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Marlena bleibt nichts anderes übrig, als ihr Leben in Valentins Hände zu legen. So finden sich die beiden auf einer überstürzten Flucht inmitten von Schnee, Eis und zerbrochenem Vertrauen wieder. Als sie schließlich Schutz bei Silva, einem griesgrämigen Einsiedler, finden, scheint sich ihre Überlebenschance deutlich zu erhöhen. Doch können sie dem Alten, der von magischen Gaben und Grausamkeiten spricht, wirklich trauen oder wird er sie verraten? Ihre Liebe wird auf die Probe gestellt. Ungeahnte Kräfte erwachen. Geheimnisse werden gelüftet. Doch wie weit werden sie gehen, um zu überleben?
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Seitenzahl: 566
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Kapitel 1 – Marlena
Kapitel 2 – Marlena
Kapitel 3 – Valentin
Kapitel 4 – Marlena
Kapitel 5 – Valentin
Kapitel 6 – Marlena
Kapitel 7 – Valentin
Kapitel 8 – Marlena
Kapitel 9 – Marlena
Kapitel 10 – Marlena
Kapitel 11 – Valentin
Kapitel 12 – Marlena
Kapitel 13 – Marlena
Kapitel 14 – Valentin
Kapitel 15 – Marlena
Kapitel 16 – Marlena
Kapitel 17 – Valentin
Kapitel 18 – Marlena
Kapitel 19 – Marlena
Kapitel 20 – Valentin
Kapitel 21– Marlena
Kapitel 22 – Marlena – Ein Traum
Kapitel 23 – Marlena
Kapitel 24 – Valentin
Kapitel 25 – Marlena
Kapitel 26 – Silva
Kapitel 27 – Marlena
Kapitel 28 – Marlena
Kapitel 29 – Valentin
Kapitel 30 – Marlena
Kapitel 31 – Marlena
Kapitel 32 – Valentin
Kapitel 33 – Marlena
Kapitel 34 – Marlena
Kapitel 35 – Marlena
Kapitel 36 – Marlena
Kapitel 37 – Marlena
Kapitel 38 – Silva
Kapitel 39 – Silva
Kapitel 40 – Marlena
Kapitel 41 – Marlena
Kapitel 42 – Marlena
Kapitel 43 – Marlena
Kapitel 44 – Silva
Kapitel 45 – Marlena
Kapitel 46 – Valentin
Kapitel 47 – Valentin und Gent
Kapitel 48 – Marlena
Kapitel 49 – Valentin
Kapitel 50 – Marlena
Kapitel 51 – Valentin
Kapitel 52 – Marlena
Kapitel 53 – Marlena
Kapitel 54 – Valentin
Kapitel 55 – Marlena
Epilog
Nachwort/Danksagung
Vollständige e-Book Ausgabe
© 2021 ISEGRIM Verlag
in der Spielberg Verlag GmbH, Neumarkt
Covergestaltung: © Ria Raven www.riaraven.de
Bildmaterial: © shutterstock.com
Innenillustrationen: Elena Flor
Alle Rechte vorbehalten.
Vervielfältigung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
ISBN: 978-3-95452-836-3
www.isegrim-buecher.de
Magdalena Pauzenberger wurde 1998 im schönen Oberösterreich geboren und wohnt auch heute noch dort. Studiert hat sie allerdings in Salzburg, wo auch ihr Debütroman spielt. Bücher und fantastische Geschichten sind aus ihrem Alltag als Bücherbloggerin, Biologin und dauerverspätete Tagträumerin nicht mehr wegzudenken, obwohl sie erst im Teenager-Alter begonnen hat, so viel zu lesen. Fantasie hat sie hingegen schon immer besessen. Im Alter von 18 Jahren hat sie dann begonnen, die Geschichten aus ihrem Kopf niederzuschreiben – vor allem als Ausgleich zu ihrer naturwissenschaftlichen Ausbildung.
Für meine Mama,
weil sie immer an mich glaubt und mein größter Fan ist.
Ich hab dich lieb, Mama.
Vorwort
Triggerwarnung!
Diese Geschichte und die darin vorkommenden Charaktere sind fiktiv.
Trotzdem spielen unter anderem schwerwiegende Themen eine Rolle, die leider auch im echten Leben ernst zu nehmen sind und für manche Personen möglicherweise belastend sein oder sogar negative Reaktionen hervorrufen können. Hierbei sind vor allem Gewaltszenen, psychischer und physischer Art, sowie Beschreibungen von Wunden zu nennen.
Darauf möchte ich dich hinweisen.
Solltest du sensibel auf solche Themen reagieren, sei bitte achtsam und überlege dir, ob du diese Geschichte lesen willst oder lieber nicht. Bitte triff diese Entscheidung für niemand anders als für dich selbst.
Kapitel 1 – Marlena
Kalter Wind lechzt über meine unbedeckte Wange und reißt mich zitternd aus dem Schlaf. Es dauert einen Moment, bis ich die dunkelgrüne Plane über mir zuordnen kann. Ich bin im Zelt. Mitten am Arsch der Welt. Schnell verstecke ich mein Gesicht in meiner Armbeuge, verkrieche mich vor der kalten Außenwelt, doch ich kann es nicht gänzlich unterdrücken und so bahnt sich eine Träne den Weg über meine kühle, blasse Haut und hinterlässt eine feine Spur. Wenn ich daran denke, wie schnell sich alles in meinem Leben geändert hat, wie ich von einem Moment auf den anderen alles verloren habe, wie ich alle, die ich liebe, unwissend zurücklassen musste, werde ich von einem Schwindelanfall überrollt. Glücklicherweise liege ich ja bereits. Auf meiner ehemaligen Fitnessmatte, die zu meinem Schlafplatz umfunktioniert wurde. Immerhin kommt sie so doch noch mal zum Einsatz.
»Du bist wach.« Keine Frage. Eher eine überraschte Feststellung. Seit wir Salzburg verlassen haben, ist Valentins besorgter und reumütiger Blick mein ständiger Begleiter. Er hat einen Mann getötet. Vor meinen Augen. Egal was ich geglaubt habe, für ihn zu empfinden: es wird nie mehr das Gleiche sein. Ich habe ihm vertraut. Er hat mich belogen. Und er hat getötet. Er ist ein Mörder verdammt noch mal!
Und damit er das nie vergisst, habe ich nicht nur mein Leben, sondern auch meine Stimme in der Mozartstadt zurückgelassen.
»Hast du Hunger?«, fragt er, als ich ihm auch heute nicht antworte. Drei Tage lang strafe ich ihn nun schon mit Schweigen und Ignoranz. Nur leider funktioniert das mit der Ignoranz nicht so wie geplant. Denn wenn wir hier draußen, oder nein, wenn wir ÜBERHAUPT überleben wollen, müssen wir wohl oder übel zusammenarbeiten. Ein nicht zu überhörendes Knurren meines Magens antwortet ihm an meiner Stelle. »Wusste ich es doch.« Er grinst aufmunternd, als wäre ich ein kleines Baby, das man erst dazu überreden muss, den Mund aufzumachen, damit man es füttern kann. Der Schatten in seinen einst so hellen blauen Augen bleibt trotz seiner gespielten Freude. Das alles beobachte ich nur aus dem Augenwinkel. Ich schaffe es einfach nicht mehr, ihm ins Gesicht zu sehen, obwohl er es sein sollte, der meinem Blick ausweicht. Doch die Angst, dass ich in seinen Augen Zuneigung und sogar Liebe erkennen könnte, ist zu groß. Du kannst ihm nicht vertrauen! Und doch muss ich es. Er zieht einen abgenutzten Stoffbeutel von seiner Schulter und sucht darin nach einem Frühstück für mich. Er hat die Aufgabe übernommen, mich daran zu erinnern, nicht an Nährstoffmangel zu krepieren, während ich mich immer mehr einkapsle. Während ich versuche in meinem Kopf einen Weg zu finden, nach Hause zu kommen und gleichzeitig meine Familie zu schützen. Einen Weg, wie ich Weihnachten mit ihnen verbringen kann, anstatt die Festtage mit Valentin in dieser gefrorenen Hölle zu verbringen, die sich nach außen hin als Winterwunderland präsentiert. Es war meine Idee, in den Wald zu flüchten, so fern von der Stadt und doch nicht fremd. Zumindest für mich. Aber inzwischen würde ich überall lieber sein als hier in diesem Wald, der mich an eine unbeschwerte Kindheit erinnert. An den Tag, an dem ich auf Erkundungstour unter warmen Sonnenstrahlen gegangen bin, während meine Eltern einen platten Reifen gewechselt haben. Wir waren auf dem Weg zu einer abgelegenen Jausenstation mitten auf einem Berg. Die Straße dorthin ist schmal und ich hatte ständig Angst, von der Straße abzukommen und in den Tod zu stürzen. Doch der Ausblick als wir oben angekommen waren, hat mich all die Höhenangst sofort vergessen lassen. Es war atemberaubend. Genauso wie die alte halb-verwitterte Holzhütte, die ich bei meinem kleinen Spaziergang durch das Geäst entdeckte. Doch dort stockte mir der Atem, weil meine Fantasie mich, das kleine Mädchen, das ich damals war, überwältigte und ich mir sicher war, das Haus einer Hexe gefunden zu haben. Aufgewachsen mit den Grimm‘schen Märchen war ich vollkommen davon überzeugt, dass mich die Hexe entdecken und fressen würde. Ich glaube, ich bin noch nie so begeistert und so panisch zugleich gewesen. Ich hatte mich schon viel zu weit von der Straße entfernt, das wurde mir in diesem Schreckensmoment bewusst. Meine Eltern haben mir zwar noch nachgerufen, ich solle mich nicht zu weit von ihnen entfernen, doch die Neugier hat mich weiter ins Dickicht getrieben. Unter Tränen habe ich also versucht, den Ausweg aus diesem Gruselmärchen zu finden. Minutenlang bin ich zwischen den Baumstämmen umhergeirrt, ohne Ahnung, in welche Richtung ich laufen sollte. Die Angst trieb immer mehr Tränen in meine Augen. Ich war verzweifelt. Bis ich schließlich nach langem Suchen völlig aufgelöst aus dem Wald geprescht kam und beinahe meine Mutter umgerissen hätte. Diese Hütte hat mich das Fürchten gelehrt und doch fand ich sie so faszinierend, dass ich mir geschworen habe, zurückzukehren, wenn ich größer wäre. Kaum war meine Angst gebannt, war nur noch Platz für ungehemmte Faszination und Neugier. Ich habe mein Versprechen an mich selbst gehalten. Jetzt bin ich hier, auch wenn die Hütte nur noch ein Gerippe ist und eine ganz andere Furcht von mir Besitz ergriffen hat.
