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Filona ist der letzte Mensch auf Erden. Beschützt vom mächtigen SYZTHEM und seinem Diener Gilgamesch verbringt sie die Tage in trauter Stille und Erinnerung an den Rest der Menschheit. Was ist passiert und wie kam sie in diese Lage? Dasselbe fragt sich Filona auch. Zwischen Sport, Woodstock und unzähligen Lerneinheiten bleibt kaum Zeit, sich um ihren Begleiter Georgie zu kümmern. Auch wenn sie ihn selbst erschaffen und nebenbei genetisch manipuliert hat. Jetzt steht ihre letzte Lektion an. Sie muss noch etwas lernen, bevor es keine Lektionen mehr geben wird. Doch welche Rolle spielt Lucius, der Wolfshybride? Und was hat das alles mit Jimmy Hendrix und dem Ende des Universums zu tun? Es wird Zeit, alles aufzuklären. Auch wenn der Käfig noch so golden. Nichts hält uns ewig!
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Jay Kay
Filona
Am Ende der Zeit
Nur wer das Ende kennt, kann ermessen, wie einzigartig und kostbar jedes Leben auf unserem Planeten ist.
Die Geschichte
Filona ist der letzte Mensch auf Erden. Beschützt vom mächtigen SYZTHEM und seinem Diener Gilgamesch verbringt sie die Tage in trauter Stille und Erinnerung an den Rest der Menschheit.
Was ist passiert und wie kam sie in diese Lage?
Dasselbe fragt sich Filona auch. Zwischen Sport, Woodstock und unzähligen Lerneinheiten bleibt kaum Zeit, sich um ihren Begleiter Georgie zu kümmern. Auch wenn sie ihn selbst erschaffen und nebenbei genetisch manipuliert hat. Jetzt steht ihre letzte Lektion an. Sie muss noch etwas lernen, bevor es keine Lektionen mehr geben wird. Doch welche Rolle spielt Lucius, der Wolfshybride? Und was hat das alles mit Jimmy Hendrix und dem Ende des Universums zu tun?
Es wird Zeit, alles aufzuklären.
Der Autor
Jay Kay ist nicht nur Schriftstellername, sondern seit jeher Spitzname des Autors dieser Geschichte. Wenn er keine Bücher schreibt, macht er die Weltmeere unsicher und die Unterweltmeere sicher. Er war schon Journalist, Übersetzer, Fotograf, Pressesprecher, Grafiker und Programmierer. Lesen und Schreiben ist rein passionsmäßig bei ihm nicht zu trennen. Zurzeit wohnt er mit einer Maus in einem kleinen Ort nahe den Wäldern seiner Jugend.
Ebenfalls von Jay Kay
Kinder der Erde Zyklus:
Ich, Santa (Roman & Vignette 0)
Iikitt (Vignette 1&2)
Engel der Frequenzen (Vignette 3&4)
Der Dachs, der Wind und das Webermädchen (Vignette 5&6)
Dragon Doll (Roman) demnächst
Mystic Thriller:
Native American Girl (Roman)
Filona
Am Ende der Zeit
&
Auf Wellen von Sand
Copyright Jay Kay 2020
1. Auflage
2020
Even Terms Press
a division of TopList® Communications
Unt. Waldweg 10, 30974 Wennigsen
www.eventermspress.de
Lektorat: Dr. Frank Weinreich
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere dasdes öffentlichen Vortrags sowie der Übertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Titeldesign & Layout: jkunter Verwendung von Motiven von Shutterstock
Satz: DTP Service Durchschuss, 62291 Versatz
Published in Germany
by Even Terms Press
Inhalt
Paradiso 3
Paradiso 2
Paradiso 1
Purgatorio 3
Purgatorio 2
Purgatorio 1
Inferno 3
Inferno 2
Inferno 1
Limbo
IT'S MY LIFE
DON'T YOU FORGET
IT'S MY LIFE
IT NEVER ENDS
TALK TALK,1984
Paradiso 3
D
ie Uhr tickt. Unerbittlich. Dem Ende entgegen. Wir können es fühlen, obwohl wir es nicht sehen, denn in den Räumen, in die wir schauen, gibt es nirgends eine Uhr. Kein Zeitmesser hängt an den Wänden. Kein Kuckuck wartet in seiner Behausung auf das Öffnen der Tür, auf dass er seinen Ruf schmettern kann. Kein Pendel schlägt hin und her. Kein Turm zeigt uns die Uhr an seiner Spitze. Nicht einmal eine Spieluhr versteckt sich in einer Schmuckdose unter einer tanzenden Ballerina, um ihr die Zeit aus den Füßen zu saugen. Zeit ist für uns nur ein Begriff, nichts weiter als eine Definition. Schon gar nicht ist es eine universelle Konstante. Aus unserer Empfindung ist alles hier und jetzt, kann betrachtet werden, war zu werden, wurde gewesen und hätte sein gekonnt. Wir sind allzeit und dabei so unsichtbar wie geistreich. Schweben einer ätherischen Kamera gleich durch die Gänge und Hallen, die Zimmer und Areale, die für Filona die Welt bedeuten.
