Finsternis - Hayo Peter Innemann - E-Book

Finsternis E-Book

Hayo Peter Innemann

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Beschreibung

Der Schädel der Schlange, so hieß es lange Zeit, sei nichts weiter als ein Mythos - bis jetzt. John Mac Lane und Henry Flaubert, zwei Vampiren aus dem modernen Tokyo, wäre es mehr als lieb gewesen, wenn es ein Mythos geblieben wäre. Doch mit dem Auftauchen eines Schlüssels und seltsamen, verbrannten Leichen, wird der Mythos bittere Realität. Ein Wettlauf zwischen Vampiren und Engeln entbrennt, denn in den Händen der Himmlischen bedeutet der Schädel den endgültigen Tod für alle Vampire.

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Dieses Buch ist meiner geliebten Frau Nadine und unseren

beiden Töchtern, Helena und Fiona, gewidmet. Ohne ihre

Unterstützung wäre dieses Werk nicht entstanden.

Ich danke allen Testlesern für ihre unschätzbare Hilfe

- allen voran meinem guten Freund, Sven H. -

Ich danke Kaffee.

Inhalt

Prolog: Dead End

Kapitel 1: Das schwarze Herz

Kapitel 2: Routine

Kapitel 3: Finsternis

Kapitel 4: Alte Freunde

Kapitel 5: Fliegende Ratten

Kapitel 6: Hardrock Halleluja

Kapitel 7: One night in Tokyo

Kapitel 8: Götter

Kapitel 9: Die Reise beginnt

Prolog

Dead End

Márkos konnte nicht sagen, ob es ihm noch folgte, oder ob er es geschafft hatte das Ding im dichten Regen und nächtlichen Wirrwarr der tokyoter Fußgänger abzuhängen. Er hatte keine Erklärung für das, was geschehen war. Die ganze Zeit über war er so vorsichtig gewesen. Und nun? Er war auf der Flucht. Sein Partner, nur noch ein Haufen Asche.

Wer außer Blake konnte gewusst haben, dass sie in der Stadt waren? Warum waren sie nicht, wie geplant, von Mac Lane und Flaubert am Flughafen abgeholt worden? Zu viele offene Fragen.

Márkos rannte um sein Leben. Immer wieder sah er sich panisch um. Wenn er es bis zum „Dead End“ schaffte, hatte er vielleicht noch eine Chance. Wenn etwas schief laufen sollte, so hatte Blake ihnen gesagt, sollten sie in dieser Bar nach ihm fragen. Und etwas lief hier gewaltig schief.

Es konnte nicht mehr weit sein. Márkos' Herz raste und er konnte es bis in die Kehle spüren. Plötzlich verlor er den Halt auf dem nassen Gehweg und rutschte aus. Er fiel hin und überschlug sich, ehe ihn ein Mülleimer bremste. Er war sofort wieder auf den Beinen, doch sein Knöchel schmerzte höllisch. Vermutlich hatte er ihn sich beim Sturz verstaucht - oder schlimmer. Aber er hatte keine Zeit. Er musste weiter, oder er war tot.

Adrenalin. Gutes altes Adrenalin. Es hielt ihn aufrecht und gab ihm die Kraft weiter zu rennen. Es würde ihm das Leben retten.

Nur noch drei Straßen und es war geschafft.

Der Schmerz wurde heftiger. Wie ein Messer drang er tiefer und tiefer in sein Bewusstsein vor.

Noch zwei Straßen. Es begegneten ihm kaum noch Menschen. Der Schmerz wurde unerträglich. Es half nichts, er musste weiter. Er hatte gesehen, was es mit seinem Partner gemacht hatte.

Nur noch eine Straße. Der Fuß setzte auf. Übermächtiger Schmerz verdrängte alles andere. Márkos stolperte und fiel. Ein gurgelnder Schmerzensschrei drang durch den Regen. Er hielt sich den Knöchel. Blut sickerte durch die Socke. Mit zitternden Händen zog Márkos die Socke hinab. Ein offener Bruch. Knapp über dem Knöchel ragte ein Stück Knochen aus der Haut.

