schwert dabei, und sie konnte die anderen Jugendlichen jederzeit besiegen. Aber ihr Instinkt warnte sie davor, ihre Waffe jetzt zu ziehen. Sie trug ihr scharfes Lehrlingsschwert. Wenn sie einen von ihnen verletzte und der Rat erfuhr, was für einen Ruf sie hier hatte, konnte es gut passieren, dass sie doch nicht zur Prüfung zugelassen wurde.
Und das wusste Zarko genau. Siegessicher blickte er sie an. »Na, Angst? Tsstss. Aber wieso denn. Wir tun dir nichts. Vielleicht.«
»Ihr könnt mir nichts tun«, sagte Alena verächtlich. »In tausend Wintern nicht, ihr dämlichen Nachtwissler.«
Das war genau die falsche Bemerkung gewesen. Zarkos Gesicht verzerrte sich. »Ach ja? Das wollen wir doch mal sehen, du kleine Baumratte. Dein Iltismensch ist nicht da und dein Vater auch nicht.« Er hob einen Stein auf und warf ihn nach ihr. Alena wich aus, aber nun kam aus einer anderen Richtung ein zweiter Stein angesaust und traf sie am Arm. Sie versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie weh es getan hatte.
Der Ring zog sich enger. Nun kamen auch ein paar Messer zum Vorschein, blank und scharf. Enttäuscht sah Alena, dass auch Kilians und Jelicas Waffen darunter waren. Sie hatte sich wohl geirrt, die beiden mochten sie genauso wenig wie Zarko.
Ein kleines Geräusch nur, das Kollern eines Kiesels. Doch es ließ Zarko stocken. Alena folgte seinem Blick und sah auf einmal jemanden an einem der Felsen lehnen. Eine zierliche Frau in einer dunkelgrünen Tunika. Zarko überragte sie um einen ganzen Kopf.
»Sechs gegen eine – für so feige hätte ich euch gar nicht gehalten«, sagte sie unbekümmert. »Oder was ist das hier? Ein geselliges Treffen mit kleiner Tanzeinlage?«
Alena starrte sie an, ihre eigenartige Tante. Was machte die auf einmal hier?
Der Ring um sie löste sich auf. Plötzlich waren Zarkos Getreue nur noch ein paar Lehrlinge, die linkisch herumstanden und sich wünschten, ganz woanders zu sein. Nur Zarko blickte immer noch feindselig. Er trat einen Schritt an Rena heran, das Gesicht verkniffen. Einen Moment dachte Alena, er würde ihre Tante angreifen. Alenas Hand fuhr zu ihrem Schwertknauf, blieb wieder unschlüssig darauf liegen. Doch Zarko hatte es sich sowieso schon anders überlegt. Vielleicht, weil diese Frau nicht die geringste Furcht vor ihm zu haben schien. Freundlich, fast neugierig musterte sie ihn, bis er schließlich die Nerven verlor.
»Kommt, wir gehen«, sagte er und stapfte davon. Seine Getreuen folgten ihm.
Langsam, ganz langsam, entspannte sich Alena. »Äh, danke«, sagte sie. »Ich weiß auch nicht genau, warum die mich nicht ausstehen können.«
»Ich wette, er wird wegen seiner Haarfarbe oft aufgezogen«, meinte Rena nachdenklich.
Alena konnte schon wieder grinsen. »Wer? Zarko? Und ob. Manche sagen, dass seine Mutter sich mit einem Mann der Luftgilde eingelassen hat. Die sind ja fast alle blond, habe ich gehört. Zarkos kleine Schwestern sind beide dunkel.«
»Er bekommt keine Schwertlektionen wie du, oder? Ich wette, seine Eltern haben einen Erzberuf. Er hat Erde unter den Fingernägeln.«
Alena war erstaunt. Ihr war das nie aufgefallen. »Ja, seine Eltern sind Erzschmelzer. Die achten nicht so auf die Kampfausbildung. Aber einen Unterricht wie meinen, von einem Meister vierten Grades … den bekommt in ganz Tassos kaum jemand.«
Rena seufzte. »Du hast ihn mal besiegt, stimmt’s? Und seine Freunde waren dabei?«
»Ja. Es war leicht. Zwanzig Atemzüge, länger hat er nicht durchgehalten.«
»Kein Wunder, dass er dich hasst«, sagte Rena.