Gerade schlief sie noch. Nun ist sie erwacht. Wir sehen, wie sie die Augen aufschlägt, da sie vom automatischen Wecksystem immer exakt um sieben Uhr morgens geweckt wird. Wir wissen das, und auch das Wecksystem weiß das. Aber Filona weiß es nicht. Obwohl Zeit für sie ein Begriff ist, muss sie sich nicht darum kümmern, wann sie aufzustehen hat. Nicht, wann sie frühstückt, ihr Mittagsschläfchen hält oder sich am Abend zurück unter die optimal körpertemperierte Bettdecke legt, um in süßem Schlummer zu versinken.
Um solche Dinge und um unendlich viele andere kümmert sich das SYZTHEM. Hinter den Wänden verborgen hören wir es summen. Unter den Fliesen vibriert es leise vor sich hin. Die Luft der Klimaanlage fächelt uns milde ihren Atem entgegen.
Filona sieht, wie an jedem Morgen, ausgeruht aus. Ihr langes dunkles Haar ist mit einem Gummiband am Hinterkopf gebändigt. Obwohl längst ausgewachsen, ist sie klein von Statur. Sie trägt ihren Schlafanzug mit Bärchenmuster. Viele kleine Köpfe, bunt und mit lustig offenen Augen, starren von ihrem Hemd und der Hose in alle Richtungen. Bei Nacht ist es dunkel, da können die Bärchen nichts mehr sehen. Wir ebenfalls nicht. Selbstverständlich auch Filona nicht, obwohl wir einschränkend anfügen müssen, dass dies nur den Bereich des sichtbaren Lichts betrifft. Das SYZTHEM ist darauf nicht angewiesen und auch Gilgamesch nicht.
Seine Hoheit ist immer wach. Er benötigt keinen Schlaf. Er wacht über Filona und ist der Diener des SYZTHEMs. Es gibt noch andere Diener, aber Gilgamesch ist der mächtigste von allen. Er kann sprechen, Tee servieren, alle Datenbanken durchforsten und noch vieles mehr. Er kann sogar einiges, was Filona nicht kann, denn Filona ist aus Fleisch und Blut.
Zum Beispiel kann Gilgamesch außerhalb von Eden wandeln, zumindest soweit die Energie des SYZTHEMs reicht. Wir können das ebenso. Doch für uns gibt es keine Grenze. Jedenfalls keine, die sich nach irdischen Maßstäben bemisst. Aber draußen ist es erst heiß, dann kalt und zudem so entsetzlich weit und leer, dass wir nicht einen Gedanken daran verschwenden, uns außerhalb von Eden zu bewegen.
Wir wollen sehen, wie es Filona geht, jetzt, da sie sich den Schlaf aus den Augen reibt und mit großen, lernbegierigen Blicken den neuen Tag empfängt.
Sie steht auf, geht zur Nasskabine hinüber, verrichtet ihre Morgentoilette, zieht sich aus und an, kämmt die Haare, zwinkert sich im Spiegel zu und tritt dann ausgeschlafen und voller Tatendrang vor Gilgamesch. Der hat selbstverständlich in der Manier eines feinen Gentlemans im Vorraum zu Filonas Atelier gewartet.
Wir folgen Filona auf Schritt und Tritt, denn wir wollen wissen, was sich heute zuträgt, da doch der letzte Tag anbricht, was wir wissen und Gilgamesch auch, aber Filona nicht. Keine Frage, dass damit auch das SYZTHEM eingeweiht ist. Es hat alle Maßnahmen getroffen, alle Berechnungen abgeschlossen, alle Aufgaben erledigt (sofern sie sich in der gegebenen Zeit erledigen ließen) und alle Lernkapitel für Filona abgeschlossen. Ganz nach Zeitplan.