Egal. Er musste aufstehen. Schnell riss er den Socken entzwei. Mit einem Ruck drückte er den Knochen wieder zurück unter die Haut. Der Schmerz verschlug ihm den Atem. Kein Schrei. Ihm wurde schwindelig und einige Sekunden schwarz vor Augen. Mit zitterigen Händen wickelte er den Stoff so fest es ging um die Wunde. Schmerz durchströmte ihn. Hoch mit dir! Du wirst hier nicht verrecken! Weiter! Los! Er stand auf. Schmerz.

Er würde nicht rennen können; laufen, mit Glück, aber nicht rennen. Trotzdem, versuchen musste er es. Er setzte den Fuß auf; eine Welle aus Schmerz brach über ihm zusammen. Ein stummer Schrei und er blieb stehen. So ging es nicht. Fast wären ihm wieder die Sinne geschwunden. Er musste humpeln.

Diese Gasse. Nur noch diese Gasse entlang. Der Hintereingang des „Dead End“ war schon deutlich zu sehen.

Ein Schatten an der Wand. Márkos wirbelte herum.

Ein alter Mann in zerlumpter Kleidung war aus den Schatten getreten. „Etwas Kleingeld?“, fragte der Mann krächzend und hielt Márkos eine verbeulte Blechdose hin.

Márkos' Herz schlug wie wild. Hastig kramte er einige Münzen aus der Tasche seines Mantels und warf sie in die Dose. Der Mann bedankte sich und verschwand torkelnd in der Gasse.

Márkos seufzte erleichtert. Sein Herz beruhigte sich etwas und er starrte dem Alten einen Moment hinterher. Normalität - nur ein kleines Stück. Er fühlte sich etwas sicherer. Vielleicht hatte er den Verfolger tatsächlich abgehängt. Ein schwaches Lächeln huschte über sein Gesicht und er bemerkte nicht, wie direkt hinter ihm eine dunkle Gestalt lautlos aus dem Boden wuchs.

Márkos' Mine versteinerte schlagartig und er drehte sich hastig um. Die Gestalt trug eine schwarze Kutte, deren Kapuze tief ins Gesicht gezogen war. Er hatte seinen Verfolger weder gesehen, noch gehört, er hatte einfach seine Kälte gespürt - diese kosmische Kälte.

Das Spiel war vorbei und er hatte verloren.

Dunkelheit war alles, was man unter der Kapuze sehen konnte. Alles beherrschende Dunkelheit. Die Gestalt hob langsam den rechten Arm.

Márkos wusste, was folgen würde. „Wie kann etwas, dass so kalt ist, solche Macht über das Feuer haben?“, fragte er und starrte mit wässrigem Blick in die Finsternis unter der Kapuze, um dort etwas zu finden, mit dem er reden konnte.

Eine klauenartige, lederig rotbraune Hand, mit zentimeterlangen, schwarzen Klauen rutschte unter dem Saum des Ärmels hervor. Die Gestalt legte sie mit gespreizten Fingern auf Márkos' Brust.

Eine Träne ran über seine Wange, als Márkos die Augen schloss und sich in sein Schicksal ergab.

Innerhalb von Sekunden flackerten winzige, orangene Lichter unter der Kapuze auf, die sich rasend schnell zu lodernden roten Flammen steigerten.

Ein letzter, unvollendeter Schrei und Márkos brach tot zusammen. Ein großes Loch prangte an der Stelle, an der zuvor sein Brustkorb gewesen war. Kleidung, Haut, Muskeln, sogar Knochen, waren in Sekunden verbrannt.

Die Gestalt beugte sich zu Márkos' Leichnam hinab. Mit der entstellten Hand drehte sie Márkos' Überreste auf den Rücken und aus den Tiefen des linken Ärmels schob sich eine normale, menschliche Hand. Gerade, als die Gestalt etwas aus der Manteltasche des Toten ziehen wollte, erleuchtete ein gleißender Lichtstrahl die Gasse taghell.