Plötzlich war Alena wieder auf der Hut. Was wusste diese Frau schon? Wieso dachte sie, sie würde hier alles durchschauen? »Was sollte das eigentlich alles?«, fragte Alena scharf. »Bist du mir gefolgt?«
»Nein, den anderen Jugendlichen. Ich wollte sie etwas fragen. Tja, sieht so aus, als hätte ich’s mir mit ihnen verdorben.« Rena zog eine scherzhafte Grimasse. »Macht aber nichts. Ich habe mich gerade entschieden.«
»Und?«
»Geht klar. Ich bürge für dich.«
Etwas in Alena löste sich, ein Knoten der Sorge. Aber wieso hatte ihre ›Tante‹ das gestern noch nicht gewusst? Was war denn so Besonderes passiert? Die Frage schien ihr ins Gesicht geschrieben zu sein, denn Rena sagte: »Weil du eben das Schwert nicht gezogen hast. Und weil Marvys Meister Grund hatte, sich über dich zu beschweren.«
Alena war viel zu verblüfft, um zu antworten.
Aber Rena wartete auch gar nicht auf eine Antwort. Sie stieß sich von dem Felsen ab und schlenderte davon, in Richtung der Schmiede.
Alena ahnte, dass ihr Vater und Rena über sie sprechen würden, sobald sie allein waren. Also wünschte sie ihnen gute Nacht, tappte in ihr Zimmer und glitt ein paar Atemzüge später lautlos zurück. Die beiden saßen in der Küche – sehr praktisch. Alena hatte im Nebenzimmer schon lange ein kleines Loch in die Wand gebohrt, gerade groß genug zum Spionieren. Es wurde auf der anderen Seite durch Bündel von getrockneten Kräutern getarnt.
Alena setzte sich davor und schaute hindurch. Die Sicht war exzellent, und die Stimmen klangen zwar ein wenig dumpf, waren aber durch die dünnen metallenen Wände gut zu verstehen. Alena richtete sich auf eine interessante Nacht ein.
Eine Weile saßen Rena und Tavian sich einfach nur gegenüber. Beide in Gedanken versunken, einen Becher Polliak in der Hand. Es war ein gemütliches Schweigen. Die zwei mussten sich schon sehr lange kennen. So miteinander zu schweigen war nicht leicht, das wusste Alena aus Erfahrung. Schade, dass ihr Pa so wenig darüber erzählt hatte, wie er und ihre Mum Rena kennengelernt hatten.
Endlich fingen sie an zu reden. Erwartungsvoll presste Alena das Auge an ihr Guckloch.
»Ich komme mir wie eine Verräterin vor«, gestand Rena. »Warum war ich eigentlich so selten bei euch?«
»Machst du dir schon wieder Vorwürfe? Darin bist du richtig gut.« Tavian lächelte. »Weil es weit ist von dir aus nach Tassos und du dein eigenes Leben hast. Das sind schon zwei gute Gründe.«
»Stimmt«, gab Rena zu. »Jedenfalls ist es spannend, jetzt mit Verspätung ein bisschen mehr über deine wilde Tochter zu erfahren. Ich mag sie.«
Es fühlte sich ganz seltsam an, das zu hören. Alenas Gefühle waren in Aufruhr. Wann hatte jemand zuletzt so etwas über sie gesagt? Es war lange her.
»Wild? Ja, da hast du recht.« Tavian verzog das Gesicht. »Ich weiß, was sie alles macht. Zuletzt hat sie Beljas probiert. Außerdem hat sie sich vor ein paar Monaten einige Male heimlich mit diesem Jungen, einem Erzsucher aus dem Süden, getroffen.«
Ihr Pa wusste davon? Alena war alarmiert. Sie war so vorsichtig gewesen!
»Wahrscheinlich war ich kein besonders guter Vater. Sie allein aufzuziehen war nicht leicht.«
»Und du warst entschlossen, es selbst zu schaffen.«
Tavian seufzte. »Ich muss immer an Alix denken. Wahrscheinlich war sie in diesem Alter genauso. Deshalb habe ich Alena vieles durchgehen lassen. In den letzten Wintern habe ich ihr manches verboten, aber das hat nichts genutzt.«
»Verstehe ich.« Rena zögerte. »Es macht mir Sorgen, dass sie bis auf diesen Iltismenschen keine echten Freunde hat. Sie ist nicht glücklich, Tavian.«
Plötzlich war Alena kalt. Ja, das stimmt, dachte sie, und der Gedanke tat weh. Marvy war keine richtige Freundin. Außer Cchraskar hatte sie niemanden. Alena fühlte sich schlaff, ohne jede Energie. Sie wollte schon zurückschleichen in ihr Zimmer, nachdenken. Aber dann schaffte sie es doch nicht, sich von ihrem Beobachtungsposten loszureißen. Sie zitterte vor dem, was Rena sagen würde, aber sie wollte es hören.