Ich wünsche mir meine kindlichen Sorgen zurück. Und vor allem die warmen, liebevollen Arme meiner Mutter. Wenn ich daran denke, was der Überfall auf mich mit ihr gemacht hat … wie fertig sie war … Die Tränen laufen mir in Strömen übers Gesicht, benetzen meinen Hals und meine dicke Winterjacke, die mich einigermaßen warmhält. Ein Schluchzer dringt aus meiner Kehle, der sich anhört, wie der Klagelaut eines verletzten Tieres. Valentin will schockiert einen Schritt auf mich zu machen … als würde er mich reflexartig in seine Arme schließen wollen, um mich zu trösten, wie er es zuvor schon so oft getan hat. Doch bei dem Gedanken an seine Berührung läuft mir ein ängstlicher Schauer über den Rücken.
»Geh weg!« Nach tagelanger Stille ist meine Stimme scheinbar eingerostet, denn mehr als ein kratziges Flüstern bringe ich nicht zustande. Vielleicht liegt es aber auch an den Tränen.
»Marlena«, er spricht meinen Namen mit solch einer Wehmut aus, dass es mich schmerzen würde, wäre mein Herz nicht bereits gebrochen.
»Hau ab!«, schreie ich ihn an. Okay, meine Stimme läuft wieder. Er sieht aus, als hätte ich ihn geschlagen, obwohl ich weiß, dass ihn das weniger geschmerzt hätte. Nach kurzem Zögern tritt er aus dem Zelt und lässt mich mit meinen finsteren Gedanken allein.
Meine Mutter würde zerbrechen, wenn sie wüsste, was ich hier durchmache. Was wir hier durchmachen … Das wird mir nun in vollem Umfang klar und ein riesiges Loch tut sich in meinem Inneren auf. Es verschlingt mich. Ich fühle mich als würde ich jeden Moment zusammenbrechen, die stille Dunkelheit einer Ohnmacht käme mir mehr als gelegen.
Mein Vater. Er würde all seine Kraft daransetzen, meine Mutter zu stützen, für sie da zu sein, stark zu sein, doch er würde es nicht schaffen. Das weiß ich. Und ich liebe ihn dafür. Denn das bedeutet, dass auch er mich nie vergessen könnte. Doch das alles wird nie passieren. Sie werden nie von all dem hier erfahren. Maxi wird mich decken. Maxi wird das alles handeln. Meine beste Freundin wird sie beruhigen können. Zwar habe ich starke Zweifel daran, dass das länger als ein oder zwei Wochen gut gehen wird. Doch daran darf ich jetzt nicht denken. Maxi schafft das schon. Was ich mit alldem meine? Sagen wir einfach mal so: Valentin ist nicht der Einzige, der Geheimnisse hüten und Menschen hintergehen kann.
Es war an dem verhängnisvollen Abend, an dem mein Leben über den Haufen geworfen wurde. Valentin hat mich am Oberarm gepackt und mich erst wieder losgelassen, als wir zu Fuß bis zu meiner Wohnung gelaufen waren. Er hat die Leiche des Mannes einfach liegen gelassen. Auf dem kalten Asphalt in der Dunkelheit der Nacht. Der eiskalte Wind hat sich das letzte bisschen Leben des Mannes gekrallt und es weggeweht. Es würde nie mehr zurückkommen. Wir haben ihn liegen gelassen. Kaum hatte ich einen Schritt über die Schwelle meiner Wohnung gemacht, hatte ich das Gefühl, zusammenbrechen zu müssen und nie wieder aufstehen zu können. Doch das habe ich mir verboten. Und so habe ich den Kopf aufrecht gehalten, zwei Rucksäcke gesucht und alles Essbare hineingeworfen, das ich finden konnte. Außerdem so viel Unterwäsche, Wechselkleidung und Toiletten-Artikel wie darin noch Platz fanden. Valentin kann von Glück sagen, dass ich gerne in Boxershorts schlafe und haufenweise Männer-Sportkleidung besitze. Sonst müsste er jetzt nackt durch den Schnee stapfen. Denn er konnte ja schlecht in die Höhle des Löwen zurückgehen, um sein Hab und Gut zusammenzusuchen. Außerdem halte ich mich selbst immer noch für einen Überlebensgenie, weil ich daran gedacht habe, einen kleinen Kochtopf, ein Feuerzeug, das ich mal von der Studienvertretung geschenkt bekommen habe, und mein altes Taschenmesser mitzunehmen. Ohne würden wir jetzt in der Kälte sitzen und die Instant-Nudeln und Suppenbasis, die ich haufenweise gehortet habe, mit Schnee vermischen und irgendwie kalt runter würgen. So vermischen wir sie zwar immer noch mit Schnee aber immerhin kochen wir das Gemisch dann noch auf und so hat sich die Angst vor Fuchsbandwürmern inzwischen minimiert. Ich laufe zwar schon seit Tagen in einem depressiven, Trance-ähnlichen Schockzustand durch die Gegend, das heißt, die meiste Zeit sitze oder liege ich und heule – das tut jetzt aber nichts zur Sache – aber ein paar kleine Gedanken habe ich doch darauf verwendet, Parasitenbefall zu vermeiden. Mein Leben ist auch so schon scheiße genug. Da brauche ich nicht auch noch Würmer. Das Zelt haben wir in der Ruine der alten Hütte gefunden. Pures Glück. Das habe ich hin und wieder anscheinend auch.
Aber worauf ich eigentlich hinauswollte: Ich habe Maxi eine Nachricht hinterlassen. »Muss weg. Kann das nicht erklären. Sucht mich nicht. Keine Polizei. Ich muss euch schützen. Erzähl meinen Eltern nichts. Bitte, deck‘ mich. <3 Marlena«
An meiner Grammatik muss ich vielleicht noch etwas feilen, aber Maxi wird das schon verstehen. Und ich weiß, dass sie mir blind vertrauen und den Ernst der Lage gleichzeitig nicht einfach so unterschätzen wird. Eigentlich habe ich eine so tolle Freundin gar nicht verdient.
Ich weiß nicht, wie, aber die Gedanken an Maxi haben meine Tränen getrocknet. Und sie haben mir vor Augen geführt, dass ich das hier packen will. Ich will meine beste Freundin wiedersehen. Und ich will meine Familie wiedersehen. Und ich will, dass wir alle zumindest körperlich unversehrt sind. Ich will Weihnachten verdammt noch mal mit ihnen zu Hause verbringen. Deshalb gibt es für mich nur eines: Kämpfen. Denn ohne Kampf kein Sieg. Und wenn es sein muss, kämpfe ich auch mit schmutzigen Mitteln.
Mit erhobenem Haupt stehe ich auf, strecke mich durch. Langsam schiebe ich eine Hälfte der Zeltplane beiseite. Ich will diesen Moment nicht vergessen. Den Moment, in dem ich mich dazu entschieden habe, niemals aufzugeben und bis zum Schluss zu kämpfen. Ich lasse mich nicht brechen. Von niemandem. Und deshalb blinzle ich auch nicht, als mir die Sonne, die vom Schnee reflektiert wird, direkt in die Augen blendet. Mein gesamter Körper spannt sich an, geht in Angriffshaltung, als ich den ersten Schritt aus diesem verdammten Zelt wage und die weißen Kristalle unter meinem Stiefel knirschen. Lasset den Kampf beginnen.
Kapitel 2 – Marlena
Ich kann es Valentin nicht verübeln, dass er überrumpelt wirkt, als er mich außerhalb des Zeltes antrifft. Das passiert sonst nur, wenn ich bestimmte Dinge verrichten muss, die ich niemandem in freier Wildbahn bei einer Temperatur um den Gefrierpunkt empfehlen kann. Aber lieber Frostbeulen am Hintern als einen Blasenriss.