Die Gestalt stieß einen zischenden Laut aus. Sie hob einen der langen Ärmel ihrer Kutte hoch vor die Kapuze um sich vor dem Licht, das ihr starke Schmerzen bereitete, zu schützen. Hektisch versuchte sie aus der Tasche des Toten zu bergen, weshalb sie gekommen war.

Eine Welle aus gleißendem Licht schoss über die Gestalt hinweg und sie ließ augenblicklich ein markerschütterndes, schmerzverzerrtes Quieken hören. Die Gestalt versuchte verzweifelt sich in die Schatten der Gasse zurückzuziehen, doch eine zweite Welle aus Licht schoss durch die Gasse und die Kreatur war verschwunden.

Kapitel 1

Das schwarze Herz

1

Die drei schwarzen Türme erhoben sich im Herzen Tokyos wie gigantische Monolithen. Wie aus einem einzigen, riesigen Stück schwarzen Obsidians gefertigt ragten sie bedrohlich, aber dennoch majestätische in den Himmel. Der hinterste Turm des Dreigespanns war der Höchste und überragte seine beiden, untereinander gleich hohen, Geschwister um etliche Meter. Eine gemeinsame runde Basis bildete das Erdgeschoss des imposanten Gebäudekomplexes, der in seiner Gesamtheit als der „Black Tower“ bekannt war.

Offiziell war dieses beeindruckende Bauwerk die Konzernzentrale des Darkwater Konzerns, eines Milliarden schweren, internationalen Großunternehmens. Im- und Export, Elektrotechnik, Land- und Baumaschinen gehörten genau so zu den Unternehmenszweigen, wie Bereiche der Agrarwirtschaft, Gesundheitsfürsorge und Rüstungsindustrie.

William Darkwater, der Firmenvorstand des Darkwater Konzerns, galt nicht nur in der Geschäftswelt als genau so charmant, wie skrupellos. In anderen Kreisen hingegen wusste man, dass es gar keinen William Darkwater gab und nie gegeben hatte. In diesen Kreisen lautete sein Name Dante Blake. Auch in diesen Kreisen galt er als skrupellos. Nicht mehr.

Kein Mensch wusste jedoch, was wirklich hinter der strahlenden Fassade des weltweit agierenden Unternehmens und seines Vorstands steckte. Tief unterhalb des Black Towers, im Untergrund der Stadt, lag das wahre, schwarze, Herz des Unternehmens; und der Stadt. Hier, in einigen Hundert Metern Tiefe, verborgen vor den Augen und Ohren der unwissenden Sterblichen, lag das Zentrum der vampirischen Macht Tokyos.

Versteckt, begraben, tot aber lebendig, schlägt das schwarze Herz in seinem unsterblichen Takt.

2

Die schwarze Limousine mit den getönten Scheiben hielt direkt vor dem Eingang des Black Towers an. Zögerlich wurde die hintere, rechte Tür geöffnet und zwei Männer, Henry Flaubert und John Mac Lane, stiegen aus.

Flaubert war mit seinen ein Meter dreiundachtzig schon zu Lebzeiten, im Frankreich des achtzehnten Jahrhunderts, ein Mann von beachtlicher Statur gewesen. Heute, hier in Tokyo, ragte er buchstäblich aus der Menge hervor. „Er bringt uns um, dass ist dir doch klar?“, fragte Flaubert Mac Lane besorgt und rieb sich nachdenklich sein markantes, stoppeliges Kinn.

„Quatsch“, erwiderte Mac Lane ruhig, aber bestimmt und streichelte dem toten Hamster, den er seit Kurzem in seiner Manteltasche mit sich zu führen pflegte, behutsam über den Rücken. Der kurzhaarige, leicht rot-blonde Mann war zwar etwas kleiner als Flaubert, aber immer noch größer als der Durchschnitt. Von einem Vergleich zwischen ihnen abgesehen, war Mac Lane ohnehin der Ansicht, dass es gar keine kleinen Schotten gab; zumindest hatte er seit den knapp fünfhundert Jahren seiner Existenz nie einen gesehen. „Glaubst du ernsthaft, er hätte sich die Mühe gemacht uns aus dem Knast zu holen und herbringen zu lassen, weil er so ein netter Kerl ist?“

„Du hast gehört, was er mit Jack gemacht hat?“, fragte Flaubert und sah Mac Lane mit seinen blauen Augen eindringlich an.

