Finish line - Stefan Oberrieder - E-Book

Finish line E-Book

Stefan Oberrieder

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Beschreibung

Timo liebt Citytrack die Sportart, die ihren Ursprung in den illegalen Rennen der amerikanischen Fahrradkuriere hat, ist mittlerweile eine der populärsten Sportarten überhaupt. Wenn Timo nicht gerade über die Profirennen auf Social Media berichtet, sitzt er am liebsten selbst auf dem Rad und bestreitet Amateurrennen in seiner Heimat. Bis ihn ein Sieg bei eben einem solchen Rennen plötzlich in ein richtiges Citytrack-Team bringt. Mit dem Schwarzwald-Bräu-Bike-Team bekommt er die Chance an der US-Citytrack-Tour teil zu nehmen. Diese Rennserie, bestehend aus 5 Rennen im ganzen Land verteilt, ist der wichtigste Wettkampf der Saison. Wovon er als Kind immer geträumt hatte wird mit Mitte Zwanzig noch Realität. Gemeinsam mit dem kleinen Team erlebt er hautnah wie die größten Messenger der Zeit um den begehrten Allen-Clay-Cup kämpfen. Ein Feel-Good Roman der die Leser mit nimmt an die Strecke einer Sportart die im Jahre 2077, Fußball, American Football und all die anderen Momenterscheinungen in den Schatten stellt.

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Inhaltsverzeichnis

Villingen-Schwenningen

Todtnau

Havanna

Todtnau

Detroit

Todtnau

New York

Washington D.C

New Orleans

San Francisco

Las Vegas

Wiki

Villingen-Schwenningen

Erschöpft lag Timo auf dem Pflasterstein vor dem Rathaus von Villingen und kämpfte damit wieder einen ruhigen Puls zu bekommen. Seine Kleidung war von oben bis unten mit Schlamm bespritzt, so dass man die Startnummer kaum noch erkennen konnte. Den schwarzen Cross-Helm mit dem frech grinsenden gelben Smiley auf der Seite hatte er abgezogen und neben seinem Fahrrad auf dem Boden liegen.

Die Amateur-Citytrack-Rennen, vor allem hier in Deutschland, hatten nicht viel mit den großen Wettkämpfen der World-Tour gemein. Sie waren eher eine Art Cross Country Rennen mit einem hohen Anteil der Strecke innerorts. Vor allem durch den fehlenden Traffic waren die Amateurwettbewerbe von denen der Profis zu unterscheiden. Kein Verkehr, überschaubare Zuschauer und eine Hand voll Sponsoren.

»Mann, das war der Hammer! Die Drohnen haben alles drauf!« Ben stand neben ihm und hielte Timo das Tablet unter die Nase auf dem die Aufnahmen vom Rennen aus vier verschiedenen Kamerawinkeln zu sehen waren. »Und dann gewinnst du das Ding auch noch. Hättest du das gedacht?« Ben strahlte über beide Ohren. Timo musste über seinen Kumpel lachen, was direkt in ein nach Luft japsendes Husten überging.

»Nein, aber du könntest mir eine kühle Coke besorgen.« Es war Anfang März und noch nicht so warm, wie es in den letzten Jahren zu dieser Jahreszeit schon gewesen war, dennoch benötigte Timo ein kaltes Getränk mit ordentlich Zucker.

Von der Zielgeraden nähert sich einer der Veranstalter mit einem Tablet in der Hand »Starkes Rennen, Mann!« Er klopfte Timo auf die Schulter. »Es sind mittlerweile alle Messenger im Ziel. Wärst du so in zehn Minuten für die Siegerehrung bereit?« Timo nickte dem Organisator zu und schaute ihm nach, wie dieser zu der kleinen Bühne lief, auf der ein Bot ein Podest aufbaute.

Er raffte sich auf, nahm sein Rad und ging damit zur nahegelegenen Sporthalle, in der sich die Messenger umziehen konnten. Dort stellte er sein Rad ab, zog sein Rennshirt aus, um eine dicke Jacke drüber ziehen zu können, und nahm die Bommelmütze mit, auf dem das gleiche Smiley wie auf seinem Helm zu erkennen war. Jörg Rammel und Vik Baum, die den zweiten und dritten Platz belegten, standen am Rand der Bühne und lauschten der Bürgermeisterin, die sich überschwänglich bei den Organisatoren des Rennens bedankte.

»... darum ist es so wichtig, dass wir auch weiterhin solche tollen Sportveranstaltungen in unserer kleinen Stadt möglich machen! Aber nun habe ich genug gesprochen und darf für die Siegerehrung wieder an Markus Schneider übergeben.«

Die etwa 150 Zuschauer auf dem Rathausplatz applaudierten höflich. Schneider dankte der Bürgermeisterin für ihre Rede und wechselte dann seine Stimmlage. »Was für ein Rennen! Das Highlight des diesjährigen Villinger Citytrack Meetings hat gehalten, was es versprach. Wir haben in der Amateur-Klasse ein Rennen vom allerfeinsten gesehen, bei dem wir am Ende durchaus eine kleine Überraschung erleben durften!

Aber kommen wir erst einmal zu unserem dritten Platz, dem Vorjahressieger vom Team Holzmann-Bau aus Offenburg. Einen kräftigen Applaus für Vik Baum!« Vik zog seine Cap zurecht und sprang lässig auf die Bühne, winkte ins Publikum, klatschte mit Markus ab und nahm auf der Stufe für den drittplatzierten Platz.

»Für Vik gibt es vom Fahrradladen Kurz in Neustadt gesponsert einen Gutschein über 500 Euro. Vik, da kannst du noch ein bisschen aus deinem Rad raus holen!« Markus überreichte ihm einen übergroßen Pappschein mit dem Logo des Radladens. »Kommen wir zum zweiten Platz. Von unseren Freunden vom Radsportverein Brugg in der Schweiz, Jörg Rammel!«

Jörg war nicht ganz so euphorisch wie die Ankündigung von Markus. Er hatte sich offensichtlich mehr ausgerechnet in diesem Rennen. Rammel war einer der Konkurrenten, der es am nächsten an die World Tour herangeschafft hatte. Er fuhr ein paar Monate für den Nachwuchskader eines der Profiteams. Auch er schlug mit Markus ein, ging zu Vik, um ihm zu gratulieren, und stellte sich dann auf die Stufe für den zweiten Platz. »Jörg kann schon mal seine Freunde einladen! Für den zweiten Platz gibt es gesponsert von der Schwarzwald-Bräu-Brauerei aus Todtnau 150 Liter Freibier und 500 Euro.« Wieder applaudierte die Menge als Jörg einen übergroßen, symbolischen Check und eine Flasche Bier überreicht bekam. »So, jetzt müsst ihr nochmal richtig ausrasten, denn unser Gewinner heute ist eine kleine Überraschung. Er hat hier in Schwenningen Medienkonzeption studiert und arbeitet mittlerweile als Journalist in Freiburg. Als Messenger ist er ohne Team angetreten und erstmals auf dem Podest bei einem Citytrack-Rennen. Der Sieger des Villingen Citytrack Meetings 2077: Timo Unterfeld.«

Timo sprang auf die Bühne, riss die Arme nach oben und jubelte in die Menge. Zwei seiner vier Drohnen schwirrten um ihn herum und machten Aufnahmen von dem ganzen Szenario. Markus nahm ihn in den Arm und klopfte ihm herzlich auf den Rücken. Timo gratulierte dem Zweiten und Dritten, dann stellte er sich zwischen seine beiden Kontrahenten auf die oberste Stufe und wartete auf seinen Preis.

»Von der Sparkasse Villingen-Schwenningen gibt es für dich eine Prämie von 1200 Euro! Vielen Dank nochmal an alle Sponsoren, ohne die dieses Event nicht möglich gewesen wäre.«

Während im Hintergrund der ewige Siegerehrungsklassiker »We are the Champions« von Queen lief, standen die drei Bestplatzierten auf dem Podest und wussten nicht so recht, was sie machen sollten. Nach etwa zwei Minuten sprang Vik von der Stufe und meinte: »Mir ist kalt, ich brauche jetzt eine warme Dusche.«

Die anderen gaben ihm recht und folgten ihm in Richtung Sporthalle. Timo gab seinen Drohnen den Befehl, Feierabend zu machen und beobachtete wie die beiden zurück zu seinem Drohnenrucksack flogen, der neben Ben auf dem Boden stand.

