Fifty Shades of Merkel - Julia Schramm - E-Book

Fifty Shades of Merkel E-Book

Julia Schramm

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Beschreibung

Angela Merkel scheint im Berliner Politikbetrieb vor allem eines zu sein: alternativlos. Die größte Stärke der "Mutti der Nation" und mächtigsten Frau der Welt ist das Arrangieren und Aushalten von Widersprüchen. Darum muss ein Buch, das ihr gerecht wird, all diese Widersprüche annehmen. In "Fifty Shades of Merkel" porträtiert Julia Schramm die Bundeskanzlerin mit allen Untiefen und Zwischentönen. Was macht für Angela Merkel Freiheit aus, was Kontrolle? Welche epochemachenden Stunden verbrachte sie in der Sauna? Welche Rolle spielen Richard Wagner und der Fußball? Und: Wie virtuos kann man eigentlich schweigen? - In 50 pointierten Betrachtungen gelingt Julia Schramm eine grandiose Annäherung an die Unnahbare und an den bundesdeutschen Zeitgeist - analytisch und humoristisch, klug und anekdotisch.

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Seitenzahl: 203

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Julia Schramm

Fifty Shades of Merkel

Hoffmann und Campe

Vorwort

Angela Merkel ist eine schillernde Persönlichkeit. Ihre größte Stärke ist das leichtfüßige Arrangieren von Widersprüchen. Naturwissenschaftlerin, Frau, kinderlos, in zweiter Ehe verheiratet, nicht sonderlich religiös, führt sie eine christlich-konservative Volkspartei – für Angela Merkel kein Problem. Bei Merkel wirkt es meist überzeugend, wie sie mit inhaltlicher Flexibilität den Widersprüchen einer modernen Gesellschaft beikommt, sie aushält. Deswegen (und nicht zuletzt, weil Merkel noch im Amt ist) verspricht eine streng lineare Abhandlung und Würdigung ihres Lebens und ihres politischen Wirkens nicht zu einem neuen erhellenden Gesamtbild Merkels beizutragen.

Ein Buch, das Merkel gerecht werden will, kann nur fragmentarisch sein; es muss die Widersprüche aufnehmen und darf nicht zwanghaft versuchen, sie aufzulösen. Aus diesem Grund habe ich mich für den Versuch entschieden, Angela Merkel über einen prismatischen Ansatz zu deuten. Das Buch bricht das Licht der Bundeskanzlerin in seine Facetten auf, um so die verborgenen Farben, ihr ganzes Spektrum sichtbar zu machen. Dabei sollen private Anekdoten und Geschichten eine ebenso große Rolle spielen wie größere politische Zusammenhänge und Entwicklungen, einzelne Aspekte politischer Philosophie und Theorie und ein kritischer Blick auf den Zeitgeist.

Der Titel Fifty Shades of Merkel ist also alles andere als ein schlichter Kalauer, er ist Formprinzip des Buchs – fünfzig Kapitel, die humoristisch, feuilletonistisch oder analytisch gehalten sind. Die Reihenfolge ist dabei lose chronologisch gewählt. Es geht um Merkels Vergangenheit, ihren Werdegang, aber auch um die Analyse ihrer Machtinstrumente und ihre Weiblichkeit, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Natürlich verweisen viele Sachverhalte auf andere Kapitel. Wo möglich und nötig, stelle ich Verbindungen her, die ein tieferes Verständnis Merkels ermöglichen. Was sagt ihre Geburtsstadt über ihre Politik aus? Welche epochemachenden Stunden verbrachte sie in der Sauna? Was geschah mit denjenigen, die ihre Kanzlerinnenkandidatur 2002 verhinderten? Und was hat das mit Fußball und Richard Wagner zu tun?