Auch kann ich nicht leugnen, dass sich die warmen Sonnenstrahlen unglaublich gut auf meiner Haut anfühlen, und dass sie meine Entscheidung, niemals aufzugeben, nur noch weiter verstärken. Ich tue hier das Richtige. Ich beschütze meine Familie. Ich kämpfe um mein Leben. Und ich werde herausfinden, welcher Teil von Valentin sein Wahres Ich ist. Gleich nachdem ich möglichst viel über diese Sekte, oder was auch immer es ist, dem Valentin angehört, herausgefunden habe. Jede noch so kleine Information kann hilfreich sein. Und jede noch so kleine Hilfe und Hoffnung kann ich bestens in meinem Überlebenskampf gebrauchen.
»Haben Sie sich verirrt?«, er stellt diese Frage mit einem interessierten Ernst in der Stimme, sodass ich kurz stutze. Mir wird bewusst, dass er zum ersten Mal seit Langem davon ausgeht, dass ich ihm auch wirklich antworten werde. In meinem Inneren entzündet sich ein Funke. Klein und schwach, aber doch bemerkbar. Ohne es kontrollieren zu können, schleicht sich ein leichtes, amüsiertes Lächeln auf meine Lippen, während sich eine verräterische Nässe in meinen Augenwinkeln breit macht. Nein! Aus! Genug geheult! Auch wenn das hier Tränen der Rührung wären, verdrücke ich sie mir. Der Mann, der nun direkt vor mir steht und dessen Blick auf meinem Gesicht ruht, ist Valentin. Mein Valentin. Jener Mann, der mich so oft beschützt hat. Der mir schon zur Genüge die Nerven geraubt und mir gleichzeitig unbewusst dabei geholfen hat, nicht von den Schattenmonstern der Vergangenheit bezwungen zu werden. Vor mir steht einfach nur Valentin, in dessen Augen das Eis Risse bekommt. Einzelne Splitter verschwinden und geben einen Blick auf etwas frei, das ich nur mit dem warmen Wasser einer karibischen Lagune vergleichen könnte, und doch ist es so anders, so besonders. Für einen kurzen Moment, vielleicht einen Wimpernschlag, fühle ich nur seine Nähe und kann diese ganze verzwickte und gefährliche Situation, in der wir uns befinden, ausblenden. Viel zu schnell ist dieser Moment der Geborgenheit aber wieder verflogen. Zurück bleibt ein neuer Gedanke: Ich werde nie in meinem Leben vergessen können, was er getan hat. Doch vielleicht – vielleicht – kann ich ihm irgendwann verzeihen, dass er mich hintergangen und vielen Menschen unendliches Leid angetan hat. Und vielleicht wird das genau in dem Moment geschehen, wenn auch er sich selbst vergibt. Vielleicht wird dieser Moment aber auch nie kommen. Fest steht auf jeden Fall, dass wir aus dieser Eishölle niemals lebend rauskommen, wenn ich weiterhin zwischen dem Verschrecktes-Reh- und dem Aggro-Bitch-Modus schwanke.
»Waffenstillstand?« Habe ich gerade noch auf meine Hände gestarrt, die nur wenige Zentimeter von den seinen entfernt sind, so hebe ich nun den Blick und verankere ihn in seinem. Erstaunen und Hoffnung spiegeln sich in seiner Miene wider.
»Waffenbrüder!«, lautet seine etwas zu euphorisch ausgestoßene Antwort auf meine zögerliche Frage.
»Schon mal was von Gleichberechtigung gehört?«, frage ich ihn, weil mir dieser Begriff sauer aufstößt. Was jedoch weniger daran liegt, dass ich mich am Geschlecht störe, sondern eher daran, dass ich niemals von ihm hören möchte, dass er mich wie einen Bruder mag. Mörder oder nicht – Liebe gänzlich abzustellen, ist nicht einfach. Falls man bei mir von Liebe zu ihm sprechen kann. Aber ehrlich gesagt … ich glaube schon.
Ich stoße ruckartig Luft aus, so als hätte sie mir jemand aus den Lungen geboxt.
Valentin mustert mich besorgt, was wahrscheinlich auch daran liegt, dass er während meines gedanklichen Monologs auf meine rhetorische Frage geantwortet hat.
»Äh … ja«, räuspere ich mich. »Entschuldige, aber was hast du gerade gesagt?«
Mit einem amüsierten Grinsen schüttelt er kurz den Kopf.
»Ich sagte, wenn es dir lieber ist, können wir uns auch ›Waffengeschwister‹ nennen? Auch wenn sich das echt beschissen anhört.«
»Lass mal, hört sich echt beschissen an«, gebe ich zu und bin dieses Wortspiel plötzlich leid, denn mein Körper reagiert gerade viel zu stark auf den seinen, als er sich mir noch weiter nähert und mein Gesicht etwas zu akribisch mustert. Er hebt eine Hand … und ich ducke mich darunter hinweg.
»Nicht!«, ich weiche zurück. Adrenalin pulsiert in meinen Adern. Scheiß Fluchtinstinkt. »Bitte. Ich kann das nicht … Zumindest noch nicht.« Letzteres füge ich hinzu, als wieder dieser Schmerz sein hübsches Gesicht zeichnet. Diese Aussage ist zwar irgendwie dumm, weil wir uns schon öfter nähergekommen sind, doch scheint er zu verstehen. Und ein klein wenig Hoffnung scheint auch in ihm aufzukeimen, was wiederum auf unsinnige Weise ein Kribbeln in meinem Bauch auslöst.
»Marlena«, haucht er voller Sehnsucht. Doch dann blinzelt er mehrmals, als hätte er eine Wimper ins Auge bekommen und sieht plötzlich aus, als würde er nach einem Trancezustand endlich wieder einen klaren Gedanken fassen. »Könntest du vielleicht etwas trockenes Holz suchen? Damit wir ein kleines Feuer machen können? Wir gehen dadurch zwar ein höheres Risiko ein, aber langsam geht uns das Essen aus und das Knäckebrot kann ich sowieso nicht mehr sehen.«
»Und deshalb ernähren wir uns jetzt von …? Feuer alleine wird uns wohl kaum weiterhelfen«, frage ich, bevor ich mich auf die Suche nach Feuerholz und Zunder mache.
»Ich werde versuchen, uns Wild zu jagen, du Klugscheißer.«
Bei dem Gedanken daran, ein Reh zu essen, möchte ich heulen. Ich habe früher viel zu oft Bambi geguckt. Außerdem könnten wir zu zweit niemals das ganze Fleisch verbrauchen, bevor Ratten und Füchse darauf aufmerksam würden.
»Ich hoffe mal, du denkst da gerade an Hasen oder so? Die tun mir zwar auch leid, aber die vermehren sich eh zu schnell. Und lass ja die Eichhörnchen in Ruhe! Das sind meine Lieblingstiere!«
Dafür kassiere ich ein belustigtes Schmunzeln.
»Hasen, keine Eichhörnchen, ist notiert.«
»Womit willst du die überhaupt erlegen?«
Als er seine Violine hinter seinem Rücken hervorzieht, mache ich panisch ein paar Schritte von ihm weg. Ähnlich reagiere ich übrigens auch auf Schusswaffen. Und Schafskäse. Damit kann man mich auch verängstigen. Aber das nur nebenbei. Er scheint, ganz in Überlegungen versunken, meine, zugegeben etwas übertriebene, Reaktion nicht bemerkt zu haben. Das Streichinstrument wird sich schon nicht plötzlich selbstständig machen und dich abmurksen, Marlena. Und Valentin hätte dich schon vor Tagen um die Ecke gebracht, wenn er das wollen würde. Wie wahr und erschreckend zugleich das doch ist.
»Bei Tieren ist das zwar etwas anders als bei Menschen, aber das dürfte ich auch hinkriegen,« versucht er zu erklären, was er vorhat.
»Wenn du noch einmal darauf anspielst, dass du es einfacher findest, einen Menschen als ein Tier zu töten, dann …« Dann was? Kollabiere ich? Kotze ich ihm vor die Füße? Mache ich mir vor Angst in die Hose? Eventuell eine Mischung aus allem.
»Es tut mir leid, so war das nicht gemeint, aber … es funktioniert schlichtweg anders.«
Verwirrt glotze ich ihn an. Ich verstehe nur Bahnhof. Liegt wahrscheinlich daran, dass ich immer noch nicht ganz glauben kann, dass die wunderschöne, aus Ebenholz gefertigte Violine in seinen Händen nicht nur ein Musik-, sondern auch ein Mordinstrument ist. Hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen, hätte ich darüber gelacht, als wäre es ein schlechter Witz. Auch so spiele ich immer wieder mit dem Gedanken, dass ich schlichtweg verrückt bin. Doch ich bin grundsätzlich bei relativ klarem Verstand und Valentin kann Lebewesen mit einer Geige quälen und töten. Ja, ja, die Welt ist creepy. Hin und wieder macht sie mir eine Heidenangst.
»Wie wäre es, wenn wir das mit dem Essen und Holz besorgen auf später verschieben und wir stattdessen ein wenig Aufklärungsunterricht machen? Setz dich.« Er deutet mit der Hand auf einen umgefallenen Baumstamm vor ihm, den man gut als Bank nutzen kann. Ich lasse mich etwas perplex darauf nieder.