Eine Woche zuvor:

»Johann, guten Morgen. Wie liefen die Gespräche gestern Abend?«

Verena Marghäuser saß an ihrem Schreibtisch und blickte auf das Hologramm ihres Bruders. Die Technologie ermöglichte es, dass eine Miniaturausgabe von ihm in Jogginghose und T-shirt vor ihr auf dem Tisch stand.

»Guten Mittag, Schwesterchen. Was ist denn los? Du bist so aufgeregt.«

»Gleich, gleich, erzähl erstmal, was die Amerikaner gesagt haben!«

»Das Gespräch war spitze. Mr. Smith nimmt Schwarzwald-Bräu mit auf die Karte. Man wird unser Bier als exklusives Premiumbier in neun Hotels in den USA ausschenken. 27 Tausend Liter im Monat.« Johann rieb sich die Hände und strahlte zuversichtlicht.

Verna richtete sich im Stuhl auf. »Wow! Das ist ja der Hammer! Und beim Preis?«

»Ich musste ihnen nochmal ein bisschen entgegenkommen, aber wir sind jetzt bei 3,02 Euro. Mit einer Abstufung sobald der Bedarf über 30 Tausend Liter geht auf 2,98 €.«

Verena rechnete durch, was ihnen dann abzüglich der Produktion und dem Transport übrig blieb. »Ja, ok, das ist nicht der Wahnsinn aber nicht ganz so schlecht für einen komplett neuen Markteintritt.«

Ihr Bruder nickte. »Jetzt aber raus damit Schwesterchen, was treibt dich zu solch einer sichtbaren Euphorie?«

»Wir haben heute Morgen eine Mail von der Citytrack Crew bekommen.«

Johann trat einen Schritt näher an den Holoscanner. Dadurch wurde die untere Hälfte seines Körpers abgeschnitten, aber sein Gesicht war besser zu erkennen. Er war sichtlich gespannt.

Verena hielt es kaum noch auf ihrem Stuhl »Wir haben eine Wettbewerbslizenz für den Allen Clay Cup erhalten!«

»Was? Ist das dein Ernst?« Johanns Augen wurden groß und er fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht.

»Ja, wir sind eines von zwei Teams, die dieses Jahr zusätzlich zu den World Tour Teams am Allen Clay Cup teilnehmen dürfen!«

»Wow, das ist ja der Hammer!« Johann sprang aufgeregt im Hotelzimmer herum. Der Holoscanner hatte Mühe ihn vernünftig aufzunehmen. Verena stemmte ihre Ellenbogen auf den Tisch und die Mundwinkel gingen ein wenig nach unten.

»Ja, ich kann es auch kaum glauben. Aber…«

»Oh oh« Johann verstummte nach Verenas »Aber« und blickte sie konzentriert an.

»Wir müssen innerhalb von drei Monaten unsere Messenger bekannt geben. Wir haben also ein wenig Arbeit vor uns.«

»Aber du hast bestimmt schon einen Plan?«

»Ja, nächste Woche findet das City Track Meeting in Villingen-Schwenningen statt. Du erinnerst dich, wir sind dort einer der Hauptsponsoren in diesem Jahr. Ich habe Hoffnung, dort zumindest einen talentierten Messenger zu finden. Ansonsten müssen wir vor allem auf die gehen, die bei anderen durch das Raster fallen. Ich habe gestern Abend damit begonnen, die Listen der Nachwuchskader der Top Teams der letzten Jahre zu durchforsten und zu schauen, wo die Talente von damals gelandet sind. Vielleicht gibt es dort den ein oder anderen den wir uns schnappen können, weil er in Vergessenheit geraten ist.«

Johann setzte sich auf etwas, das Verena nicht sehen konnte, da es von der Technologie herausgerechnet wurde. Er blickte besorgt auf seine Schwester »Bist du dir sicher, dass wir das gestemmt bekommen? Ich meine die Brauerei, die Expansion und jetzt noch Citytrack? Haben wir uns mit dem Ganzen nicht vielleicht etwas überhoben?«

Verena zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es auch nicht so genau, aber wir haben eine spitzen Belegschaft und ich werde den Glauben nicht verlieren. Du kümmerst dich weiterhin um die Expansion und den Vertrieb. Ich schaue, dass der Laden hier am Laufen bleibt, und baue das Citytrack Team auf. Irgendwie bekommen wir das schon hin! Wir müssen!«

Johann klatschte in seine Hände. »Du hast recht, ich habe heute Abend nochmal ein Dinner mit einem Brauereibesitzer hier aus der Nähe von New York. Wir wollten einmal lose über Kooperationsmöglichkeiten sprechen. Aber morgen früh nehme ich gleich den ersten Hyper-Jet nach Frankfurt. Ich sollte so gegen Nachmittag wieder in Todtnau sein.«

»Das ist gut, ich freue mich auf dich.« Sie winkte ihrem Bruder zu, ehe sein Hologramm schwächer wurde und verschwand. Verena stand vom Schreibtisch auf und ging hinüber zur gemütlichen Sitzecke ihres Büros. Dort ließ sich auf den alten, dicken Ledersessel ihres Vaters fallen und blickte auf das Familienfoto, das neben ihr an der Wand hing. Im Moment konnte sie keinen klaren Gedanken fassen, in ihrem Kopf herrschte ein durcheinander aus Freude und Sorge. Auf der einen Seite war sie euphorisch wegen der Lizenz, auf der anderen Seite hatte sie Respekt vor dem, was die nächsten Monate auf sie zukommen würde. Ihr Bruder hatte recht, sie mussten aufpassen, dass sie sich mit den ganzen Projekten nicht übernehmen.

Vor zwei Jahren war ihr Vater, Alphons Marghäuser, der Bierbaron aus dem Schwarzwald, gestorben. Der Brauerei ging es nicht gut und Verena und ihr Bruder mussten etwas unternehmen. Sie krempelten das Marketing um und begannen mit der Expansion. In nur einem Jahr schafften sie es, die Firma wieder auf die richtige Spur zu bekommen. Dadurch, dass sie ein Vertriebsnetz im ganzen deutschsprachigen Raum aufgebaut hatten und sogar schon kleine Vertriebspartner in London, Marseille, Kopenhagen und Stockholm belieferten, stieg die Produktionsmenge auf mehr als das doppelte. Sie bauten eine neue Abfüllanlage in einer neuen Halle und stellten Mitarbeiter und Bots zur Produktion ein. Irgendwann, Ende des letzten Jahres, hatten sie dann den Mut, den Wunsch ihres Vaters anzugehen.

Sie sie sich erinnern konnten, war Citytrack ein Ding in der Familie. Regelmäßig saßen sie beisammen und schauten die Rennen. Alphons Marghäuser träumte davon, ein eigenes World Tour Team zu unterhalten. Doch die Möglichkeiten der Brauerei ließen es damals nicht zu

, bis zum Ende des letzten Jahres.

Das Geschäft war stabil wachsend und sie hatten einen guten Anteil der neuen Anlage finanziert. Also setzten sich die Geschwister zusammen und bewarben sich spaßeshalber um eine Wettbewerbslizenz für den Allen Clay Cup. Mit solch einer Lizenz gehörte man noch nicht zu den World Tour Teams, man konnte jedoch an dem größten und wichtigsten Meeting in der World Tour, dem Allen Clay Cup teilnehmen.

Dieser Wettbewerb, ausgetragen bei fünf Rennen in den USA, war das Wimbledon des Citytracks. Dass ihre Bewerbung von Erfolg gekrönt sein sollte, hatte Verena nicht erwartet. Deshalb hatte sie auch noch keine größeren Anstrengungen in den Aufbau eines Teams investiert. Nun hatten sie aber die Zusage. Das hieß, sie mussten sich ranhalten, um rechtzeitig ein Team zu melden. So eine Chance würden sie nie wieder bekommen. Verena blickte aus dem Fenster auf die schneebedeckten Tannenspitzen und schüttelte den Kopf.