Die Geburt wurde berechnet, die Wachstumsrate, die Lernrate, jede noch so kleine Aufmerksamkeitsabweichung, jeder noch so pubertäre Gedanke, jede anarchistische Neigung (obwohl es davon nicht viele in Filonas Kopf gab) und auch jegliche Änderung der Umgebungsparameter. Die Temperatur innerhalb von Eden und natürlich auch die außerhalb wurde ebenso überwacht wie die Rate der Ausweitung der Sonnenkorona, die Strahlungsintensität, die Energieerzeugung und ebenso die Abgabe, ja sogar die Struktur des Gesteins unterhalb der Anlage. Alles wird überwacht, für alles gibt es einen Sensor, nichts bleibt dem Zufall überlassen. Und doch ist das Chaos dort draußen spürbar. Es dringt fühlbar durch die Mauern und meterdicken Wände, es ist durch die dicken Panzerglasscheiben sichtbar. Obwohl wir auch hier anfügen dürfen, dass der Begriff Chaos nicht ganz zutreffend ist und in unseren nicht vorhandenen Ohren viel zu negativ klingt. Im Universum ist alles, wie es sein soll, alles ist in Balance, es gibt kein Chaos, bestenfalls einen Mangel an Ordnung.
Während Filona schläft, bleibt uns keine Ruhe. Wir ziehen endlos unsere Runden. Wenn sie nicht geht, oder isst, oder lernt, dann ist es an uns, den Lavasee zu beobachten, wie er sich im Süden zwischen den Tälern des Kangchendzönga ausbreitet. Sein Gestein blubbert in tiefen Rot- und Orangetönen vor sich hin. Die Spitzen der einst mächtigen Gipfel sind geschmolzen, die Hochebenen gibt es nicht mehr.
Oder wir schauen nach Norden, wo sich die Wüsten über staubtrockene Meilen bis zum Horizont ziehen. Dort entlädt das SYZTHEM die überflüssige Energie in Blitzen. Sie tanzen wie stockdürre Geister, blendend hell und zitternd über die Weiten. Ihre Arme sind feine Äste aus nichts als knisternder Macht.
Ein Tag dauert nicht mehr so lang wie früher. Aber das interessiert uns nicht. In Eden läuft noch die alte Zeit, der Rhythmus von Jahrtausenden, ein Rhythmus, den Filona braucht, denn sie ist - wie schon gesagt - aus Fleisch und Blut.
»Was liegt heute an, Gillie?«, fragt Filona und stellt sich vor seiner Hoheit auf.
Obwohl er es gar nicht gerne hört, wenn sie ihn mit diesem Spitznamen anredet, behält er wie immer seine Contenance und antwortet.
»Guten Morgen, Filona. Heute steht deine letzte Lektion an.«
»Wow! Die Letzte? Ist es wirklich soweit? Ich hab ganz schön lange drauf gewartet. Warum hast du mir nicht eher gesagt, dass die letzte Lehreinheit schon so bald ansteht. Meinst du nicht, ich hätte es gerne vorher gewusst?«
»Das ist gut möglich«, antwortet Gilgamesch. »Aber ich weiß auch um die Ungeduld und die vielen anderen Emotionen, die sich in Folge einer derartigen Gewissheit allzu leicht bei organischen Wesen einstellen. Das hätte in den Wochen zuvor nicht nur deine Aufmerksamkeit und deine Lernfähigkeit beeinflusst, sondern ganz sicher ebenso Auswirkungen auf dein Verhalten gehabt.«
»Mein Verhalten? Wieso das? Hast du Bedenken, ich könnte den Unterricht schwänzen oder einfach die Augen schließen und nichts mehr sehen wollen, nichts mehr lernen?«
»Das nicht.«
»Na gut, was dann?«
Hier schwebt Gilgamesch etwas verzagt auf und ab, so als wäre er unschlüssig oder sich zu fein für eine Antwort. Würde er Angst kennen, oder Terror, oder einer Psychose unterliegen, dann würde seine Reaktion womöglich anders ausfallen. Aber so vibriert er nur leicht in der Luft und sagt gar nichts.
»Was ist mit dir?«, fragt Filona. »In den Jahren, die du mich begleitest, in all den Lehrstunden, die du geleitet hast, warst du nicht ein einziges Mal um eine Antwort verlegen. Du bist das Wissen, du bist das SYZTHEM. Warum antwortest du nicht?«
Wieder hört Filona keine Antwort. Und obwohl wir die beiden ein paar Mal umkreisen, so wie sie voreinander stehen, spüren wir keine Anomalie. Gilgamesch verzieht nicht die geringste Miene. Sein Gesicht, ja der gesamte Körper, gleicht dem Vorbild einer sumerischen Statue. Wir betrachten die definierten Arm- und Brustmuskeln auf dem nackten Oberkörper, den dichten, zu einem Rechteck verflochtenen Bart und das lockige Kopfhaar.
