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Krimispannung in den Schweizer Alpen. In einem Stausee wird die Leiche eines vermissten Managers gefunden. Er war an einem umstrittenen Projekt für ein Luxus-Baumhotel am Urnersee beteiligt. Wenig später kommt es zu einem Brand auf dem Hotelgelände. Hängen die beiden Fälle zusammen? Kriminalpolizistin Rahel Reinhart ermittelt zusammen mit Journalist Konrad Mattmann. Doch immer wieder tauchen neue Verdächtige auf – denn das Opfer selbst hatte zu Lebzeiten keine Skrupel, über Leichen zu gehen ...
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Seitenzahl: 347
Martin Widmer lebt seit dreißig Jahren im Zürcher Oberland. Er arbeitete als Journalist sowie als Historiker und war Co-Verleger bei »Hier und Jetzt«, Verlag für Kultur und Geschichte, in Baden. Heute ist er als Autor tätig, hat verschiedene Sachbücher publiziert und verbringt den Sommer gerne im schwedischen Schärengarten.
www.martinwidmer.ch
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2023 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: mauritius images/Frank Bienewald/Alamy/Alamy Stock Photos
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Gestaltung Schauplatzkarte & Vignetten: Laura Jurt, Zürich, Schweiz
Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne, Schweiz
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-108-9
Originalausgabe
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Efteråt var hon inte ens säker på platsen längre. Den var ju inte märkt eller avgränsad. Den vandrade som en solfläck mellan molnskuggor. Det var en händelse, en händelse vid vatten. Som allting här.
Kerstin Ekman,»Händelser vid vatten«
Hinterher war sie sich nicht einmal mehr sicher, wo es geschah. Die Stelle war ja nicht markiert oder abgegrenzt. Wie ein Sonnenfleck wanderte sie zwischen den Schatten der Wolken. Sie wusste nur, es geschah am Wasser. Zufällig. Wie alles hier.
Kerstin Ekman,»Geschehnisse am Wasser«
»Die Neue«, wie sie im ehemaligen »Hexenturm« an der Tellsgasse 5 genannt wurde, arbeitete erst seit wenigen Monaten bei der Polizei in Altdorf. Rahel Reinhart hatte sich auf die offene Stelle bei der Kriminalpolizei des Kantons Uri beworben, und ihre neuen Kollegen und Kolleginnen staunten, warum sie ihren guten Job in Zürich aufgegeben hatte. Sie war sich bewusst gewesen, es ging nicht um den Chefposten, gesucht wurde eine Allrounderin, die sich um Eigentumsdelikte, Tätlichkeiten, Brandstiftung und Sexualdelikte zu kümmern hatte. Ermittlungen zu Leib und Leben waren nur am Rande ein Thema. Ein Abstieg in jeder Beziehung, rangmäßig und auch finanziell. Tausend Franken weniger Lohn schlugen zu Buche.
Der Anruf traf kurz nach neun Uhr dreißig auf der Einsatzzentrale der Urner Kantonspolizei in Flüelen ein. Dammwärter Mattli meldete den Fund einer Leiche, und sofort beorderte die Zentrale eine Patrouille der Bereitschafts- und Verkehrspolizei an den Fundort. Ebenso bot sie die Staatsanwaltschaft und die Kriminalpolizei auf, wo Rahel an diesem Wochenende Pikettdienst hatte und gleich losfuhr. Auf der Autobahn Richtung Gotthard staute sich fast jedes Wochenende der Verkehr, und sie kam manchmal nur im Schritttempo vorwärts. Sie fluchte über die Touristen, die das Tal mit Abgasen verpesteten, und kam sich dabei wie eine Einheimische vor. Obwohl – richtig heimisch fühlte sie sich auch nach einem halben Jahr in dem engen Tal zwischen Urnersee und Gotthardpass noch nicht. Selbst unten am See und in Erstfeld, wo sie eine günstige Zweizimmerwohnung gefunden hatte, gingen die Berge auf beiden Talseiten fast senkrecht in die Höhe. Im Winter kam die Sonne erst gegen Mittag über den Bergkamm, im Sommer deutlich früher. Wenn an Tagen wie an diesem Vormittag Ende Juni Nebel den Alpenkamm verhüllte, kam bei Rahel eine eigenartige Stimmung auf, als hätte bereits der Herbst begonnen.
In Göschenen verließ sie die Autobahn und fuhr langsam durchs Dorf, das einen verlassenen Eindruck machte. Sie sah eine Bäckerei, deren Auslage leer war; auf dem Parkplatz vor dem Hotel Weisses Rössli standen nur zwei Motorräder. Etwas mehr Betrieb war bei der Kantine der Mineure, wo sie Richtung Göscheneralpsee abzweigte. Die Straße stieg nach dem Weiler Abfrutt an, der Nebel wurde immer dicker. Plötzlich tauchte vor ihr ein Traktor auf, unmöglich zu überholen, denn sie konnte nur wenige Meter weit sehen. Sie hupte, doch der Traktorfahrer trug einen Gehörschutz und schien nie in den Rückspiegel zu schauen. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als geduldig hinter ihm herzufahren. Ob sie fünf Minuten früher oder später einträfe, würde weder für den Toten noch für die Ermittlung eine Rolle spielen, wie sie sich eingestehen musste.
Oben am Damm angekommen, fuhr Rahel auf den Parkplatz und stieg aus. Die Kollegen der Patrouille hatten schon erste Abklärungen gemacht und stellten ihr einen bärtigen Mann vor: Dammwärter Mattli. Er schaute auf ihre Sneakers und fragte: »Haben Sie andere Schuhe dabei?«
Sie nickte, öffnete die Heckklappe ihres Subaru Forester und zog ihre Gummistiefel an.
»Wir müssen ans südliche Ufer«, sagte Mattli. »Vom Weg um den Stausee kommen wir nur schlecht dazu.« Er zeigte auf das Boot, und sie folgte ihm hinunter zum kahlen Ufer, wo die Kieselsteine mit ausgetrocknetem Schlamm überzogen waren. Ein Stausee, dessen Wasserstand weit unter der Höchstmarke liegt, ist kein idyllischer Anblick, schon gar nicht bei Nebel.
