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PRIVATDETEKTIVE HABEN'S AUCH NICHT LEICHT … Das hatte Hartmann sich ganz anders vorgestellt. Simone Sommer, Familienoberhaupt und Chefin eines Düsseldorfer Stahlunternehmens, beauftragt ihn damit, ihre Tochter Miriam zu finden. Diese hat scheinbar einen Auslandsaufenthalt ihres Lebensgefährten genutzt, um alte, männliche Kontakte aufzufrischen. Der Ex-Fußballprofi und jetzige Privatdetektiv Hartmann wittert ein paar leicht und lässig verdiente Euro. Er irrt sich gewaltig. Auch Hans-Rudolf Kreyendahl vermisst jemanden, nämlich seine gut aussehende Verlobte Nadia, die er in Russland erstanden hat. Hartmann hat eine Idee, wie er diesen Auftrag ebenfalls mit wenig Aufwand und quasi nebenbei erledigen kann. Nun ja, er irrt sich ein zweites Mal. Und schließlich findet er Miriam, nur macht das die Sache nicht einfacher: Jemand hat ihr in den Kopf geschossen. Und damit fangen seine Schwierigkeiten erst an.
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Seitenzahl: 379
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Klaus StickelbroeckFieses Foul
Vom Autor bisher erschienene Bücher bei KBV:
»Fieses Foul«
»Kalte Blicke«
»Fischfutter«
»Auf die harte Tour«
Klaus Stickelbroeck wurde 1963 in Anrath geboren. Er lebt in Kerken am Niederrhein und arbeitet als Polizeibeamter in Düsseldorf. Seinen ersten Kurzkrimi veröffentlichte er im Jahr 2000. Zuletzt erschienen zwei seiner Kurzkrimis in Mördchen fürs Örtchen und in Schicht im Schacht (beide KBV-Verlag). Stickelbroeck ist einer der sechs »Krimi-Cops«, deren Kriminalromane Stückwerk, Teufelshaken und Umgelegt ebenfalls im KBV-Verlag erschienen sind.
Klaus Stickelbroeck
FürIrmi, Annika, Nick und Tim
1. Auflage 20072. Auflage 20103. Auflage 2011
© KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheimwww.kbv-verlag.deE-Mail: [email protected]: 0 65 93 - 99 86 68Fax: 0 65 93 - 99 87 01Umschlagillustration: Ralf KrampRedaktion, Satz: Volker Maria Neumann, KölnDruck: Aalexx Buchproduktion GmbH, GroßburgwedelPrinted in GermanyPrint-ISBN 978-3-940077-01-1E-Book-ISBN 978-3-95441-086-6
»... überschattet wurde der verdiente 4:0-Erfolg der Mönchengladbacher durch eine schwere Verletzung des überragenden Christian Hartmann. Nach einem rüden Foul musste Hartmann in der 72. Spielminute mit einer Trage vom Platz gebracht werden. Er wurde noch am gleichen Nachmittag in einer Gladbacher Klinik am Knie operiert.
Wie Gladbachs Trainer auf der Pressekonferenz nach dem Spiel mitteilte, wird Hartmann für den Rest der Saison seiner Borussia nicht mehr zur Verfügung stehen. Der Außenstürmer musste auch seine Teilnahme am Fußballländerspiel gegen England in der kommenden Woche absagen. Rudi Völler hatte den 23-jährigen geborenen Düsseldorfer erstmals ins Aufgebot berufen …«
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
Der Soundtrack zum Krimi
Danksagung
Die Luft in den Straßen war dick wie Sirup. Die Menschen mieden offene Plätze, schlichen wortlos durch die Stadt oder bewegten sich überhaupt nicht. Vögel fielen dutzendweise tot vom wolkenlosen Julihimmel. Jörg Kachelmann hatte vor einigen Wochen im Fernsehen einen Jahrhundertsommer versprochen, und das Wetter hielt sich dran. In den schicken Bistros am Düsseldorfer Medienhafen wurde der Caipirinha ohne Eis serviert, der italienische Gelatimann am Flinger Freibad machte seine erste Million, und bei Schlembach in der Friedrich-Ebert-Straße ging der letzte Ventilator für lockere neunundsiebzig Euro über den klebrigen Ladentisch.
Erst am Abend hatte der liebe Gott ein Einsehen und schickte eine leichte Brise durch die Altstadtgassen und über die Königsallee. Biggi seufzte. Man hätte auf der Terrasse sitzen können, ein kühles Schlösser in der Hand, die Stereoanlage leicht aufgedreht, die Beine hochgelegt. Und vielleicht hätte es auch noch jemanden gegeben, der die Füße sanft und zärtlich massiert hätte …
Biggi wechselte das Standbein. Auch durch die Charlottenstraße wehte jetzt eine feine, warme Brise, aber hier roch sie nicht nach Bier vom Fass, nach Rhein oder nach Chanel, sondern nach einem Gemisch aus Schweiß, Müll und Autoabgasen. Und die Einzige, die hier ab und zu mal was massierte …
Na ja.
Sie warf einem grünen Passat Kombi ihr Grinsegesicht zu. Der fuhr zum siebten Mal durch.
»Haste mal eine mit Filter für mich?«
Rosie, die neben ihr stand, kramte in ihrer Handtasche, arbeitete sich durch verschiedene Schichten Krimskrams und hielt ihr eine zerknitterte Schachtel Marlboro hin.
Biggi erfingerte sich eine Kippe. »Danke.«
»Machst du noch lange?«
Biggi schüttelte ihre strubbelige, rote Kunsthaarperücke und blinzelte hinauf in den wolkenfreien Himmel. »Einen noch, dann mach ich Feierabend. Ich bin total kaputt. Konnte heute Mittag nicht richtig pennen. Es ist einfach zu heiß bei mir unterm Dach. Und du?«
Rosie drehte sich um und blickte einem dunkelblauen Daimler hinterher, der auch schon dreimal an ihnen vorbeigeschlichen war. »Ein Stündchen noch, dann kommt Harry mich abholen.«
»Du arbeitest wieder mit Harry?«
Rosie druckste rum. »Einen brauchst du doch.«
»Aber den? Die Vogelscheuche hängt doch selber an der Nadel. Das Einzige, was der kann, ist Fahrräder klauen!«
»So ganz ohne is nich! Denk mal an die Leichenteile, die hier in der Gegend ständig gefunden werden. Wenn das mal nicht eine von uns war. Irgendwer kommt immer weg. Ich sag es dir, das ist eine von uns! Die Anne haben sie damals auch zersägt und verbrannt.«
Biggi zog einen auf Lunge und blies sich den Qualm in die Stirn. »Das ist über zehn Jahre her. Wenn’s eine von uns wäre, hätten die Bullen schon was läuten lassen. Du hast da was auf der Bluse.«
»Mist. Wenn man nicht auf alles achtet …« Rosie ging mit Spucke drüber und blieb beim Thema Nummer eins der letzten Tage hier am Straßenstrich. »Wie wollen die Bullen denn feststellen, ob es eine von uns ist, wenn man immer nur einen Arm, ein Bein und jetzt einen Fuß gefunden hat? Füße sehen alle gleich aus!«
Biggi grinste und ruckte ihr blaues Stirnband zurecht. »Na, da gibt’s schon Unterschiede. Große, kleine, dreckige, saubere. Füße mit fünf Zehen, Füße mit vier Zehen …«
»Du hattest mal einen mit vier Zehen?«
»Ich hatte schon fast alles. Ich hatte mal einen, der hatte gar keine Zehen mehr.«
Rosie lachte. »Da braucht man sich die Zehennägel nicht zu schneiden.«
»Oder zu lackieren. Hat alles seine Vorteile …«
Der grüne Passat bog wieder um die Ecke. Diesmal kam er aus der anderen Richtung. Ein Typ saß hinterm Steuer. Ohne anzuhalten, verschwand der Wagen in einer kleinen Seitenstraße.