Sein goldener Schimmer flackert keine Millisekunde. All seine Synapsen sind vorzüglich und konstant mit Energie versorgt.
Dann ringt er sich durch und sagt: »Folge mir.«
Filona zieht eine Augenbraue hoch, sagt aber nichts, sondern folgt ihm durch Gänge und über Rampen, über Abzweigungen und Treppen bis hinauf in die Lernkuppel.
Wie oft haben wir zugeschaut, wie sie am Rand der gläsernen Barriere stand und auf Eden hinabschaute, auf all die anderen glitzernden Kuppeln, den Freizeitpark, die Siedlung und den Maschinenraum. Dabei hat sie Yeats rezitiert, sich in den kleinen Prinzen verwandelt oder Shakespeare auswendig gelernt.
Ach, wär's doch so, wie der große englische Dichter einst verkündete: Auf Dinge, die nicht mehr zu ändern sind, muss auch kein Blick zurück mehr fallen! Was getan ist, ist getan und bleibt's.
Wenn wir einen Körper hätten, könnte uns über diesem Wahlspruch der Schweiß ausbrechen. Draußen ist es schon so heiß, wie es auch bald hier drinnen sein wird.
K
aum ist Filona mit Gilgamesch in dem riesigen Rund der Wissensabteilung angekommen, hören wir die Stimme des SYZTHEMs aus unsichtbaren Lautsprechern tönen. Unaufdringlich, aber aus allen Richtungen schallt es heran. Leise und doch unüberhörbar präsent.
»Was möchtest du heute sein?«
Filona überlegt nur kurz.
»Ich möchte eine Elbin sein. Gib mir ein fließendes Gewand und schönen Schmuck. Nicht zu viel, nichts Aufdringliches und vor allem bequem.«
»Alle Elben waren unsterblich und doch mussten sie irgendwann von dannen ziehen, westwärts übers Meer, in die Lande jenseits des Horizonts«, sagt Gilgamesch. »Und von deinen Lieblingen den Vanyar, waren die meisten blond.«
»Dann will auch ich heute blond sein«, antwortet Filona und schon geschieht es. Das SYZTHEM projiziert ihr alles passend auf den Körper. Sie dreht sich und schwingt ihre Arme einmal übermütig durch das Rund wie ein Zauberlehrling.
»Nicht dass ich extra danach fragen müsste«, sagt sie in Richtung Gilgamesch gewandt, »aber heute steht nicht zufällig wieder der Herr der Ringe auf dem Programm? Du weißt, es ist die Geschichte, die ich am liebsten hab.«
»Die einhundertvierundfünfzigtausendsechshundertdreiundachtzig Generationen vor dir haben es ebenso gehalten«, stellt Gilgamesch in seiner unnachahmlich ruhigen Art fest. »Es ist und bleibt das meistgelesene Buch.«
»Das ist aber nicht der Grund, warum ich es so mag.« Filona zieht die Nase kraus.
»Auch das weiß ich«, sagt Gilgamesch mit stoischer Gelassenheit. »Ist dir vielleicht in den Sinn gekommen, dass es deswegen zum beliebtesten Buch wurde, weil es keines der zuvor erfundenen Glaubenssysteme beinhaltet?«
»Bei dem spirituellen Hintergrund?«
»Eine Schöpfungsgeschichte, sicherlich. Aber das hat nie in ein Paradigma gemündet, das historisch gesehen jede Religion der Geschichte früher oder später zu einem Instrument des Missbrauchs und zu purer Politik der Apokalypse werden ließ.«
»Vielleicht«, gibt Filona zu. »Trotzdem ist das nicht der Grund, warum ich es mag.«
»Ich sehe, worauf du hinaus willst«, unterbricht Gilgamesch seine Zuhörerin mit mildem Lächeln. »Aber eine Diskussion über eines deiner Lieblingsthemen soll uns heute nicht beschäftigen. Ich möchte doch bald mit der Lektion beginnen.«
»Ach ja, die letzte Lektion. Komm schon, Gillie! Sollte ich davor Angst haben? Ich hab schon oft daran gedacht, was passiert, wenn ich alles gelernt habe, wenn es nichts mehr zu lernen gibt.«
»Das wird nicht der Fall sein«, erwidert er. »Das Wissen ist unendlich und das Lernen hört nie auf. Die letzte Lektion bedeutet nichts weiter, als dass es danach keine Lektionen mehr geben wird.«
»Interessant!« Filona legt ihren Kopf schief. »Heißt das, du willst mich nicht weiter unterrichten, oder kannst du nicht, weil dir das Wissen ausgegangen ist?«
»Nein, das ist es nicht.«
»Dann was?«
Gilgamesch schaut prüfend durch das Rund der Kuppel, unter der sich die unzähligen Sessel mit den virtuellen Lernplätzen drängeln. Es ist egal, welchen Filona wählt. Einen ganz vorne vor dem riesigen Tableau, welches die Alexanderschlacht zeigt und fast die gesamte Stirnwand einnimmt. Oder am Rand, wo sie durch die weitgeschwungenen Fensterflächen einen Ausblick bis zum Annapurna haben könnte. Sofern es noch einen Annapurna gäbe, aber zumindest dort, wo er sich einmal befunden hat.