Mac Lane zuckte mit den Schultern. „Das ist was anderes. Jack ist immerhin sein Sohn. Das hatte was mit Erzie­hung zu tun.“ Und Mac Lane wünschte sich insgeheim, er könnte selbst an seine Worte glauben.

„An eurer Stelle würde ich mich langsam in Bewegung setzen!“, rief ihnen der Fahrer der Limousine durch das heruntergelassene Fenster zu. „Er kann es nicht ausstehen, wenn man ihn warten lässt.“

„Wissen wir!“, antworteten Mac Lane und Flaubert im Duett.

„Na los! Komm schon“, sagte Mac Lane auffordernd und gab Flaubert einen Schubs in Richtung Eingangstür. „Nach dir!“

Flaubert schüttelte missmutig seinen braunen Ledermantel aus, dann setzte er sich in Bewegung. Wirklich überzeugt hatten ihn Mac Lanes Argumente zwar nicht, aber ganz sicher würde es ihre Lage auch nicht verbessern, wenn sie Blake länger als nötig warten ließen.

3

Die beiden Männer betraten das Gebäude.Das Echo ihrer Schritte wurde vom Marmorfußboden und den blanken, schwarz glänzenden Wänden der Eingangshalle hundertfach zurückgeworfen. Aus welchem Material die schwarzen Wände gefertigt waren, konnte keiner von beiden mit Bestimmtheit sagen.

Links und rechts hingen einige teuer aussehende, große Ölgemälde in schweren Rahmen an den blanken Wänden. Nur eine dicke, rote Samtkordel schirmte sie von den Besuchern ab.

Jahre lang waren Flaubert und Mac Lane nun schon in diesem Gebäude ein und aus gegangen, doch diese schwarzen Wände waren Flaubert noch immer nicht geheuer. Ihre glänzende Oberfläche schien einfach alles in sich aufzusaugen, ja regelrecht zu verschlingen. Sogar das Licht wurde nicht einfach von ihnen reflektiert. Es schien vielmehr so, als käme es verändert, und irgendwie kälter, direkt aus den finstersten Tiefen der Wände selbst, wieder hervor. Keine Pflanze, kein Stuhl und keine Person spiegelte sich in ihrer kalten Oberfläche. Jedes Mal, wenn Flaubert sie länger anstarrte, hatte er das Gefühl von ihnen angezogen zu werden, gerade so, als wären sie lebendige Raubtiere, auf der Lauer nach unvorsichtiger Beute.

Mac Lane hingegen spazierte einfach ruhig und unbekümmert neben Flaubert her.

Flaubert jedoch blieb plötzlich stehen. Wie hypnotisiert starrte er die Wand zu seiner Linken an. Er hatte sich insgeheim schon oft gefragt, ob die rote Samtkordel zum Schutz der Gemälde vor den Besuchern diente, oder ob vielmehr Gemälde und Kordel gleichsam zum Schutz der Besucher vor den Wänden dienten. Je länger er die Wand anstarrte, desto sicherer war er sich ein leises, wimmerndes Flüstern zu hören. Ein Flüstern, das deutlich lauter zu werden schien, je länger man die Wände ansah. Ein forderndes, gieriges Geplapper, diabolisch verzerrter Stimmen. Flaubert ging einige Schritte weiter auf die Wand zu. War es seine Neugierde, die ihn in diesem Moment vorantrieb? Oder hatte er bereits die Kontrolle über sein Handeln verloren? War er vielleicht längst völlig dem Bann der Wände erlegen? Dem Bann dieser schwarzen Wände. Dieser teuflischen, schwarzen Wände. Dieser herrlichen, schwarzen Wände. Dieser wunderschönen, schwarzen Wände.

Wunderschön und schwarz.

Schwarz.