»Trotzdem«, blieb Rosie hartnäckig, »so ganz ohne Beschützer mach ich es nicht mehr. Heutzutage brauchst du einen, der ein bisschen aufpasst. Bei den Schizos hier auf der Rue …« Sie schüttelte den Kopf. »Die werden doch alle immer bekloppter! Nee, ohne ist mir zu gefährlich!«
Biggi schnippte sich eine Fluse von den engen, rosafarbenen Leggins und zog die Nase hoch. »Als ob wir furchtbar viel zu verlieren hätten …«
»Jetzt hör aber auf, Biggi! Du müsstest dich mal hören! Achtung, da kommt einer von links. Nimmst du den?«
»Okay, mein Letzter.« Biggi schnippte die Kippe in den Bordstein und blinzelte ihrer Freundin zu: »Da gebe ich mir noch mal extra viel Mühe!«
Der Mann um die vierzig kam aus der kleinen Seitenstraße und blieb wie zufällig neben den beiden stehen. Er schaute mit dichten, zusammengezogenen Augenbrauen auf seine Armbanduhr und räusperte sich vorsichtig: »Ähm, wo geht’s denn hier zum Bahnhof?«
»Nächste Straße links und immer geradeaus. Dann läufst du praktisch direkt auf die Gleise.«
»Da fahren dann auch die S-Bahnen ab?«
»Das ist ein Bahnhof, Süßer. Da fahren auch die S-Bahnen ab. Und hier fahren übrigens noch ganz andere Sachen ab!«
Biggi warf sich oben rum ein bisschen in Position, und der Typ wurde mutiger. »Aha, und was so alles?«
»Was möchtest du denn?«
»Ähm …«
Und er sagte es ihr. Nach kurzer Klärung des finanziellen Aspekts wechselte ein Fünfziger den Besitzer, und beide waren auf dem Weg um die Ecke.
»Ich kenne da ein ruhiges Plätzchen in der Nähe.«
»Aber nicht so weit weg. Ich muss die letzte S-Bahn nach Neuss bekommen.«
»Das liegt an dir, Süßer!«
Das kleine Plätzchen grenzte an einen menschenleeren Spielplatz und war mit dichten Sträuchern zugewachsen. Genau der richtige Ort für ein bisschen heimliche Romantik.
»Hm, richtig gemütlich hier!«, fand auch der Typ mit den Augenbrauen.
Von den gebrauchten Spritzen, die hier rumliegen, mal abgesehen, dachte Biggi und war froh, im trüben Licht einer schäbigen Straßenlaterne den ganzen Drogenmüll nicht sehen zu müssen. »So, wo ist denn unser kleiner Freund? Lass nur, ich mach das schon.«
Mit geübtem Griff lockerte sie den Gürtel und öffnete seinen Reißverschluss. »Na prima. So wie es aussieht, wirst du deine S-Bahn nach Neuss noch pünktlich kriegen … Oh là là, da freut sich aber einer!«
»Hmmmmm …«
Ein kurzes Rascheln in den Zweigen neben ihnen. Biggi fuhr herum. Ein hagerer, rothaariger Typ mit Totenkopfschädel in schwarzer Lederjacke und bis zum Unterkiefer hoch tätowiert, schob sich murmelnd an den beiden vorbei durchs trockene Geäst.
»Mann, Harry, hast du mich erschreckt! Verpiss dich hier!«
»Is ja gut. Ich dachte, du wärst Rosie. Bin ja schon weg!«
Totenschädel verschwand wieder. Der Typ mit den dichten Augenbrauen hatte ganzkörperlich wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgefunden. »Ähm, wer war das denn?«
»Niemand. Ein Bekannter von mir. Vergiss ihn einfach!« Biggi besah sich das Dilemma. Also, wieder von vorne. Die letzte S-Bahn wartete!
»Ähm, vielleicht könnten wir beide ein bisschen weiter nach da hinten. Also, ich mit dem Rücken zu der Wand da und du so vor mir, weißt du …?«, schlug Augenbraue vor.
Alles, nur bitte bald Feierabend. Sie schob ihren Freier wortlos durch die Sträucher bis an die Rückseite eines Parkhauses. »Hier ist gut, okay?«
»Hmmm, jaaa!«
Biggi ging in die Hocke. Da war das volle Programm erforderlich, konnte man nichts machen. Hauptsache, sie kniete sich jetzt nicht in irgendeinen Haufen. Aber da lagen nur eine leere Colaflasche und zwei verrostete Spraydosen auf dem Boden. Und ein verdreckter Knüppel. Ein komischer, verdreckter Knüppel. Und sie wollte gerade was für einen pünktlichen Feierabend tun, als sie erkannte, dass das gar kein Knüppel war, sondern …
»Oh, mein Gott …«, stöhnte der Typ.
»Oh, mein Gott!«, schrie Biggi.
Hartmann in roter Turnhose, mit gelbem T-Shirt, Laufschuhen an den Füßen und einer Menge Schweiß an den Schläfen bog mit erhöhtem Pulsschlag von der Harkortstraße in die Graf-Adolf-Straße ab. Ein paar Meter, die auch noch zu packen sein sollten, und für heute war die Runde geschafft.
Der Zeitungsmensch vom Kiosk grüßte: »Morgen, Hartmann!«
Hartmann hob die Hand. Also, zum Sprechen reichte es jetzt nicht mehr so richtig. An der Videothek vorbei, noch einmal lebend zwischen den Taxis durch über die Bismarckstraße, dann die Hausnummern 18, 16, 14 und fertig. Hartmann pustete durch, strich sich die langen braunen Haare hinter die Ohren und legte die Hände in den Nacken. Seitdem die kleinen Rettungsringe an den Hüften über Nacht nicht mehr von alleine weggingen, hatte er sich ein kleines Trainingsprogramm zusammengestrickt, das er mehr oder weniger konsequent durchzog. Wenn der Job es erlaubte, gehörte das morgendliche Joggen dazu. Und der Job ließ zur Zeit so einiges zu.
»Guten Morgen, Christian, wieder eine Runde gedreht?« Renate von der Brötchenbude nebenan kämpfte sich durch eine kleine Ansammlung Halbverhungerter und schloss die Tür zum Laden auf.
»Ich übe für den New York Marathon!«
»Das sieht schon ganz gut aus. Du hast gar nicht mehr so einen roten Kopf.«
Hartmann winkte noch mal und flüchtete vor weiteren Komplimenten in den dunklen Hausflur. Hier roch es zwar wie immer nach Schweiß, Urin und Reinigungsmitteln, aber wenigstens war es hier drinnen deutlich kühler als draußen. Wenn nichts dazwischenkam, würden es heute Mittag auch wieder fünfunddreißig Grad im Schatten werden.
Aber erst mal kam was dazwischen. Und zwar Nachbarin Heidi: »Guten Morgen, Herr Hartmann!«, erschreckte sie ihren Nachbarn aus der dritten Etage, der den Kopf hastig einzog, weil hier direkt am Bahnhofsvorplatz eigentlich immer damit gerechnet werden musste, dass einem ein durchgeknallter Junkie mit Versorgungsengpass eins mit dem gestohlenen Nothammer über die Rübe zog.
»Mensch, Heidi, äh, Mann, Frau Grütesaaper, haben Sie mich erschreckt!«
»Aber ich bin es doch nur.«
Hartmanns Herzschlag setzte wieder ein. »Was stehen Sie denn hier im Dunkeln rum?«
»Ich habe auf Sie gewartet. Und das Licht geht doch alle zwei Minuten wieder aus. Und das wird auf die Dauer …«
»Okay.«
Heidi Grütesaaper blickte ihn vom ersten Absatz mit großen Augen an, die Unschuld einer Marianne Sägebrecht im Blick und den Schalk einer Inge Meysel im Nacken.