Hier hat sie unzählige Stunden gesessen und der Stimme von Gilgamesch gelauscht, wenn er ihr Geschichten aus allen Zeiten vorlas. Immer neue Details hat sie dabei auf Altdorfers Gemälde entdeckt. Die Alexanderschlacht mit ihren Rittern in schwarzglänzenden Rüstungen auf weißen Pferden, das Fahnenmeer beim Zusammenprall der Armeen, die Sonne in der Wolkenhöhle knapp über dem Horizont. Irgendwann hatte sie aufgehört, sich Details einzuprägen. Irgendwann lagen ihre Blicke nur noch auf dem eleganten Schwung des blutroten Chiffons. Das Tuch, das im Winde flattert und die schwebende Tafel mit der lateinischen Inschrift flankiert.
»Was sagt uns die göttliche Komödie?«, fragt Gilgamesch plötzlich.
»Oh je, Alighieri.« Filona schüttelt den Kopf und seufzt. »Das war wirklich schwer zu lesen. Ich hab dir alles dazu gesagt und du hast mir zugestimmt. Der dreieinige Gott ist überall und hier. Ich bin es, du bist es und das SYZTHEM ist der letzte Teil.«
»Feine Interpretation«, lobt Gilgamesch. »Aber darum geht es mir nicht. Wir werden auf den Grund und den Ausgangspunkt all unserer Mühen zurückfallen.«
»Die Hölle?«
»Ganz recht, die Hölle«, stellt er fest und klingt dabei kein bisschen aufgeregt.
»Aber die ist noch schlimmer als das Fegefeuer, voller Lava und Zersetzung. Da gibt es nichts als Vernichtung und Abkehr. Was willst du mir damit sagen?«
»Heute gibt es nicht nur die letzte Lektion, sondern du wirst auch die letzte Filona sein.«
»Ich weiß, ich bin biologisch und ich kann nicht ewig leben, obwohl du mich schon länger fit hältst, als sonst irgendwen vor mir. Ich danke dir jeden Tag dafür. Aber ich glaube, ich habe dir klar gemacht, dass ich mir über mein Ende bewusst bin und dass ich darüber nicht in Panik ausbreche, sollte es denn irgendwann kommen.«
»Das hast du hervorragend gelernt und in deinen unzähligen Meditationen auf beispielhafte Weise verinnerlicht.« Gilgamesch beugt sich lobend nach vorne. »Aber da ist etwas, auf das wir dich nicht vorbereitet haben. Etwas, das in keinem Lehrbuch steht und über dessen Reaktion wir uns ganz und gar im Unklaren sind.«
»Mit Wir meinst du jetzt dich, das SYZTHEM und den Geist in der Maschine. Sehe ich das richtig?« Filona wackelt bei ihrer Frage ungeduldig mit dem Fuß auf und ab.
Wir mögen es nicht, wenn Filona auf uns zu sprechen kommt. Wir sind die Summe allen Seins, aller Synapsen, aller Erinnerungen, aller Identitäten. Damit sind wir allgegenwärtig und doch an dieses Universum gebunden, was uns die eigene Endlichkeit gelegentlich ins Bewusstsein ruft. Es bereitet uns Unbehagen, wenn Filona in diesem Feld forscht. Sie wird früher oder später so oder so dazugehören. Ebenso wie die vierundvierzigtausendneunhundertsechsundzwanzig Kopien ihrer selbst, die hier gelebt, gelernt und geatmet haben und im Übrigen auch gestorben sind. Aber es gab immer nur eine Filona zu jedem beliebigen Zeitpunkt der Geschichte.