»Ach, das sieht vielleicht nur so aus«, meinte ihr Vater. »Ihre Arbeit macht ihr viel Spaß. Noch macht sie beim Kämpfen ab und zu gefährliche Flüchtigkeitsfehler, aber das kriegt sie schon noch in den Griff. Sie ist schon jetzt besser mit dem Schwert, als ich es in ihrem Alter war.«
Im Ernst? Wieso hat er mir das nie gesagt?, dachte Alena. Freude durchpulste sie.
»Verdammt, Tavian! Als ob das das Wichtigste wäre!« Rena schien langsam sauer zu werden. »Sie muss weg von dir, weg aus Gilmor. Hier wird sie nie, was sie sein könnte. Sie muss sich mehr als nur dieser Prüfung stellen, um zur Meisterin zu werden. Sie muss sich dem Leben stellen. Sie muss dort draußen ihren Weg finden.«
»Hm.« Ihr Vater blickte skeptisch drein. »Was soll ich deiner Meinung nach machen?«
»Lass mich sie zum Gildenrat bringen«, drängte Rena. »Das wäre ein Anfang.«
»Ist vielleicht eine gute Idee. Sie kann auf dich aufpassen«, neckte sie Tavian. »Bei deinen Kampfkünsten …«
Rena nickte lächelnd. Alena war erstaunt. Unter Feuerleuten hätte einer solchen Bemerkung ein tödliches Duell folgen können.
»Ich hoffe, Alena ist mit all dem einverstanden«, sagte Rena – und blickte plötzlich zu Alenas Beobachtungsposten hinüber. Als wüsste sie genau, dass dort jemand hinter der Wand saß und lauschte! Alena fuhr zurück, als hätte sie versehentlich ein glühendes Stück Metall gepackt. Verlegen hastete sie in ihr Zimmer zurück.
Sie hatte sowieso genug gehört.
Zwei Tage später, als Alenas Messer fertig war, brachen sie auf. Rena hatte nicht viel Gepäck dabei und war schnell reisefertig. Amüsiert beobachtete sie, wie Tavian aufgeregt in der Schmiede herumkramte und Alena noch dieses und jenes einpackte, was sie auf der Reise brauchen könnte. Er war vernarrt in seine Tochter, das war klar. Früher hatte sie sich manchmal das Lachen verbeißen müssen, wenn sie Tavian – einen der besten Schwertkämpfer Dareshs! – mit den Frauen des Dorfs darüber fachsimpeln hörte, wie man ein Kind sauber bekommt oder welcher Brei in welchem Alter der beste ist.
»Beim Feuergeist, jetzt hör aber auf! Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich dieses ganze Zeug brauchen werde!«, protestierte Alena schwach. Sie sah blass aus und versuchte vergeblich, sich nicht anmerken zu lassen, wie nervös sie war.
»Hast du die Gürtelschnalle nicht poliert? Ich habe dir doch gesagt, du sollst deine Klamotten in Ordnung bringen!«
»Klar habe ich die poliert! Es ging nicht besser …«
»Hast du wenigstens deine guten Stiefel eingepackt?«
»Ja, verdammt …!«
Rena verzog sich nach draußen und wartete vor der Schmiede. Nach dreimal zehn Atemzügen kam ihre neue Reisegefährtin nach. »Können wir los?«, fragte Rena.
»Moment noch. Er holt mein Meisterschwert.«
Mit einem armlangen, in schwarze Tücher eingeschlagenen Gegenstand kam Tavian aus der Schmiede. Er war ernst, und auch Alena schwieg. Ihre Augen waren auf das Bündel gerichtet, das Tavian ihr nun vorsichtig reichte. »Pass gut drauf auf – immerhin wird dich das Ding eine lange Zeit begleiten«, sagte er rau, und Alena nickte.
Rena war froh, als sie endlich unterwegs waren. Ihre dünnen Lederstiefel knirschten auf dem Vulkanstein des Weges, als sie das Dorf verließen. »Weißt du schon, wie dein Schwert aussieht?«, fragte sie Alena.
»Nein, er hat’s heimlich geschmiedet und vor mir versteckt – das macht man immer so«, erklärte Alena ungewohnt gesprächig. »Nach der Prüfung darf ich es das erste Mal sehen und berühren, wenn es der Rat mir offiziell übergibt. Dann muss ich es drei Monate lang am Körper tragen, damit es sich auf mich prägt. Danach kann uns nichts mehr trennen.«
Rena wusste, dass nur Meisterschwerter sich mit ihren Besitzern verbanden; sie enthielten ein besonderes Metall.