Sie schleppten sich nebeneinander ein paar Stufen hoch, und Hartmann mutmaßte: »Der Computer?«
»Genau. Und ich habe diesmal wirklich nichts falsch gemacht.«
Heidi, vor hundert Jahren achtzig geworden, hatte an der Volkshochschule einen Computerkurs für Senioren mitgemacht, sich in einem Computerladen auf der Karlstraße ein Hightech-Teil andrehen lassen und war mit Flachbildschirm, Internetzugang und 2,44 Gigaherz hoffnungslos überfordert. Aber man durfte die Zerknitterten nicht unterschätzen. Mittlerweile vergingen schon drei, vier Tage bis zum nächsten Absturz.
»Ist er abgestürzt?«, fragte Hartmann der Form halber.
»Nein, er läuft nicht mehr.«
Sie passierten die leer stehende Wohnung eines Ex-Junkies in der ersten Etage, dessen letzte Besucher, bevor die Polizei seine Wohnung öffnen ließ, ein paar Stubenfliegen gewesen waren, und Hartmann fragte: »Ist der Kaffee denn schon fertig?«
Heidi lächelte dankbar. »Aber natürlich.«
Heidis Kaffee war der beste. Von ihr selbst in einer alten Kaffeemühle von Hand gemahlen, gab sie am Ende immer noch ein bisschen feines, braunes Pulver dazu. Lecker. Eine leckere Tasse Kaffee, wie sie selbst immer zu sagen pflegte. Immer mit Untertasse, kleinem Rührlöffelchen und einem Keks serviert. Sehr lecker.
Eine halbe Stunde später drückte Hartmann die Reset-Taste, und der PC begann lautstark, Daten quer durch das graue Gehäuse zu schaufeln. »So, das sollte jetzt wieder klappen!«
»Oh, das wäre ja prima!« Heidi blickte staunend über seine Schulter auf ein hektisches, schwarz-weißes Zahlen- und Buchstabengeflimmer. »Noch eine leckere Tasse Kaffee?«
Hartmann erlauschte sein Ohrensausen. »Danke, aber ich hatte jetzt schon vier Tassen. Mir dröhnt der Schädel.«
Heidi nickte zufrieden. Vier Tassen waren eine gute Ausbeute bei der Hitze und Ozonwerten, so hoch wie der Düsseldorfer Rheinturm. Hartmann drückte ihr die Tasse samt Unterteller in die Hand. Heute hatte er die Tasse mit Riss im Henkel gehabt. Heidis Kaffeeservice war einmalig und hatte drei Weltkriege überlebt. Die Zuckerdose war gefallen, mehrere Tassen galten als vermisst und der restliche Teil des Ensembles hatte jeder seine Verletzung.
Hartmann stand auf und pflückte einen pieksigen Krümel vom blanken Oberschenkel. »Und die Plätzchen waren auch echt klasse, vielleicht ein bisschen die falsche Tageszeit, aber sonst …«
Heidi guckte streng und blinzelte vorwurfsvoll hinter ihrer Brille. »Die gehören zu einer leckeren Tasse Kaffee doch dazu! Und jetzt läuft der wieder, der Computer?«
»So gut wie vorher!«
»Wenn ich Sie nicht hätte …«
»Ach, noch drei, vier Abstürze, und beim fünften Mal fahren Sie das Ding alleine wieder hoch!«
»Hochfahren?«
»Schon gut.«
»Und was hab ich diesmal falsch gemacht? Zu viel gesöft und geschättet?«
»Das Gleiche wie beim letzten Mal. Sie müssen immer erst das eine Programm beenden, bevor Sie mit dem nächsten anfangen. Sonst verheddert sich der Computer irgendwann und stürzt ab …«
Heidi schüttelte das schwarz getönte Haar. »Das habe ich versucht, aber die Seiten tauchen immer wieder von alleine auf dem Bildschirm auf, ehrlich. Na ja, Hauptsache, der Computer funktioniert wieder. Ist eigentlich nicht zu verstehen …«
»Was?«
»Na, dass Sie keine feste Freundin haben«, lauerte Heidi plötzlich hinter ihrer kleinen Brille.
»Ich hatte mal welche …«
»So meine ich das ja gar nicht. Aber Sie sind doch ein richtig hilfsbereiter, sympathischer junger Mann. Nicht dumm, und Sie sehen ganz passabel aus. Die blauen Augen, sportliche Figur, über einsachtzig groß, und ganz nette Grübchen haben Sie, wenn Sie lachen. Na gut, die Nase ist vielleicht ein bisschen zu groß, und Sie müssen unbedingt mal wieder zum Friseur, aber sonst …«
Hartmann hüstelte, nahm sich vor, dringend mal nachzuhaken, was das für ein braunes Pulver im Kaffee ist, und versuchte hastig, das Thema wieder zu wechseln: »Im Internet müssen Sie ein bisschen aufpassen. Es gibt Programme, die laden sich von alleine runter, schalten sich nicht mehr ab, laufen im Hintergrund weiter und kosten ziemlich viel Geld …«
»So was guck ich mir doch nicht an!«
»Ach, auf diesen Seiten landet man schneller, als man denkt.«
»Na, die klick ich aber sofort wieder weg!«
Hartmann grinste in sich hinein und blinzelte hinter ihrem Rücken zur Garderobe, an der seit der vergangenen Woche eine dunkelrote Herrenstrickjacke am Haken baumelte. Man darf die Zerknitterten, aber das hatten wir ja schon …
Der PC hatte sich korrekt hochgefahren, unten rechts im Bildschirm stand 09:15.
»So, klappt wieder. Tausend Dank für die leckeren Tassen Kaffee.«
»Ich wollte uns doch noch ein paar Brote schmieren!«
»Das nächste Mal, Frau Grütesaaper, ich muss heute noch was tun.«
Die Augen hinter der kleinen Lesebrille wurden groß, und jetzt sah Heidi aus wie Angela Lansbury in Mord ist ihr Hobby. »Ein Klient?«
Hartmann drehte sich im Türrahmen noch einmal zu ihr um und flüsterte: »Eine Klientin, und was für eine. Eine richtig prominente!«
»Oh … Und ich darf natürlich nicht wissen, wer es ist, stimmt’s?«
»Stimmt genau, und ich muss mich unter den Armen noch ein bisschen frisch machen, bis dahin!«
Hartmann sprang die Stufen in die dritte Etage hinunter und überschlug im Kopf noch mal den Fahrplan der Rheinbahn. Seit einem unangenehmen Alkoholzwischenfall mit der Polizei im vergangenen Herbst hatte Hartmann keinen Führerschein mehr und war, nachdem man ihm das gute, rote Rennrad samt Ringschloss aus dem Flur geklaut hatte, auf Bus und Bahn angewiesen. Das war nicht immer einfach. Gerade in seinem Job als Privatdetektiv.
Seine Klientin wohnte im Stadtteil Ludenberg, das hieß, dass er den 725er-Bus nehmen musste und ihm bis zum Termin mit der Klientin noch genug Zeit für eine ausgiebige Dusche und ein gutes Frühstück nebenan bei Renate blieb. Wenn nichts dazwischenkam …
Hartmann stieß die Tür zur Wohnung auf und roch als Erstes sein Rasierwasser. Irish Irgendwas, und es stank bestialisch. So ein Zeug, das man von Großtanten zu Weihnachten geschenkt bekommt, denen die Verkäuferinnen immer die gammeligen Restposten aus den Sechzigerjahren andrehen. Hartmann folgte dem beißenden Geruch durch den kleinen Flur und öffnete die Tür zum Büro.