Es sind naheliegende, aber auch abseitige Fragen, die einen neuen Blick auf Merkel ermöglichen können. Angela Merkel dominiert das internationale Parkett, hat die CDU wieder zu einer Volkspartei gemacht, wird sogar von Linken gemocht. Wie wurde sie zu einem der mächtigsten Menschen der Welt? Und was unternimmt sie, um es zu bleiben? Merkel bewegt sich zwischen den verschiedensten Sachzwängen wie ein Fisch im Wasser, wirkt pragmatisch, vernünftig, rational und schafft es, ihre politische Agenda immer wieder als alternativlos zu verkaufen. Stets ist sie auf den Kompromiss aus, zu dem alle etwas beitragen müssen. Niemand soll sich als Verlierer_in fühlen.[1] Unnahbar wurde sie genannt, alles perle an ihr ab, Stichwort Teflon. Dabei soll sie im direkten Kontakt sehr witzig sein und, für Politiker_innen eine Seltenheit, zu Selbstironie fähig. Ihr Abwarten und Schweigen ist so beliebt wie gefürchtet und wurde in der Jugendsprache mit der Wortneuschöpfung »merkeln« geadelt, was für »nichts tun/keine Entscheidung treffen« steht.

Als Angela Merkel 1990 in die Politik einstieg, konnte niemand ahnen, dass die ungünstig frisierte, farb- und beinahe profillos wirkende Berufspolitikerin einmal zu einer der schillerndsten Politikerinnen der Welt werden würde. Aber, wie das erfolgreiche Buch von E.L. James, Fifty Shades of Grey, noch einmal gezeigt hat: Stille Wasser sind tief. Dementsprechend ergründen die Fifty Shades of Merkel die relevantesten Schattierungen und Untiefen der Bundeskanzlerin.

Wer dabei erwartet, dass die Protagonistin in erster Linie Prügel kassiert, wird enttäuscht sein. Parallel zu meinem Schreibprozess erfuhr Merkel im Winter 2015/2016 für ihre Flüchtlingspolitik den wohl stärksten Gegenwind ihrer Kanzlerinnenschaft (interessanterweise in einem Moment, in dem sie ihren typischen Opportunismus vermissen lässt). Angesichts dessen sind die Fifty Shades of Merkel auch ein Stück weit zur Lob- und Verteidigungsschrift geraten. Mit jedem Tag wurden die Angriffe auf Merkel krasser, wütender, bizarrer und vor allem reaktionärer. Die politische Landschaft scheint sich in kurzer Zeit so stark verschoben zu haben, das Bedürfnis nach Komplexitätsreduktion so weit verbreitet zu sein, dass jeder differenzierte Blick auf die Bundeskanzlerin und ihre Entscheidungen automatisch wie eine Parteinahme für sie wirkt. Dennoch bin ich natürlich hart mit ihr ins Gericht gegangen, allerdings nicht so drastisch oder platt, wie das zahllose Internetkommentare gern hätten.

Ich verstehe dieses Buch als politisches Infotainment, und es ist meine persönliche Merkel-Exegese. Auch wenn mein Blick auf Merkel vielleicht in manchen Punkten repräsentativ für Leser_innen meiner Generation ist, so basiert er doch auf meiner individuellen Weltsicht und meinen Erfahrungen. Deswegen sind auch einige meiner Interpretationen und Deutungen bewusst subjektiv gehalten – und immer wieder auch ein wenig spekulativ. Letzteres müssen sie auch sein. Denn Merkel, die Meisterin des Schweigens, erklärt sich nicht selbst. Das überlässt sie gern anderen.

Berlin, im Februar 2016

Fassade

Heute ist die Fassade des Hauses gelb und grün gestrichen. Recht hübsch verziert steht es am Rande von Templin in der Uckermark, um die Eingangstür ist ein gelber Bogen auf grüner Fläche gemalt. Auf den Bildern, die Boulevardzeitungen drucken, wenn es um das Elternhaus von Angela Merkel geht, scheint immer die Sonne, und die roten Dachziegel leuchten. Es ist ein großes Haus, das im rechten Winkel zum Vorderhaus einen Seitenflügel hat. Es gibt zwei reguläre Stockwerke und eins unter dem spitzen Ziegeldach. Es wurde 1913 als Standort des »Rettungshauses Templin« gebaut, das schon 1854 vom »Verein zur Erziehung sittlich verwahrloster Kinder« gegründet worden war. Von da an hieß die kirchliche Einrichtung Waldhof. Die DDR legte ihn nach ihrer Gründung zunächst still. Horst Kasner, der Vater von Angela Merkel, übernahm schließlich die Leitung und zog mit seiner Familie in das Haus, in dem heute die Stephanus-Stiftung verschiedene Wohn- und Betreuungsangebote für Menschen mit Behinderung unterhält.