Villingen-Schwenningen

Timo kam frisch geduscht sowie dick eingepackt in Jacke und Trainingsanzug aus der Turnhalle. Im Rucksack hatte er die durchnässte, schmutzige Rennkleidung und den Helm. Sein Rad schob er neben sich her. Er wollte gerade aufsteigen und zur Hyperloop Station radeln, als eine Frau in Multifunktionsjacke und Mütze auf ihn zu kam. Sie zog ihren Handschuh aus und streckte Timo die Faust entgegen.

»Hallo Timo, mein Name ist Verena Marghäuser, von der Schwarzwald-Bräu-Brauerei. Hättest du Zeit, mit mir einen Kaffee trinken zu gehen? Ich würde mich gerne mit dir unterhalten.«

Timo warf einen kurzen Blick auf seine Smartwatch. Die Hyperloop nach Freiburg würde er verpassen, aber er könnte die Nächste in einer halben Stunde nehmen. Außerdem hatte er heute keine großen Pläne mehr. Er gab ihr eine Fist pump. »Klar, warum nicht.«

»Da vorne, im Schneiders, soll es guten Kaffee geben. Auf jeden Fall haben sie exzellentes Bier.« Sie grinste schelmisch und blickte Timo dabei direkt in die Augen.

Sie gingen auf das Café zu, was offensichtlich eine Vertragsgaststätte der Brauerei war, zu erkennen an der Leuchtreklame mit dem Schwarzwald Bräu Schriftzug davor. Timo stellte sein Rad unter dem Vordach ab und aktivierte das Sicherheitssystem des Rades per Fingerabdruck. Sie gaben ihre Jacken ab und nahmen an einem der Tische am Fenster Platz, so dass Timo sein Rad draußen immer im Blick hatte. Die meisten Gäste waren zuvor beim Rennen gewesen. Sie begannen zu tuscheln, als sie Timo erkannten.

Auch die Kellnerin gratulierte ihm freundlich zum Sieg, als sie das Tablet brachte, über das man die Getränke bestellte.

»Alles noch etwas altmodisch hier, aber ich mag das«, sagte Verena Marghäuser mit Blick auf das Gerät. Unter der Jacke trug sie eine schicke, weiße Business-Bluse; unter der Mütze einen Pferdeschwanz. Timo kam sich etwas schäbig vor, wie er ihr im Jogginganzug und der Bommelmütze mit dem Smiley gegenübersaß.

»Starkes Rennen! Ich hatte ehrlich gesagt nicht mit dir gerechnet, aber das war beeindruckend!«

Timo musste grinsen. »Vielen Dank. Ich hatte auch nicht damit gerechnet, dass es so gut läuft. Aber irgendwie hat’s heute gepasst.«

»Fährst du öfter Rennen?«

»Eher selten. Ich sitze viel auf dem Rennrad, fahre ab und an ein Amateurrennen. Zuhause habe ich einen Citytrack Simulator gebaut, den ich vor allem im Winter benutze.«

»Einen eigenen Simulator?« Verenas Augen wurden groß. Sie hatte das Tablet zur Seite gelegt und nickte Timo anerkennend zu.

»Ja, war ein Projekt von mir und einem Kumpel. Das Ding ist nicht so gut wie die professionellen Simulatoren. Aber ich habe eine ganz gute Holo-Brille von der Arbeit aus, damit lassen sich Rennen in guter Qualität simulieren.«

»Du arbeitest als Journalist, nicht war?«

»Genau, ich mache das Sportressort bei der Badischen Zeitung. Bin durch meine Citytrack Vlogs irgendwie da reingerutscht. Erst als Kolumnist und dann irgendwann mit einer Festanstellung.« Timo bemerkte, dass er noch immer nicht wusste, was die Brauereibesitzerin von ihm wollte.

»Ach jetzt wird für mich ein Schuh daraus. Klar, du bist Trakx! Ich kenne deinen Kanal, habe schon einige Berichte von dir gesehen, gerade über die lokalen Rennen.«

Er nickte und zog sich dabei die Mütze von den nassen Haaren. Neben seiner Haupttätigkeit betreute er einen Vlog, in dem er vor allem vor und nach den Rennen Analysen zu den Messengern abgab und ihre Leistung bewertete. Da seine Videos auf deutsch waren, hatte er nur eine kleine Followerschaft. Die Sportart hatte in Deutschland eine überschaubare Fanbase. Das lag vielleicht auch daran, dass es keinen Deutschen Messenger in der World Tour gab.

»Du bist früher aber Citytrack gefahren?«

»Ja, in der Jugend hatte ich mal ernsthaft das Ziel verfolgt, Profi zu werden. Ich hatte es in ein halbprofessionelles Jugendteam geschafft. Dann haben mich andere Dinge mehr interessiert und ich habe es aufgegeben. Es war absehbar, dass es mit der Profikarriere nichts wird. Mittlerweile bin ich fitter als zur damaligen Zeit, glaube ich.« Er lachte, wuschelte sich dabei durch sein Haar und versuchte, zu erahnen, warum Verena mit ihm hier saß »Darum hatte ich mir vorgenommen, es mal bei ein paar lokalen Citytrack-Rennen zu probieren. Dass es gleich beim Ersten so läuft, hätte ich nicht gedacht.«

Die Kellnerin hatte den Kaffee gebracht und Timo nahm einen Schluck. Dann stellte er endlich die Frage »Aber warum wollen Sie das alles wissen?«

Nun lächelte Verena Marghäuser. Sie ließ sich Zeit mit ihrer Antwort und nahm ebenfalls erst einmal einen Schluck von ihrem Kaffee. Dann stellte sie die Tasse wieder ab und blickte ihn durchdringend an. »Timo, das, was ich dir jetzt erzähle, muss erstmal unter uns bleiben, in Ordnung?« Es fehlte nur, dass sie sich nach Verfolgern umschaute.

Er zog die Augenbrauen nach oben und kratzte sich mit der Hand die Bartstoppeln an seinem Kinn. Die ganze Sache wurde im langsam etwas dubios.

»Du kennst die Schwarzwald-Bräu-Brauerei. Wir unterstützen diesen Sport auf lokaler Ebene schon seit vielen Jahren. Unser Vater war ein riesiger Fan des Citytracks und auch mein Bruder und ich lieben diesen Sport. Ein großer Traum meines Vater war es, ein eigenes World Tour Team zu besitzen. Leider hat das zu seiner Zeit nicht funktioniert. In den letzten Jahren ging es unserer Brauerei erheblich besser und wir konnten ein kleines Polster aufbauen. Wir haben beschlossen, dieses Vorhaben erneut anzugehen.« Sie nahm einen Schluck von ihrem Kaffee und blickte sich um, als wolle sie sicher gehen, dass niemand ihr Gespräch mitverfolgen konnte. Bevor sie weitersprach, senkte sie die Stimme und beugte sich etwas zu ihm vor.

»Wir haben uns für eine Wettbewerbslizenz für den diesjährigen Allen Clay Cup beworben. Vor einer Woche haben wir die Bestätigung der CtC erhalten. Es wird also in diesem Jahr ein Schwarzwald-Bräu-Team am Allen Clay Cup teilnehmen.«

Timos Mund ging weit auf. Schnell fasste er sich wieder und schloss ihn wieder. Ein Deutsches Citytrack Team, und dann aus seiner Region? Das war der absolute Hammer! Am liebsten würde er sofort nach Hause um ein Video über diese sensationellen News zu drehen.

»Na ja, und nun bin ich dabei, ein kleines Team auf die Beine zu stellen«, fuhr Verena fort. »Ich hätte dich gerne als Messenger für das Team. Du bekommst die Chance, gegen die Rennen zu fahren, von denen du immer berichtest.«

Tim war sich nicht sicher, ob das hier ein schlechter Prank einer dieser Influencer war, die regelmäßig Leute auf Social Media Plattformen verarschten. Er blickte sich um. Er konnte nirgends eine Drohne oder eine Kamera sehen.