»Alsooo …so unerfahren bin ich nun auch wieder nicht«, stelle ich fest, was zur Folge hat, dass er in schallendes Gelächter ausbricht. Wie ich es hasse, ausgelacht zu werden, weil ich etwas falsch verstanden habe.
»Das ist zwar gut zu wissen, aber ich habe Aufklärung auf dem Gebiet des Übernatürlichen gemeint.«
»Könntest du vielleicht ein wenig konkreter werden?« Meine Stimme klingt gereizt. Langsam werde ich ungeduldig. Entweder er rückt endlich mit der Sprache raus oder ich geh selbst Hasen suchen.
»Herrgott, Marlena. Ich rede davon, dass mit mir etwas nicht stimmt, weil Menschen normalerweise nicht sterben, wenn jemand in ihrer Nähe Geige spielt oder ist dir das neu? Du bist doch sonst nicht auf den Kopf gefallen.«
Ich atme ein paar Mal ruhig durch, bevor ich etwas erwidere, weil ich ihn nicht anschreien will, auch wenn er das nach diesem Kommentar verdient hätte.
»Dann erzähl mir endlich, was mit dir los ist, du Sonderling.« Ich schenke ihm ein schelmisches Lächeln, um die Situation einerseits ein wenig zu entschärfen und andererseits zu zeigen, dass ich die Beleidigung nicht ernst gemeint habe. Das Ganze ist aber nun mal ein ernstes, wenn auch ungewöhnliches, ja nahezu irres Thema.
Kurz scheint er zu überlegen, wie er beginnen soll. Er hadert mit sich, doch dann beginnt er doch zu sprechen. Mit fachlicher Stimme trägt er seine Erklärung vor, als wäre er einer meiner Professoren, der gerade eine Vorlesung abhält.
»Also, fangen wir doch ganz von vorne an. Seit ich denken kann, lebe ich bei den praediti iuveni …«
»Bei den was?«, unterbreche ich ihn. »Warte …«, überlege ich, »iuveni … erster Fall Plural … heißt das nicht irgendwas mit jung?«
Das entlockt ihm ein Grinsen. »Da hat wohl jemand aufgepasst im Lateinunterricht. Es stimmt. Iuveni heißt so viel wie Jugendliche, denn im Singular steht es für einen jungen Mann oder ein junges Mädchen. Und praeditii bedeutet so viel wie begabt oder ausgestattet mit. Die praeditii iuveni sind der Zusammenschluss, der uns nun jagt. Er nimmt immer wieder Jugendliche oder eher Kinder auf, die sonderbar sind. Die Eigenschaften haben, die aus der Masse herausstechen. Die stärker oder schneller sind als andere. Das hört sich nun nach einer Art kindlicher Avengers an. Doch diese Vorstellung ist falsch. Wir leben vom Kindesalter an unter der Stadt. In den alten Geheimgängen, unbenutzten Kanälen und teils auch in den Katakomben vergessener Kirchen. Isoliert von der Außenwelt werden wir ausgebildet. Unser Allgemeinwissen wird zwar auch gefördert, doch das körperliche und mentale Training steht im Vordergrund. Tag ein Tag aus lernen wir unseren Körper zu stärken, unseren Geist zu kontrollieren und wir lernen allem voran, Befehle auszuführen und kein Mitgefühl zu zeigen. Das ist eines der Dinge, die die meisten am schnellsten begreifen: keine Fragen zu stellen, sondern einfach zu tun, was einem gesagt wird. Ich hatte da anfangs so meine Schwierigkeiten.« Verstohlen streift seine linke Hand über seine rechte Schulter, während sein Blick sich kurz in der Weite hinter mir verliert. Als er bemerkt, dass ich ihn anblicke, tut er so, als müsste er sich lediglich kratzen. Doch mir ist klar, dass er unter seiner Kleidung etwas vor mir versteckt. Etwas, das ihn in seiner Vergangenheit geprägt hat. Kurz räuspert er sich verlegen, doch dann setzt er seine Erzählung mehr oder weniger unbeirrt fort.
»Jedenfalls haben sie mir dort ein neues Zuhause gegeben. Ich kann mich an nichts erinnern, das vorher in meinem Leben passiert ist. Es war damals als würde ich unter Schock stehen. Ich nahm kaum etwas so richtig wahr. Erst, als sie mir halfen, mich lehrten meinen Geist und meinen Körper zu stärken, fand ich wieder ins Leben zurück. Später erfuhr ich, dass meine Eltern tot sind. Mein Vater ist bei einem Unfall gestorben. Meine Mutter konnte mit dem Verlust nicht leben. Kurz bevor sie sich das Leben nahm, drückte sie mir – ihrem damals fünfjährigen Sohn – ein wenig Geld in die Hand und erlaubte mir, zwei Kugeln Eis zu kaufen. Als ich zurück zur Bank an der Salzach kam, wo sie auf mich warten wollte, war ich alleine. Auf dem Wasser trieb ihre braune Lederjacke. Sie hatte sich ertränkt. Und mich für immer verlassen. Zumindest wurde mir mitgeteilt, dass ich das so einem vorbeikommenden Passanten erzählt habe, der daraufhin die Polizei verständigt hat. Ich selbst habe wie gesagt keine Erinnerungen mehr daran. An gar nichts aus meiner Kindheit. Selbst die Gesichter meiner Eltern gingen mir verloren.«
Nur mit Müh‘ und Not kann ich die aufsteigenden Tränen zurückhalten. Ich bin mir sicher, dass Valentin kein Freund von Mitleid ist. Und doch kann ich nicht anders, als »das ist einfach nur furchtbar« zu hauchen.
Leicht irritiert zuckt er mit den Schultern. »Ich bin ganz froh, dass ich die Erinnerungen an meine Vergangenheit verloren habe. So fehlen sie mir nicht. Mein Vater und meine Mutter meine ich. Ich wurde eben von einer Gemeinschaft und nicht von meinen leiblichen Eltern großgezogen.«
»Von einer Gemeinschaft aus Mördern«, zische ich, aufgebracht darüber, dass er scheinbar nie die Liebe erfahren hat, mit der jedes Kind aufwachsen sollte. War er je in die Arme genommen worden? War er getröstet worden, wenn er sich verletzt hatte? War er gelobt worden, wenn er eine gute Leistung erbracht hatte? War ihm denn nie gesagt worden, dass er wertvoll ist, so wie er nun mal ist?
Mein Einwand scheint ihn zu kränken. »Sie sind die einzige Familie, die ich habe … oder wohl eher hatte«, kontert er.
Dann lass mich deine Familie sein. Mit einem Kopfschütteln verjage ich diesen durch und durch verrückten Gedanken, der sich an die Oberfläche meines Geistes drängt.
»Ich war von da an also eine Vollwaise«, fährt Valentin ruhig und sachlich fort, ohne auch nur den Funken einer Emotion zu zeigen. »Die ersten paar Wochen habe ich laut Akte in einem Heim verbracht. Diese Zeit existiert aber nicht mehr in meinen Erinnerungen. Es scheint dort nicht besonders schön gewesen zu sein. Offensichtlich war ich damals schon anders als die anderen Kindern. Angeblich wollte ich nie mit ihnen spielen. Nur das dortige Klavier brachte mich zum Lächeln. So wurde das zumindest in der Akte vermerkt. Irgendwann entschied sich ein Ehepaar, mich zu adoptieren. Denen hätte damals eigentlich klar sein müssen, dass das nicht mit rechten Dingen zugehen kann, wenn sich ein Paar ausgerechnet für den zu groß gewachsenen Sonderling entschied, der kaum sprach. Doch ich glaube, die Heimleiter waren einfach nur froh, mich los zu sein. Kurz darauf stellte sich heraus, dass es sich bei dem Mann und der Frau nicht um ein kinderliebes Ehepaar handelte, sondern um einen der hochrangigen Kämpfer der praediti iuveni und eine Bekannte von ihm. Sie brachten mich zum Obersten, der von da an meine Erziehung übernahm.«
»Ich weiß gar nicht, ob ich wissen will, was diese Menschen unter Erziehung verstehen«, schnaube ich, völlig aufgewühlt von diesen vielen neuen Informationen.
Das scheint ihn zu treffen. »Ja, klar wurde ich nicht mit Samthandschuhen behandelt. Ich bin nicht auf Jahrmärkte gegangen und habe Zuckerwatte gegessen. Ich bin nie auf eine normale Schule gegangen und ich wurde nie von Freunden eingeladen, denn selbst innerhalb der Gemeinschaft wurde ich gemieden. Ich bin nun mal so abstoßend, wie ich eben bin. Ich wurde von den Gleichaltrigen verachtet, von den etwas Älteren mit niederträchtigen Blicken durchbohrt und für die Ranghöheren war ich anfangs ausschließlich Ungeziefer. Doch ich habe mich nicht unterkriegen lassen. Ja, ich habe viele Beleidigungen, Schläge und andere Strafen aushalten müssen. Und doch fühlte ich mich nach und nach immer besser. Immer stärker. Immer mehr wert. Und irgendwann war ich des Obersten beste Waffe. Ich weiß, dass ich genug Fehler habe, und dass die Gemeinschaft nicht gerade eine Happy Family ist. Aber ich habe schließlich nie etwas Besseres kennengelernt, also hör auf, mich mit diesem vorwurfsvollen Blick anzusehen!« Fast brüllt er mich an. Mit jedem Wort hat sich eine dicke Ader auf seiner Stirn stärker hervorgetan. Ohne mich noch eines weiteren Blickes zu würdigen, greift er nach seiner Violine, kehrt mir den Rücken zu und lässt mich alleine im Schnee zurück.