Er stand in der Mitte des Zimmers, hatte eine riesige Adlernase, zwei kleine Habichtäuglein und die Beine eines Storchs. Ein seltsamer Vogel. Und so zwitscherte er auch: »Huch.« Der Vogel verschluckte sich, schüttelte den Kopf und verdrehte die Augen. »Mein Name ist Kreyendahl. Die Tür stand offen.«
Hartmanns dumme Angewohnheit, die Bürotür nie abzuschließen! Seine empfindliche Nase reagierte sofort auf die künstlichen Treibgase. Ein Kribbeln kroch die Nasenwände hoch und entlud sich in einem heftigen Niesen, noch ehe er irgendwas sagen konnte. Um was gegen den Säuregeruch im Zimmer zu tun, schob er sich an dem Riesenvogel vorbei und riss hastig eines der beiden Fenster auf.
Vögelchens Habichtsäuglein musterten derweil vorsichtig den Raum, dann Hartmann und sein sportliches Outfit. Es schien ihnen nicht zu gefallen, was sie sahen.
Hartmann nahm einen tiefen Zug Bahnhofsvorplatzluft. Die Straßenbahnen machten einen Höllenlärm, Taxifahrer hupten. Er hatte vor einigen Monaten seine Dachgeschosswohnung in Unterrath gekündigt und war ins Büro hierhin an den Konrad-Adenauer-Platz gezogen. Das sollte nur vorübergehend sein, aber irgendwie bekam er es nicht gebacken, sich eine neue Hütte zu besorgen. Er bekam in letzter Zeit überhaupt sehr wenig gebacken, fand Hartmann. Auf jeden Fall hatte er sich zunächst mal hier im Büro häuslich eingerichtet. Das wirkte auf Erstbetrachter ungewohnt.
Um nicht zu sagen, es war das reinste Chaos.
Vögelchen war anzusehen, wie es in seinem Spatzenhirn arbeitete. Er sah auf die zum Trocknen an die Heizung gehängten Sportsachen von gestern und vorgestern und drehte sich um. »Vielleicht habe ich mich in der Tür geirrt.«
»Vielleicht!«
Mit der Hand auf der Klinke blieb er stehen und drehte sich um. »Ich suche einen Privatdetektiv.«
»Herzlichen Glückwunsch. Sie haben einen gefunden.«
»Christian Hartmann?«
»Das bin ich.«
Er kam wieder näher.
Hartmann hatte sich an den großen, braunen Holzschreibtisch gesetzt und deutete auf den Hocker vor sich. »Nehmen Sie doch Platz!«
Er musterte den Hocker, legte das Köpfchen schräg, verdrehte die Augen und ließ sich vorsichtig nieder. »Ich vermisse meine Frau.«
»Vermisstenanzeige kann man bei der Kripo erstatten. Jürgensplatz 5-7, KK Zwölf.«
Er kniff die Augen zusammen. »Ich habe meine Gründe, genau das nicht zu tun.«
Aha.
»Überreden Sie mich, den Job anzunehmen!«
»Ich habe Geld.«
Das war ein verdammt gutes Argument! Und richtig witzig, fand Hartmann. Vogelgesicht kramte in seinem hellblauen Hemd, zog aus der Brusttasche ein Foto hervor und reichte es über den Schreibtisch.
Sie war um die fünfundzwanzig Jahre alt, hatte glatte, lange blonde Haare, hohe Wangenknochen, einen kleinen Mund, dünne Lippen, hellblaue Augen und sah kein bisschen so aus wie ein Vogel. Er blinzelte rüber zu Kreyendahl. Sie musste sehr, sehr tierlieb sein …
»Das ist Nadia. Sie kommt aus Kiew.«
Den Rest konnte Hartmann sich denken. Mit Kohle schien Vogelgesicht die meisten seiner Probleme zu regeln. Prompt kam die Bestätigung: »Ich habe meine Frau über eine Heiratsannonce kennengelernt. Vor vier Monaten. Zwei Monate lang haben die Formalitäten gedauert, und dann konnten wir uns endlich in den Armen halten. Wir wollen heiraten.« Er hob sein Kinn. »Aber dann hat sie vor einer Woche einen Mann getroffen, den sie aus ihrer Heimat kennt. Seitdem war sie wie ausgewechselt.« Er schüttelte das Köpfchen. »Nervös. Unaufmerksam. Ich habe sie kaum wieder erkannt.« Er schaute Hartmann zum ersten Mal direkt in die Augen. »Jetzt ist sie weg. Verschwunden. Sie ging vor drei Tagen aus dem Haus und kam nicht wieder. Ich drehe fast durch. Wir wollten doch heiraten …«
Hartmann kramte einen Zettel zurecht. »Wie viel haben Sie bezahlt?«
»15.000 Euro.«
Alles klar. Blondie hatte ihren Job gemacht, hatte vermutlich so um die fünf Prozent bekommen, saß mittlerweile wieder bei Wodka und Kaviar in ihrem Dorf und wartete auf den nächsten Einsatz. Das Leben ist hart, Vögelchen, vergiss die Blonde und vergiss die Kohle!
»Das andere Geld habe ich auch beisammen.«
Hoppla. Hartmann lehnte sich zurück und schob sich die Haare hinter die Ohren. »Welches andere Geld?«
»Na, die restliche Rate. Die restlichen 35.000 Euro.«
Er blickte erstaunt. »35.000 Euro?«
Das änderte die Sachlage aber ganz gehörig. Hartmann sah die gute Nadia nun längst nicht mehr entspannt am warmen, russischen Ofen. Hier stimmte was nicht! Wieso sollte der Bauer sein Hühnchen vom Futternapf abziehen, bevor die Gans komplett ausgenommen ist oder so ähnlich?
»Die 35.000 Euro wären wann zu zahlen gewesen?«
»Wenn wir geheiratet hätten. Es war vereinbart, zusammen mit einer beglaubigten Fotokopie der Heiratsurkunde das restliche Geld an die Vermittlungsagentur zu überweisen.« Er senkte die Stimme. »Das wäre nächsten Monat gewesen. Am Vierundzwanzigsten!«
»Sie gehen nicht zur Polizei, weil das Ganze …«
»Weil es mir peinlich ist! Die Polizei würde Nachforschungen anstellen, die Nachbarn befragen. Ich weiß auch gar nicht genau, ob das alles so legal ist. Das mit dem Geld bezahlen und so. Vielleicht würden die bei der Polizei sogar denken, ich hätte irgendwas mit ihr …«
Hartmann zog in Betracht, dass er Vögel schon immer toll fand. Er hatte auch schon eine Idee, wie er diese Vermisstensache angehen konnte, ohne sich allzu viel Arbeit an den Hals zu hängen und gleichzeitig ein paar dringend benötigte Gelder einladen konnte.
Der Vogel hieß Hans-Rudolf Kreyendahl, war Besitzer eines kleinen Schlossereibetriebes in Oberbilk, ausgebildeter Rettungssanitäter und Reserveoffizier bei der Bundeswehr. Beim Klären des Finanziellen stellte Hartmann fest, dass Kreyendahl wirklich Geld hatte, und ließ sich noch ein paar Details ihres Verschwindens erklären.
»Ich werde einen meiner besten Männer auf ihre Spur setzen!«
Vogel Kreyendahl blinzelte. »Sie haben Partner?«
»Mitarbeiter. Hochqualifiziertes Personal. Ohne geschulte, hochmotivierte und bestens ausgebildete Mitarbeiter kann man heutzutage in der Sicherheitsbranche nicht mehr bestehen.«
Kreyendahl legte den Kopf wieder schief, schielte zur Wäsche auf der Heizung, verkniff sich aber jeden weiteren Kommentar. Hartmann bemerkte den Seitenblick und nahm sich vor, zukünftig nicht mehr so auf die Kacke zu hauen. Zumindest nicht, bevor er die Hütte hier ein bisschen aufgeräumt hatte. Er behielt das Foto und stand auf.