»Du verarschst mich, oder?«

Sie lächelte ihn leicht verzweifelt an. »Nein, das ist mein Ernst, du hast heute die Konkurrenz in Grund und Boden gefahren und die Jungs und Mädels, die da zum Teil dabei waren, sind gut. Wenn du deinen Fokus bis zum Wettbewerb auf das Training legst, glaube ich, dass du eine Chance hast.«

Timo konnte nicht fassen, was Verena ihm erzählte.

»Wir haben nicht das Budget, um die großen Superstars zu verpflichten. Daher war es meine Idee, talentierten, lokalen Messengern die Chance zu geben, sich auf der großen Bühne zu zeigen. Wir hatten über Pay Driver diskutiert, sind aber zu dem Entschluss gekommen, wir wollen nur Messenger aus der Region Süd-West Deutschland.« Erwartungsvoll schaute sie ihn an, als würde sie eine Reaktion von ihm erwarten.

»Ich kann es nicht ganz fassen…«

»Was hältst du davon? Hättest du Interesse?«

»Die Frage stellt sich nicht. Klar habe ich Interesse! Ich würd alles dafür geben, mich einmal mit den ganz Großen dieses Sports zu messen, das ist unglaublich. Ich bin mir nur nicht sicher, ob du mich verarschst.« Er sah, wie ihre Anspannung nach ließ. Noch immer hatte er Bedenken, ob sie nicht gleich laut loslachte und von einem Nachbartisch dieser Skozzzy mit einer Kameradrohne aufsprang, um ihm zu erklären, dass er geprankt wurde.

»Oh Gott, nein Timo, ich will dich sicher nicht verarschen. Ich glaube, dass du die Chance verdient hast. Schlafe nochmal eine Nacht darüber und komme dann morgen zu uns in die Brauerei. Wir fixieren das Ganze in einem Vertrag, damit du die Sicherheit hast, dass ich dich nicht verarsche. Außerdem möchte ich dir zeigen, was ich mir bis jetzt überlegt habe. So wie ich dich verstanden habe, kennst du dich bestens im Citytrack-Zirkus aus. Ich habe die Hoffnung, du könntest mir Helfen dem Projekt noch mehr Antrieb zu verleihen.«

»Ich glaube, die Nacht darüber schlafen, kann ich gut gebrauchen.« Timo bedankte sich für den Kaffee, zog die Jacke über und die Kapuze tief ins Gesicht, ehe er in wilden Gedanken verloren das Café verließ.

Todtnau

Da es von Freiburg nach Todtnau keine Hyperloop-Verbindung gab, nahm Timo am nächsten Morgen ein Flugtaxi, um zur Brauerei zu gelangen. Das autonome Fortbewegungsmittel flog am Münster vorbei über Kirchzarten in den Schwarzwald hinein. Timo blickte aus dem Fenster auf die Stadt, in der er sonst mit dem Fahrrad durch die Straßen fuhr. Er war sich nicht sicher, warum er tatsächlich Verena und die Brauerei aufsuchte. Noch immer ging er davon aus, dass er in Todtnau aus dem Taxi steigen und von ihr ausgelacht werden würde. Er hatte die ganze Nacht nicht geschlafen und nur darüber nachgedacht, was sie ihm erzählt hatte. Er hatte sogar vergessen, dass er das Rennen gewonnen hatte, und war am Morgen verwirrt gewesen, als einige Kollegen ihn anriefen und ihm zum Sieg gratulierten.

In Todtnau hatte es über Nacht kräftig geregnet, so dass die Tannen tief und schwer hingen, während das Wasser von den Ästen tropfte. Das Taxi landete und ließ ihn auf dem Innenhof der Brauerei raus. Zu einer Seite war die Abfüllung und Produktion in hohen Backsteinhallen untergebracht, die mehr als hundert Jahre alt waren. Die offene Lagerhalle gegenüber, in der Flaschen und Fässer gelagert wurden, war aus der gleichen Zeit wie die Produktionshallen. Nur das Hauptgebäude, in dem auch die Verwaltung saß, schien wesentlich jünger. Timo schätze, dass es innerhalb der letzten zehn Jahre gebaut wurde.

Aus der Produktionshalle kam ein mit mehreren Fässern beladener Lasten-Bot und sauste über den Hof Richtung Lagerhalle ohne ihn zu beachten. Timo betrat das Verwaltungsgebäude und wurde von einem freundlichen, älteren Herrn am Empfang begrüßt.

»Guten Tag, wie kann ich Ihnen helfen?«

Timo war überrascht. Mittlerweile hatte jedes halbwegs vernünftige Unternehmen einen Empfangs-Bot.

»Timo Unterfeld, ich bin mit Frau Marghäuser verabredet.«

»Ach natürlich, Herr Unterfeld, schön dass Sie da sind. Nehmen Sie doch da drüben Platz. Frau Marghäuser wird gleich da sein. Wollen Sie ein Bier?« Der freundliche Herr bemerkte den irritierten Blick von Timo. Er zeigte auf den Tresen, wo von jedem Schwarzwald Bräu Bier eine Flasche zur Dekoration stand. »Wir haben auch alkoholfreies Pils oder Radler.«

Am Vormittag trank er selten ein Bier, ob mit oder ohne Alkohol. Aber er war in einer Brauerei und daher war er sich nicht sicher, ob sie überhaupt etwas anderes da hatten.

»Ach, warum nicht, ich würde ein alkoholfreies Radler nehmen.« Der Mann nickte ihm zu. Timo nahm in der gemütlich wirkenden Sitzecke auf einem roten Sofa Platz und bestaunte die großen Panoramabilder des Schwarzwaldes, die überall in der Lobby hingen. Die Brauerei war sehr tief in der Region verwurzelt, das zeigte sie in der Werbung und auch im Eingangsbereich. Die Möbel waren aus dunklem Holz. Als Farbe wurde nur mit dem tiefen Grün der Tannen gearbeitet, und Timo glaubte, den Geruch von Fichtenharz in der Luft wahrzunehmen. Dennoch fühlte er sich hier willkommen, was auch an dem großen Kamin lag, in dem ein wärmendes Feuer loderte.

Bald kam ein Service Bot um die Ecke gerollt. Die kleinen, nützlichen Helfer erinnerten Timo ein bisschen an Dackel aus Metall mit Rädern. Die Klappe auf der Oberseite öffnete sich, als der Bot vor den Sofas zum stehen kam. Ein Greifarm reichte ihm eine Flasche des bestellten Radlers.

Timo nahm sie und bedankte sich. Auch wenn das den Service Bot nicht interessierte, hatte er das Gefühl, sich bedanken zu müssen.

Er hatte gerade zwei Züge getrunken, als Verena Marghäuser über die große Treppe herunter geeilt kam. »Timo, schön dich zu sehen. Ich hatte nach dem Aufstehen ein wenig Angst, dass du nicht kommen würdest.«

Timo stand auf und gab ihr eine Fist pump. »Diese Chance kann ich mir nicht entgehen lassen. Ich hatte eher Angst, ich steige hier aus und merke, dass alles nur ein Traum war.«

Sie lächelte ihn an. »Ich verstehe dich, aber ich kann dich beruhigen. Es ist alles wahr. Komm mit, ich zeige dir erstmal das Gelände. Wir kommen dann an der Scheune vorbei. Dort bauen wir das Teamquartier auf.«

Sie gingen etwa 20 Minuten durch die Brauerei. Verena zeigte ihm die großen Kessel, in denen das Bier gebraut wurde, die Silos zur Lagerung und die Abfüllanlage. Sie erklärte Timo, wie die sieben modernen Transportgleiter von Schwarzwald Bräu das Bier in Deutschland, der Schweiz und Österreich verteilten und wo die Besucher der Brauereiführung im Anschluss eine Kostprobe der Produkte erhielten.

Zum Abschluss des Rundgangs kamen sie an eine kleinere Backsteinhalle, die etwas abseits der Hauptgebäude lag.