Rahel schaute auf das gletschergrüne Wasser, und es fröstelte sie. Bevor sie ins Boot stieg, zögerte sie einen Moment: Eigentlich rückten sie bei der Kriminalpolizei immer zu zweit aus, doch ihr Kollege wurde bei einem anderen Fall aufgehalten, und Kripochef Krähenbühl war auch noch nicht auf dem Platz. Da sie nicht auf die beiden warten wollte, gab sie Mattli das Zeichen, abzulegen, und sie fuhren los; sie vorne im Bug, er auf der Heckbank, mit der einen Hand am Außenbordmotor steuerte er durch den dichten Nebel. Es war, als würden sie gegen eine weiße Wand fahren. Nach wenigen Minuten stellte Mattli den Motor ab und klappte ihn hoch, denn sie waren bereits am anderen Ufer. Das Boot glitt lautlos über das Wasser. Die steile Böschung tauchte aus dem Nebel auf. Mattli wechselte auf die Ruderbank. Mit wenigen Ruderschlägen erreichten sie das Ufer, wo er sich mit dem Bootshaken an einer Felsplatte festhielt. Über den Bug konnte Rahel an Land klettern. Sie schaute Mattli fragend an. Er zeigte auf eine Stelle zwei, drei Meter entfernt, wo sie einen Körper liegen sah, bekleidet mit einem hellen T-Shirt und einer Wanderhose. Rahel ging näher, betrachtete ihn, wie er bäuchlings dalag, das Gesicht im Kies, die Beine im Wasser. Ein paar abgefaulte Baumstrünke deuteten als stumme Zeugen darauf hin, dass hier einmal ein Gebirgswald gestanden war und auf der Göscheneralp Kühe geweidet hatten. Sie ging in die Knie, entnahm ihrem kleinen Rucksack ein Paar blaue Plastikhandschuhe. Vor ihr lag ein Mann, eher älter, denn sein Haar am Hinterkopf war schütter. Sie berührte ihn leicht an der Schulter. Keine Regung. Dann hob sie seinen linken Arm an und suchte am Handgelenk nach seinem Puls. Sie spürte nichts, sah nur, dass die Haut an den Händen und am Arm ganz schrumpelig war. Die Leiche musste sich einige Zeit im Wasser befunden haben, stellte Rahel fest. Sie lag am Ufer, als wäre sie angespült worden. Oder war sie erst zum Vorschein gekommen, als der Pegel des Stausees gesunken war? Rahel hörte Schritte im Kies und drehte sich um. Mattli war aus dem Boot gestiegen und kam auf sie zu.
»Wann haben Sie die Leiche entdeckt?«, fragte sie.
»Die Dorflehrerin und ihre Kollegin haben den Toten entdeckt. Ich habe nur die Polizei verständigt.«
»Aber als Sie bei der Einsatzzentrale anriefen, waren Sie bei der Leiche.«
»Ich bin mit den zwei Frauen per Boot hierhergefahren, um mir ein Bild zu machen.«
Was die beiden ihm auf dem Damm erklärten, habe ziemlich wirr getönt. Dass sie um den Stausee gejoggt seien und dabei etwa zehn Minuten vor dem Damm, oder es könnten auch zwanzig gewesen sein, weit unten am See jemanden liegen gesehen hätten. Aber wie hatten sie bei dem Nebel etwas sehen können? Und warum waren sie bei diesem Wetter überhaupt unterwegs, rund um den See?, habe er sie gefragt. Keine klare Antwort habe er erhalten. Nur den Ort hätten sie erstaunlich genau erklären können. Eine auffällige Felsformation, wo der Weg teilweise mit einem Seil gesichert sei. Er schaute nach oben und zeigte Rahel den Weg im schroffen Felsband. »Da wusste ich genau, wohin ich mit den beiden fahren musste«, fuhr Mattli fort. »Ich wollte nachsehen, ob das zutraf, was sie mir zu erklären versuchten. Nicht direkt die Polizei anrufen, ohne etwas Genaues zu wissen. Und tatsächlich. Da lag ein Toter am Ufer.«
»Wie haben Sie die Leiche angetroffen?«
»Genau so, wie sie jetzt noch daliegt.«
»Gut, dass Sie nichts verändert haben. Das ist wichtig für die Spurensicherung.«
»Ich sah sofort, da war nichts mehr zu machen.«
»Was ist Ihnen außerdem aufgefallen?«
Mattli zuckte mit den Schultern.
»Ihr erster Eindruck?«
»Kein schöner Anblick.«
»Und?«
»Die Uhr«, sagte er.
Die Armbanduhr war Rahel auch aufgefallen. Eine IWC mit Mondkalender und Chronograf, wie ihr ehemaliger Chef bei der Kripo Zürich eine getragen hatte. Sie verglich die angezeigte Stunde mit derjenigen auf ihrer eigenen Uhr. Genau die gleiche Zeit. Auch das Datum und der Wochentag stimmten: Es war Samstag, der 24. Juni.
»Haben Sie eine Idee, um wen es sich bei dem Toten handeln könnte?«, fragte Rahel.
»Da müssten Sie ihn umdrehen, damit ich sein Gesicht sehen kann.«
»Warten wir auf die Spurensicherung«, sagte Rahel und begann die Gesäßtaschen des Toten abzutasten. Sie fand kein Portemonnaie und keinen Hinweis auf dessen Identität. Sie bat Mattli, den Bootshaken zu holen, und stocherte rund um den Fundort im Wasser, ohne auf etwas zu stoßen, das dem Toten hätte gehören können.
Per Funk meldete sich Kripochef Krähenbühl. Er war auf dem Damm angekommen. Rahel versprach, ihn gleich mit dem Boot des Dammwärters abzuholen.
»Fahren wir«, sagte sie. »Mein Chef wartet nicht gerne.« Sie legten ab.
Auf der Fahrt zurück zum Damm erkundigte sie sich nach Namen und Adresse der Lehrerin und ihrer Kollegin, die sie in ihrem Heft notierte. Beide wohnten im Dachgeschoss des Schulhauses in Göschenen. Rahel wollte sie im Laufe des Tages als Zeuginnen befragen.
Mattli fragte: »Unfall oder …?«
»Ich habe noch keine Anhaltspunkte«, antwortete sie.
Er erzählte ihr, dass vor Jahren ein Vater in der Nähe des Damms gefischt habe und in den See gestürzt sei. Er habe den Kopf angeschlagen und dabei das Bewusstsein verloren. Vor den Augen seines kleinen Sohns sei er ertrunken. »Bis heute höre ich das laute Weinen des Knaben, das der Wind über den See getragen hat.«
Am anderen Ufer angekommen, machte Mattli das Boot fest, und Rahel begrüßte Krähenbühl sowie die Staatsanwältin Bettina Aschwanden. Auch Rahels Dienstkollegin von der Spurensicherung war unterdessen eingetroffen.
»Brauchen wir einen Taucher?«, fragte Krähenbühl.
»Ja«, antwortete Rahel.
Krähenbühl klärte umgehend ab, ob Peter Tiefenbacher, der einzige Taucher der Kantonspolizei Uri, verfügbar sei. In einer Stunde könne er ausrücken, hieß es, mit Schlauchboot und Verstärkung vom Korps eines anderen Innerschweizer Kantons.
»Der Kantonsarzt ist unterwegs«, erklärte Krähenbühl, der die Ermittlungen koordinierte. Der Leichenwagen für die Überführung der Leiche ins Kantonsspital nach Altdorf sei avisiert.