***
Kurz weiß ich nicht, was ich jetzt machen soll. Kaum ist Valentin aus meinem Blickfeld verschwunden, fühle ich mich wieder verloren. Doch dann fällt mir ein, dass wir Zunder und Holz brauchen, also begebe auch ich mich nach kurzem Zögern in das Dickicht hinein. Es fühlt sich komisch an, all unsere Sachen einfach unbeaufsichtigt liegen zu lassen. Aber sollte uns jemand finden, waren wir so oder so aufgeschmissen, da wäre es dann auch schon egal, wenn jemand einen meiner tollen Kochtöpfe mitgehen lässt.
Meine Gedanken kreisen um Valentin und um das, was er mir erzählt hat. Es ist zum Haare raufen, personifiziert er für mich auf seltsame Weise sowohl meine Ängste als auch das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Manchmal habe ich das Gefühl als gäbe es zwei von seiner Sorte. Den guten und den bösen Zwilling sozusagen. Mal sehe ich so viel Schmerz und Reue in seinen Augen und fühle mich so geliebt und geborgen in seiner Nähe, mal fügt er Menschen Leid zu, folgt blind gewaltsamen und unmenschlichen Befehlen und dann … er hat diese Ansammlung von Verrückten, Kriminellen, die Kinder zu Mördern erziehen, verteidigt. Weil er einer von ihnen ist. Verzweifelt schüttle ich den Kopf und versuche damit auch diese dunklen Gedanken zu verscheuchen und gleichzeitig die Augen vor der bitteren Wahrheit zu verschließen: Er ist einer von ihnen. Doch er hat mich nicht ausgeliefert. Er hat mich nicht verletzt. Ganz im Gegenteil: Alles was er tut, was er augenscheinlich schon immer getan hat, seit wir uns zum ersten Mal begegnet sind, ist, mich zu beschützen. Und dafür setzt er sein Leben auf‘s Spiel. Und sagt, dass er dich liebt. Okay, um mich mit diesem Gedanken zu beschäftigen, bin ich noch nicht stark genug. Außerdem beschleicht mich das Gefühl, dass er das alles nicht wegen seiner Gefühle zu mir tut, sondern aus dem einfachen Grund, dass er Reue empfindet. Auch wenn er das augenscheinlich nicht zugeben will. Oder dieses Gefühl ist so neu für ihn, dass er es nicht zu deuten weiß.
Gedankenverloren bücke ich mich nach trocken aussehenden Ästen, reiße Moos von Baumrinden und laufe in fremde Menschen hinein. Warte was?!
Kapitel 3 – Valentin
Ich habe gedacht, ich würde durchdrehen, als sie mich nur noch ignoriert und mit ihrem Schweigen bestraft hat. Dann hat sie endlich meinen Wunsch erhört, hat wieder mit mir geredet, mich wieder angesehen. Und doch wünsche ich mir gerade einfach nur, ihren Blicken ausweichen zu können. Da war es mir ja noch lieber, als sie mich einfach nicht leiden konnte. Böse Blicke lassen mich kalt. Doch als sie mich so voller Abscheu angesehen hat, hat das etwas in mir hervorgerufen. Eines dieser komischen Gefühle, die ich immer noch nicht so richtig zuordnen kann, obwohl sie doch schon seit einer Weile immer wieder an die Oberfläche kommen. Doch der Moment, in dem mir aus ihren Augen nichts als Angst – Angst vor mir! – entgegenschlug, hat die Eisdecke meines Herzens zersplittern lassen. Nur ein klein wenig, doch es genügte, dass mich der Schwall aus Gefühlen fast überwältigt hätte. Der Drang, sie zu beschützen, war beinahe übermächtig geworden, ich wollte sie einfach nur im Arm halten, sie beruhigen, doch dann wurde mir klar, dass es genau das war, womit ich ihr in diesem Moment am meisten weh getan hätte. Und da spürte ich, wie sich ein Eiszapfen durch mein Innerstes bohrte und mich erschaudern ließ. Mir wurde bewusst, dass ich sie nicht einfach zurücklassen konnte. Dass ich meine Familie verraten musste. Dass ich das Leben, das ich nun schon seit zwanzig Jahren führe, aufgeben musste. Dass ich alles zurücklassen musste. Für eine junge Frau, die sich in diesem Moment wahrscheinlich so weit wie möglich von mir weggewünscht hat. Und ich habe es getan. Ich habe ihr meine Hand gereicht, ihr diese Chance auf Flucht – eine Flucht isoliert von der Außenwelt, eine Flucht mit mir alleine – angeboten, und sie ist mit mir gekommen. Ohne dass ich es wollte und ohne dass ich es kontrollieren konnte, hat mein Herz zu rasen begonnen und ich habe vergessen, in was für einer brenzligen Situation wir uns befanden, hatte lediglich Augen für sie und freute mich darüber, sie ganz für mich alleine zu haben. Und am meisten freute ich mich über ihr Vertrauen zu mir. Wahrscheinlich wusste ich es schon damals und wollte es einfach nicht wahrhaben, doch wenig später wurde es mir völlig klar: Ich war lediglich das kleinere Übel. Die Chance, nicht sofort auf irgendeiner verlassenen Straße abgemurkst zu werden. Genauso schnell, wie die Gefühle gekommen waren, habe ich sie auch schon wieder unter einer dicken Decke Schnee und Eis begraben. Wenn wir eines zum Überleben brauchen, dann einen klaren Verstand und den puren, unumstößlichen Willen zu überleben. Natürlich hat es weh getan, von ihr weggestoßen zu werden, die Angst und die Abneigung zu spüren, doch die Ignoranz hat mich am meisten getroffen. Gehasst zu werden, ist immer noch schöner als jemandem egal zu sein. Nun weiß ich, dass ich ihr nicht egal bin, dass sie immer noch Interesse an mir zeigt. Doch mir ist auch klar, dass sie in mir noch immer nach dem Valentin sucht, den sie in ihr Herz geschlossenen hat, doch der ist genauso ein Teil von mir, wie meine blutige Vergangenheit und meine grausame Rolle bei den praediti iuveni: Ich habe nicht aufgegeben, bis ich ihr bester Kämpfer war. Und auch, wenn mich seit Neuestem immer wieder dieses bedrückende Gefühl beschleicht, wenn ich an meine Taten denke, werde ich wohl immer auch ein wenig Stolz bei dem Gedanken verspüren, dass ich mich dadurch in meinem Leben zum ersten Mal wertvoll gefühlt habe. Vielleicht wird Marlena in mir wieder den Valentin finden, den sie mit so liebevollen Augen betrachtet hat. Den sie geküsst hat. Dessen Nähe sie gesucht hat. Doch ihr muss auch klar werden, dass es diesen Valentin nicht in Reinform gibt. Mit einem gewissen Grad an Verunreinigung muss sie wohl oder übel klarkommen.
Ein Geräusch reißt mich ruckartig aus meinen Gedanken. Das Knirschen von Bewegungen auf dem leicht gefrorenen Schnee. Alle Muskeln meines Körpers spannen sich an, während ich mich vollkommen auf meine Sinne konzentriere. Kein Geräusch soll mir entgehen. Keine Bewegung soll ungesehen bleiben. Und dann erblicke ich die Ursache des Geräusches und auch wenn ich vollkommen konzentriert bleibe, erlaube ich meinen Muskeln, sich wieder etwas zu entspannen. Nur wenige Meter von mir entfernt hoppelt ein gut genährter Feldhase hinter einem Baum hervor, bleibt stehen und putzt sich. Würde mein Magen sich nicht so schmerzhaft leer anfühlen, würde ich vielleicht sogar denken, dieses Tier wäre zu niedlich, um es zu töten. Doch wir brauchen etwas Nahrhaftes zwischen den Zähnen und so klemme ich meine Violine zwischen mein Kinn und meine Schulter. Sofort durchschwemmt eine Welle von Energie meinen Körper, als das kalte Holz die nackte Haut an meinem unbedeckten Hals berührt. Kein Gefühl auf der Welt ist mir so vertraut wie dieses. Immer und immer wieder habe ich versucht, diese Fähigkeiten auch mithilfe anderer Instrumente einzusetzen. Doch bei keinem davon, nicht einmal bei einem anderen Streichinstrument, gelang es mir. Ich weiß nicht wieso, aber meine einzige funktionierende Waffe ist die Violine. Vielleicht erfahre ich irgendwann den Grund dafür. Ich schließe meine Augen, rufe mir das Bild meiner Umgebung in meine Gedanken und keine Sekunde später höre ich das schnelle Schlagen des kleinen Tierherzens. Der Hase scheint völlig unbeschwert zu sein und doch hat er einen viel höheren Ruhepuls als wir Menschen. Ich atme tief durch, versuche mich dadurch nicht aus dem Konzept bringen zu lassen. Und so schaffe ich es, mich vollkommen auf diesen einen deutlichen Herzschlag zu konzentrieren, ihn förmlich in mich aufzunehmen, die Pulswellen auf meiner Haut zu spüren und zu fühlen, wie sie die Saiten der Violine zum Vibrieren bringen. Das ist mein Stichwort. Möglichst langsam, um das Tier keinesfalls zu alarmieren, setze ich den Bogen an und beginne zu spielen. Kein Ton ist zu hören. Dafür ist das menschliche Gehör schlichtweg nicht geschaffen. Doch ich fühle jede einzelne Schallwelle über das Instrument und dessen Steg hinweg durch die Luft auf den Feldhasen zurasen. Tiere haben eine so viel bewusstere Wahrnehmung als wir Menschen, deren Sinne immer mehr verkommen. Der Hase scheint verschwinden zu wollen und doch führt er nur eine kleine Zuckung aus, bewegt sich jedoch kaum vom Fleck. Das kleine Herz beginnt immer schneller zu rasen, doch ich lasse mich nicht irritieren, beschleunige mein Spiel im selben Tempo, bis ich schließlich die Frequenz und Amplitude des pochenden Tierherzens erreicht habe und es ins Stolpern gerät. Der Rhythmus kommt immer mehr aus dem Takt. Mein Spiel folgt seinem Beispiel. Und dann passiert es. Noch zwei, drei Mal rumpelt der Puls des Hasen unkontrolliert vor sich hin, dann ist plötzlich alles still. Das Herz des Hasen hat für immer aufgehört zu schlagen. Still und heimlich hatte es seine eigene kleine Resonanzkatastrophe, gegen die es sich nicht wehren konnte. Das Abendessen ist gesichert. Ein klein wenig stolz darauf, dass ich das Tier so schnell und ohne Komplikationen töten konnte, hebe ich den Kadaver auf, um das Tier zum Lager zu bringen, als ein schriller Schrei die Vögel aus den Bäumen hochschrecken lässt. Und mich in sofortige Alarmbereitschaft versetzt.