Flaubert wusste es nicht. Er stieg über die rote Absperrung. Nur noch wenige Schritte trennten ihn von der Wand. Wie von blinder Vorfreude, maßlosem Verlangen, und grenzenlosem Wahnsinn beherrscht, schienen sich die flüsternden Stimmen auf einmal zu überschlagen. Flaubert hob die Hand um die Wand zu berühren.

„Verzeihung!“, rief eine laute Stimme und riss Flaubert aus seiner Trance. Ruckartig zog er seine Hand zurück und schaute sich verwundert um. Der Portier, der bisher regungslos hinter seinem Tisch am Ende des Foyers gesessen hatte, war aufgestanden. Er war sichtlich nervös und sah Flaubert, der noch immer innerhalb der Absperrung stand, vorwurfsvoll an. „Würden sie bitte wieder hinter die Absperrung zurücktreten?“

„Natürlich“, antwortete Flaubert knapp und gab sich Mühe dabei so gefasst wie möglich zu wirken.

Mit großen Schritten hielt Mac Lane zielstrebig auf Flaubert zu. „Was treibst du denn? Du und dein Tick mit diesen Wänden!“, schimpfte Mac Lane. Verdammter Idiot! Er hat ja keine Ahnung.

„Was regst du dich so auf?“, fragte Flaubert.

„Jedes Mal, wenn wir hier durchgehen, erzählst du mir, dass dir die Wände unheimlich sind“, begann Mac Lane.

„Ja und?“

„Und was sage ich dir dann immer?“

„Ich soll mich nicht so anstellen und lieber die Bilder betrachten oder so was. Dann nennst du mich meistens noch Idiot, ich dich Irrer und wir streiten, bis wir im Fahrstuhl sind“, leierte Flaubert besserwisserisch herunter.

„Na also. Aber tut der Herr, was man ihm sagt? Nein!“, meckerte Mac Lane.

„Is' ja gut“, beschwichtigte Flaubert und ging weiter.

Mac Lane sah hinüber zur Wand und starrte sie einen Moment lang an. Die Panik in seinem Blick war deutlich zu erkennen. „Ja ich weiß, ich höre sie auch ...“, flüsterte er an den Hamster gewandt und streichelte ihn sanft.

Flaubert hatte unterdessen den Portier passiert und hielt geradewegs auf die Aufzüge zu. Vier in der linken Wand, vier in der rechten Wand und drei an der Rückwand des Foyers. Der mittlere dieser drei hatte jedoch keine Knöpfe zur Wahl der Fahrtrichtung, sondern dort wo sie sich normalerweise befinden sollten, gab es nur eine große Metallplatte mit einem breiten Schlitz. Ein Kartenlesegerät.

Flaubert, der inzwischen seine Brieftasche aus den Tiefen seines Mantels hervorgekramt hatte, suchte in ihr herum und zog schließlich eine Magnetkarte heraus.

„Muss das sein?“, fragte Mac Lane, der gerade hinter Flaubert getreten war.

„Halt die Klappe“, fauchte Flaubert bestimmt und funkelte Mac Lane böse an. Der verdrehte nur die Augen.

Ein Piepsen verriet, dass Flauberts Magnetkarte akzeptiert worden war. Aus der Metallplatte klappten langsam ein Handflächen- und Stimmscanner aus.

Flaubert legte die rechte Hand auf das Gerät, welches augenblicklich mit dem Abtasten der Handfläche begann. „Henry Flaubert“, sagte er in perfektem Französisch.

Mac Lane stand mit bis zum Anschlag hochgezogenen Augenbrauen und gespitzten Lippen hinter Flaubert und tat so, als würde er gerade ein Croissant in eine Tasse Kaffee tunken, wobei er betont vornehm seine kleinen Finger abspreizte. Er konnte es nicht ausstehen wenn Flaubert, oder irgendwer sonst, Französisch sprach.

„Bereit?“, fragte Flaubert.

„Oui!“

Flaubert sah Mac Lane finster an. „Ich hab' dir schon hundert Mal gesagt, du sollst mich nicht nachäffen!“, schrie er Mac Lane an.

„Oh!“, erwiderte Mac Lane mit gespielt übertriebenem französischem Akzent, als die Fahrstuhltür aufsprang.