Als bedauere sie schon, so viel erzählt zu haben, schwieg Alena und ging voran. Sie marschierte schnell, ohne darauf zu achten, ob Rena mitkam. Rena war froh, dass sie wie alle Erdleute gut zu Fuß war, wenn auch längst nicht so gut wie dieses schlanke, langbeinige Mädchen, das sich mit raubtierhafter Grazie bewegte. Alena war ein paar Handbreit kleiner als Alix, ihr Haar kürzer und dunkler. Doch wenn Rena hinter ihr ging, konnte sie sich Momente lang einbilden, das dort vorne sei Alix. Dann kehrte der Stich der Trauer wieder, obwohl der Tod ihrer Freundin schon so lange zurücklag.
Am Abend, als sie auf einer kargen Ebene rasteten, merkte Rena, dass Alena absichtlich ein solches Tempo vorlegte. Statt von selbst für Feuer zu sorgen, tat Alena alles Mögliche andere und zwang Rena damit, sie darum zu bitten. Denn nur die Menschen der Feuergilde waren fähig, Flammen aus der Luft zu rufen.
Ein Machtkampf hatte begonnen, das wurde Rena nun klar. Sie hatte Alena getestet – nun würde das Mädchen sie testen. Wahrscheinlich so lange, bis sie eine Schwäche gefunden hatte.
Sobald die Sonne weg war, wurde es unangenehm kühl. Alena hüllte sich in den Umhang, an dem Rena Alix’ vertrautes Namenszeichen erkannte, und rückte näher an das Feuer heran. Die feuchten Äste knackten und qualmten. Abwesend fing Alena einen Funken, der auf sie zuschwebte, mit der Hand – die Hitze schien ihr nichts auszumachen. »Was habt ihr eigentlich für besondere Fähigkeiten, ihr Erdleute?«, fragte sie.
»Wir können die Aura von Pflanzen spüren«, sagte Rena.
»Hm.« Alena sah nicht gerade beeindruckt aus. »Da haben die anderen Gilden aber mehr zu bieten. Die Leute der Luftgilde können mit ihren Formeln Stürme entfesseln, habe ich gehört. Aber ihr seid ja eher sanft und harmlos, oder?«
Rena lächelte. Ja, so sahen die meisten Menschen die Leute der Erdgilde, und auch sie selbst hatte lange Zeit so gedacht. Bis sie ihren Meistergrad verliehen bekommen und auch die letzten Geheimnisse ihrer Gilde erfahren hatte. »Na ja, wir können auch mehr. Aber wir benutzen manche unserer Fähigkeiten nicht. Denn sie sind die gefährlichsten von allen.«
Sie konnte in Alenas Gesicht lesen, was sie jetzt dachte. Haha, jetzt will sie mich beeindrucken! Das ist doch nur die Prahlerei einer verweichlichten Gilde …
Alena wechselte das Thema. »Sag mal, wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt, du und Ma? Normalerweise haben wir ja nicht gerade viel mit anderen Gilden zu tun.« Sie sprach es mit einer winzigen Spur Herablassung aus. Normalerweise geben wir uns ja nicht mit Menschen anderer Gilden ab.
Sie lotet die Grenzen aus, dachte Rena. »Schade eigentlich«, sagte sie ruhig, ohne auf die Frage zu antworten. »Deine Mum hat viel mit anderen Gilden zu tun gehabt. Mit Erde, Wasser und Luft. Sonst hätten wir nicht so gut befreundet sein können – wir waren uns sehr nah.«
»Stehst du mehr auf Frauen, oder was?« Alenas Blick forderte sie heraus.
Rena musste lachen. Das war eher plumpes Gestichel. »Nein, wir sind einfach gute Freunde gewesen, obwohl wir so verschieden waren. Wir wussten, wir können uns auf einander verlassen.«
»Aber wie habt ihr euch denn nun kennengelernt?«
Rena beschloss, es zu riskieren und die Wahrheit zu sagen. Obwohl sie wusste, dass sie damit wahrscheinlich in Alenas Achtung abstürzen würde.
»Ich war ihre Dienerin«, erklärte Rena und beobachtete amüsiert den Widerstreit der Gefühle auf Alenas Gesicht. »Aber nicht lange, dann hat sie mir geholfen. Das ist jetzt, warte mal, siebzehn Winter her. Und deinen Vater habe ich kennengelernt, als er noch die rechte Hand des Propheten des Phönix war, also noch bevor er sich in deine Mum verliebt hat. Hat Tavian dir das alles nicht erzählt?«
»Hat mich nie besonders interessiert, ist ja alles schon ewig her«, sagte Alena trotzig.