»Marlena!« Ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, sprinte ich schon zwischen den viel zu dicht stehenden Bäumen hindurch in die Richtung, aus der ich den Schrei vermute. »Marlena!«, rufe ich wieder, ungeachtet dessen, dass man uns entdecken könnte, falls es doch jemand anders sein sollte, der diesen markerschütternden Ruf von sich gegeben hat. Oder sich noch jemand in diesen Wald verirrt hat.
»Ich bin hier«, wimmert eine vertraute Stimme ganz in der Nähe. Blindlings stürme ich auf sie zu, ignoriere den Ast, der mir geradewegs ins Gesicht peitscht. Wenige Augenblicke später bremse ich abrupt ab, um Marlena nicht über den Haufen zu rennen, die auf dem Boden kniet. Über etwas gebeugt. Oder wohl eher über … jemanden. Ruckartig schnappe ich ihren Oberarm und ziehe sie zu mir hoch, weg von dem reglosen Mann, der vor unseren Füßen, mit dem Gesicht nach unten, im Schnee liegt.
Ich mache einen Schritt nach hinten, ziehe Marlena mit mir, die sich jedoch augenblicklich von mir losreißt.
»Was ist hier passiert?«, frage ich sie, während ich weiterhin den grauen, etwas schütteren Haarschopf anstarre.
»Das fragst du noch?«, blafft sie mich an. »Das müsstest du doch wohl am besten wissen! Gerade wollte ich etwas Feuerholz und Zunder suchen, wie du mich gebeten hast, als ich plötzlich in diesen Mann hineingerannt bin. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich dachte, sie hätten uns. Und dann hast du angefangen zu spielen und Sekundenbruchteile später, als der Mann den Mund öffnete, um etwas zu sagen, hat er die Augen viel zu weit aufgerissen, während seine Mundwinkel und Finger unkontrolliert zu zucken begonnen haben. Die leise Melodie der Violine wurde immer schneller und bevor ich endlich kapiert habe, was hier gerade eigentlich passiert, ist der Mann auch schon vor meinen Füßen umgekippt. Das hat mich so erschreckt, dass ich reflexartig geschrien habe. Den Rest der Geschichte kennst du ja.« In ihrem Blick liegt eine so große Abscheu, dass ich vorsichtshalber einen Schritt von ihr wegmache. Ich will sie nicht noch mehr verängstigen.
Fassungslos schüttelt sie den Kopf. »Warum hast du das getan? Klar stellt er eine zusätzliche Gefahr für uns dar, aber das ist doch auch keine Lösung!«
Also daher weht der Wind. »Das war ich nicht. Zumindest wollte ich das nicht«, beteure ich. Doch Marlena scheint mir gar nicht zuzuhören.
»Du kannst doch nicht einfach jeden Menschen umbringen, der uns möglicherweise gefährlich werden könnte.«
»Jetzt hör mir doch mal zu: Ich wollte ihm nichts tun.«
»Wie kannst du nur …« Inzwischen ist ihre Stimme zu einem geschockten Flüstern geworden.
Das wird mir jetzt echt zu blöd. Ich packe sie an den Schultern und bringe sie so endlich einmal dazu, mir ihre volle Aufmerksamkeit zu schenken. »Und ich sage es noch einmal: Verdammt, Marlena, ich wusste nichts von dem Mann! Ich wollte ihm nichts tun, ich habe lediglich einen Hasen erlegt!« Damit sie mir endlich glaubt, hebe ich das braune Häschen auf, das ich zwar mitgenommen, vor lauter Irritation aber habe fallen lassen, und halte es ihr vor die Nase.
Langsam nickt sie. Scheint mir zu glauben, scheint zu verstehen. Als hätte sie einen Geistesblitz, weiten sich plötzlich ihre Augen. »Das heißt, er ist vielleicht gar nicht tot?«
Wie auf Kommando werfen wir uns beide vor dem Mann auf die Knie und suchen nach seinem Puls, bis Marlena ihn schließlich findet, als sie das Handgelenk des Mannes umklammert. »Er lebt«, haucht sie, »aber er ist total kalt.«
»Schnapp‘ dir den Hasen und komm.« Mit Schwung schultere ich den alten Mann und eile zurück zum Lager, nicht ohne mich noch einmal mit einem Blick über die Schulter zu vergewissern, dass mir Marlena auch wirklich mit unserer Beute folgt. Und nicht nur das. Meine Violine hält sie in der anderen Hand, wenn auch möglichst weit von ihrem Körper entfernt. Durch die Sorge um Marlena und diesen Fremden habe ich das Instrument, das ich genauso achtlos zu Boden geworfen habe wie den Hasen, vollkommen vergessen. Ich habe das einzig Beständige in meinem Leben einfach im Schnee liegen lassen. Und das alles nur wegen dieser verrückten Gefühle. Wie kann mir nur so etwas passieren? Ich selbst weiß keine Antwort darauf.
Kapitel 4 – Marlena
Zwar glaube ich Valentin und doch verstehe ich einfach nicht, was dann mit diesem Mann vor mir passiert ist. Das alles hat zeitlich so gut zusammengepasst. Irgendetwas daran bereitet mir ein mulmiges Gefühl in der Magengegend.
»Glaubst du, er wacht wieder auf?« Unsicherheit, die ich nicht unterdrücken kann, liegt in meiner Stimme. Valentin zögert erst, doch dann erhalte ich meine Antwort.
»Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Eigentlich sollte er schon längst wieder bei Sinnen sein, so warm wie er es hier hat.« Valentin hat den Fremden über die Schulter geworfen und in unseren Unterschlupf gebracht, wo wir ihn sofort mit allen möglichen Decken und Mänteln zugedeckt haben, sodass sein Körper möglichst schnell wieder eine humane Körpertemperatur erreicht. Das ist jetzt schon eine halbe Stunde her, seither sitzen wir auf dem Boden des Zeltes und haben uns in Schweigen geübt. Noch hat es kein Lebenszeichen seitens des Mannes gegeben. Bis jetzt.
»Valentin! So ungeduldig wie eh und je!« Die raue und unerwartete Stimme des Mannes lässt mich hochschrecken, während ich wie gebannt die Luft anhalte. Er kennt seinen Namen. Auch den Angesprochenen lässt diese neue Situation nicht kalt. Valentin hat sich innerhalb eines Herzschlags auf den Fremden gestürzt und hält ihm zu meiner Überraschung die blank polierte Klinge eines Dolchs an die runzlige Kehle. Ich habe keine Ahnung, wo er diese Waffe hergezaubert hat, ich habe sie bisher nicht bemerkt. Da wird mir klar, dass ich ihn noch nie mit einer richtigen oder wohl eher einer typischen Waffe in der Hand gesehen habe. Dieses Bild bereitet mit einerseits zittrige Angst, doch andererseits strahlt es unbändige Kraft aus.
»Woher kennen Sie meinen Namen?« Die Frage dringt als Zischen zwischen Valentins vor Wut zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Wenn du die Klinge wegnimmst, erwäge ich vielleicht, es dir zu erzählen, Jungchen.« Obwohl Valentin mit nur einer raschen Bewegung sein Leben beenden könnte, wirkt der Mann völlig entspannt. Und vollkommen zurechnungsfähig. Etwas verwunderlich, wenn man seinen Zustand von vor wenigen Minuten bedenkt.