„Isch abe solsche Ongst! Isch offe Monsieur Smörrebröd wird misch nischt mit seine große Baguette verprügeln!“

„Wahnsinnig witzig. Los! Schieb' deinen Arsch da rein!“, befahl Flaubert und nickte in Richtung des offen stehenden Aufzugs, während er seine Karte wieder aus dem Lesegerät zog.

„Ja, ja. Ihr Franzosen habt eben einfach keinen Sinn für Humor“, sagte Mac Lane betont ruhig und trat in den Aufzug, dicht gefolgt von Flaubert.

Ein mulmiges Gefühl breitete sich in Flauberts Magengegend aus. Er mochte diese Treffen gar nicht. Normalerweise bedeuteten sie Ärger. Blake bestellte sie gewöhnlich nur aus drei Gründen zu sich:

Wenn er einen neuen, gefährlichen Auftrag für die beiden hatte.

Um ihnen wichtige Informationen zukommen zu lassen.

Oder - und dies war nach den Ereignissen der vergangenen Nacht mit bedauernswerter Gewissheit auch heute der Grund - um ihr Versagen zu bestrafen.

Die Fahrstuhltür öffnete sich und die beiden Männer betraten den Vorraum zu Blakes Büro. Die schiere Größe des gut zwanzig mal dreißig Meter messenden Raums, ließ jedem Besucher, der ihn zum ersten Mal betrat, den Atem stocken. Der gesamte Boden bestand aus feinstem, weißem Marmor. Die Fugen zwischen den einzelnen Platten waren so dünn und geschickt verfugt worden, dass er aussah, wie eine einzige, weiß schimmernde Ebene. Die erlesenen Teppiche im Raum stammten nur aus den besten und namenhaftesten Manufakturen der Welt. Besucher mit dem nötigen Kunstverstand und Respekt, vermieden es die teuren Webarbeiten zu betreten und gingen stattdessen auf dem schmalen Grat, der zwischen ihnen freigelassen war.

Auch an den Wänden hingen Teppiche. Die vier zweifellos alten, großen Gobelins waren teilweise bereits sehr verblasst, oder ausgefranst, dadurch aber nicht weniger beeindruckend, oder wertvoll. Das es sich um Originale handelte stand außer Frage. Zwischen den Gobelins hingen in schweren, kunstvoll gestalteten Rahmen die Bilder des Firmenvorstands. Einzig William Darkwater selbst befand sich nicht unter ihnen.

Zwischen den Teppichen, unter den Bildern, standen Sockelvitrinen. In den dezent beleuchteten Vitrinen waren diverse antike Kunstgegenstände von beachtlichem Alter und Wert verteilt. Auch wenn jedes dieser Stücke ein kleines Vermögen wert war, so waren sie doch nicht die Glanzstücke aus Blakes Privatsammlung. Museumskuratoren der ganzen Welt wären bereit gewesen zu morden, um nur einen Blick auf diese Raritäten werfen zu können. Die Glanzstücke schmückten Blakes Büro.

Ganz am Ende des Raums, den Aufzügen gegenüber, lag der Schreibtisch von Blakes Assistentin. Der prächtige alte Eichentisch zog, wie alles andere in diesem Raum, unweigerlich früher oder später die Aufmerksamkeit auf sich.

Direkt hinter dem Tisch nahm die mächtige, doppelflüglige Tür zu Blakes Büro ihren Platz in der Mitte der Wand ein. Wollte man Blakes Büro betreten, musste man erst den Tisch seiner Assistentin umrunden. Die Tür war mit kunstvollen Verzierungen in Form von Bildnissen antiker, griechischer Götter übersät. Sie machte eher den Eindruck, als gehörte sie in das Portal eines antiken Tempels, als in ein neuzeitliches Bürogebäude.

Blakes Assistentin saß in einem roten Ledersessel hinter dem Tisch. Der elegante, schwarze Hosenanzug und das tiefschwarze Haar der jungen Frau ließen ihre ohnehin blasse Haut noch deutlich heller wirken.

„Hey, Yumi“, sagte Flaubert, als die beiden Männer den Tisch erreicht hatten. Er hob die Hand zum Gruß, Mac Lane tat es ihm gleich.