Kreyendahl erhob sich ebenfalls. An der Tür drehte er sich noch mal um. »Ähm, Herr Hartmann. Eine Frage noch?«
»Bitte!«
»Sind Sie der ehemalige Fußballprofi, der mal bei Fortuna und in Gladbach gespielt hat?«
»Genau der bin ich. Ich melde mich, wie verabredet, Herr Kreyendahl.«
Hartmann schloss die Tür und ging zum großen Dicken von Bosch. Er öffnete den Kühlschrank, kletterte hinein, ging ein paar Schritte, griff nach links ins unterste Regal, schüttete eine halbe Flasche Rheinfels Quelle in den trockenen Körper und machte ein Bäuerchen, das man bis nach Volmerswerth hören konnte.
Über die Flasche hinweg schielte er zur Uhr. Mit Duschen und Frühstücken musste er sich jetzt richtig ranhalten, um seinen Termin einhalten zu können.
Zwanzig Minuten später war Hartmann im Treppenhaus auf dem Weg nach unten. Den Absatz zur Erdgeschosswohnung übersprang er. Eine dunkelrote Blutlache breitete sich auf dem gelben Steinboden aus. Ein Junkie hatte beim Frühstück geschlabbert und den Absatz eingesaut. Gelb und rot, die Farben der DEG …
Viertel nach elf, sagte die Swatch.
Frühstück, sagte der Magen.
Linksrum kämpfte Hartmann sich durch eine Abdeckplane aus Plastik, die Bauarbeiter über ein Gerüst auf dem Gehweg gehängt hatten. Der Hausbesitzer der Nr. 14 ließ sein Haus hellblau streichen, um Sprayern neuen Hintergrund für ihre Graffitis zu geben. Hinter der Folie versteckte sich eine Brötchenbude. An der Theke vor ihm bestellte ein nach Schweiß und billigen Zigarillos stinkender Fettsack zwei glibberige, fetttriefende Schweinepfötchen. In seinem Nacken kräuselten sich nasse Löckchen. Rotgesicht zahlte schnaufend und gab den Blick frei auf Renate, und die machte wieder Appetit.
»Hallo Chris, HalbesmitBrieundHalbesmitSchinkenwurstBecherKaffeedazu, wie immer?«
»Jow, zum hier essen, und ich nehme mir noch eine Express.«
Renate griff ganz tief nach vorne in die Auslage und zeigte die ihre. Genaugenommen war das Hartmanns einziger Grund, Schinkenwurst zu bestellen. Welchen Grund sollte es sonst geben, rot gefärbte, gepresste Tierreste zu essen? Und Schinkenwurst ging hier gut. Heute trug Renate nichts. Also, fast nichts. Was Schwarzes. Aber das nur von unten. Wenn es nötig gewesen wäre, würde man sagen, zum Stützen. War bei Renate aber nicht nötig. So, rechtzeitig wieder weggucken, okay.
»Kaffee bring ich dir gleich rüber, ja?«
Hartmann zahlte, trug sein Frühstück an den Stehtisch, der vom Schweinefüßchenfresser am weitesten entfernt war, biss in die Schinkenwurst und faltete die Zeitung auseinander. Oberarm auf dem Spielplatz an der Charlottenstraße gefunden! Damit war die halbe Seite schon voll. Hartmann überflog den Artikel. Der Spielplatz war gleich um die Ecke, keine vierhundert Meter weit entfernt. Ein Liebespaar hatte einen Oberarm gefunden. Das fünfte Leichenteil in drei Wochen.
Irgendjemand spielt Ostern, dachte Hartmann und schob Schinkenwurst nach. So wird aus einem Spielplatz ein Abenteuerspielplatz. Und weil es der dritte Oberarm war, ging man bei der Polizei nunmehr von mindestens zwei Leichen aus. Neben dem Artikel das Bild des ermittelnden Beamten, KHK Dircks (38), dem diese geistreiche Schlussfolgerung zugeschrieben wurde. Mit dem hatte Hartmann in einer anderen Sache schon mal zu tun gehabt. Mensch, Dircks, noch nie was von doppelköpfigen Ziegen in Peru gehört oder was?
»Furchtbar, oder? Gleich hier um die Ecke. Wer macht so was?« Renate schob sich ran und stellte den Kaffee ab.
»Das sieht man den Leuten nicht an. Kann jeder sein!«
»Also, ich weiß nicht. Wer so was macht … Ich meine, den müsste man erkennen können. Der hat bestimmt so einen wilden Blick. Vielleicht hinkt der …«
»Du kannst den Leuten nur vor den Kopf gucken. Wenn es nach dem Aussehen gehen würde, wäre der Schweinefußfresser mit den Schweißlöckchen im Nacken bei jedem Sittendelikt einer der ersten Tatverdächtigen, aber so richtige Mörder sehen aus wie du und ich …« Hartmanns Blick fiel durch die Schaufensterscheibe auf Nachbarin Heidi, die sich mit einer Plastiktragetasche von Aldi in der Hand durch die Gerüstfolie über den Gehweg kämpfte. »Oder wie Heidi!«
»Ausgerechnet!« Renate kam noch ein bisschen näher. »Sag mal, Chris, du bist doch Detektiv, oder?«
»Das erzähle ich zumindest allen.«
»Ich habe da nämlich was beobachtet.«
»Renate, mein Schatz, ich bin mächtig ausgebucht.«
»Du lungerst doch rum.«
»Ähm, ja, aber …« Hartmann biss in französischen Käse. »… zurzeit bin ich an zwei ganz großen Sachen dran. Verschwundene Person und so.«
»Also, das ist bei meiner Sache ganz anders, pass auf! Mein Hansi, du weißt schon, mein Mann, also der war früher, du weißt ja, in der DDR, bei einer Firma. Die haben für die Rüstung gearbeitet.« Sie legte Hartmann verschwörerisch die Hand auf den Arm. »Was ganz Geheimes.«
»Re-na-te, Kundschaft!« Renates Kollegin brüllte durch den Laden und deutete mit aufgerissenen Augen auf eine Doppelreihe Ausgehungerter vor sich.
»Komm‘ gleich, Moni, Moment noch!« Sie kniff ihre großen, blauen Augen ganz eng zusammen. »Was ganz Geheimes. Der Hansi musste auch immer auf Reisen, plötzlich angesetzte Tagungen und Kongresse. Manchmal blieb der über Nacht weg. Manchmal für zwei, drei Tage. Manchmal übers Wochenende, alles ganz geheim!«
Hartmann starrte auf den Rest Briebrötchen, bedachte dessen IQ, starrte auf Renate und war sich sicher, dass Hansi ein Glückspilz war.