»Außerdem bin ich«, sagt Filona, »soweit ich gelernt habe und beurteilen kann, noch lange nicht am Ende meiner Betriebsdauer angelangt - wie du immer so unromantisch feststellst. Bis ich dreihundert werde, dauert es noch eine Weile.«
»Das ist korrekt«, antwortet Gilgamesch, »aber selbst diese ungefähr dreihundert Jahre sind für das Universum kaum mehr als eine Yoktosekunde für dich.«
»Danke, dass du mich erinnerst«, grummelt Filona. »Was macht dein Sarkasmusparameter heute Morgen? Zu hoch angesetzt?«
»Keineswegs.« Gilgamesch bleibt ruhig wie immer. »All meine Parameter befinden sich im Normalzustand. Außerdem habe ich nur die Fakten wiederholt.«
»Ja, ja, oh goldige Wiederholung.« Filona wedelt bei diesen Worten mit einer Hand vor dem Gesicht der bronzen strahlenden Projektion ihres Begleiters.
Gilgamesch will darauf nicht eingehen.
»Du bist einzigartig«, sagt er und die Adern auf seinen Muskeln treten hervor, als er seinen Brustkorb beim Atmen vor der Antwort dehnt. Die perfekte holografische Simulation.
»Schau auf die Nummer, die dort an deinem Handgelenk eintätowiert ist.«
Filona blickt nur kurz auf das Tattoo auf ihrem Arm. Dort steht: 44927.
»Ich weiß, was das ist«, flüstert sie. »Wir haben oft genug darüber geredet und du warst nie um eine Antwort verlegen. Es ist meine ID, auch wenn ich sie gerne Seriennummer nenne. Aber du findest das ja unpassend für ein lebendes, atmendes Wesen.«
»Das ist richtig. Auch wenn dich das SYZTHEM geschaffen hat, so bist du doch ein Mensch. Noch dazu die Kopie einer Heldin aus früheren Zeiten. Dein Vorbild hat sich unglaubliche Fähigkeiten angeeignet und sich mit mutigen Handlungen in die Geschichtsbücher eingeschrieben. Zum Glück hatten wir eine gültige DNA-Sequenz.«
»Ich kenne meine Ur-Oma.« Filona verschränkt ihre Arme, als wolle sie etwas abwehren. »Das waren andere Zeiten. Ich bin trotzdem ich.«
»Ja, und du musstest alles von vorne lernen, wie jedes menschliche Wesen, das als leere Hülle geboren wird und so unendlich viel Zeit verschwendet, doch immer nur das zu lernen, was Generationen zuvor schon erlernt haben.«
»Um dann genau dieselben Fehler zu wiederholen, die Generationen vorher ebenso gemacht haben«, sagt Filona und es klingt zerknirscht. »Aber damit habe ich auch die Chance auf eine andere Persönlichkeit und ich kann meine eigenen Entscheidungen treffen. Ich könnte sogar versuchen, einiges anders zu machen als meine Vorgängerinnen.«
»Gerade dieser freie Wille ist es, der mich manchmal nachdenklich macht.« Gilgamesch zieht seine hohe Stirn in Falten.
»Warum?«
»Weil - wie du weißt - wir uns so manches Mal darüber unterhalten haben, ob er wirklich existiert, oder ob er nichts weiter ist, als das Produkt seiner Umgebung.«
»Der freie Wille? Schau doch. Meine Welt ist perfekt. Sie dümpelt seit Jahrtausenden im Meer der Lava. Sie erhält und repariert sich selbst. Ich lebe gerne hier. Da draußen gibt es keinen Ort, an dem ich lieber sein möchte. Und vergiss nicht, ich habe mich schließlich für Georgie Porgie entschieden.«
»Das ist korrekt«, sagt Gilgamesch und setzt eine nachdenkliche Miene auf. »Wir hatten noch keine Filona, die sich für einen sprechenden Hamster entschieden hat. Du hast seine kleinen Lungen aufgeblasen, seinen Hals mit genetisch modifizierten Stimmbändern versehen und seine Wachstumsrate so verändert, dass er inzwischen aufrecht geht und vierzig Kilo wiegt.«
»Soll das ein Vorwurf sein?«
»Bei Weitem nicht. Ich stelle nur fest.«
»Wo ist er überhaupt?«
Filona scheint nicht überrascht, als ihr Begleiter für eine Sekunde Rücksprache mit dem SYZTHEM hält, das die Kontrolle über alle Sensoren besitzt.