„Hi, Jungs!“, rief Yumi zurück, lächelte und legte mit geschickten Fingern eine Strähne ihrer langen, schwarzen Haare zurück hinter das Ohr. „Er wartet schon auf euch. Hat aber nicht die beste Laune heute.“

Nicht die beste Laune?, rekapitulierte Flaubert. So lange sie Blake kannten war seine gute Laune bereits nicht die beste Laune gewesen. „Los.“ Flaubert gab Mac Lane einen Schubs. „Du zuerst.“

„Ja, ja!“, brummte Mac Lane und stieß die Türhälften schwungvoll auf.

4

Wenn man es noch nie zuvor gesehen hatte, konnte man bei Blakes Büro leicht den Eindruck bekommen, man hätte sich in der Tür geirrt und sei in einem Museum gelandet.

Statuen, Götzen, Reliquien und andere Artefakte, sowie kostbare und ebenso kunstvolle Waffen aus den verschiedensten Epochen der unterschiedlichsten Kulturen der Erde – zumindest stammten die meisten von hier -, waren in Vitrinen und auf Sockeln platziert, oder schmückten die Wände.

Ein Stück, das Blake wohl besonders gern haben musste, war eine karmesinrote Rose. Die prächtige Blume mit ihrem üppigen Kopf und dem satt grünen Stängel, ruhte unter einer Glaskuppel auf einer Säule, gleich neben seinem Schreibtisch. Diese Blume – so wunderschön sie auch war – hatte etwas seltsames an sich. Eine feine, goldene Tafel schmückte den Sockel und verkündete:

»ES GIBT ANDERE ALS DIESE WELTEN«

5

Am äußersten Ende des Raumes, der Eingangstür gegenüber, lag Blakes Schreibtisch. Ein steinerner Gigant von vier Metern Länge und beinahe zwei Metern Tiefe. Seine Vorderseite war geschmückt mit abscheulich entstellten Fratzen dämonischer Kreaturen und den blutigen Szenen bizarrer Menschenopfer. Groteske Wesen, die aussahen wie fette, spinnenbeinige Egel, huldigten einer finsteren, dämonischen Gottheit, deren Antlitz aus dem Stein heraus gebrochen worden war. Niemand konnte sagen, woher genau dieser Stein stammte, oder wie alt er war. Sicher war nur, dass es sich um einen Opferaltar handelte, den Blake als Schreibtisch benutzte.

Ein riesiges Panoramafenster, gleich hinter Blakes Stuhl, bildete die Rückseite des Raumes und bot einen beeindruckenden Blick über die Dächer Tokyos.

6

Mac Lane wollte gerade den ersten Schritt in das Büro machen, als ein Schuss von den Wänden widerhallte. Mac Lane ging zu Boden. Drei Viertel seines Kopfs waren zerfetzt worden und fehlten.

„Boss i…“, brachte Flaubert noch heraus, nachdem er realisiert hatte, was geschehen war. Ein zweiter Schuss. Auch Flaubert ging zu Boden, ebenfalls mit zerfetztem Schädel.

„Los, hoch mit euch!“, zischte Blake. Der einen Meter und achtzig große, athletisch gebaute Blake trug einen feinen, schwarzen Maßanzug. Sein schwarzes Haar war ordentlich zurechtgelegt und seine Augen, die so blau und durchdringend waren wie reines Eis - und genauso kalt – musterten die Überreste der beiden Männer.

Er legte die großkalibrige Waffe in Griffweite auf die Platte seines Schreibtisches. Als wäre nichts gewesen glitten seine Arme auf die Lehnen seines großen, schwarzen Ledersessels zurück und er drehte sich im Stuhl in Richtung Fensterfront. „Vielleicht erinnert ihr euch daran, dass ich geschäftlich in New York zu tun hatte“, erzählte Blake mit ruhiger Stimme.

Unterdessen hatten Schädelknochen, Blutgefäße und Gehirn der beiden Männer begonnen, sich im Zeitraffertempo zu regenerieren. Muskelgewebe bildete sich und begann rasend schnell die kahlen Schädelknochen wieder zu bedecken und schließlich hatten sich auch Haut und Haare regeneriert.