Sabrina Meili von der Spurensicherung stemmte die Kisten mit ihrem Material von ihrem Van ins Schiff. Mit ihr hatte Rahel in den letzten Monaten mehrmals zusammengearbeitet und schätzte an ihr, wie sie anpacken konnte. Sie war mit einem Bergbauern verheiratet und hatte vier Kinder. Wie brachte sie alles unter einen Hut?, fragte sich Rahel, ein volles Pensum bei der Polizei, die Familie, und immer wieder musste sie auch auf dem Hof anpacken; ein völlig anderes Leben, als sie selbst führte.
Sie stiegen ins Schiff und fuhren mit Mattli über den See, nur Rahel blieb am Ufer zurück, weil das Boot voll war. Sie ging hoch zu ihrem Auto und wählte die Nummer von Pat Hunger. Vor zwei Wochen hatte diese ihren Mann Kjell-Göran Kling bei der Polizei als vermisst gemeldet. Da der Polizeiposten in Andermatt seit einiger Zeit nicht besetzt war, hatte Rahel die Vermisstmeldung selbst entgegen- und gleichzeitig einen Augenschein vor Ort genommen. Pat Hungers Mann war seit einem Jahr pensioniert und verbrachte die meiste Zeit in der dortigen Ferienwohnung und auf dem Golfplatz, während seine deutlich jüngere Ehefrau in Zürich arbeitete.
Rahel erreichte Pat Hunger in ihrem Büro, eine Niederlassung des Auktionshauses Sotheby’s. Sie sprach fließend Schweizerdeutsch mit einem leicht englischen Akzent.
»Haben Sie Neuigkeiten von meinem Mann?«, fragte Pat Hunger.
»Noch habe ich keine genauen Informationen, aber ich muss Sie darauf vorbereiten … Wir haben eine Leiche gefunden.«
»Nein!«
»Wir haben die Leiche bisher nicht identifiziert.«
»Sie wollen hoffentlich nicht, dass ich das mache.«
»Ich brauche eine Zahnbürste oder einen Kamm, den Ihr Mann benutzt hat. Für einen Vergleich der DNA. Das wäre fürs Erste hilfreich. Wann kann ich Sie in Zürich treffen?«
»Einfacher für Sie, wir sehen uns in der Ferienwohnung.« Sie hielt inne, dann antwortete sie: »Um sechzehn Uhr könnte ich in Andermatt sein.«
Rahel steckte ihr Mobiltelefon in die Gesäßtasche ihrer Jeans, verschränkte die Arme und schaute über den See. Der Nebel hatte sich leicht gelichtet, bis zum Fundort am anderen Ufer konnte sie allerdings nicht sehen. Auf der Alpensüdseite schien bestimmt die Sonne. Jetzt hätte sie gerne Giovanni angerufen. Oft war er auch samstags an der Uni und hatte bestimmt keine Zeit, mit ihr zu plaudern. Leise hörte sie den Lärm des Außenborders, der näher kam. Da sah sie Mattli aus dem Nebel auftauchen und kurz danach am Ufer anlegen. Er war allein.
Sie ging ihm entgegen. »Gibt es hier irgendwo Kaffee?«
»Gehen wir zu mir.«
Sie gingen die paar Schritte das Sträßchen hinunter, das hinter dem Damm zum Wärterhaus führte. Im Parterre lagen die Werkstatt und die Garage für den Maschinenpark, im ersten Stock die ehemalige Wohnung des Dammwärters: zwei Schlafzimmer, eine Küche, ein Bad, eine Stube und ein Büro. Seit alle Messinstrumente unten im Kraftwerk in Göschenen abgelesen werden konnten, war die Präsenz des Dammwärters oben auf der Göscheneralp während dreihundertfünfundsechzig Tagen pro Jahr nicht mehr notwendig. Mattli übernachtete im Wärterhaus nur, wenn im Winter eine Rückkehr ins Dorf wegen Lawinengefahr zu gefährlich war.
Er führte Rahel in die Stube mit Arventäfer und Arvenmöbeln. Er bat sie, auf der Eckbank am Tisch Platz zu nehmen, und machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen. Rahel schaute sich um: eine Reihe von Familienfotos, in einer Ecke ein Kreuz und daneben eine Farbfotografie mit mindestens dreißig Sportwagen, die auf dem Damm aufgereiht standen. Mattli brachte den Kaffee und ging nochmals zurück in die Küche, um ein Paket Kekse zu holen. Als er sich an den Tisch setzte, zwei Löffel Zucker in den Kaffee gab und langsam rührte, fragte Rahel: »Sind das Ihre Eltern?« Sie deutete auf eines der Fotos.
»Das sind meine Großeltern«, sagte er. »Und so sah es auf der Göscheneralp Anfang der 1960er Jahre aus, bevor alles geflutet wurde.« Er wies auf die Schwarz-Weiß-Aufnahme, welche eine Ebene, darauf eine Ansammlung von Häusern, Ställen und eine kleine Kirche zeigte. »Mein Großvater hat als Letzter verkauft.«
Rahel trank einen Schluck Kaffee.
»Mein Vater war der erste Dammwärter. Ich bin hier im Wärterhaus aufgewachsen. Mit vier Geschwistern.« Er nahm einen Keks aus der Verpackung und kaute. »Bei Lawinengefahr waren wir manchmal wochenlang hier eingeschlossen.«
Als beide den Kaffee ausgetrunken hatten, stand er auf. Er nahm eine kleine Gießkanne und goss den Gummibaum vor dem Fenster im Gang.
Rahels Smartphone läutete: Die Taucher waren auf dem Damm eingetroffen.
***
Mattli ging in die Werkstatt, um die Reflektoren für die Vermessung vorzubereiten. Auf dem Damm und an mehr als zwei Dutzend Punkten am Stausee waren steinerne Messpfeiler einbetoniert, wobei einige der Punkte nur mit dem Schiff erreichbar waren. Auf diesen kleinen Betonpfeilern musste er haargenau die Reflektoren befestigen, damit das Vermessungsteam am Montag loslegen konnte. Auch bei Punkt 7, gleich oberhalb der Stelle, wo die beiden jungen Frauen am Morgen die Leiche entdeckt hatten. Die Spezialisten von Luzern konnten mit ihren monatlichen Messungen auf den Millimeter genau feststellen, ob sich der Damm bewegte. Im Gegensatz zu anderen Stauseen hatte man sich beim Bau auf der Göscheneralp nicht für die Konstruktion einer Staumauer aus Beton entschieden, sondern für einen Erddamm mit einem Kern aus Lehm.