Widerwillig steckt Valentin die Waffe in seinen Stiefel zurück – wie kann der mit einem Messer darin herumlaufen?!
– während ein knurrendes Geräusch aus seiner Kehle dringt. Wahrscheinlich sollte es beängstigend wirken. Ich finde es aber auf eine komische Art und Weise anziehend, auch wenn ich mir das nur ungern eingestehe. Eine leichte Gänsehaut überzieht meine Haut, obwohl ich die Kälte des Winters kaum mehr spüre. Vergessen ist alles um mich herum. Zumindest für kurze Zeit.
»Hast du vielleicht etwas Anstand und könntest mir etwas Wasser geben, Kindchen? Meine Kehle ist wie ausgetrocknet. So erzähle ich euch sicher keine Geschichte.« Sein erwartungsvoller Blick lässt mich verstehen, dass ich wohl das Kindchen bin. Wie reizend. Doch mein Mitgefühl und vor allem auch meine Neugier siegen und so beeile ich mich, ihm eine Wasserflasche zu reichen und warte gespannt darauf, was er uns zu erzählen hat. Kurz huscht mein Blick zu meinem Begleiter. Valentin scheint sich nur mit Mühe davon abhalten zu können, dem alten Mann erneut an die Kehle zu springen. Misstrauen spiegelt sich deutlich in seinen hellen Augen.
Nachdem der Mann ein paar Schlucke Wasser zu sich genommen hat, hält Valentin es scheinbar nicht mehr aus.
»So, und jetzt rücken Sie endlich raus mit der Sprache. Und Ihre Geschichten können Sie sich sparen. Wir wollen die Wahrheit hören und sonst nichts.«
»Jede Geschichte hat ihren wahren Kern! Doch keine Angst, ich werde euch keine Märchen erzählen. Wie auch ihr, war ich einst auf der Flucht. Auf der Flucht vor demselben Feind. Damals waren es noch andere Personen, bis auf einen natürlich: Brendanus.« Angewidert verzieht der Alte seine spröden Lippen. Neben mir saugt Valentin angespannt Luft zwischen den Zähnen ein. Wer auch immer dieser Brendanus sein mag. Ich glaube, wir mögen ihn nicht. Keiner von uns.
»Woher kennen Sie den Namen des Obersten?«
»Oboedi et ancillare!«
»Gehorche und diene …«, murmle ich irritiert vor mich hin. Was … was meint er damit?
»Sie … Sie sind …« Valentin gerät ins Stocken. In Sekundenschnelle blitzt der Dolch erneut auf. Langsam dämmert es auch mir.
»Ein beschenkter Jugendlicher? Nun … nicht mehr. Ich bin keinesfalls mehr jung und ein Teil der praeditii iuveni bin ich auch nicht mehr. Ihr habt also nichts zu befürchten.«
»Aber … wie«, setzt Valentin erneut an. Wie konnten Sie aussteigen?, vervollständige ich in Gedanken seine Frage.
Unser Gegenüber scheint auch so zu verstehen.
»Naja, das war nicht gerade einfach. Nicht umsonst bin ich in die Geschichte eingegangen, als der Einzige, der jemals den Klauen des Obersten entwischt ist«, kurz zögert er.
»Oder vielleicht weiß niemand davon, wenn ich eure Mienen so sehe? Jedenfalls bin ich ein Abtrünniger. Und ich habe überlebt. Ich denke, ich habe gerade an Wert für euch gewonnen.«
»Sie sind also wirklich ein ehemaliges Mitglied?«, frage ich vorsichtshalber nochmal nach. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das alles hier gerade real ist, oder ob ich lediglich höre, was ich so gerne hören würde. Mit einem Verbündeten an unserer Seite wäre alles so viel einfacher.
»Ja.«
»Und Sie konnten entkommen?«
»Wieder korrekt. Du bist ja eine richtige Blitzmerkerin, Kindchen.« Unkontrolliert macht sich Schamesröte auf meinen Wangen breit. Zumindest gehe ich davon aus, denn meine Haut beginnt verdächtig zu glühen.
»Wie um Himmelswillen konnten Sie lebendig entkommen? Und was machen Sie dann jetzt hier statt sich irgendwo weit, weit weg niederzulassen?« Valentin versucht gar nicht erst, ruhig zu klingen. Ich glaube, ich habe ihn noch nie so aufgebracht erlebt. In seinen Augen tobt ein kalter Sturm, während sein ganzer Körper vor unterdrückter Anspannung bebt.
»Warum lauft ihr überhaupt weg, Jungchen? Mit ihr an deiner Seite, sollten die dir doch eigentlich alle aus der Hand fressen. Und Brendanus wird seinen Liebling doch ohnehin bereits schrecklich vermissen.« Wieder dieser Name, der Valentin zusammenzucken lässt. Wie wild schüttelt er den Kopf, scheint sich auf das Wesentliche konzentrieren zu wollen.
»Was reden Sie da überhaupt?«
Der Alte scheint ihm gar nicht richtig zuzuhören und wendet sich nun stattdessen gänzlich mir zu. Schwerfällig erhebt er sich, schleppt sich immer näher zu mir. Unschlüssig verharre ich auf meinen Knien. Eine vom Alter gezeichnete Hand streckt sich meinem Gesicht entgegen, doch die Berührung bleibt aus. Krumme Finger verharren Millimeter von meiner Stirn entfernt. Die Augen des Fremden huschen rasend schnell über mein Gesicht hinweg. Ein wirrer Ausdruck hat in ihnen Einzug gehalten.
»So stark … noch nie zuvor …« Der Mann brabbelt wie im Fieberwahn vor sich hin. Ein Schauer überläuft mich, als er mich an das Fantasy-Wesen Gollum erinnert, demnach wäre ich so etwas wie … der Ring sie zu knechten?
Valentin ergreift das Handgelenk des Mannes und zerrt ihn brutal von mir weg.
»Das reicht! Lassen Sie gefälligst Ihre Finger von ihr!« Ruckartig reißt der Mann sich frei. Seine milchig grauen Augen stieren in klare blaue.
»Du weißt es nicht, oder Jungchen? Habe ich Recht? Du hast keinen blassen Schimmer von ihrer Macht. Na, habe ich Recht? Ihre Gabe …« Ein siegessicheres Grinsen will sich in der Miene des Alten manifestieren. Ein gekonnter Kinnhaken Valentins wischt es ihm sofort wieder aus dem Gesicht.
»Ich weiß nicht, wie lange Sie schon alleine hier draußen hausen. Doch das hat eindeutig seine Spuren hinterlassen. Sie halten von nun an den Mund. Ich will heute kein Wort mehr von Ihnen hören, außer sie werden gerne geknebelt.« Mit dieser Drohung bringt er den fremden Mann zum Schweigen. Mit seinem Gürtel umschlingt er die faltigen Handgelenke, zerrt den Mann hoch, hinter sich her und fesselt ihn schlussendlich an einen Balken im Inneren der schütteren Holzhütte. Das alles verfolge ich nur halbherzig. Eine eisige Klaue hat sich um mein Herz gelegt, lässt alles in einem düsteren Nebel ertrinken. Du hast keinen blassen Schimmer von ihrer Macht … Ihre Gabe … Seine Worte brennen sich in meine Gedanken, lassen meinen Geist erschaudern. Was hat das alles zu bedeuten? Das ist doch Blödsinn! Ich und begabt? Dass ich nicht lache. Ich bin höchstens begabt darin, gegen Türbalken zu laufen. Oder über Mülleimer zu stolpern. Aber da kann man doch kaum von Macht sprechen. Was, wenn er Recht hat? Wenn er mehr weiß als ich selbst? Der Nebel um mich wird dichter. Macht mich blind. Dringt in meine Nase, meinen Mund, meine Ohren. Er lässt mich röcheln. Ich befürchte, an meinen Zweifeln zu ersticken, als sich eine Hand vor mir abzeichnet, wie ein rettender Anker in einer tosenden Brandung. Es ist Valentins Hand. Begierig will ich danach greifen. Sehne mich nach seiner Kraft, seinem Schutz. Doch ich werde von der kratzigen Stimme des Alten unterbrochen.
»Ich weiß, dass ich Recht habe! Verschließe nicht deine Augen vor der Macht des Träumens, Kindchen!«
Und dann ist es zu spät. Ich falle. Falle in bodenlose Tiefe. Ertrinke in gewisperten Worten, bis ich nicht mehr weiß, wo oben und unten ist, bis ich weder tot bin noch mich lebendig fühle.
Kapitel 5 – Valentin
Gerade noch schnell genug bekomme ich Marlenas Schultern zu fassen, bevor sie mit ihrem Kopf auf dem harten Boden aufschlägt. Was ist bloß mit ihr los? Warum brechen heute alle Leute in meinem Umkreis zusammen? Beinahe verzweifelt versuche ich immer wieder, sie ins Bewusstsein zurückzubringen. Zuerst streiche ich ihr noch vorsichtig die Haare aus der Stirn, dann schüttle ich sie an ihren Schultern, immer und immer wieder. Keine Reaktion. Ich träufle ihr ein wenig Wasser ins Gesicht. Ohne Erfolg. Nur am Rande nehme ich das gurgelnde Lachen des – wie es mir scheint – verrückten Alten wahr, doch meine Aufmerksamkeit ruht vollkommen auf der leblos wirkenden, jungen Frau in meinen Armen.