Pfarrer Kasner war mit seiner Familie 1954 aus Hamburg in die DDR übergesiedelt, und nach einer kurzen Station in Quitzow bezogen sie 1957 die unterste Wohnung des Waldhofes – der Ort, an dem Vater Kasner fortan seinem pastoralen Idealismus im gottlosen Sozialismus nachgehen sollte. Die Stephanus-Stiftung und die Kirche Brandenburg/Havel beauftragten Kasner, den Waldhof zu einer Weiterbildungsstätte für angehende Theologen aufzubauen. Deswegen wuchs die kleine Angela auch nicht nur mit ihren zwei jüngeren Geschwistern Marcus und Irene auf, sondern auch mit einem Seminar voll angehender Pfarrer und Menschen mit Behinderungen, die ab 1958 auf dem Waldhof lebten und arbeiteten. Zu dieser Zeit war der Waldhof – ganz im Gegensatz zu heute – eine halbe Ruine inmitten des brandenburgischen Nirgendwo. Eine Herausforderung für die Kasners.

Vom Inneren des Hauses, in dem Angela bis zum Abitur lebte, gibt es in den Zeitungen keine Bilder. Keine Bilder vom ehemaligen Kinderzimmer oder der Dachwohnung, die sie im Teenageralter bezog. Nicht mal den Weg, den sie als Jugendliche zur Schule fuhr, haben findige Journalist_innen ausgemacht – zumindest nicht dokumentiert. Nur von der Fassade, die zu DDR-Zeiten bestimmt nicht so schön grün und gelb war, sondern wahrscheinlich grau, gibt es wenige Bilder. Die Fassade muss reichen.

Im Erdgeschoss des Hauses lebte die Familie Kasner zunächst in einer schwierigen Situation. Die Staatssicherheit muss äußerst skeptisch gewesen sein – ein Pfarrer, der die Kirche im Sozialismus aufzubauen gedachte? Und dann auch noch ein Übersiedler? Anwerbeversuche und Überwachung dürften dazu geführt haben, dass Besuche der Stasi auf dem Waldhof und im Wohnzimmer der Familie Kasner regelmäßig stattfanden, auch wenn vonseiten der Familie nicht darüber gesprochen wird.

Angela Merkel sagte in einem Interview mit Anne Will auf die Frage, inwiefern ihre Kindheit in der DDR sie kommunikativ vorsichtig habe werden lassen: »Sicherlich hat die Kindheit und dann das Leben bis zum 34. Lebensjahr in der DDR da Dinge geprägt. Weil Reden über bestimmte Dinge und in bestimmten Situationen lebensgefährlich oder zumindest existenzverändernd war.«[2]

Man kann also davon ausgehen, dass die junge Angela in der jungen DDR früh lernte, was angemessen ist, wann lieber geschwiegen werden sollte – und dass Fehler fatale Folgen haben können. Zumindest war es sicher heikel, bis Pfarrer Kasner als systemtreu identifiziert wurde und am Weißenseer Arbeitskreis teilnahm, einer von der SED geförderten evangelischen Theologengruppe. Der Aufbau einer Fassade war die logische Konsequenz.

Mit der Einschulung im Jahr des Mauerbaus 1961 intensivierte sich der Fassadenbau. Als Pfarrerstochter wurde die strebsame Angela schon früh damit konfrontiert, dass Leistung nicht ausreichte – ihre fehlende Mitgliedschaft bei den Jungen Pionieren versagte ihr die Auszeichnung als zertifizierte Streberin. Ein herber Rückschlag, der dazu führte, dass sie ihren pastoralen Hintergrund ein wenig zu verschleiern suchte. So sprach sie, wenn sie in der Schule gefragt wurde, den Beruf ihres Vaters stets etwas leise und ungenau aus, sodass Menschen auch »Fahrer« statt »Pfarrer« verstehen konnten.[3] Sie trat den einschlägigen Verbänden bei, wurde Mitglied bei der Pionierorganisation Ernst Thälmann – was ihrem Ehrgeiz mehr Freiraum ermöglichte. Nur die Jugendweihe, den Schwur auf das »sozialistische Vaterland«, die machte sie nicht mit und wurde stattdessen konfirmiert. Warum? Vielleicht beugte sie sich dem Vater, vielleicht fand sie die Jugendweihe komisch, vielleicht glaubte sie auch an die kirchliche Segenshandlung. Ihr Interesse an den theologischen Schülern ihres Vaters hielt sich jedenfalls genauso in Grenzen wie ihr Interesse am nationalstaatlich interpretierten Marxismus-Leninismus. Wie auch generell am Marxismus. Mathematik interessierte sie viel mehr.