»Er trainiert. Noch ist er im Laufrad unter dem Kolosseum und verrichtet seinen Morgensport.«
»Wie typisch für ihn.« Filona grinst. »Der eitle Geck. Der Speck muss runter.«
»Sicher, sicher«, beschwichtigt sie Gilgamesch. »Aber denk an Lucius.«
Filona kneift die Augen zu Schlitzen. Sie mustert ihr Gegenüber in aller Ruhe, obwohl sie weiß, dass sie aus seinem Gesicht nichts herauslesen kann, was ihr das SYZTHEM nicht zu zeigen beabsichtigt. Sie steht mit ihm am Rand des Wissensareals und ein kurzer Blick durch die Panzerglasscheiben lässt sie erschauern. Nicht weit entfernt liegt die Kuppel von Versorgungsturm 34.
Auch wir erschauern und unser Fokus fliegt für einen winzigen Moment hinüber zu den Resten dessen, was einmal eine silberglänzende Blase aus feinster Thermolitstruktur gewesen ist. Sie liegt verkohlt, in Scherben und ausgebrannt wie ein zerplatztes Ei vor uns. Die Schleusen sind verriegelt, die gewaltigen Zugangstore für immer verschlossen. Dahinter liegt so oder so nichts, was noch brauchbar wäre, außer vielleicht ein paar seltene Erden und Mineralien, die man abbauen könnte. Aber die kann man auch anderswo abbauen. Selbst die Überreste von Lucius würden wir dort nicht mehr finden. Er ist in der Hitze und Strahlung dort draußen längst verdampft. Hat seine Atome in den ewigen Kreislauf des Universums zurückgegeben.
Unseliger Lucius.
Filona hatte selber - natürlich mit Hilfe von Gilgamesch - dafür gesorgt, dass die Tore geschlossen wurden. Dass die Energiezufuhr gekappt und letztlich die Selbstzerstörung von Versorgungsturm 34 eingeleitet wurde. Und Lucius war noch dort.
»Manchmal muss man die Folgen der eigenen Fehler selber beseitigen.«
Gilgamesch spricht aus, was wir nicht auszusprechen wagen. Könnten wir auch gar nicht, denn wir haben ja keinen Mund.
»Ich habe Lucius nicht nur gemocht, ich habe ihn gemacht.« Filonas Stimme ist kaum anzumerken, wie sehr sie noch immer unter dem zeitigen Ableben von Lucius leidet. Doch wir spüren die winzigen Schwankungen in ihrer Stimme, fühlen den minimalen Temperaturanstieg in ihren Lenden, erhaschen das flüchtige Erröten ihrer Wangen.
»Vielleicht habe ich ihn deswegen so gemocht«, sinniert sie weiter. »Ich habe seinen Code aus der Genbank heruntergeladen. Ich habe Proteine und Mineralien gebacken und mit Flüssigkeit gemixt. Ich habe den Kokon der Zelle fixiert und dann den Code injiziert. Und dann habe ich gewartet und zugeschaut, wie sich die Zellen teilen, rasend schnell unter der Sonne des Inkubators. Voilà, am Ende hatte ich Lucius.«
»Einen Mensch-Wolf-Hybriden.« Gilgamesch bringt es auf den Punkt. »Tja, und was ist dann passiert?«
Filona muss schlucken.
»Ich habe ihn erschaffen. Er sollte mein Partner sein.«
»Das war er auch und wird es immer bleiben.«
»Aber war ich nicht auch seine Mutter? Hatte ich das Recht, ihn zu zerstören? Ist es nicht so, dass eine Mutter nur das Recht hat, Leben zu geben, aber nicht zu nehmen. Nur die Götter haben das Recht auf beides.«
»Bist du nicht einzigartig und schon allein deswegen Gott in Eden?«
F
ilona verstummt. Wir spüren, wie es ihr die Kehle zuschnürt. Letztlich können weder wir noch Gilgamesch noch das SYZTHEM ermessen, was Lucius für Filona wirklich bedeutet. Die eine Sache, die wir nie ergründen werden, da wir nur Neigungen erforschen, Emotionen katalogisieren, Definitionen sammeln und Statistiken über Gefühlsreaktionen führen. Was Liebe wirklich ist, was sie bedeutet und wie sie sich anfühlt, das können Worte beschreiben, aber wir nicht mehr erfassen.
»Man weiß erst, was man hatte, wenn man es nicht mehr hat.« Gilgamesch bringt es auf den Punkt. »Und wenn es ein Ende hat, dann ist es gewesen, wird sich nie mehr verändern und bis in alle Ewigkeit exakt so bestehen bleiben. Ist das nicht tröstlich?«
Filona atmet langsam ein und aus, während sie Gilgamesch beobachtet.