* Währenddessen in einem Traum *
Als ich den kalten Marmor unter meinen Füßen spüre, kann ich nicht anders, als genervt aufzuschreien und meine Hand gegen die hellgraue Steinwand zu meiner Rechten zu schlagen. Eine dumme Idee. Auf meinen Schrei folgen ein saftiger Fluch und dann ein wehleidiges Wimmern. Ich reibe mir über die vor Schmerz pochende Stelle auf meiner Handfläche. Blut haftet an meinen Fingern. Ein Blick auf die Wand erklärt mir die Verletzung: dort steht ein Nagel aus der Wand, ohne ein Bild zu halten. Zwar nur die Seite mit dem Nagelkopf, aber meine Wut hat den Rest erledigt. Achtlos wische ich das Blut am Rocksaum meines Kleides ab. Es ist in den unterschiedlichsten Blautönen gehalten. Wie der Ozean. Oder wie Valentins Augen, denke ich. Wäre ich nicht gerade bei vollem Bewusstsein darüber, was gerade noch passiert ist, bevor ich scheinbar ohnmächtig geworden bin, würde ich den seidenen Stoff bestaunen. Doch so lassen mir meine kreisenden und beängstigenden Gedanken keinen Platz für andere Empfindungen als Panik und Frustration. Zitternd setze ich mich auf den spiegelglatten Stein und lehne den Kopf an eine der vielen dunklen Holztüren. Ich kenne diesen Gang und dieses Gebäude aus meinen Träumen. Doch noch nie bin ich am Tag hierher gelangt. Und noch nie ist einer dieser Träume wirklich schön ausgegangen. Der Gedanke an mein mordlüsternes Ich vom letzten Mal lässt mich erschaudern. Es war nur ein Traum. Das bin nicht ich. Ich schaffe es kaum, mich zu beruhigen, als mein Puls auch schon wieder in die Höhe schnellt. Hat er mich … nein das kann nicht sein … aber wenn doch? Was, wenn mich der alte Mann hierher geschickt hat? Das ist doch Blödsinn … warum sollte er das tun? Und noch wichtiger: Wie?
Über mich selbst lachend schüttle ich den Kopf. Mein Kreislauf war bestimmt einfach nur im Keller. Das ist doch kaum verwunderlich, nach dem ganzen Stress und der Furcht der letzten Tage. Da kann man schon mal umkippen. Und wirr in der Gegend herum fantasieren. Das ist bestimmt schon den Besten passiert. Alles ganz normal. Und logisch erklärbar. Wie sollte es auch sonst sein? Der fremde Alte hat magische Kräfte und hat mich mit nur einem Satz in eine Traumwelt ins Exil geschickt? Ha, ja genau. Und wahrscheinlich muss ich einen Drachen töten und die Träne einer Meerjungfrau besorgen, damit ich in die Realität zurückkehren kann. Alles klar. Ich entscheide mich für Version 1: die Kreislaufprobleme. Der Fremde mag vielleicht ein ehemaliges Mitglied der praeditii iuveni und somit auf irgendeine Weise begabt sein. Aber zaubern? Also so richtig mit allem Drum und Dran? Das ist doch lächerlich. Dann wachsen mir vermutlich demnächst Flügel und ein grüner Schnauzbart. Dein Ex-Lover tötet Menschen mit einem Streichinstrument, Marlena. Touché. Ich bleibe trotzdem bei der ersten, logischeren Variante.
Und wenn ich schon mal hier bin, kann ich mich gleich mal wieder nach einem möglichen Ausgang umschauen. Auch wenn ich mich etwas davor grusle, möglicherweise den Albtraum-Valentin und seinen Best-Buddy Nick zu treffen, raffe ich mich hoch und gehe langsam den Gang entlang. Auch dieses Mal hallen meine Schritte von den Wänden wider, trage ich doch wunderschöne dunkelblaue Pumps auf denen einzelne Glitzersteine funkeln wie die Sterne am Firmament in einer klaren Nacht. Eines muss ich dieser Traumwelt lassen: hier habe ich echt Stil. Zumindest was meine Kleidungsgewohnheiten betrifft. Ich greife nach dem Rock und hebe ihn ein Stück hoch, sodass ich nicht ständig Angst haben muss, über den Stoff zu stolpern. Ich komme nicht weit. Schon nach wenigen Schritten zieht eine kleine, fast schon unscheinbare Tür meinen Blick auf sich. Das Holz ist schwarz wie die Nacht. Ohne auch nur einen Wimpernschlag darüber nachzudenken, greife ich nach dem angelaufenen Türknauf und trete ein. Kaum habe ich einen Schritt über die Schwelle gemacht, fällt die Tür hinter mir ins Schloss und sperrt mich in vollkommene Finsternis. Die Dunkelheit ist so durchdringend und so unfassbar still, dass ich einzig an dem Geräusch meines pochenden Herzens noch sicher erkennen kann, dass ich lebe, und nur das Rascheln meines Kleides versichert mir, dass ich – mehr oder weniger – bei Bewusstsein bin. Plötzliche Worte lassen mich zusammenzucken. Zuerst noch etwas undeutlich, dann jedoch immer klarer und lauter hallen sie rings um mich herum von den Wänden wider. Was ist bloß mit ihr? Warum rührt sie sich nicht? Soll ich ihr eine Ohrfeige geben? Nein, ich könnte sie doch niemals schlagen. Nie könnte ich sie verletzen. Verlass mich nicht. Ich flehe dich an. Komm‘ zu mir zurück, Marlena!
Ich strauchle, stolpere, schlage mit meiner Stirn gegen einen Widerstand, vermutlich eine Wand. Ich verstehe nicht, was hier vor sich geht, begreife einfach nicht, was das alles zu bedeuten hat. Es ist als wäre ich …
»Ganz richtig, Kindchen«, schallt eine viel ältere und rauere Stimme als jene zuvor durch den kaum greifbaren Raum.
»Du bist zwar nicht direkt in seinem Kopf«, fährt der Alte fort, »Wohl eher in seinem Geist. Aber das, was du hörst, sind tatsächlich Valentins Gedanken.«
Völlig überfordert schnappe ich immer wieder nach Luft und doch dringt nichts davon bis in meine Lungen vor.
»Und jetzt komm‘ zurück.« Kaum dringt dieser Satz an meine Ohren, gibt der Boden unter mir nach. Und ich blicke in eisblaue Augen.
*
Erleichterung schwappt durch meine Venen.
»Marlena …«, nuschle ich in ihre Haare. Erst da merke ich, wie diese Szene aussehen muss, lockere meinen Griff und entferne mich ein Stück von ihr. Kälte überzieht meine Haut, dort wo gerade noch ihr Kopf geruht hat. Unwirsch schüttle ich diese sinnlosen Gefühle ab. »Was ist nur mit dir passiert?« Doch sie scheint meine Frage gar nicht gehört zu haben. Ihr Blick schweift unruhig umher, sie richtet sich langsam auf, bis sie gefunden hat, was sie sucht: den Fremden. Als wäre sie nicht gerade noch ohnmächtig gewesen, springt sie auf, reißt sich gänzlich von mir los. Sie stürmt auf ihn zu, bleibt jedoch knapp vor ihm stehen. Ein Ruck geht durch ihren Körper, als hätte er nicht mit dieser Abbremsung gerechnet.
»Sie!«, zischt sie ihm aufgebracht entgegen. »Was haben Sie getan? Wie konnten Sie das mit mir machen? Das ist … Das ist …«
Egal wie aufgebracht Marlena gerade ist, der Mann lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Ein siegreiches Lächeln dominiert seine Züge.
»Ich habe dir nur die Augen für das geöffnet, wovor du sie zuvor so penetrant verschlossen hast.«
Wütend stampft sie auf, scheint ihrer Wut Platz machen zu müssen. Ich sitze währenddessen wie vor den Kopf gestoßen da und verstehe nur Bahnhof.
»Ist das … wird mir das jetzt jedes Mal passieren, wenn ich schlafe? Ich will das nicht. Und warum haben Sie solche Macht darüber?«
Grinsend schüttelt er seinen Kopf. »Keine Angst, Kindchen. Du wirst schon genug ruhigen Schlaf bekommen. Zumindest solange das Jungchen seine Finger bei sich behalten kann. Hält ja keiner aus, wie er dich ansieht. Und sei beruhigt: Ich habe keine« – er zeichnet mit seinen Händen Gänsefüßchen in die Luft »Macht über dich. Ich habe lediglich eine Gabe, so wie er. So wie du. Meine ist nur etwas anders als seine. Aber keinesfalls so besonders wie deine.«
Ich weiß nicht, ob ich gerade beschämt oder wütend sein soll. Diese ganzen Gefühle überfordern mich noch immer. Wie soll ein Mensch denn mit diesen Unmengen an Nervenreizungen und Hormonen umgehen können? Außerdem, wie sehe ich sie denn an?
»Was meinen Sie damit, dass wir alle eine Gabe haben? Marlena doch nicht.« Ein kurzes Zucken in Marlenas Mimik lässt mich vermuten, dass mein Einwand sie ein wenig gekränkt hat, aber einer von uns muss schließlich versuchen, realistisch zu bleiben.