»Das ist unsere alte Fässerhalle. Dort lagerte bis vor fünf Jahren ein Teil der Bierfässer, die wir an Gaststätten ausliefern. Aber der Platz wurde zu klein und die Logistik war nicht optimal. Wir haben es eine Zeit lang als Scheune verwendet, jetzt ist es das neue Zuhause des Schwarzwald-Bräu-Bike-Teams.«

Stolz zeigte sie mit beiden Armen auf das Logo über dem großen Holztor. Darauf war ein grinsender Totenschädel zu sehen, der einen Schwarzwälder Bollenhut trug und darunter zwei gekreuzte Bierflaschen hatte. Timo betrachtete das Logo eine Weile und ließ es auf sich wirken. »Irgendwie ziemlich cool!«

»Den ganzen Auftritt hat Lilly gemacht. Sie ist aus unserem Marketing- und Social-Media-Team. Du musst den Gleiter sehen! Komm!« Verena öffnete die Tür, die in das Tor eingelassen war, und trat einen Schritt zurück, damit sie Timo den Vortritt ließ. Jetzt wusste er, welchen Gleiter sie meinte. Von innen wirkte die Halle größer als von außen. Die Innenwände waren unverkleidet, man sah den nackten Backstein. An der Decke hingen LED Strahler, welche die ganze Halle ausleuchteten und von allen Seiten dröhnte Rock aus dem 20. Jahrhundert.

Timos Blick blieb auf dem Transportgleiter hängen, der in der Mitte der Halle stand. Es war ein Modell der früheren Generation, die eine gewisse Ähnlichkeit mit einem auf der Straße fahrenden LKW hatte, nur etwas voluminöser.

Der Gleiter war in einem schwarzen Grundton lackiert. Begeistert ging Timo am Transporter entlang und schaute ihn sich von der Seite an. Dort war eine gelb-rot-gelb gestreifte Bordüre angebracht die von oben rechts bis unten links über die komplette Seite ging und hinten auf der Tür wieder nach oben. In der Mitte war in Übergröße das gleiche Logo wie über dem Eingang. Links daneben stand Schwarzwald Bräu und rechts davon Bike Team. Timo pfiff anerkennend zwischen den Vorderzähnen hindurch.

»Also beim Auftritt spielen wir definitiv auf World Tour Niveau mit!«

»Du sprichst schon von wir, das ist gut!«, stellte Verena freudig fest, während sie ihr Grinsen hinter ihrer Hand zu verstecken versuchte. »Der Transporter ist noch nicht fertig, aber das wird bis in ein paar Monaten.« Verena schaute sich suchend in der Halle um.

»Jetzt stell ich dir aber den wichtigsten Mann im Team vor. Wo ist er denn? Christoph!«

Den Namen rief sie so laut, dass sie die Rockmusik übertönte, die daraufhin verstummte. Ein rothaariger Wuschelkopf schaute hinter der Heckklappe des Transportgleiters hervor. Verena und Timo gingen um den Gleiter herum.

»Da ist er ja, unser Lackierer, Innenausstatter, Zeugwart, Zweiradmechaniker, Koch und Transportgleiterkapitän, Christoph. Ich darf dir vorstellen, unser Ein-Mann-Service-Team.« Sie zeigte auf den zwei Meter-Bären, der in schwarzer Latzhose und T-Shirt vor ihnen stand. Zwischen dem wilden Vollbart und den herzlichen grünen Augen hatte er etwas Schmieröl auf der Wange.

Bevor er Timo eine Fist pump gab, versuchte er die letzten Ölreste von seinen Händen zu entfernen. »Und das ist dann wohl unser erster Messenger. Verena hat schon von dir erzählt. Freut mich, dich kennen zu lernen, Timo. «

Er zeigte mit dem Daumen über seine Schulter in das Innere des Gleiters. »Bin gerade dabei, eine verstellbare Arbeitsplatte in der Werkstatt anzubringen. So kann man sie sowohl zum Kochen, als auch zum Reparieren der Räder nutzen.

Die hintere Hälfte wird der Service-Bereich, in dem die Räder, Material und eure Ausrüstung gelagert werden.

Der vordere Teil des Transporters wird zu einem Aufenthaltsbereich umgebaut mit Schlafplätzen für fünf Personen. Es soll dort alles ein bisschen gemütlicher werden. Ihr müsst euch zwischen den Rennen ja gut erholen.« Er stützte sich mit seinen Armen auf der Laderampe des Gleiters auf, um sich auf die Kante hoch zu drücken. »Bin aber noch nicht so weit. Die kleinen Bettkonstruktionen kommen erst nächste Woche. Dafür ist die Trainingshalle schon so gut wie fertig.«

Er zeigte in den hinteren Teil der Halle. Timo pfiff leise zwischen den Zähnen hindurch und nickte anerkennend. Dort standen zwei sichtlich gebrauchte Citytrack-Simulatoren, ausrangierte Produkte des Green Drink Teams. Auch wenn jemand die Logos vom giftgrünen Lack gekratzt hatte, war der Look des niederländischen Top-Teams eindeutig zu sehen.

»Ich habe ein paar Kontakte zu einem unserer Großhändler spielen lassen. Das Green Drink Team war so freundlich und hat uns die Simulatoren bis Anfang Juni ausgeliehen. Damit könnt ihr euch optimal auf den Wettbewerb vorbereiten.«

»Wenn die das mal nicht noch bereuen«, scherzte Christoph. Neben den Simulatoren war mit Hanteln, Gewichten, Laufband und Gummimatten eine Fläche zum Kraft- und Kardiotraining eingerichtet.

Die andere Ecke der Hallenrückseite sah nicht nach Training aus. Dort stand ein Getränkekühlschrank der Brauerei und daneben drei Sofas in U-Form zu einem Screen ausgerichtet.

»Diesen Bereich nenne ich Comfortzone «, erklärte Christoph, als er Timos Blick auf die Sofas und den Kühlschrank bemerkte. »Da könnt ihr nach den Trainingseinheiten chillen.«

Timo spürte Verenas prüfenden Blick, während er mit großen Augen das Team-Quartier begutachtete. »Und? Was hältst du davon?«

Er drehte sich strahlend zu den beiden um. »Es ist keine Green-Academy, aber das ist der Hammer. Hier fühlt man sich gleich wie zuhause. Ich kann es kaum erwarten, los zu legen!«

»Das ist das Stichwort. Lass uns ins Verwaltungsgebäude gehen, dann können wir dort den Vertrag fertig machen. Außerdem brauche ich deine Hilfe!«

Das Büro von Verena Marghäuser lag im obersten Stockwerk. Es war hell eingerichtet mit einem weißen Glas Schreibtisch, der zum Fenster ausgerichtet stand. Der Eichenholzboden passte nicht zum Mobiliar des restlichen Gebäudes. Durch die Ecklage hatte man an zwei Seiten uneingeschränkten Blick auf die Tannen, was einen Kontrast zu ihrem Interieur war.

Verena setzte sich in die Sitzecke mit schwarzen Ledersesseln, welche an der fensterlosen Wand zum Flur standen. Sie nahm ein Tablet von dem kleinen Tisch vor ihr und öffnete darauf die Vertragsdokumente.

»Im Prinzip verpflichtest du dich bis Ende September für uns als Messenger zu arbeiten. Sollte die Schwarzwald Bräu-Bike-Team GmbH während deiner Vertragslaufzeit und ein Jahr danach Gewinn erwirtschaften, hast du Recht auf 7,3% diesen.« Sie blickte nicht vom Tablet auf, sondern tippte etwas zögerlich darauf rum. Erst dann schaute sie ihm in die Augen. »Das ist sicher nicht viel, aber ich hatte bereits erwähnt, dass wir keine großen Sprünge machen können.«

»Ich habe gesagt, dass das für mich in Ordnung ist und ich hier nicht mitmache, weil ich die Hoffnung auf Reichtum habe.« Er ging zu ihr hinüber und setzte sich aufrecht auf den anderen Sessel. »Ich hätte noch eine kleine Ergänzung: Du weißt, ich bin Influencer. Ich würde gerne die Bildrechte von dem Material, welches ich während meiner Zeit im Team aufnehme, frei verwenden dürfen.«

Verena laß sich die Ergänzungen durch, die die Vertrags-KI auf dem Tablet automatisch in integrierte und gelb gefärbt hatte. »Ja, ich denke, das passt so. Du musst aufpassen, dass du nicht die Lizenzrechte der CtC verletzt, wenn du Aufnahmen während der Rennen machst. Aber dafür bist du selbst verantwortlich. Wir übernehmen keine Haftung.«

Ein weiterer gelb markierter Textblock wurde ergänzt. Timo nickte es ab und die beiden bestätigten per Fingerabdruck die Gültigkeit des Vertrags.