Ansonsten war »nicht auffallen« die Devise. Bloß nicht auffallen. Grau, dazwischen stehen, durchkommen. Eine schillernde Fassade konnte da nur hinderlich sein. Ihre Fassade der Staatstreue musste sie gegen den Efeubewuchs des Pfarrervaters schützen: nicht negativ in Erscheinung treten, nicht provozieren, sondern brav und fleißig sein. Und die bürgerliche Fassade, die ihr qua Familie mitgegeben worden war, durfte ebenfalls nicht durchscheinen. Denn die DDR, wie auch der gesamte Ostblock, hatte sich im Kampf gegen den Kapitalismus auch dem Kampf gegen die bourgeoise Fassade verpflichtet. Gegen die Pfaffen. Gegen die bürgerliche Literatur und Kultur.

Ein wesentlicher Teil marxistischer Theorie ist die Auseinandersetzung mit dieser bürgerlichen Fassade und deren Bedeutung im unausweichlichen Klassenkampf. Bei Marx heißt es »das falsche Bewusstsein«, und auch Bertolt Brecht spielt in seinen Werken mit der Frage nach der der bürgerlichen Fassade, entlarvt den Schaden, den sie anrichtet, wie zum Beispiel in dem Stück Die Kleinbürgerhochzeit. Walter Benjamin, dessen Schwägerin als Justizministerin in der Regierung der DDR saß, zieht aus der Existenz der bürgerlichen Fassade als Machtinstrument die Konsequenz, dass es kommunistische Kunst geben muss, die eine Alternative zur bürgerlichen Fassade bietet. Die DDR versuchte sich entsprechend am sozialistischen Fassadenbau, errichtete Prachtbauten, polierte die Missstände und feierte Paraden. Die Karl-Marx-Allee ist eines dieser sozialistischen Ensembles, die ein neues Bewusstsein schaffen sollten. Aber in diesem staatlich verordneten Klassenkampf mussten viele DDR-Bürger wiederum eine Fassade errichten, um den Alltag in der DDR meistern zu können.

Fassaden sind ein notwendiger Teil der menschlichen Existenz, sie sind die Außenansicht der Rollen, die wir täglich zu spielen haben. Jeder und jede hat eine Fassade – die interessante Frage ist: Wie ist die Fassade beschaffen? Angela Merkels Fassade besteht aus vielen kleinen Mosaiksteinchen, von denen manche ganz selten funkeln, manche sorgsam versteckt sind und wieder andere sich im Zwielicht nicht so gut erkennen lassen. Viele Mosaiksteinchen hat sie sich nicht selbst ausgesucht, einige hingen eines Tages einfach an ihr dran. Als sie zum Beispiel plötzlich Spitzenpolitikerin wurde. Manche Mosaiksteinchen hat sie auch geschenkt bekommen, viele waren einfach schon immer da: das großbürgerliche Antlitz der Hamburger Familie, der Pfarrersvater. Andere Mosaiksteinchen hat sie sich hart erarbeitet: die Streberin, die vorbildliche Schülerin, die knallharte Politikerin. Angela Merkel hat ihre Mosaiksteinchen gut im Griff, sie weiß, wann eins lose ist, wann sie gesäubert werden müssen, wie und welche Steinchen immer und immer wieder klappern. Manchmal zieht der Wind, und ein Mosaikteilchen fällt ab, manchmal leiden sie unter Schneefall. Meistens ist Merkels Fassade unscheinbar wie der Stein am Wegesrand. Unauffällig, langweilig.