Zusätzlich zur regelmäßigen Vermessung erhoben automatische Messgeräte im Damm rund um die Uhr die Daten zu Temperatur, Luftdruck sowie zur Luftfeuchtigkeit und hielten den Wert der Trübung des Wassers fest, welches talseitig durch das aufgeschüttete Geröll einsickern konnte. Im Prinzip war der Kern des Damms absolut wasserundurchlässig. Getrübtes Sickerwasser wäre ein Indiz für feinste Risse, durch welche Wasser vom Stausee in den Damm gelangen würde. Obwohl alle Messgeräte im Überwachungsraum des Kraftwerks abgelesen wurden, war nichts zuverlässiger als eine Überwachung vor Ort. Nachdem Mattli alle Reflektoren geprüft hatte, war seine Kontrollrunde im Innern des Erddamms an der Reihe. Seit fünfzehn Jahren arbeitete er als Dammwärter, er kannte seinen Damm aus dem Effeff, und kleinste Veränderungen fielen ihm sofort auf. Er nahm die Transportbahn, die ihn durch den rechten Zugangs- direkt zum Infusionsstollen hinunterbrachte. Dieser führte am untersten Punkt durch den siebenhundert Meter breiten Damm.
Hundertdreißig Meter unter der Dammkrone angekommen, stand er vor dem mannshohen Schieber aus dickem Stahl, auf dem der ganze Druck des Stausees lastete. Dieser Ablass würde nur im Notfall geöffnet, wenn die Gefahr drohte, er könnte bersten, oder wenn der ganze See bei einer Revision entleert werden musste. Mattli hatte ihn erst zweimal in seinem Leben leer gesehen, eine Kraterlandschaft, mit ein paar Stümpfen von Erlen, die trotz des Flutens des Tals vor sechzig Jahren nicht verfault waren. Er kontrollierte die Hydraulikpumpe zur Öffnung des Schiebers, dann ging er durch den Infusionsstollen bis ans andere Ende zur Drosselklappenkammer. Dort konnte der Zufluss zur Druckleitung, die ins Kraftwerk und auf die Turbinen führte, unterbrochen werden. Auch hier stellte er nichts Außergewöhnliches fest. Durch den linken Zugangsstollen ging er die steilen dreihundertfünfundvierzig Stufen hoch. Von der hohen Luftfeuchtigkeit waren sie sehr glitschig. Normalerweise beeindruckte ihn dies nicht, aber nach dem Fund der Leiche fühlte er sich etwas unsicher auf den Beinen. Als er oben ankam, ging er über den Damm zurück zum Wärterhaus. Der Nebel war unterdessen beinahe ganz verschwunden und der Himmel blau. Er hielt die Nase in den Wind, bis er diesen auf beiden Backen gleichmäßig spürte. »Seewind«, sagte er und ertappte sich dabei, wie er in letzter Zeit öfter Selbstgespräche führte. Kam das mit dem Alter? Oder weil er nicht nur am Tag alleine unterwegs war, sondern auch abends niemanden zum Sprechen hatte, seit seine Frau vor zwei Jahren gestorben war.
***
Rahel sah, wie ein Auto mit einem Schlauchboot auf dem Anhänger rückwärts zum Ufer manövrierte. Ein bärtiger Mann stieg aus. Das musste Peter Tiefenbacher sein, der Taucher. Rahel ging ihm entgegen und stellte sich vor. Tiefenbacher hatte einen zweiten Taucher vom Polizeikorps des Kantons Schwyz aufbieten können, Tauchgänge machte man immer zu zweit. Die beiden zwängten sich in ihre Neoprenanzüge und luden die Flaschen mit Pressluft, rote Bojen und weiteres Material ins Boot. Dann stieg auch Rahel ein, und sie legten ab. Mit einer Hand steuerte Tiefenbacher das Schlauchboot über den See, mit der anderen machte er sich am Batterietank der Taschenlampe zu schaffen. Gleichzeitig sprach er mit Rahel, ohne sie anzuschauen: »Tiefer als vierzig Meter können wir nicht tauchen. So die Sicherheitsvorschriften.«
»Die Leiche haben wir, danach müsst ihr nicht suchen. Aber ich habe keinen Rucksack, kein Portemonnaie, kein Mobiltelefon, rein gar nichts gefunden.«
»Schwierig«, sagte Tiefenbacher. »Unter Wasser kann man seine eigene Hand nicht erkennen. Da bringt auch unsere Taschenlampe nichts. Gletscherwasser. Ganz milchig. Und kalt.«
Rahel streckte ihre Hand ins Wasser und zog sie schnell zurück.
Am Fundort angekommen, beriet sich Rahel mit Kripochef Krähenbühl, den beiden Tauchern und Sabrina Meili von der Spurensicherung, warum die Leiche erst jetzt entdeckt worden war. Alle waren sich einig, dass der Körper schon lange im Wasser gelegen war, auch wenn dies erst eine Obduktion genau feststellen konnte. Plötzlich aufgetaucht war sie auch nicht, dafür war der Stausee zu kalt. »Die Wassertemperatur ist aktuell neuneinhalb Grad. Da entwickeln sich in einem toten Körper keine Gase im Magen, und er wird nicht aufgedunsen«, erklärte Sabrina Meili.
»Bedingungen fast wie im Leichenhaus«, ergänzte Tiefenbacher.
»Dort sind es sechs Grad«, bemerkte sie und fotografierte weiter.
Für Tiefenbachers Kollegen, der bis jetzt kein Wort gesprochen hatte, war klar, es waren die Überreste der Alpenerlen, die verhinderten, dass der Leichnam bis zum Grund des Stausees abgesunken war. Dann hätte man die Leiche erst bei der nächsten Revision gefunden, wenn alles Wasser abgelassen worden wäre. »Nichts ist so zäh wie Alpenerlen. Auch unter Wasser verfaulen sie nur sehr langsam«, sagte er.
»Der Seespiegel ist in den letzten zwei, drei Wochen rasant gesunken«, sagte Rahel, »der Dammwärter hat mir das eben beim Kaffee erklärt. Kein Gewitter seit Wochen. Und diese Hitze. Dabei werde Strom gebraucht wie noch nie. Die Turbinen würden auf vollen Touren laufen, meinte er.«
»Das Klima wird wärmer, die Menschen stöhnen in ihren asphaltierten Städten und gläsernen Hochhäusern. Und was fällt ihnen ein?«, fragte Tiefenbacher in seinem eng anliegenden Taucheranzug. »Sie schalten die Klimaanlagen ein.«
Betretenes Schweigen.
Die beiden Taucher fuhren mit dem Schlauchboot ein paar Meter hinaus. Mit vier roten Bojen steckten sie ein Feld von acht mal zwanzig Metern ab, welches sie als Erstes absuchen wollten. Rahel beobachtete, wie sie ins Wasser glitten, danach erkundigte sie sich bei Sabrina Meili nach dem Stand der Spurensicherung.
»Später«, sagte diese.