»Herzlichen Glückwunsch. Damit bist du der erste offizielle Messenger des Schwarzwald-Bräu-Bike-Teams!«

Sie legte das Tablet zur Seite und ging an den riesigen Screen, der an der Wand hing und sich automatisch einschaltete, als sie näher trat. Verena öffnete per Fingerwischen eine Datei und es erschien eine lange Liste mit Namen.

»Jetzt brauche ich deine Hilfe. Wir benötigen zwei weitere Messenger. Ich habe eine Liste herausgefiltert von Kandidaten, die hier aus der Umgebung kommen und Potential haben.«

Timo trat neben sie und überflog die Namen. Die meisten sagten ihm etwas. Diejenigen, die er nicht kannte, konnte er anklicken und es öffnete sich ein Profil mit den wichtigsten Daten.

»Ich arbeite mit Farben und Skalen. Die graumarkierten sind quasi raus, die gelben finde ich interessant«, erklärte Verena ohne den Blick vom Screen abzuwenden.

»Darf ich?« Er trat vor den Bildschirm.

»Oh ja, ich bitte darum! Ich bin froh, wenn mir ein Experte hilft.«

Timo ging durch die Liste und strich sieben Namen direkt raus, die noch nicht markiert waren. »Ehrlich gesagt ist niemand dabei, dem ich die Rolle wirklich zutraue. Ich glaube, wir müssen kreativer denken.«

Verena grinste und öffnete eine weitere Liste. »Das ist meine kreative Liste.«

Die meisten Namen sagten Timo nichts. Ein oder zwei kannte er vom Straßenradfahren. Er öffnete eine Athletin, von der er noch nie gehört hatte. Die Offenburgerin war amtierende Deutsche Vizemeisterin im 100-Meter-Sprint.

»Das ist weit gedacht, spannend. Aber ich habe einen Kandidaten für dich, der in keiner deiner Listen auftaucht.«

Timo schob die Tabelle zur Seite und öffnete die Website einer Schreinerei in Katzenmoos bei Waldkirch.

»Marcel Framer. Er ist ein guter Freund von mir. Wir sind früher zusammen im Südbadischen-Junioren-Kader gefahren. Mittlerweile hat er den Betrieb seines Vaters übernommen und baut hochwertige Möbel, aber wenn er nicht in der Werkstatt steht, dann heizt er mit dem Mountainbike durch den Schwarzwald. Ich kenne niemanden, der unerschrockener und sicherer auf einem Rad sitzt wie er.«

Verena schaute sich das Bild des jungen Mannes genau an und blickte dann zu Timo, als würde sie die beiden vergleichen. »Wie alt ist er?«

»Wir sind ein Jahrgang, er ist 27.«

»Und du traust ihm das zu?«

Timo nickte. »Ja, ich glaube, es gibt wenige Sportler, die auf diesem Niveau eine Sportart betreiben, aber keine Wettbewerbe bestreiten.« Während Verna stirnrunzelnd da stand, dachte Timo an die Alpenüberquerung mit dem Mountainbike. Auf den schmalen Trails hatte er sich reichlich unwohl gefühlt. Dagegen ist Marcel in vollem Tempo jauchzend über die Steine gesprungen, obwohl es rechts von ihnen gut 100 Meter den Hang hinunter ging.

»Wo ist der Haken.«

»Er macht den Sport aus Spaß am Fahrradfahren. Er ist kein Wettkampftyp. Ich weiß nicht, ob er Lust hätte, an solch einem Wettbewerb teilzunehmen.«

»Dann fragen wir ihn!«

Timos Mine erhellte sich. Wenn es jemanden gab, mit dem er solch ein Abenteuer erleben wollte, dann war es Marcel. Der Typ war kaum aus der Ruhe zu bringen und war mit seiner lässigen, positiven Art der ideale Weggefährte. Seit der Schulzeit waren sie schon regelmäßig gemeinsam unterwegs. Alpenüberquerungen mit dem Rad, Roadtrips mit dem Campinggleiter durch Osteuropa oder Partyurlaub in Barcelona. Jetzt konnte er seinen Freund auf das nächste große Abenteuer mitnehmen.

Timo nickte. »Fehlt uns aber immer noch einer, selbst wenn Marcel zusagt.« Timo wandte sich wieder der Liste zu und blieb an einem Namen hängen, den Verena gelb markiert hatte. Er öffnete die Akte. Das Bild war schon älter, zeigte aber einen Teenager in einem Greendrink-Trikot. Der mit ernsten Gesichtszügen selbstsicher in die Kamera blickte. Das Markante war die kurze Irokesenbürste auf dem sonst kahlen Schädel, die im gleichen giftgrün wie der Schriftzug auf seinem Trikot strahlte.

»Wow, das ist spannend! Ich habe seit zehn Jahren nichts mehr von ihm gehört.«

»Du kennst Martin?«

»Na ja, nicht persönlich.« Timo erinnerte sich daran, wie er als Tennie nachts vor dem Laptop saß und zuschaute, wie zum ersten Mal ein Deutscher beim Allen Clay Cup startete und sensationell gewann. Doch seine Karriere war genau so schnell wieder zu Ende. Seit diesem einen Rennen hatte er nichtsmehr von ihm gehört. Timo tippte auf den Artikel, der in der Akte verlinkt war.

Auf dem Titelbild war ein Mann mit Dreitagebart, Tattoos auf dem Oberarm und Sonnenbrille, der vor einer kleinen Strandbar aus Holz stand. Er hatte die Beine weit auseinander und die Hände in der Hüfte als warte er darauf, dass es gleich zu einem Duell kam. Ein selbstgeschriebenes Schild wies die Bar als »die Green Snake« aus.

Im Artikel wurde von einem Martin gesprochen, der aus Freiburg stammte. Weitere Informationen über seine Identität gab es nicht.

Das Bild ließ nicht erahnen, dass es sich dabei um die gleiche Person, wie die mit dem grünen Iro handeln sollte. Dennoch war Timo sich sicher, dass da Martin Green-Snake-Gaum vor der Bar stand. Anerkennend stellte er fest:

»Green Snake wäre natürlich eine Nummer. Er würde auf jeden Fall für Publicity und Interesse bei Sponsoren sorgen. Aber keiner weiß, ob er noch was drauf hat.«

Verena markierte in dem Artikel eine Passage.

»Das stimmt. Dort steht, dass er seit drei Jahren das Radfahren wieder für sich entdeckt hat und jede Woche mehrere Stunden auf dem Rad verbringt. Das sagt aber nicht wirklich was darüber aus, ob er ernsthaft trainiert oder nur gemütlich über die Insel radelt.«

Sie blickten beide auf das Bild mit dem braungebrannten Mann. Verena unterbrach die nachdenkliche Ruhe.

»Wir haben nichts zu verlieren. Du besuchst deinen Freund Marcel und fragst ihn, ob er sich uns anschließen möchte. Ich fliege nächstes Wochenende nach Kuba und suche unseren Barbesitzer.«

Timo gefiel der Vorschlag. Er stellte sich vor, wie er gemeinsam mit seinem Kumpel Marcel und der Legende Martin Gaum in der Halle trainieren würde.

Für den Abend hatte Timo sich bei Marcel per Nachricht auf ein Bier angekündigt. Sein Freund empfing ihn in dessen Werkstatt, die sich in der Scheune eines mehr als 200 Jahre alten Schwarzwaldhofes befand. Früher wurden hier Kühe und Schweine gehalten.

Timo musste schmunzeln, als er eintrat und Marcel schon zwei Flaschen Schwarzwald Bräu auf der Werkbank bereitgestellt hatte. Er stand vor einem Kleiderschrank und fuhr mit der Hand über die Kante der Tür.

»Na, was hältst du davon?«, fragte er, ohne seinen Blick vom Möbelstück zu nehmen.