Merkels Leben, ihre Stationen und Entscheidungen, ja ihre Mosaiksteinchen sind sehr leicht nachvollziehbar – in Büchern, im Internet, in Interviews. Trotzdem wissen die meisten Menschen nichts bis wenig über sie. Das liegt vor allem daran, dass Merkel all diese Informationen zu ihrer Person nicht kommentiert, wertet und ordnet. So sehen die Menschen die Mosaiksteinchen zwar, aber vergessen sie schnell wieder, sind beruhigt vom wohligen Grau, das sich über das Ganze zieht. Ein Grau, das keinen Neid und keine Missgunst provoziert, keine Aufregung. Nicht auffallen. Für Merkel bedeutet das, dass sie hinter ihrer Fassade der langweiligen, drögen Frau, mit der niemand tauschen möchte, die vielleicht mächtigste Frau der Welt sein kann.

Hamburg

Der 17. Juli 1954 war in Hamburg ein sonnenloser, regenreicher, kalter Tag. Ein Samstag. Der Luftdruck war an diesem Tag sehr niedrig. Zumindest sagt das die Wetterstation Hamburg-Eimsbüttel und bestätigt damit das Klischee vom Hamburger Wetter. Herlind Kasner bringt an diesem Sommertag ihre erste Tochter Angela Dorothea im Hamburger Stadtteil Barmbek-Nord zur Welt. Über die Geburt ist nicht viel bekannt, ebenso wenig wie über das Leben der Familie Kasner in Hamburg. Die Eltern hatten sich während des Studiums kennengelernt, kurz nach der Geburt ging es in die DDR. Die Familie mütterlicherseits lebte weiterhin in Hamburg und kam in den folgenden Jahren nicht nur zu Besuchen in die Uckermark, sondern schickte auch Pakete. Sie habe nie wirklich DDR-Kleidung getragen, wird Merkel gerne zitiert.

Hamburg spielt in Merkels Leben eine große Rolle. Hamburg steht bei ihr stellvertretend für den Westen an sich. Nicht nur machte Merkel zahlreiche Westreisen nach Hamburg und verbrachte kurz vor dem Mauerbau mit der Großmutter aus Hamburg noch einen Urlaub in Bayern. Aus Hamburg kamen all die westlichen Konsumgüter, die das Leben der Pfarrersfamilie in der DDR komfortabler gestalteten.

Hamburg, die großbürgerliche Hafenstadt, ist voller Tradition, geprägt von hanseatischem Stolz, ihre Bewohner gelten zugleich als unterkühlt, distanziert, leise, vornehm, ohne machiavellistischen Machtinstinkt. »Hanseatisches Patriziertum« nannte es Die Welt einmal.[4] Merkel entspricht dem natürlich nicht ganz – Kanzlerin zu werden ohne Spuren von machiavellistischem Machtinstinkt ist nicht wahrscheinlich. Jedoch: Die hanseatische Gelassenheit, die mit einem gewissen Pragmatismus einhergeht, trifft auf Merkel durchaus zu. Überhaupt wirkt sie oft wie eine SPDlerin Helmut Schmidt’scher Prägung – ist Merkel nicht die Verkörperung visionsloser Politik schlechthin? Einer Politik, die Entscheidungen am Moment ausrichtet? Dass Politik schwer ohne Visionen zu machen ist und Schmidt damals polemisierte, steht wohl außer Frage. Dennoch pflegt Merkel das, was Schmidt unter einem soliden und vernunftorientierten Politikstil verstanden wissen wollte. Verantwortungsethik, wie es bei Max Weber heißt. Dass Schmidt immer wieder Merkels Entscheidungen gesinnungsethisch kritisierte (beispielsweise geißelte er die Euro-Politik 2012 als »nationalegoistisch«), ist nicht ohne Ironie: Eine visionslose Technokratin, die im Zweifel die EUfür Deutschland opfert, wollte Schmidt wohl nie herbeibeschwören.

Da passt es, dass Merkel im Laufe der Amtszeiten zunehmend Eigenwilligkeit und auch Haltung zeigte, weswegen der beliebteste Altkanzler aller Zeiten sie für ihr umsichtiges Vorgehen während der Griechenlandkrise 2015 loben konnte. Aber nicht nur das hanseatische Gemüt wird bei Merkel Sympathien für den Führungsstil der Hamburger SPD-Ikone geweckt haben. Auch die Bilder von Schmidt während der Sturmflutkatastrophe 1962 in Hamburg dürften auf die junge Angela Eindruck gemacht haben. Schmidt inszenierte sich gekonnt als Retter, der mit klarem Kopf und einem Höchstmaß an Verantwortung das Unglück managt, und etablierte damit die Funktionalisierung von Katastrophen im medialen Politikkampf in Deutschland. Hauptsache pragmatisch.