»Jetzt ist mir letzte Woche ein Auto aufgefallen.«
»Ein Auto?«
»Ja, nicht irgendeines. Ein grüner Opel. Größeres Modell, wie ein Streifenwagen, nur ganz in Grün. Kann auch blau gewesen sein, ein helles Blau. Ich hab das nicht so mit den Farben. Auf jeden Fall gehe ich, wie üblich, so kurz vor zehn aus dem Haus, steige in meinen Süßen, also in mein Auto. Mittwochs und freitags fange ich ja drei Stunden später an, weißte ja, und ich fahr also los. Da sehe ich, wie das Auto, also der blaue oder der grüne Wagen, bei uns um die Ecke auf der Kronprinzenstraße so ganz doof auf dem Gehweg steht.« Renate holt mit der Rechten weit aus. »Wo doch alles sofort abgeschleppt wird, was falsch steht. Anwohnerparkplätze. Die Kradbul…«
»Re-na-te!«
»Ich komm‘ gleich, Moni. Chris, habe ich mir erst nix bei gedacht, und das war mittwochs. Donnerstags war nix. Da fange ich ja auch wieder früher an. Freitags fahr ich wieder von zu Hause weg, und da steht schon wieder der Wagen um die Ecke, aber diesmal ganz anders. In einer Einfahrt, und was sag ich dir?«
»Da sitzt jemand drin!«
»Genau, Chris, da sitzt jemand drin. Was sagst du jetzt? Ist das ein Ding?«
Das war ein Ding. Hartmann schob den Rest Brie in den Mund und spülte mit Kaffee nach. Der Schweinefußfresser hatte sich schweißüberströmt bis auf hellen Knorpel durchgeknabbert.
Renate zuckte mit den Achseln. »Ist doch alles sonnenklar. Das sind die!«
»Wer die?«
»Na, die von früher. Die von drüben!« Renate jagte die Augenbrauen nach oben und blickte Hartmann herausfordernd und mit weit aufgerissenen Augen an.
Die von früher, na klar, die von was denn früher? »Stasi?«
»Kann sein. Das wusste doch damals keiner so ganz genau! Wirtschaftsspionage, Rüstungsagenten, Mann, Chris, sie sind immer noch hinter dem geheimen Wissen von meinem Hansi her. Der wird beschattet. Immer noch, nach all den Jahren! Wo wir beide doch schon seit über sechs Jahren hier in Düsseldorf wohnen!«
»Kannst du die Person im Wagen beschreiben?«
Sie deutete die Frage als erste Ermittlungstätigkeit. »Nee. Der Wagen hatte verdunkeltes Glas. Ist doch klar!«
»Kennzeichen des Wagens?«
»Hab ich auch nicht. Ich habe natürlich nicht direkt hingestarrt oder meinen Wagen noch mal gedreht. Nur so aus den Augenwinkeln hab ich hingeguckt! Unauffällig! Ich wecke doch keine schlafenden Katzen.«
»Hunde!«
»Hunde?«
»Wieso meinst du, dass die in dem Auto ausgerechnet deinen Hansi überwachen?«
»Ja, wen denn sonst?«
Hartmann kippte den Rest Kaffee runter. Es hatte sowieso keinen Zweck. »Zweihundertfünfzig Euro am Tag plus Spesen. Ich kenne da, glaube ich, genau den richtigen Mann, der uns hier weiterhelfen kann. Hat enorm gute Kontakte in den Osten. Ist selbst ein ganz Hoher gewesen. Okay, Renate, morgen weiß ich mehr.«
»Danke, Chris«, sagte ein Schmollmund.
»Für nichts!«, sagte Hartmann wahrheitsgemäß.
Hartmann warf einen zufriedenen Blick auf die Swatch. 14.57 Uhr. Knapp. Aber pünktlich! Der 725er-Bus hatte ihn am Rotthäuser Weg ausgespuckt, und die letzten paar Meter ging Hartmann zu Fuß.
Die Toreinfahrt zum Grundstück der Familie Sommer war so breit, dass ein leidlich begabter Kapitän einen Öltanker unter libyscher Flagge mit indonesischer Besatzung problemlos hätte hindurchsteuern können. Im Innenhof hätte der Tanker dann locker gewendet werden können. Aber dort war kein Wasser, sondern weißer Kies, im Hintergrund der stolze Familienbesitz.
Von dort aus rauschte Hartmann beim Betreten des Grundstücks ein silberfarbenes Cabrio entgegen. Am Steuer Grace Kelly mit Sonnenbrille und wehendem Schal. Sie brachte den weißen Kies ein bisschen in Unordnung.
Hartmanns Zeigefinger betätigte die Hausglocke. Ein Sklave mit Fliege eskortierte ihn durch einen dunklen Flur mit Bildern von finster dreinblickenden, verstorbenen Familienmitgliedern der vergangenen Jahrhunderte in ein Wohnzimmer, das ungefähr die Ausmaße der Tonhalle hatte. Bodentiefe, weiße Holzfenster erlaubten einen unverbauten, weiten Blick über den dunkelgrünen Grafenberger Wald bis nach Erkrath.
»Schön, dass Sie kommen konnten, Herr Hartmann.«
Auch ohne regelmäßiger Leser der Gala zu sein, erkannte Hartmann Simone Sommer sofort. Nachdem ihr Gatte mit einer Chessna unfreiwillig irgendwo im Bayrischen Wald zwischenlanden musste, war sie die Erbin eines der letzten großen Düsseldorfer Unternehmen in der Stahlbranche. Sie führte die Firma immer noch. Bekannt waren ihre viel beachteten Benefizveranstaltungen. Und sie sah mit ihren blonden Haaren, der weißen Bluse, dem hellgrünen Kostüm und dem dezenten Schmuck glänzend aus. Die Gala hatte sie zuletzt auf fünfundfünfzig geschätzt. Hier im Gegenlicht ging sie für gute vierzig durch.
»Guten Tag, Frau Sommer.«
»Nehmen Sie doch bitte Platz«. Sie deutete auf einen alten Holztisch und auf die schweren Stühle davor. »Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten?«
Sie durfte, und es entstanden zehn Minuten Smalltalk, bis der Sklave den Kaffee serviert hatte und wieder entschwunden war.
Dann kam sie, wie Hartmann erfreut feststellte, gleich zur Sache. »Ich habe zu Beginn eine Frage und hoffe, dass Sie diese bejahen können. Sie haben vor einiger Zeit für meinen Mann gearbeitet.«
»Das kann ich bejahen.« Das war einfach.
»Das war natürlich nicht die entscheidende Frage.«
»Aber die konnte ich problemlos mit Ja beantworten. Als Mitglied des Verwaltungsrates bei Fortuna Düsseldorf hatte Ihr Mann mich angerufen. Das war noch während meiner Zeit in Gladbach. Er wollte seinerzeit keinen Spieler aus dem aktuellen Düsseldorfer Kader ansprechen. Es ging um einen ausländischen Spieler, der einen langfristigen Vertrag bei Fortuna hatte. Er spielte ungewöhnlich schlecht, und es wurde gemunkelt, dass er hinter dem Rücken des Vereins mit einem niederländischen Spitzenclub verhandeln würde. Die Holländer hätten den Spieler verpflichtet, wenn er bei der Fortuna mit einer niedrigen Ablösesumme hätte gehen können. Die Vermutung lag nahe, dass der Spieler absichtlich so schlecht spielte, um die Ablösesumme zu drücken.«
»Sie arbeiteten seinerzeit noch nicht als Privatdetektiv?«
»Nein. Das war vor knapp zwei Jahren. Ich befand mich nach meinem Unfall im Aufbautraining und hatte seinerzeit noch die Hoffnung, irgendwann wieder meinen Beruf ausüben zu können.«
»Es tut mir leid, dass es anders gekommen ist. Mein Mann war sehr zufrieden mit Ihrer Arbeit.«
Es entstand eine stille Pause. Hartmann fand, dass man den Satz, in Anbetracht eines sich abzeichnenden Auftrages und damit in Verbindung stehender Honorarfragen, ruhig ein bisschen im Raum stehen lassen konnte.