»Mein Stil ist es nicht.« Er stellte sich zu Marcel und klopfte ihm auf die Schulter, bevor dieser sich umdrehte und ihn in den Arm nahm.

»Schön dich zu sehen, wir haben es schon lange nicht mehr geschafft.«

Er war etwa so groß wie Timo, jedoch einen ticken drahtiger. Marcel gehörte zu den Menschen, die essen konnten, was sie wollten, ihr Stoffwechsel verhinderte, dass es ansetzte. Wie immer waren seine Haare wild zerzaust und er hatte ein paar Späne darin hängen. Seine Augen lachten den alten Freund jedoch herzlich an.

»Es tut mir leid, ich hatte immer gehofft, ich schaffe es über den Winter zum Rodeln. Ich glaube, dass letzte Mal haben wir uns im September zum Biken getroffen, oder?«

Marcel nickte und ging zur Werkbank, wo er die Bierflaschen öffnete und sich auf die leicht mit Sägespäne bestreute Oberfläche setzte. Timo nahm neben ihm Platz. Sie stießen an und saßen eine Weile schweigend nebeneinander.

»Und, was macht dein Youtube-Kanal? Habe ehrlich gesagt schon länger kein Video mehr von dir angeschaut.«

Timo lachte. »Ach, ist ok, bis ich davon leben kann, dauert es aber noch ein bisschen. Und bei dir? Verkaufen sich die Möbel?« Neben dem Kleiderschrank an dem Martin vorhin gearbeitet hatte, standen ein Tisch und ein halb fertiges Bett. Im hinteren Teil des Raumes waren weitere Möbel mit einer Plane abgedeckt und darauf waren Dosen mit Holzlasur und verschiedenes Werkzeug platziert.

»Ich könnte das Dreifache an Schränken und Esstischen bauen, wenn es nach der Nachfrage geht. Es gibt erstaunlich viele Menschen, die bereit sind, ein Schweinegeld für schöne Möbel auszugeben. Aber irgendwie fehlt mir zurzeit die Motivation.«

»Und jetzt hast du vor, etwas anderes zu machen?«

Marcel zuckte mit den Schultern. »Ich kann mir meine Aufträge nur zu einem gewissen Grad aussuchen.«

»Wie wäre es, für ein halbes Jahr tatsächlich etwas ganz anderes zu machen?«

Marcel runzelte die Stirn, bevor sich ein Grinsen in seinem Gesicht ausbreitete. »Hast du wieder eine deiner blöden Geschäftsideen und suchst einen Partner?«, fragte er, wofür er eine Faust auf die Schulter kassierte.

»Nein, aber es hat sich eine einzigartige Gelegenheit ergeben. Du bist finanziell unabhängig, du könntest deinen Laden bestimmt auch mal für ne Weile schließen, oder nicht?«

»So einfach ist das nicht. Ich müsste einiges organisieren, aber erzähl erstmal von deiner Idee, mach es nicht so spannend.« Timo wackelte grinsend mit seinen Augenbrauen und genoss es, seinen Kumpel ein wenig auf die Folter zu spannen.

»Diesmal kommt die Idee nicht von mir, sondern von Verena Marghäuser.«

Marcel blickte ihn schief an. »Marghäuser? Der Name sagt mir was.« Timo drehte die Flasche in Marcels Hand so, dass beide auf das Rücketikett blickten. Dort stand »Ein Bier, stark und frisch wie der Schwarzwald selbst.« Darunter stand der Verfasser dieses Spruches Alphons Marghäuser. »Bringen wir ein neues Bier raus?« Timo lachte und er erzählte ihm von dem Rennen, seinem Sieg, dem Besuch in der Brauerei und dem Citytrack-Team.

Marcel pfiff anerkennend. Selbst der Möchtegern Eremit Marcel kannte den Allen-Clay Cup »Die Brauerei hat mich gefragt, ob ich nicht als Messenger für das Team fahren wolle.« Timo konnte seine Freude für diese Idee nicht verbergen.

»Du? Ich weiß, du bist ein überragender Biker, aber ist die World Tour nicht eine Nummer zu groß?« Marcels hochgezogene Augenbrauen zeigten, dass er sich um seinen Freund sorgte.

»Wahrscheinlich schon, doch wenn man mir die Chance gibt, dann kann ich nicht nein sagen.«

»Da hast du recht! Und was hat das jetzt mit mir zu tun? Als dein Pressesprecher tauge ich nicht.« Timo schüttelte schmunzelnd den Kopf und spielte am Bügel der Bierflasche herum.

»Nein, das bestimmt nicht! Im Moment ist nur eine Messengerposition besetzt und ich kenne niemanden, der so sicher im Rad sitzt, wie du und gleichzeitig so halsbrecherisch eine Piste runterfährt.« Erwartungsvoll schaute Timo seinen Freund an. Verstand er noch immer nicht? »Ich dachte, du könntest mit mir auf Punktejagd gehen.«

Marcel rutschte von der Werkbank herunter so, dass er seinem Kumpel gegenüber treten konnte. »Dein Ernst?« Timo fühlte sich, als würde er auf seinen Geisteszustand geprüft werden. »Ja, wir werden damit nicht reich, aber es wäre ja nur für ein halbes Jahr und das wäre auf jeden Fall ein Abenteuer.«

Marcel wandte sich von Timo ab und ließ seinen Blick durch die Werkstatt schweifen, als versuchte er zu ermitteln, ob er mit den Möbeln bis dahin fertig werden würde. Das zumindest war Timos Hoffnung.

»Unglaublich, das trifft es ziemlich gut.« Timo beobachtet Marcel weiterhin und wartete gespannt auf eine Antwort. Als nach einer Pause noch immer keine kam, räusperte er sich, um seinen Freund aus den Gedanken zu reißen. Dieser schaute mit gerunzelter Stirn auf. »Ich weiß nicht. Ich meine, der ganze Trubel ... Mal abgesehen davon, dass wir da nur hinterherfahren werden.«

»Ach was, da wäre ich mir nicht so sicher. Wie viele Stunden verbringst du in der Woche auf dem Rad?«

Marcel zählte in Gedanken ab. »15-17 oder so.«

»Wir haben die perfekte Grundlage, um mithalten zu können. Dreieinhalb Monate professionelles Training und wir brauchen uns nicht verstecken.« Timo hatte Marcel an den Schultern gepackt und schaute ihn in die Augen. »Und du hast doch gesagt, du benötigst mal Abwechslung. Ende August bist du wieder zuhause und kannst dich um deine Möbel kümmern.« Timo beobachtete seinen Freund. Marcel ging in der Werkstatt auf und ab und fasste sich dabei immer wieder ans Kinn. »Lass uns dieses Abenteuer zusammen erleben, so eine Chance bekommen wir nur einmal.«

»Lass mich eine Nacht darüber schlafen. Morgen früh sage ich dir Bescheid.«

Timo nickte. »Das ist ein Deal.« Er hielte ihm die offene Hand hin und der Tischler schlug ein.

Bevor Timo ging, warfen sie ein paar Pfeile auf die Dartscheibe, die Marcel in der Werkstatt hängen hatte, und tranken das Bier ihres zukünftigen Teams, ehe Timo sich gegen Mitternacht ein Flugtaxi bestellte, um nach Hause zu kommen.

»Ich mach’s.«

Timo war völlig irritiert. Im Halbschlaf hatte er den Anruf über die Haus-KI angenommen und dann kam nur dieser kurze Satz. Es war erst gegen sechs Uhr morgens.

»Ich mach’s. Wenn du nochmal nachfragst, überlege ich es mir vielleicht anders. Hab ich dich geweckt?«

Jetzt erkannte Timo die Stimme.