Ähnliches gilt auch für das Schmieden von Koalitionen. Eine wegweisende Koalition, deren Tragweite vermutlich in Zukunft noch deutlicher werden wird, begann in Hamburg. Im Jahr 2008 bildete sich dort die erste schwarz-grüne Koalition. Hamburg war dafür gut geeignet, das Bürgertum liberal, weltoffen und doch konservativ, die Revoluzzer_innen der Grün-Alternativen Liste in die Jahre gekommen, die linken Bürgerschrecke in der Roten Flora eingehegt. In Hamburg zeigen sich die mentalen Überschneidungen von hanseatischem Geldadel und Bionade-Biedermeier: ein neuer Konservatismus, befreit von der niederen, irrationalen Feindbildpflege, wie beispielsweise Homosexuellenhass. Ole von Beust, seit 2001 dank wechselhafter wie dubioser Koalitionsbündnisse Erster Bürgermeister Hamburgs, war der Prototyp der neuen CDU unter Merkel. Dass die Koalition nach seinem Rücktritt 2010 zerbrach, war ebenso plausibel wie die Tatsache, dass Merkel eine Koalition auf Bundesebene nach der Hamburger Entscheidung 2008 konsequent ausschloss: Das neue ökologisch bewusste, ökumenische Die-Rente-ist-halbwegs-sicher-und-wir-ach-so-postmaterialistisch-Bürgertum war noch zu fragil. Dennoch könnte Hamburg eine Blaupause dafür sein, wie sich das deutsche Bürgertum künftig auch nach außen sichtbar entwickelt und wie es schon heute im Kern beschaffen ist.

Das Bürgertum der Hansestadt ist seinem Selbstbild nach traditionsreich, weltoffen, tolerant. Eigenschaften, die auch Merkel zugeschrieben werden. Gleichzeitig zeigen sich Ignoranz, Überheblichkeit und eine nicht unerhebliche Menschenverachtung, getarnt als vornehme Zurückhaltung. Das Hamburger Bürgertum hat das in jüngster Zeit bei der Debatte um das Schulsystem gezeigt, in deren Verlauf erschreckende Ressentiments zutage kamen: Standesdünkel kombiniert mit Naserümpfern, die selbst Toni Buddenbrook wie eine Bauerntochter erscheinen lassen. Der bürgerliche Anstand verdeckt die wahren Zustände, die Unbarmherzigkeit der Politik. Die Grünen scheinen sich damit mittlerweile arrangiert zu haben. Merkel auch. Hamburg repräsentiert deswegen auch die dunkle Seite der Macht. Und der Raute. Vielleicht redet Merkel deswegen fast nie über die Stadt, in der sie geboren wurde.

Mutti

Die Volkshochschule Uckermark hat ihre Räumlichkeiten im Hinterhof des Oberstufenzentrums Templin. Die Gänge sind ein wenig kahl. Das Licht der Neonröhren ist steril. Templin ist ein kleiner, ein pittoresker Ort in der Uckermark, zwischen ein paar Seen und einem Naturschutzgebiet. Gegenüber der VHS sind ein Edeka und ein kleiner Blumenladen, der bald geschlossen wird. Hier unterrichtet Herlind Kasner Englisch. Konversation und B1 – also für Fortgeschrittene. Für ihre Tätigkeit hat sie einen Preis bekommen, und zwar in der Kategorie »Dozentin aus Leidenschaft – Leben für die Weiterbildung«. Seit vielen Jahren unterrichtet sie an der VHS. Es macht ihr Spaß, so sagt sie es zumindest den wenigen Journalist_innen, deren Fragen sie nicht blödsinnig findet und die sie dann mit einem scharfen Blick und Schweigen bedenkt.