Wortkarg, dachte Rahel. Sind alle Urner so?, fragte sie sich. Selbst gehörte sie auch nicht zur gesprächigen Sorte. Es war ihr recht, dass sie das steile Gelände auf eigene Faust absuchen konnte. Sie kletterte die Geröllhalde hoch, klammerte sich an einzelne Felsbrocken und Überreste von Baumstämmen, nackt und schwarz, nach den Jahrzehnten, die sie unter Wasser gestanden hatten. Zwanzig Meter weiter oben traf sie auf den Wanderweg, der um den See führte. Links und rechts vom schmalen Pfad wuchsen niedrige Heidel- und Preiselbeersträucher. Keine geknickten Zweige, kein Fetzchen Papier, kein Stücklein Stoff konnte sie entdecken, nichts, das auf eine tätliche Auseinandersetzung hindeutete oder darauf, dass sich kürzlich jemand hier aufgehalten hätte.
»Sabriiinaaa!«, rief sie hinunter. »Nachher hier oben weitermachen!«
Die zwei Taucher hatten nach zwei Stunden nichts ans Tageslicht gebracht, die Suche würde den ganzen Nachmittag weitergehen. Mattli kam mit dem Kantonsarzt angefahren, der unterdessen auch eingetroffen war. Rahel nutzte die Gelegenheit und bat Mattli, sie ans andere Ufer zurückzubringen. Auf der Überfahrt fragte sie ihn, wie lange es dauern würde, bis der Stausee bei dieser Hitze leer wäre.
»So schnell geht das nicht. Wir hoffen alle, dass es bald wieder einmal richtig schiffet.«
Nach einem richtigen Gewitter, bei dem es heftig regnen würde, danach sehnten sich alle. Unten im Flachland wurde langsam das Grund- und damit das Trinkwasser knapp, bald müsste die Bewässerung in der Landwirtschaft eingeschränkt werden. Nur Rahel hoffte, dass es die nächsten paar Tage keine Niederschläge geben und der Seespiegel weiter sinken würde. Dies würde die Chance erhöhen, etwas zu finden.
»Angenommen, diese Hitze hält an und es fällt kein Tropfen Wasser, wann sähe man den Seegrund?«, fragte sie.
»Da können Sie lange warten.«
Konrad Mattmann saß im Garten des »Gyrenbads« beim Mittagessen unter einem Sonnenschirm und schwitzte. Er hatte den Morgenflug von Stockholm nach Zürich genommen und war danach mit dem Zug ins Tösstal gefahren. Wie jeden Sommer kehrte er einmal pro Jahr in die Schweiz zurück, auf Heimaturlaub; die Reisespesen trug seine Zeitung. Dabei stieg er immer im ehemaligen Badehotel oberhalb von Turbenthal ab. Die Wirtin Elise Manz behandelte ihn als Stammgast und wusste, dass er während des Mittagessens gerne die regionalen Zeitungen las. Sie brachte ihm den »Tössthaler« und den »Landboten« an den Tisch, und er überflog die lokalen Nachrichten. Die Newslage hatte er bereits auf der Reise gecheckt. Als Skandinavienkorrespondent der großen Zeitung in Zürich musste er auch während seines Urlaubs wissen, was in Kopenhagen, Oslo, Stockholm oder Helsinki auf der politischen Agenda stand. Es war Samstag, und in Skandinavien drehte sich heute alles ums Mittsommernachtsfest, da machte auch die Politik eine Pause. Mattmann war weder in Fest- noch in Ferienstimmung, denn seine Gedanken kreisten um den Termin auf der Redaktion Anfang nächster Woche. Sein Posten in der schwedischen Hauptstadt hing schon länger an einem seidenen Faden, denn bei den rückläufigen Werbeeinnahmen würde das Korrespondentennetz früher oder später zusammengestrichen. Was dann? Für Journalisten gab es keinen goldenen Fallschirm. Abgangsentschädigungen hatten die Manager des Medienkonzerns nur für sich selbst vorgesehen.
Elise Manz kam an seinen Tisch und fragte, ob er noch einen Wunsch habe. Sie erkundigte sich nach der Frau Gemahlin, wie sie sich ausdrückte, worauf Mattmann erzählte, sie würde etwas später nachkommen, als Kinderärztin sei sie sehr beschäftigt. Er versprach, Gina von ihr zu grüßen, wenn er mit ihr telefoniere. Dann plauderten sie über dies und das. Während eines halben Jahrhunderts hatte Elise Manz im »Gyrenbad« gewirtet, nächstens würde sie den Stab ihrer Tochter übergeben. Sie brachte ihm einen zweiten Kaffee und den Schlüssel für seinen alten Volvo, den er in der Hotelgarage eingestellt hatte und nur drei Wochen pro Jahr fuhr.
Mattmann stand auf und wollte die Zeitungen zurück in die Gaststube tragen, doch das verbat sich die Wirtin. Er ging aufs Zimmer, packte den kleinen Rucksack und ging hinunter in die Garage, in jeder Hand einen Wanderschuh. Da stand sein Augenstern, sein Sportcoupé, ein P1800 Modell 1972. Die weiße Lackierung und die Stoßstangen aus Chromstahl glänzten, dass er sich darin spiegeln konnte. Er liebte die eleganten Linien, es war eines der schönsten Autos, das Volvo je produziert hatte. Er hatte den Wagen von seinem Großvater geerbt und brachte es nicht übers Herz, sich von ihm zu trennen. Gina konnte das nicht verstehen. Es wäre günstiger, während der Ferien ein Auto zu mieten, argumentierte sie, oder besser, die in der Schweiz so gut ausgebauten öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen. Obwohl er seiner Frau zustimmen musste, wollte er sich diesen kleinen Luxus leisten, solange ihn die Zeitung so gut bezahlte.
Er fuhr los, durch den Wald hinunter nach Turbenthal, auf der anderen Talseite hoch nach Wildberg und weiter durch die sanfte hügelige Landschaft, vorbei am Pfäffikersee, spiegelglatt an diesem Nachmittag und eingerahmt vom breiten Schilfgürtel, ein Bild wie aus einer anderen Zeit. Mattmann überlegte kurz, ob er das Auto in Auslikon parkieren und zur Badeanstalt spazieren solle, fuhr aber weiter. Er wollte schon länger einmal sehen, wo die Töss entsprang, daher steuerte er über den Hasenstrick nach Wald, zweigte mitten im Dorf Richtung Scheidegg ab und parkierte in der Wolfsgrueb. Als er die Wanderschuhe anziehen wollte, läutete sein Mobiltelefon. Es war Gina.
»Gut gelandet in der alten Heimat?«, fragte sie.
»Ja, und Elise Manz umsorgt mich wie immer.«
»Hat sie dir wieder das schönste Zimmer gegeben?«
»Das Eckzimmer, das dir letztes Jahr auch so gut gefallen hat.« Als Gina nicht gleich antwortete, fragte er: »Weißt du nun, wann du endlich Ferien nehmen kannst?«
»Wir sind zu wenig Ärzte und im Sommer sowieso, wenn alle Urlaub machen wollen. Da kommen zuerst diejenigen mit Schulkindern zum Zug.«
»Das schwedische Gesundheitssystem …«, begann Mattmann und wollte zu lästern beginnen.