Also hat er es nicht erzählt, dachte Rena mit gemischten Gefühlen. Dann weiß sie vermutlich auch nicht, was im Smaragdgarten passiert ist. Wie ihre Mutter gestorben ist. »Sie haben euch im Dorf geschnitten deswegen, oder? Weil dein Vater damals dabei war.«
Alena stocherte mit einem Stock im Feuer herum und schwieg lange. Als sie sprach, klang ihre Stimme hart. »Sie behaupten, er hat diesem verdammten Propheten gedient, für ihn getötet. Und ihn dann in der entscheidenden Schlacht verraten, um zu seinen Feinden überzulaufen.«
»Das stimmt so nicht!«, rief Rena erschrocken. »Ja, er hat dem Propheten – Cano – geholfen. Aber als er merkte, dass Cano wahnsinnig war, hat er sich von ihm losgesagt.« Sie holte tief Atem. Nie würde sie vergessen, was sich damals abgespielt hatte. »Wenn er uns nicht geholfen hätte, wären deine Mutter, ich und viele andere getötet worden. Dann würde der Prophet heute über Daresh herrschen.«
»Aber das ist dasselbe – nur aus einer anderen Sichtweise«, erwiderte Alena kühl.
Sie hat recht, dachte Rena. Dumm ist Alix’ Tochter nicht. »Dein Vater hatte den Mut, die Wahrheit zu sagen und das Richtige zu tun. Reicht dir das nicht?«
Alena antwortete nicht, starrte nur in die Dunkelheit.
Als Alena sicher war, dass Rena schlief, richtete sie sich lautlos in der Dunkelheit auf und tastete in ihrem Reisegepäck nach ihrem Meisterschwert. Ihre Hände berührten das kantige Metall in seiner Hülle aus Tüchern. Sie versuchte, durch den Stoff seine Formen zu erahnen. Es würde wunderschön sein, das wusste sie. Wochenlang hatte ihr Vater daran gearbeitet, und er war einer der besten Waffenschmiede in Daresh. Was für Juwelen er wohl verwendet hatte? Welche Form der Griff hatte? Was für ein Gedicht in die Klinge eingraviert war?
Die Versuchung, es auszupacken, im harten silbernen Licht der ersten beiden Monde einen ersten Blick darauf zu werfen, war fast übermächtig. Doch dann zwang sich Alena, das Schwert wieder zurückzulegen. Zu gefährlich. Vielleicht konnte der Rat irgendwie merken, dass sie es schon vor der Übergabe berührt hatte. Und dann bekam sie einen Riesenärger. Halt durch, sagte sie sich. Ein paar Tage noch. Dann hast du es sowieso!
Zwei Tage später kamen sie durch das Dorf Selojas, den letzten Ort vor dem Turm des Gildenrats. Dafür, dass hier nur dreißig Hütten standen, waren ungewöhnlich viele Leute da. In den Straßen wimmelte es von Schwertmeistern in ihrer schwarzen Tracht, stämmigen Erzschmelzern, Metallgießerinnen, Mädchen und jungen Männern mit der typischen kurzen Haartracht von Lehrlingen. Klar, dachte Alena, die sind alle wegen der Meisterprüfung da. Doch dann sah sie eine Ankündigung, eine Schriftrolle, die jemand an eine Wand genagelt hatte. »Ach so, hier soll morgen eine Kundgebung stattfinden«, meinte sie. »Irgendein weiser Mann.«
»Wie nennt er sich?« Rena überflog die Ankündigung. »Heiler vom Berge … kenne ich nicht.«
»Er soll unglaublich sein«, sagte eine Frau, die neben ihnen stand. »Schon seit Tagen kommen Menschen her, um ihn zu hören. Lasst euch das nicht entgehen!«
»Klingt gut. Mal schauen – wenn wir Zeit haben«, sagte Rena. Alena nickte. Ein Heiler? Das klang nicht sehr spannend. Aber er musste einiges zu bieten haben, wenn er so viele Leute anlockte.
Sie verließen das Dorf, überquerten eine flache Hügelkette und erreichten kurz darauf den Turm des Gildenrats. Massig und dunkel ragte er aus der Ebene auf. Er war viel größer, als Alena erwartet hatte. Ein Kreis silbrig grüner Flammen loderte um ihn herum, schützte ihn vor Angriffen. Kaltes Feuer, dachte Alena, und ihr Herz schlug schnell.
Außerhalb des Feuers gruppierten sich Hunderte von schwarzen Zelten um den Turm – irgendwo mussten die vielen anderen Lehrlinge, die morgen ihre Meisterprüfung ablegen würden, ja bleiben.