»Was? Nein. Doch. Eigentlich schon. Egal!« Timo saß mittlerweile in seinem Bett und rieb sich den Schlaf aus den Augen. »Du bist dabei! Das ist so gut! Ja man! Wir treffen uns um acht Uhr in Todtnau. Ich zeige dir unser neues Zuhause für die nächsten drei Monate und stelle dir Verena und Christoph vor.«

»Wer ist Christoph?«

»Unser Team, später. Komm einfach nachher nach Todtnau.«

»Alles klar, soll ich das Bike mitbringen?«

»Hast du Spikes drauf?«

»Ist die Erde rund? Klar, hab ich Spikes drauf.«

»Perfekt, dann rüste ich meins um und bringe es auch mit.«

Über Nacht war es kälter geworden, so dass der Regen der Vortage sich in Schnee gewandelt hatte und die Brauerei in eine malerisch, düstere Winterlandschaft eindeckte. Timo kam kurz nach Marcel an der Schwarzwald Bräu Brauerei an. Ausnahmsweise kam sein Freund nicht zu spät.

Er grinste, als Timo das Rad aus dem Taxi lud und schaute demonstrativ auf seine Uhr.

Timo seufzte. »Ja, ja ich weiß, aber du hattest das Bike ja schon betriebsbereit zuhause stehen. Jetzt gehen wir erstmal rein und ich stelle dir Verena vor.«

Marcel machte die gleiche Prozedur wie Timo durch. Nach einer kurzen Brauereiführung und der Besichtigung des Teamquartiers ging es in das Verwaltungsgebäude zur Vertragsunterschrift. Nachdem auch das geschafft war, schien Verena sichtlich erleichtert.

»Ihr wisst gar nicht, wie glücklich ihr mich macht! Bis jetzt war es nur ein Hirngespinst, aber mit zwei richtigen Messengern wird es langsam real.«

Sie umarmte die beiden fest und Timo meinte eine Träne bei der sonst so souveränen Brauereichefin zu sehen.

»Ich hab gesehen, dass ihr eure Räder dabei habt? Geht das Training gleich los?«

Die Freunde schauten sich grinsend an, während Timo nickte. »Klar, wir haben nicht mehr viel Zeit. Jetzt geht es eine Runde Radfahren und heute Mittag müssen wir uns um einen Trainingsplan kümmern, damit wir rechtzeitig fit werden.«

Havanna

Schon auf dem Flugfeld haute sie das Wetter fast aus den Latschen gehauen. Als sie in Basel in den Hyperjet gestiegen war, hatte es gut 35 Grad weniger als in der Karibik. Auch sonst hatte der Interkontinentalhafen der kubanischen Hauptstadt nicht viel mit dem Pendant in Basel gleich. Zwar wurden die Hyperjets von ähnlich modernen Bots geprüft und für den nächsten Flug vorbereitet, wie in Europa, die fleißigen Helfer wurden hier allerdings mit einem alten Pickup mit großer Ladefläche zum Landeplatz des Jets gebracht. Auch das Flughafengebäude sah aus, als wäre es aus dem letzten Jahrtausend. Man musste sogar ein Stück über das Rollfeld laufen, um in das Flughafengebäude zu kommen.

Der mobile Verkäufer vor dem Flughafen hatte genau das, was Verena jetzt benötigte: einen Strohhut, der sie vor der Sonne schützte.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite im Schatten einer Palmenallee wartete eine Flotte altmodischer Taxis mit Rädern.

Daneben standen Taxifahrer, von denen fast jeder einen Strohhut trug. Der erste in der Reihe war ein etwas untersetzter Mann mit langem Schnauzer und offenem Hawaiihemd. Darunter war er mit einem

leicht verschmutzten Unterhemd bekleidet.

Verena ging auf ihn zu und lächelte ihn freundlich an. Sofort hatte sie seine Aufmerksamkeit.

»Ähm, entschuldigen Sie, Sir. Wo bekomme ich hier ein Flugtaxi?« Verenas Spanisch war durchaus passabel, sie hatte es im Abi als Leistungskurs.

»Flugtaxi? Sie sind Amerikanerin?« Der Taxifahrer lachte sie eher aus, als an.

»Nein, Europäerin«, antwortete sie ihm. Sie spürte, wie ihre Wangen vor Scham rot wurden.

»Ahh, si, si. Sie waren noch nie in Kuba?«

»Nein, tatsächlich, ich bin zum ersten mal in diesem wunderbaren Land.« Es herrschte geschäftiges Treiben auf der Straße vor dem Terminal. Taxis fuhren ab und kamen an. Touristen versuchten, sich mit ihren Smartwatches zu orientieren. Eine Familie direkt neben ihnen, vermutlich Amerikaner, suchte wie Verena nach den Flugtaxen und wurden sogleich von einem anderen Taxifahrer angesprochen. Er sah dem ersten verblüffend ähnlich und sie überlegte kurz, ob es sich bei dem Taxiunternehmen um einen Familienbetrieb handelte.

»Dann müssen sie wissen hier auf Kuba gehört die Luft noch den Vögeln.« Er machte eine ausschweifende Bewegung. »Aber ich bringe Sie auf dieser Insel überall hin. Nicht so schnell wie ein Flugtaxi aber ich zeige ihnen auf dem Weg die schönsten Ecken der Stadt. Das kann kein Flugtaxi. Wo wollen Sie hin?«

Verena stieg in den Wagen. Die Sitze waren weich und durchgesessen. Sie fuhr mit der Hand über das dunkelbraune, rissige Leder des alten Mercedes. Das letzte Mal in einem Auto saß sie als Kind, ebenfalls auf der Rückbank, als sie mit ihren Eltern zu Verwandten fuhren. Der Taxifahrer lud ihren Koffer in den Kofferraum und stieg an der Fahrertür ein. Er drehte sich zu ihr und grinste sie breit an. Dabei viel Verena auf, dass er vorne rechts zwei blitzende Goldzähne hatte. »Bringen Sie mich an die Playa del Chivo.«

»Ah Señora, direkt an den Strand! Wollen Sie nicht zuerst in Ihr Hotel?« Der Mann hatte recht, auch wenn sie Martin am liebsten sofort suchen würde, sollte sie erst einmal im Hotel vorbei, einchecken und sich den Temperaturen entsprechend kleiden. Für den Flug hatte sie sich in einen ihrer Businessanzüge gekleidet, bei diesen Temperaturen war dies jedoch eindeutig die falsche Wahl. »Sie haben recht Señor, bringen Sie mich zum Hostal Casa Blanca.«

Sie hatte sich ein einfaches Hotel in der Nähe des Strandes gesucht, an dem sie Martin vermutete. Die ganze Insel schien wie aus der Zeit gefallen zu sein. Zuerst fuhren sie an Steinbauten vorbei, die alle mindestens 100 Jahre alt waren. Mehrstöckige Wohnhäuser dazwischen immer wieder eindrucksvolle Regierungsgebäude. Je weiter sie vom Zentrum wegkamen, wurden auch die Gebäude kleiner, bis sie durch ein Viertel mit Einfamilienhäusern aus Holz fuhren. Die Häuser hatten maximal zwei Stockwerke, ein Flachdach und waren alle samt bunt angemalt. Die meisten hatten eine Veranda direkt vor der Haustüre, auf die vom Gehweg eine Treppe führte.

Der Taxifahrer stoppte vor eben einem solchen Haus mit einer grünen Front und gelben Fensterrahmen, von denen die Farbe durch die Sonne in Mitleidenschaft gezogen war und abblätterte.

Trotz ihrer rustikalen Erscheinung, war die Unterkunft selbst überraschend sauber. Eine freundliche, ältere Kubanerin nahm sie in Empfang. Sie wollte ihr den Koffer abnehmen, doch Verena lehnte dankend ab und folgte ihr auf eines der vier Zimmer.

Die Frau empfahl ihr ein paar Sehenswürdigkeiten und Restaurants, dann konnte Verena sich endlich in Ruhe umziehen.

Sie wählte ein kurzes, rotes Kleid und musterte sich vor dem Spiegel. Sie war nicht sonderlich zufrieden mit den bleichen Beinen, die unter dem Rock hervorschauten. Da sie aber nichts von Sonnenstudios hielt und für so etwas auch keine Zeit fand, musste sie wohl damit leben.

Verena kramte die Sonnenbrille aus der Tasche und nahm den neuen Strohhut vom Bett, dann verließ sie das Zimmer.

Der Taxifahrer hatte auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf sie gewartet. Er lag auf dem Fahrersitz und hatte die Augen geschlossen, doch das Fenster war geöffnet. Verena klopfte auf das Dach.