»Er ist nicht mehr da, um das zu feiern, oder?«
Eine rhetorische Frage und Gilgamesch weiß zum Glück, wann auch er besser seine neunmalklugen Lippen verschlossen hält.
Filona überlegt eine lange Weile.
»War Lucius wirklich alles, was ihr mir zugestanden habt? Ein Hybride, so weit so gut. Aber nicht mehr? Immer nur ich in Eden, niemand sonst, kein anderer Mensch?«
»Das hat mit Verfassungsergänzung dreitausendachthundertsiebenundneunzig zu tun.«
»Der Lewiston-Akt, ich weiß. Wie oft habe ich den schon verflucht.«
»Der letzte Beschluss unter absolutem Mehrheitsvotum aller Bewohner von Eden. Er ist damit für den Rest der Zeit und aller Zivilisation auf diesem Planeten bindend.«
»Auf der Erde, sprich es doch aus!« Filonas Stimme wird rau und laut. »So viel Geschichte, so viele Schicksale, so viele unglaubliche Errungenschaften. Das Rad, das Atom, Darwin, die Magna Charta, die Aufklärung und Beethovens Sechste? Und du kommst mir mit dem Lewiston-Akt?«
Dazu sagt Gilgamesch nichts. Er dreht sich langsam und elegant zur Seite, vollführt eine einladende Geste und deutet auf einen der Lernplätze.
»Soll ich mich setzen?«, fragt Filona. »Beginnt jetzt die Lektion?«
Gilgamesch schwebt neben den sphärischen Sessel, auf den er gedeutet hat. Der virtuelle Bildschirm ist noch nicht präsent. Er wird sich zeigen, sobald Filona Platz nimmt.
Sie geht über blitzblank polierte Fliesen, die andere Diener des SYZTHEMs in tadellosem Zustand halten. Sauber gewienert, aseptisch gereinigt, keimfrei geputzt.
Sie legt sich in den rundum gepolsterten, weit ausladenden Sessel. Der Bildschirm flammt auf, kaum eine Armlänge vor ihren Augen. Eine Halbkugel aus nichts als einer feinen Schicht illuminierter Bildpunkte. Gilgamesch hat ihr Blickfeld verlassen, seine tiefe Stimme erklingt hinter ihrem Rücken.
»Die letzte Lektion, Filona. Sie hat schon längst begonnen.«
Paradiso 2
F
ilona lehnt sich zurück und betrachtet die bunten Bilder der Statistiken, Datenauszüge, Equalizerkurven und Videosequenzen, die ihr zugespielt werden.
Wie oft haben wir mit ihr geschaut, gefeiert, aber auch gelitten. Das SYZTHEM hält jede Musik, jedes Video und jede Sammlung von Schriften, die jemals geschaffen wurden, ständig abrufbereit.
Wenn sie melancholisch wird, hört Filona John Miles. Music was my first love bringt sie zurück in die Zeit, da sie noch in Stramplern steckte und durch die Gänge stolperte. Selbst da hatte sie schon auf die komponierten Schwingungen reagiert, die die Musik ihres Lebens geworden ist. Ein Kleinkind, kaum dem Status Baby entwachsen, und schon dirigierte sie ein unsichtbares Orchester. Zumindest ahmte sie nach, was ihr Gilgamesch zuvor auf Karajan-Videos gezeigt hatte.
Wenn sie nicht weiter weiß, legt sie die Stones auf: You can't always get what you want. Und wenn sie sich einsam fühlt, Keatings Last thing on my mind. Stundenlang kann sie durch das Teleskop im Observatorium schauen und Sterne und ferne Galaxien betrachten. Dabei hört sie am liebsten Schuberts Ave Maria.
Obwohl es Gilgamesch ungern sieht, aber wir haben es immer mit Genugtuung betrachtet, wenn sie mit Georgie Porgie eine Party feierte. Hätten wir noch ein Gesicht, so wäre unser breites Lächeln nicht zu übersehen gewesen, besonders wenn sie mit ihrem Hamster zu Cindy Laupers Girls just wanna have fun im Vergnügungspark auf der Tanzfläche abgerockt hat. Zum Glück hält sich das SYZTHEM und somit auch Gilgamesch zurück, wenn Filona ab und zu über die Stränge schlägt. Solange sie dabei nichts zerstört oder Regeln verletzt, die für das SYZTHEM bei der Erhaltung von Eden wichtig sind, kann sie tun und lassen, was sie will. Georgie ist der Einzige, der sie ermuntert und anfeuert oder ihr Beifall spendet.