Gina ging nicht darauf ein und wechselte das Thema. »Wie geht es deiner Mutter? Hast du sie schon gesehen?«
»Wie sollte ich, ich bin erst vor wenigen Stunden gelandet.«
»Sie erwartet dich.«
»Das weiß ich.«
»Ruf sie wenigstens an.«
Mattmann wusste nur zu gut, dass er sich um seine Mutter kümmern müsste, sobald er im Land war. Mit über achtzig Jahren bestritt sie den Alltag immer noch allein. Er fragte sich, wie lange das noch möglich war, und was dann? Beim nächsten Besuch bei ihr gab es einiges zu besprechen. Daran wollte er jetzt nicht denken. Er hatte das Wochenende vor sich und wollte es genießen.
»Lass sie nicht ewig warten, bitte«, sagte Gina und beendete das Gespräch. Er schnürte seine Wanderschuhe und studierte die gelben Wanderwegschilder. Bis auf den Tössstock waren es drei Stunden, zur Tössscheide nur eine, entweder auf dem direkten Weg oder über denjenigen, der zuerst auf gleicher Höhe dem Tal entlangführte und danach steil hinab. Er wählte den zweiten und erreichte schon nach einer halben Stunde die Hütte am »Neuen Weg«. Er setzte sich auf die lange Bank in der Sonne. Ab und zu warf er einen Blick hinunter ins Tal, in den Abgrund, der sich vor ihm auftat.
Am Fundort der Leiche gab es für Rahel vorerst nichts mehr zu tun. Vordringlich war die Befragung der beiden Zeuginnen, die das Opfer gefunden hatten. Sie fuhr hinunter nach Göschenen und parkierte in der Kurve oberhalb des Schulhauses. Die Fassade war wie diejenige der gegenüberliegenden Kirche mit Granitsteinquadern gemauert, und das Schulhaus machte auf Rahel eher den Eindruck einer Trutzburg. Auf dem Pausenplatz spielten ein paar Kinder, obwohl heute keine Schule war. Rahel fragte nach der Lehrerin, Andrea Zürcher, und sie zeigten auf die offene Schulhaustüre. Rahel würde sie im Schulzimmer im ersten Stock antreffen, meinten sie, oder oben in der Wohnung. Die Türe zum Schulzimmer stand einen Spalt offen. Bevor Rahel klopfte, tauchte das Schulhaus vor ihren Augen auf, in dem sie einst selbst unterrichtet hatte, ihr altmodisches Pult, hinter dem sie sich verschanzt und immer wieder einen Blick durchs Fenster geworfen hatte. Das Leben draußen interessierte sie mehr als dasjenige ihrer Schützlinge. Warum sie das Lehrerseminar absolviert hatte, war ihr heute noch ein Rätsel, vielleicht weil sie keine Ahnung hatte, was sie werden wollte. Als sie eines Tages ein Jobinserat in der Zeitung entdeckte, in dem die Polizei Nachwuchskräfte suchte, entschied sie sich von einem Moment auf den anderen, ihren Beruf als Lehrerin an den Nagel zu hängen. Nach der Polizeischule arbeitete sie als Verkehrspolizistin und danach auf dem Flughafen, bis sie sich zur Ermittlerin weiterbildete. Eigentlich hätte sie gerne Jus studiert, um mit der Staatsanwaltschaft auf Augenhöhe diskutieren zu können, vier Jahre an der Uni zu büffeln war ihr jedoch zu viel.
Rahel schüttelte ihre Erinnerungen ab und klopfte an die Türe.
»Herein«, hörte sie eine helle Stimme rufen.
Rahel öffnete die Türe und sah eine junge Frau am Lehrerpult Hefte korrigieren.
»Frau Zürcher, ich habe ein paar Fragen an Sie«, sagte Rahel und zog ihren Polizeiausweis aus der Jacke.
»Worum geht es?«
»Sie haben heute Morgen am Stausee einen toten Mann entdeckt.«
Rahel sah, wie sie kurz die Augen schloss.
Sie klappte das Heft zu und legte es auf den Stapel mit den anderen Heften.
»Es dauert nicht lange.«
Andrea Zürcher stand auf. »Oben in meiner Wohnung sind wir ungestört«, sagte sie und ging im Treppenhaus voraus bis ins oberste Stockwerk. Unter dem Dach bewohnte sie eine große Wohnung. Sie bat Rahel in die Küche, die mit dem rot-schwarz karierten Linoleumboden und den dunkelbraunen Textolit-Schranktürchen aus einer längst vergangenen Zeit stammte. Aus einem Schrank holte sie zwei Tassen, stellte sie auf den Küchentisch und bedeutete Rahel, Platz zu nehmen.
»Sie waren heute Morgen unterwegs um den Stausee, wie ich vom Dammwärter erfahren habe«, begann Rahel.
Andrea Zürcher nickte, goss Tee in einem Krug an und stellte ihn auf den Tisch.
»Sie waren zu zweit.«
»Mit Klea Said, meiner Mitbewohnerin.«
»Ist sie da?«
»Nein. Sie ist zu ihrem Freund gefahren. Um sich vom Schock zu erholen.«
»Warum waren Sie zwei bei so nebligem Wetter unterwegs rund um den Stausee?«
»Kein idealer Tag zum Wandern, ich weiß. Aber wir konnten uns den Tag nicht aussuchen. Schon in zehn Tagen findet die Projektwoche zur Geschichte des Stausees statt, die ich zum Abschluss des Schuljahrs plane.« Sie schenkte Tee ein. »Klea hat mich heute Morgen begleitet, weil sie so viel darüber weiß. Wir wollen mit meiner Klasse rund um den See gehen und bereiten verschiedene Stationen vor, an denen wir –«
»Warum wählten Sie nicht den Nachmittag zum Rekognoszieren? Der Wetterbericht hat schönstes Sommerwetter versprochen.«
»Klea kann am Nachmittag nicht.«
»Wo sind Sie gestartet?«
»Auf dem Parkplatz beim Damm. Wir waren eine knappe Viertelstunde unterwegs, da sahen wir unterhalb des Wegs, am Ufer, einen Körper liegen. Halb im Wasser.«
Rahel sah, wie es Andrea Zürcher schauderte.