»Mein Mann war insbesondere sehr zufrieden mit Ihrer Verschwiegenheit.« Sie nippte am Kaffee. »Ich habe daher direkt an Sie gedacht, als ich in Erwägung zog, in einer Familienangelegenheit einen Privatdetektiv zu beauftragen. Ich muss Sie bitten, mir daher absolute Loyalität und Verschwiegenheit zu versichern.«
»Das kann ich zusagen.«
»Nun, ich habe zwei Töchter. Miriam und Lena. Miriam ist fünfundzwanzig, Lena ist dreiundzwanzig Jahre alt. Seit ungefähr einer Woche vermisse ich Miriam. Sie ist mit einem Mann fest liiert. Ihr fester Freund, Arne Hanssen, befindet sich zur Zeit in Südafrika. Er ist Besitzer einer Softwarefirma und wird in zwei Tagen wieder in Deutschland sein.« Simone Sommer machte eine Pause und ließ ihren Blick in Richtung Erkrath wandern. »Es ist so: Meine Tochter ist in ihrer Beziehung mit Arne Hanssen nicht ganz sattelfest. Es hat einige Männer in ihrem Leben gegeben. Auch in der jüngeren Vergangenheit. Und ich fürchte, dass sie sich bei einem von ihnen aufhält.«
»Dafür gibt es Anhaltspunkte?«
»Sie hat sich dahingehend gegenüber einer ihrer Freundinnen, Birgit Meissner, geäußert.«
»Ihre Tochter ist fünfundzwanzig Jahre alt«, gab Hartmann zu bedenken.
»Ich will abermals offen sein. Es herrschen raue Zeiten in der Stahlbranche. Diversifizieren heißt eines der modernen Zauberworte. Sehr viel Know-how ist da erforderlich. Das reine Unternehmertum, wie ich es mir bei meinem Mann abgucken konnte, reicht heute bei Weitem nicht mehr aus, um die Sommer Metall AG führen zu können. Ich selbst bin dazu kaum mehr in der Lage. Ich habe vor, eher früher als später in den Aufsichtsrat der Firma zu wechseln. Ich werde mich aus dem aktiven Geschäft zurückziehen und einen Geschäftsführer einsetzen.« Sie beugte sich nach vorne. »Arne Hanssen ist ein anständiger Kerl. Das konnte man von den meisten Verehrern meiner Tochter in der Vergangenheit nicht behaupten. Für die Firma ist die Verbindung meiner Tochter zu Arne Hanssen ein Segen. Er ist der geeignete Mann, um die Firma zu führen. Sie wissen, welche Auswirkungen Gerüchte auf die Börsenkurse haben.«
Hartmann kannte sich an der Börse zwar nicht aus, aber er nickte ernst.
»An der Börse ist bekannt, dass die Sommer Metall AG eng mit Hanssens HG Software zusammenarbeitet. Beide Firmen profitieren voneinander. Es ist dort ferner bekannt, dass Arne Hanssen mit meiner ältesten Tochter Miriam liiert ist. Sollte hier eine dauerhafte Beziehung entstehen, wird die Börse dies positiv zur Kenntnis nehmen. Viele Marktteilnehmer gehen davon aus, dass Arne Hanssen dann Geschäftsführer bei der Sommer Metall wird, und die meisten von ihnen halten Arne Hanssen für eine gute Wahl. Ich tue das auch!« Simone Sommer machte eine Pause und blickte ihrem Gegenüber direkt in die Augen. »Sollten Arne Hanssen und meine Tochter sich allerdings trennen, wird man an der Börse und bei den Investoren richtigerweise davon ausgehen, dass er diese Stelle nicht antreten kann. Darüber hinaus bestünde die Gefahr, dass die gute Partnerschaft zwischen den beiden Firmen leidet, sie unter Umständen gar zum Erliegen käme. Für unseren Aktienkurs und damit für meine Firma wäre diese Entwicklung eine mittlere Katastrophe.«
»Dann würde andererseits Arne Hanssen ein sehr gut bezahlter Job als Geschäftsführer bei der Sommer Metall AG durch die Lappen gehen«, gab Hartmann zu bedenken.
»Arne Hanssen ist nicht nur der Verlobte meiner Tochter, sondern er ist einer der wenigen richtig guten Männer am Markt. Wenn die Verbindung zu meiner Tochter nicht zustande käme, würde er nicht bei mir für die Sommer Metall arbeiten, sondern er würde mit Kusshand einen anderen, vergleichbaren oder sogar besseren Job finden, glauben Sie mir.«
»Hm, ich soll also Ihre Tochter in den verbleibenden zwei Tagen finden, damit …«
»… ich ihr ganz gehörig den Kopf waschen und sie bis zu seinem Eintreffen wieder in eine vernünftige Spur bringen kann!«
Der Auftrag klang lösbar. »Was macht Miriam beruflich, wird sie dort auch vermisst?«
»Miriam studiert Architektur. Zur Zeit sind Semesterferien.«
»Sie wohnt auch hier?«
»Die jüngere, Lena, wohnt hier …«
»Die fährt einen silbernen Sportwagen?«
»Ja.«
»Sie kam mir mit ihrem Wagen in der Auffahrt entgegen.«
Simone Sommer wischte ein zweifellos nicht vorhandenes Staubkörnchen vom Holztisch. »Miriam hat ein Appartement auf der Burgmüllerstraße am Staufenplatz.«
»Dort würde ich mich gerne als Erstes umsehen, bevor ich mit ihrer Freundin …«
»Birgit Meissner.«
»… spreche. Studiert die auch?«
»Birgit arbeitet stundenweise in einer Boutique auf der Nordstraße. Ihre Frage heißt, Sie übernehmen den Auftrag?«
Das hieß es.
Die Honorarfrage stellte sich eigentlich gar nicht, und Hartmann verabredete sich mit Simone Sommer für den frühen Nachmittag vor dem Appartement ihrer Tochter, zu dem sie einen Zweitschlüssel besaß.
Der Sklave eskortierte Hartmann wieder zurück durch die Ahnengalerie. Die toten Typen auf den Bildern guckten grimmig, als hätten sie schon alles geahnt. Aber, so fragte sich Hartmann, was sollte schwierig daran sein, eine verzogene, fünfundzwanzigjährige Göre bei irgendeinem Ex-Lover aufzusammeln und nach Hause zur Mami zu bringen, damit die ihr noch ein paar wesentliche Dinge fürs Leben beibringen konnte?
Ja, bitte, was sollte daran schwierig sein?
Seinen geschulten, hochmotivierten und bestens ausgebildeten Mitarbeiter traf Hartmann in zerfranster Jeanshose, ärmellosem Tote-Hosen-T-Shirt und mit ausgelatschten Sandalen an den nackten Füßen vor WOM auf der Flinger Straße. Angie war ein Junkie und verkaufte Fifty Fifty, eine Obdachlosenzeitung. Angie vergiftete seinen Körper nur so weit, dass er seine Sinne halbwegs beieinanderbehielt. Er war okay, ein talentierter Einbrecher, und soweit Hartmann das nachhalten konnte, hatte Angie ihn noch nie beklaut oder reingelegt. Und das allerwichtigste: Angie war über alles und jeden rund um den Bahnhof top informiert. Mit ein bisschen mehr Verstand und ein bisschen weniger Sucht hätte er am Konrad-Adenauer-Platz einen Tante-Emma-Laden aufmachen und Infos verkaufen können.
»Hallo Angie, gib mal her, so ein Teil.«
Er reichte ein Blatt vom Stapel. »Ein Euro.«
»Alles wird teurer!«
»Korrekt! Und die meisten legen noch einen Euro extra als Spende obendrauf. Was ist Sache, Hartmann?«
»Ich hab einen Job für dich.«
»Schieß los, Alter.«
Hartmann griff ins Hemd und zeigte ihm das Bild der blonden Russin. »Holla, das ist aber mal eine Nette! Nicht so wie die pickeligen Teenager, die ich sonst für dich suchen muss!«
»Das meint der Besitzer auch, aber nun ist sie weg.«
»Und er will sie wiederhaben?«
»Ja. War teuer.«
Angie kniff die Augen zusammen. »Hat was Osteuropäisches.«
Das meinte Hartmann mit »hat seine Sinne halbwegs beieinander«.