Es standen schon viele Journalist_innen vor der Tür zum Unterricht, wollten Interviews mit ihr über ihre Tochter führen, einmal schlich sich sogar einer in den Kurs, gab vor, ein regulärer Teilnehmer zu sein. Die Eindringlinge begründen das gerne damit, dass die Mutter der Kanzlerin eine Figur des öffentlichen Interesses sei. Herlind Kasner sieht das anders. Sie zieht Grenzen, sie weiß, was sie will und was nicht. Sie ist eine konsequente, eine herzliche Frau. Sie fordert, bleibt aber fair. Sie sagte einmal, als sie nach ihrer berühmten Tochter gefragt wurde: »Mit Stolz kann ich nichts anfangen, das ist keine Kategorie, in der mein Mann und ich denken.«[5]

1928 wurde sie in Gdańsk geboren. Die Familie Jentzsch, so der Geburtsname Herlind Kasners, zog 1936 nach Hamburg, wo Merkels Mutter auch Latein und Englisch auf Lehramt studierte. Eine Lehrerfamilie – der Großvater war Schuldirektor. Und später Senator. Eine bürgerliche Familie, eine gebildete Familie, eine politische Familie. Die Uckermark, wohin sie 1954 mit ihrem Mann zog, war verglichen mit Hamburg der Rand der Zivilisation, wo sie aus der Not heraus lernen musste, Brennnesselsuppe zu machen. Herlind Kasner stellte ihre eigene berufliche Karriere hinter die ihres Mannes, unterrichtete jedoch, wo sie konnte: »Prozentrechnung, Rechtschreibung, Christenlehre.«[6] Sie zog die drei Kinder groß, verbrachte den Großteil ihrer Zeit mit ihnen. Angela Merkel spricht stets sehr liebe- und respektvoll über ihre Mutter. Diese habe, so der einhellige Befund aller, die über Angela Merkels Kindheit schreiben, immer großen Wert auf die Bildung ihrer Kinder gelegt und ihren Kindern früh vermittelt, dass sie hart arbeiten müssten, dass sie als Pfarrerskinder keine Fehler machen dürften, dass ihnen jeder Fehler vorgehalten würde, mehr als anderen Kindern. Als Kindern aus systemtreueren Familien. Angela Merkel erzählt gerne, dass sie sich jeden Tag mit ihrer Mutter besprach, Freude und Ärger kanalisieren konnte. Vielleicht war es eine Vorsichtsmaßnahme, vielleicht einfach eine liebevolle Erziehungsmaßnahme, vielleicht beides.

Für Herlind Kasner ist Ehrlichkeit zentral, sie mag es nicht, wenn herumlaviert, am Punkt vorbeigeredet wird. Sie fordert dann Präzision und Klarheit ein. Wahrscheinlich ist sie deswegen auch immer noch Lehrerin, aber nicht mehr Mitglied der SPD, für die sie mal im Kreistag saß. Nach der Wende. Über ihre Motivation, sich politisch zu engagieren, ist genauso wenig bekannt wie über ihre politische Arbeit. Sie redet nicht darüber. Deswegen bleibt es spekulativ, was sie bewog, ein politisches Mandat zu übernehmen. Wahrscheinlich wollte sie Verantwortung in dem neuen Kapitel deutscher Geschichte übernehmen, vielleicht wurde sie auch gefragt, aufgefordert. Jedenfalls ist sie bis heute jemand, der sich einmischen will und das auch tut. Nur wenn es um ihre Tochter geht, will sie sich nicht einmischen, will sich raushalten, findet Fragen nach ihr aufdringlich und unangebracht. Sie will nicht dazu beitragen, dass die Medien sich wieder ein falsches Bild von ihrer Tochter machen. Deswegen schweigt sie, gibt keine Interviews, spielt höchstens ihre eigene Bedeutung ein wenig herunter.

Merkels Vater Horst, 2011 verstorben, hat einen festen Platz in den biographischen Analysen Angela Merkels. Ihre Mutter nicht. Herlind Kasner mag das recht sein, für das Verständnis der Politikerin Merkel ist es geradezu fahrlässig.

Der Fokus auf den Vater mag der Vorstellung entspringen, dass die politischen Ambitionen einer Frau eigentlich nur im Zusammenspiel mit einem Mann gedacht werden können. Dabei ist die Rolle der Mutter essenziell, insbesondere da Herlind Kasner den Großteil der Erziehung übernommen hat. Angela Merkel ist ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten, auch wenn diese ein wenig zierlicher ist als ihre Tochter. Aber die konsequente, fordernde Haltung, der bürgerliche Habitus und der Wille, nicht klein beizugeben – das scheint Merkel von ihrer Mutter zu haben.