»Seid ihr hinuntergestiegen?«
»Das haben wir nicht gewagt. Es war zu steil. Wir haben gerufen. Aber er hat nicht geantwortet.« Sie schüttelte den Kopf. »Er hat sich nicht geregt. Hätten wir Erste Hilfe leisten müssen?«
»Er war schon länger tot.«
Unterdessen war es recht sonnig geworden. Andrea Zürcher schaute hinaus. »Wir wären wirklich besser am Nachmittag gegangen.«
»Aber dann konnte Ihre Mitbewohnerin nicht, wie Sie eben gesagt haben.«
Rahel bedankte sich, schloss ihr Notizbuch und stand auf. Als sie die Treppe hinunterging, studierte sie die Zeichnungen an den Wänden zum Thema »Was ich werden will«. Buben und Mädchen wollten heutzutage offenbar nicht zur Polizei. Aber Pilot und Bergführerin waren immer noch Traumberufe. Und ein Mädchen zeichnete einen Comicstreifen mit Tieren und Sprechblasen, voll mit eigentümlichen Lauten. Und ein großes Ohr. Darunter stand: »Ich will Tiersprachenübersetzerin werden.«
Rahel verließ das Schulhaus. Bei ihren Befragungen hatte sie gelernt, mit drei Ohren zuzuhören: mit einem Ohr, was die Befragten sagten. Mit dem anderen, was sie nicht erzählten. Und mit dem dritten, was sie erzählen wollten, aber nicht zu sagen wagten.
Verschwieg ihr Andrea Zürcher etwas?
Auf vier Uhr hatte sich Rahel mit Pat Hunger verabredet. Rahel war hungrig, da sie außer einem Stück Aprikosenwähe heute noch nichts gegessen hatte. Daher ließ sie das Auto beim Schulhaus stehen und ging den Weg hinunter zur Hauptstraße, wo sie zwei Hotels gesehen hatte. Das »Gotthard« war geschlossen, und auf den Salatteller im »Rössli« hatte sie keine Lust. Sie ging weiter zum Bahnhof. Das Buffet war längst nicht mehr in Betrieb, und beim »Bistro« auf Gleis 1 gab es nur warme Würstchen. Die guten Zeiten der Hotellerie in Göschenen lagen offenbar Jahrzehnte zurück. Sie fragte einen Gleisarbeiter nach einem weiteren Restaurant, der ihr die Kantine der Mineure empfahl. Ein anderes Mal, dachte sie und betrachtete die riesige Förderbandanlage hinter dem Gleis 3, welche das Geröll von der dritten Röhre, die durch den Gotthard gebohrt wurde, zur Verladestation brachte. Alles wurde per Eisenbahn abtransportiert.
Rahel ging zurück zum Schulhaus und fuhr los Richtung Andermatt, passierte die Schöllenenschlucht und sah im Rückspiegel den roten Teufel, der über der Brücke an die Felswand gemalt war. Musste sie auf dem Weg zum Stausee eine halbe Ewigkeit hinter einem Traktor herschleichen, überholte sie nun ein Sportwagen nach dem anderen, alle mit ausländischen Nummernschildern. Oben angekommen, öffnete sich ihr das Urserental. Auf der linken Seite die alte Kaserne, auf der rechten ragten Baukräne in den blauen Himmel, das Retortendorf mit den luxuriösen Ferienwohnungen war offenbar noch lange nicht fertig gebaut. Sie fuhr weiter bis zum Bahnhof und parkierte beim Güterschuppen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite lag das »Chedi«, das Filetstück eines ägyptischen Investors. Auf der Vorfahrt standen schwarze Porsches und etliche Cabrios. Das siebenstöckige Fünf-Sterne-Hotel versuchte sich mit einer Holzfassade ins Ortsbild einzupassen. Die Balkonverkleidungen aus grünem Glas und die Fensterpartien zeigten aber klar: Das alte Andermatt war passé. Eine »Mischung von alpiner Schlichtheit und urbaner Großzügigkeit« hatte Rahel kürzlich in der Zeitung gelesen.
Fürs Mittagessen setzte sie sich an einen der Tische auf der Terrasse des Bahnhofbuffets, da gab es auch am Nachmittag etwas Warmes zu essen. Vor zwei Wochen war sie das erste Mal in Andermatt gewesen, als sie die Vermisstmeldung von Pat Hunger aufgenommen hatte. Es war hilfreich, sich bei der Entgegennahme ein Bild vor Ort zu machen. Dabei hatte Rahel den Eindruck gewonnen, dass in dieser zehnjährigen Ehe nicht mehr viel an Gemeinsamkeit übrig geblieben war und Pat Hunger ihren Mann eigentlich gar nicht vermisste.
Nach dem Essen trank Rahel einen Espresso und machte sich zu Fuß auf zum neuen Dorfteil »Andermatt Reuss«. Mit der Rolltreppe fuhr sie hinunter in die menschenleere Bahnhofunterführung, die einer Ankunftshalle eines Flughafens glich. Die Rollbänder, mit denen im Winter Massen von Skifahrern zum Terminal des Nätschen-Gütsch-Expresses verfrachtet wurden, standen allerdings still. Rahel tauchte auf der anderen Seite der Unterführung wieder auf und ging über den leeren Großparkplatz. Sie unterquerte die Umfahrungsstraße und stand vor dem zehnstöckigen Radisson Blue Hotel Reussen, dahinter Dutzende von Apartmenthäusern und weitere im Bau. Die Gehwege dazwischen waren so schmal und die Häuser so hoch, dass Rahel kaum mehr den Himmel sah. Bestimmt hatten nur die obersten Wohnungen freie Sicht in die Berge.
Punkt sechzehn Uhr läutete sie unten am Eingang des Hauses »Wolf« beim Schild »K.-G. K.«.
Eine Stimme im Lautsprecher fragte nach ihrem Namen, worauf sich die Glastüre öffnete. Mit dem Lift fuhr Rahel in den siebten Stock direkt in die Maisonettewohnung unter dem Dach. Als sie aus dem Lift trat, fiel ihr, wie schon beim ersten Besuch, das riesige Gemälde in blutroten Farben auf. Die Frauenfigur mit schwarzer Schürze und einem Gesicht ohne Nase und Mund schien sie anzustarren. Rahel glaubte, einen erstickten Schrei zu hören.
»Mein Mann sammelt Expressionisten«, sagte Pat Hunger, »vor allem von Schweizer Malern und Malerinnen.« Als Rahel keine bewundernde Bemerkung machte, fuhr sie fort: »Das hier ist ein Bild von Marianne von Werefkin. ›Atmosfera tragica‹ der Titel.« Mit der Malerei war Rahel tatsächlich nicht vertraut, auch hatte sie nie einen Fall gehabt, in dem Gemälde eine Rolle spielten.
Pat Hunger trug einen dunkelblauen Hosenanzug und eine helle Bluse mit feinen rosa Streifen. Wahrscheinlich kam sie direkt von der Arbeit.
»Haben Sie ihn nun endlich gefunden?«, fragte sie, als sie ins Wohnzimmer traten.
»Dazu kann ich Ihnen noch nichts sagen.«
»Ich habe Ihnen Fotos von ihm mitgegeben.«
»Fotos allein genügen nicht für die Identifikation.«
Pat Hunger zeigte zur Sofalandschaft vor dem Panoramafenster mit Blick auf den Gemsstock. Rahel blieb stehen und schaute sich um. Die Wohnung sah so unbewohnt aus wie in einem »Schöner Wohnen«-Magazin abgebildet. Die offene Küche mit Kochinsel machte nicht den Eindruck, als wäre da je gekocht worden. Pat Hunger brachte zwei Espressi, und sie setzten sich.