»Sie kommt aus Kiew, hat 50.000 Euro gekostet und ist dem Besitzer vor drei Tagen abhandengekommen. Sie hat einen ehemaligen Nachbarn aus der Heimat getroffen und war wie verändert.«
Angie kratzte sich durchs zerzauste, schwarze Haar. »Aus Kiew kommt sie? Sergej, der Russe, würde ich sagen!«
»Hm«, murmelte Hartmann und schob sich die Haare hinters Ohr. An den hatte er gar nicht gedacht. Der Russe war eine Größe im Rotlichtmilieu und so angenehm wie ein Zweikampf mit Bernd Hollerbach. »An den Russen hatte ich komischerweise gar nicht gedacht.«
»Komischerweise? Das ist überhaupt nicht komisch. Das ist schlecht«, korrigierte Angie.
»Hm. Immer noch so schlecht wie früher?«, fragte Hartmann.
Angie schnalzte mit der Zunge. »Er soll sogar noch ein bisschen schlechter als früher geworden sein. Er ist so beliebt, wie Herpes an der Oberlippe kurz vor Karneval. Konkurrenzdruck und so. Außerdem hat er sich mit Typen umgeben, die man als Katzenjunges am besten im Schwanenspiegel ertränkt hätte!« Er trat vom linken auf den rechten Fuß. »Ähm, Hartmann, du bist hier so ein bisschen geschäftsschädigend.«
»Kommt mit auf deine Spesenrechnung.«
»Langsam, langsam, Hartmann. Der Russe ist kein Typ, mit dem ich irgendwas zu tun haben möchte.«
»Hör dir den Job erst mal an. Du brauchst die Blonde …«
»Heißes Eisen, Hartmann, ganz heißes Eisen!«
»Ich verlange doch gar nicht …«
»Der Job, was immer das sein soll, kommt überhaupt nicht in die Tüte. Das kleine bisschen Leben, dass ich in mir rumschleppe, möchte ich noch ein paar Schüsse lang behalten. Kein Thema, Hartmann!«
Hartmann und Angie einigten sich auf hundert pro Tag. Hartmann händigte das Foto aus, gab die Fifty Fifty zurück, und Angie wollte sich im Laufe des nächsten Tages melden. Hartmann überlegte kurz, ob er noch bei WOM reinspringen sollte, aber zum CD-Hören hatte er im Moment sowieso keine Zeit.
Burgmüllerstraße 56. Das hieß, die 719 bis zum Staufenplatz. Hartmann war pünktlich wie das Rheinhochwasser im Herbst. Zirkusleute waren auf dem Staufenplatz dabei, ein buntes Zelt aufzubauen. Zwei Männer trieben Kamele hinters Zelt in ein Gehege. Hartmann seufzte. Wenigstens zwei Kreaturen, denen diese Bullenhitze nichts ausmachte. Simone Sommer wartete bereits vor dem Haus und entstieg einem dunklen Daimler. Sie hatte die Schlüssel dabei.
Miriam Sommer bewohnte ein Sechzig-Quadratmeter-Loft unterm Dach. Eine helle Wohnung. Terrakotta an der Wand, ein buntes Bild von Stefan Szczesny, eine rote Lederkombination, Parkettboden, Weichholzschrank mit Samsonite-Koffer obendrauf und ein taubenblauer Perser auf dem Boden. Ein schicker Balkon mit Blick auf den Grafenberger Wald.
Schreibtisch mit Telefon und Anrufbeantworter im Flur, alles sauber, gediegen. Kein Krimskrams auf den Regalen, keine überfüllte Pinnwand.
Im Bad eine Oskartonne mit Schmutzwäsche, Parfüm, elektrische Zahnbürste. Auf dem Nachttisch im Schlafzimmer mit dunklem, französischem Doppelbett und einem weiteren Bild von Szczesny darüber strahlten vier in Silber eingerahmte, braun gebrannte Gesichter.
»Das links ist Arne Hanssen, daneben meine Tochter, daneben Birgit Meissner, die Freundin, die ich bereits erwähnt habe, ganz rechts deren Freund Frank. Das Bild ist vergangenen Winter während eines Skiurlaubes in Österreich gemacht worden.«
Hartmann ging noch einmal alles durch, aber irgendwas stimmte in dieser Wohnung nicht. Die normale Unordnung. Der Kühlschrank war fast leer, ein paar Getränkedosen, verpackter Käse, ein paar Schokoriegel.
Hartmann wusste selbst nicht, was hier zu finden sein sollte. Was er allerdings fand, war ein Terminkalender, der aufgeschlagen auf dem Sekretär im Flur lag. Er blätterte die Seiten der letzten Wochen zurück. Miriam hatte ihre Verabredungen mit Initialen kenntlich gemacht. Montag, 20.00 Uhr, A.K. im Kytaro oder dienstags B.B., 16.00 Uhr Shoppen, dann Kino. B.B. tauchte zweimal auf, mehrmals B.M. (Shoppen!), ein paarmal T.S. Auffallend häufig und in regelmäßigen Abständen tauchten die Initialen A.K. auf. Hartmann zeigte das A. und das K. seiner Auftraggeberin:
»Können Sie die Initialen zuordnen?«
»Leider nein.«
»Hm, fällt Ihnen an der Wohnung sonst irgendetwas auf? Veränderungen? Oder fehlt was?«
Simone Sommer ging noch einmal langsam durch die Wohnung und schüttelte dann den Kopf. »Ich bin allerdings auch nicht allzu häufig hier gewesen.«
Hartmann ging ins Schlafzimmer, pulte das Urlaubsfoto aus dem Rahmen, ging zum Schreibtisch, steckte das Foto in den Kalender und klemmte ihn sich unter den Arm. Dann nahm er einen kleinen Schlüssel vom Schlüsselbrett und warf noch einen Blick in die Wohnung. Irgendwas …
»Gehen wir mal zum Briefkasten.«
Dort fanden sie Briefe mit Poststempel, die seit drei oder vier Tagen im Kasten schlummerten. Nichts Aufregendes. Rechnungen, Werbung – nichts worauf man wartete und was einem Briefkasten auf jeden Fall sofort entnommen werden sollte. Musste also auch nichts heißen. Drei oder vier Tage. Und dann klingelte es bei Hartmann.
»Moment mal eben.«
Er sprang noch mal die Stufen hoch, schloss die Tür auf und blieb im Flur stehen. Er hielt seinen Riechkolben in die Höhe und nahm einen tiefen Lungenzug. Muff. Alte, abgestandene Luft. Hier hatte sich seit Tagen keine Tür bewegt, war kein Lüftchen durch die Wohnung gezogen. Er zog die Haustür hinter sich in den Rahmen. Wo immer Miriam Sommer sich in den letzten drei, vier Tagen auch aufgehalten hatte. Hier war sie nicht gewesen. Und wo auch immer sie war: Ihren dunkelroten Samsonite-Koffer oder einen frischen Satz Unterwäsche hatte sie nicht gebraucht.
Hartmanns Magen machte mehr Krach als eine Langspielplatte von Motörhead. Er zog sich vor der nächsten Etappe in der Pommesbude am Dreieck ein Schnitzel rein. Es hatte die Größe einer 33er Bodenfliese und schmeckte sogar ähnlich. Aber es füllte. Drei Gläser Apfelschorle ersetzten die abhandengekommene Körperflüssigkeit, die größtenteils ins Jeanshemd gewechselt hatte. Dann ging er drei Straßen weiter und klingelte bei Miriam Sommers Freundin. Bei B. Meissner (4. Etage) öffnete niemand.