»Ich habe in kurzer Zeit begriffen, warum sie die Mutter ist und was sie an die Tochter weitergegeben hat«, sagte Rita Süßmuth, nachdem sie 2008 die Laudatio auf Herlind Kasner bei der Ernennung zum »Vorbild der Weiterbildung« gehalten hatte.[7] Wer sehen will, welche Rolle Herlind Kasner im Mythos Merkel spielt, kann es sehen.

Auch lässt sich vermuten, dass Merkel am Lebensweg ihrer Mutter ablesen konnte, dass große Karrieren für Frauen immer mit Abstrichen verbunden sind. Es sei für ihre Mutter schwer gewesen, ihrem Vater in die DDR zu folgen. So wird sie zumindest zitiert.[8]Merkel hat hautnah erlebt, dass Frauen sich zwischen einer eigenen Karriere und Kindern entscheiden müssen. Dass Merkel nun kinderlos zur »Mutti der Nation« aufgestiegen ist, hat entsprechend eine gewisse Ironie.

Mutti, dieser Inbegriff (ost-)deutscher Kinderliebe, wurde zunächst als abwertender Begriff für Merkel genutzt – als wären die Fähigkeiten einer liebenden Mutter etwas Anrüchiges, etwas, das in der Politik nichts verloren hat, etwas Schwaches und Leidliches, ja Ehrenrühriges. Mittlerweile hat sich Merkels Politikstil insoweit bewährt, als aus dem herablassenden Unterton, der bei »Mutti« gerne mitschwang, ein ehrfürchtiger wurde. Mutti, die Strenge, die Klare, die Fordernde, diejenige, die von ihren Kindern mehr erwartet als von allen anderen, die aber auch im Zweifel ihre Meinung ändert, wenn es dem missratenen Nachwuchs guttut. Mutti zeigt Nachsicht, wenn es sein muss, geht auf die Ängste und Sorgen ihrer Schutzbefohlenen ein. Und manchmal wagen die Heranwachsenden dann auch den Aufstand, rebellieren, sind wütend und enttäuscht von Mutti.

Die Beziehung zwischen Herrschenden und Beherrschten mit einem Eltern-Kind-Verhältnis zu umschreiben hat in den unterschiedlichsten politischen Systemen eine lange Tradition, in die sich Merkel tadellos einreiht. Ministerpräsident_innen werden Landesvater oder -mutter genannt, und in Russland hieß es stets »Väterchen Stalin«.

Weil Merkel es schafft, dieser Tradition etwas ganz Eigenes zu geben, etwas Persönliches, ist sie so erfolgreich. Auch wenn sie das selbst weder so sehen noch sagen würde. Oder wie Herlind Kasner bei der Preisverleihung zu einer Journalistin sagte: »Das über mich ist doch nicht interessant.«[9] Und es klingt beinahe wie etwas, was ihre Tochter in einem Interview sagen würde.

Westen

Einmal wünschte sich Angela Merkel eine gelbe Bluse. Da es sie in der DDR nicht gab – wir erinnern uns: keine Bananen, keine gelben Blusen –, fragte sie bei ihrer Tante in Hamburg nach, ob sie ihr eine besorgen könne. Die Tante antwortete zur Überraschung Merkels mit Nein, da gelbe Blusen derzeit nicht in Mode seien. Weder im Osten noch im Westen gab es also nun diese gelbe Bluse, die Merkel gerne gehabt hätte – die vermeintliche Überlegenheit des Westens scheiterte an den modischen Träumen einer Jugendlichen. Im ersten Moment, so erzählte Merkel es später der Bild, konnte sie das nicht glauben. Der Westen, da gab es schließlich immer alles, da waren die Beatles und die Freiheit, da kamen die Jeans her! Wieso gab es diese gelbe Bluse auch da nicht? Doch trotz dieser Enttäuschung – Angela Merkels Liebe für den Westen war und ist ungebrochen.

Dabei liebt sie nicht den real existierenden Westen, sondern in erster Linie die Idee des Westens. Aufgewachsen im bemüht nichtkapitalistischen Osten, blickte sie stets mit Sehnsucht auf das Land hinter dem Eisernen Vorhang. Sie war stolz darauf, im Westen geboren zu sein. Sie nannte in einem Interview die DDR eine »manchmal verkommene und verkorkste Gesellschaft«[10]