»Wann haben Sie Ihren Mann das letzte Mal gesehen?«, fragte Rahel.
»Das ist länger her. Irgendwann vor seiner Reise nach Schweden.«
»Wann genau?«
Pat Hunger scrollte im Kalender auf ihrem Mobiltelefon. »Er ist am 14. Mai nach Stockholm geflogen. Dann war das kurz zuvor.«
»Seit knapp sechs Wochen haben Sie ihn also nicht mehr gesehen?«
»Ja.«
»Und wann haben Sie das letzte Mal mit ihm telefoniert? Oder gemailt?«
»Er hat mich nach seiner Rückkehr angerufen. Irgendwann Ende Mai.«
»Können Sie das genauer sagen?«
»Nein.«
Rahel beobachtete, wie Pat Hunger auf der Kante des Sofas saß und ihre Hände über dem einen Knie faltete.
»Sind Sie unterdessen auf einen Abschiedsbrief gestoßen?«, fragte Rahel. »Oder etwas Ähnliches?«
»Kein Brief, kein Mail von ihm. Gar nichts.«
»Er soll zwei Kinder haben, aus erster Ehe.«
»Ich habe sie nie getroffen. Sie sind längst erwachsen und wollen mit ihrem Vater nichts mehr zu tun haben.«
»Haben Sie Kontakt zur Ex-Frau Ihres Mannes?«
»Wir telefonieren ab und zu. In letzter Zeit eher selten. Juliette Schweizer lebt seit der Scheidung vor siebzehn Jahren im Tessin.«
»Haben Sie ihre Koordinaten?«
Pat Hunger machte sich an ihrem Mobiltelefon zu schaffen und übermittelte ihr die Daten.
»Hat einer seiner Freunde sich bei Ihnen gemeldet, weil er ihn vermisste?«, fragte Rahel weiter.
»Nein, niemand. Wobei gemeinsame Freunde sind eigentlich keine übrig geblieben, seit wir uns auseinandergelebt haben.«
»Andere Bekannte? Geschäftsfreunde? Betrieb er Sport?«
»Doch, nun erinnere ich mich«, sagte Pat Hunger, »der Präsident des Golfclubs von Andermatt konnte Kjell-Göran nicht erreichen, wegen eines Turniers. Und da war noch etwas anderes.« Sie durchsuchte ihre Tasche und entnahm ihr eine Aktenmappe. »Ich habe hier auf dem Schreibtisch etwas gefunden, das Sie interessieren könnte, ein ausgedrucktes Manuskript, das ich zuerst selbst lesen wollte.«
»Worum geht es?«
»Ich konnte es nur kurz überfliegen. Es geht um Resorts in der Luxusklasse. Oasen für den High-End-Tourismus, oder so ähnlich.«
»Wie hat er sich da engagiert?«
»Er hat einen Teil seines Geldes in solche Projekte investiert.«
»Wo?«
»Irgendwo im Urnerland. Er ist überzeugt, dass er mit seiner Erfahrung als ehemaliger Finanzchef eines globalen Unternehmens die Zielgruppe, die auf ihren Reisen schon alles erlebt hat und der man etwas ganz Besonderes bieten muss, bestens kenne. Soviel ich weiß, hält er auch Vorträge vor potenziellen Investoren.«
»Das nehme ich gerne mit«, sagte Rahel und zeigte auf die Aktenmappe auf Pat Hungers Knien. »Möglicherweise finden sich darin Hinweise auf das Verschwinden Ihres Mannes.«
»Ich überlasse es Ihnen gerne, wenn ich es durchgelesen habe.«
»Nein. Ich nehme es jetzt gleich mit.«
»Es ist auf Schwedisch geschrieben.« Pat Hunger hielt die Mappe mit beiden Händen fest. »Ich spreche die Sprache zwar nicht, aber lesen kann ich es leidlich. Ich kann es für Sie übersetzen.«
»Besten Dank«, sagte Rahel freundlich, »wir haben einen Übersetzer zur Hand.«
Pat Hunger zögerte. »Aber einen Blick hineinwerfen ist wohl erlaubt. Ich lasse es Ihnen nachher zukommen.«
Rahel zog sich ein paar Plastikhandschuhe an.
»Haben Sie überhaupt einen Durchsuchungsbefehl?«, fragte Pat Hunger.
»Sie möchten bestimmt, dass wir ihn so schnell wie möglich finden.«
»Auf jeden Fall.«
Pat Hunger übergab ihr die Aktenmappe, und Rahel steckte sie in eine Plastiktüte. Sie fuhr fort: »Ich bin gekommen, um DNA-Spuren für einen Vergleich zu erfassen.«
Pat Hunger wartete.
»Ich brauche einen Kamm, den Ihr Mann benutzt hat, oder eine Zahnbürste.«
Pat Hunger stand auf und ging zum Sideboard, wo sie beides bereitgelegt hatte. Rahel erhob sich ebenfalls und packte beides in je eine Plastiktüte. »Trug Ihr Mann eine Armbanduhr?«
»Wieso?«
»Wäre ein Hinweis zur Identifikation.«
»Ja, eine recht auffällige.«
»Welche Marke? Oder können Sie sie beschreiben?«
»Eine IWC. Mit Mondkalender und allem Chichi. Ich weiß nicht, wozu man das alles braucht.«
Rahel nickte unmerklich. Ein Hinweis mehr, dachte sie, zog die Plastikhandschuhe aus und ließ ihren Blick durch die Wohnung streifen. »Darf ich?«, fragte sie nach einer Weile und zeigte auf das Zimmer mit der verschlossenen Türe und auf die Treppe, die ins Galeriegeschoss führte.
»Drei Schlafzimmer, es steht Ihnen alles offen.« Pat Hunger begleitete Rahel zum Master Bedroom mit integriertem Badezimmer, die Badewanne stand mitten im Raum mit Blick in die Berge. Vor dem Spiegel bemerkte Rahel nur männliche Toilettenartikel. Medikamente sah sie auf den ersten Blick keine. Als sie einen der Spiegelschränke öffnete, fielen ihr zuerst die Verpackungen mit Insulin auf, daneben Nadeln und Spritzen. Pat Hunger bestätigte, dass ihr Mann Diabetiker sei. Rahel öffnete die Schiebetüre, die zur Kleiderkammer führte. Ein Dutzend Herrenanzüge in Schwarz, Grau und Dunkelblau sowie zwei helle sommerliche Baumwollanzüge hingen an einer Stange und an einer anderen ein Dutzend Hemden. Freizeitkleider für Golf, Tennis und Wandern waren auch da. Sie warf auch einen Blick aufs Schuhgestell. Der Mann lebte auf großem Fuß.