Mac Lane und Flaubert standen auf. Ihnen dröhnte der Schädel. Nur weil sie untot waren, bedeutete das keineswegs, dass sie keinen Schmerz spürten. Beide waren gut genug trainiert, dass normale Munition ihren untoten Körpern nichts - oder zumindest so gut wie nichts - anhaben konnte; einer der vielen Vorteile, den Vampire genossen. Die meisten Vampire, besonders solche höheren Alters, hatten für Angreifer mit Schusswaffen daher meist nur ein müdes Lächeln übrig. Doch der Kopf blieb leider trotzdem ein empfindlicher Körperteil - und Blake verschoss auch keine gewöhnlichen Kugeln.

„Ihr könnt euch sicher meine Verwunderung darüber vorstellen, dass ihr meine Anrufe nicht beantwortet habt“, sagte Blake ruhig - innerlich brodelte er. „Ich war, wie soll ich sagen, etwas ungehalten.“ Blake drehte sich langsam um und sah beide an. „Als William Darkwater gastierte ich gestern Nacht, nach meiner Rückkehr aus New York, auf der Feier zum Fünfundsechzigsten Geburtstag des Polizeipräsidenten.“

Flaubert und Mac Lane tauschten einen nervösen Blick aus, dann starrten sie wieder Blake an, dessen Finger sich langsam tief in die Enden seiner Sessellehnen bohrten.

„Ihr könnt euch bestimmt auch vorstellen, wie mir zu ­mute war, als man dem Polizeipräsidenten auf seiner Geburtstagsfeier mitteilte, dass zwei geisteskranke Irre durch die Stadt gerast sind und in einem Krankenhaus randaliert haben. Zwei Irre, deren Beschreibung ausgesprochen gut auf zwei Idioten zutrifft, die für mich arbeiten. Habt ihr auch nur die leiseste Ahnung, was es mich gekostet hat euch aus dem Knast zu holen? Ihr zwei habt gegen sämtliche mir bekannten Regeln des Straßenverkehrs verstoßen. Ein Zivilfahrzeug zu Schrott gefahren, vier Polizeibeamte schwer verletzt, zwei Einsatzwagen der Polizei zerstört, ein Reisebüro zerlegt“, Blake hielt inne und funkelte sie kopfschüttelnd an. „Ein Reisebüro. Ernsthaft?“ Blakes Augen sprühten vor Zorn und er zählte weiter auf. „Eine Häuserfront vernichtet, ein Hospital zerlegt, einen Arzt ins Koma geprügelt, einen anderen Arzt mit einem Defibrillator fast umgebracht, einen Bus entführt, einen Busfahrer Krankenhaus reif geprügelt und eine hilflose alte Frau entführt. Sollte ich etwas vergessen haben?“

„Ich habe immerhin den Hamster gerettet!“, verkündete Mac Lane stolz. Er zog den toten Hamster aus der Tasche und hob ihn in die Höhe.

Wieder hallte ein Schuss durch den Raum. Mac Lane ging abermals kopflos zu Boden.

Blake schien sich nicht gerührt zu haben und doch lag die Waffe mit rauchender Mündung neben ihm auf dem Tisch. Er hatte sich so schnell bewegt, dass es für andere nicht wahrnehmbar gewesen war.

Flaubert stand einfach still da. Er versuchte nichts zu denken, nichts zu tun.

„Mac Lane“, zischte Blake. „Ich bringe dich nur aus einem Grund nicht auf der Stelle um, und zwar weil du und Flaubert etwas für mich erledigen werdet. Etwas, das ihr Genies schon gestern Nacht hättet erledigen sollen, anstatt euch zu amüsieren.“ Blake griff sich die Tageszeitung vom Schreibtisch und breitete die Titelseite auf dem Tisch aus.

Flaubert trat, gefolgt von Mac Lane, der sich gerade aufgerafft hatte, näher. Flauberts Augen weiteten sich ungläubig und er öffnete unwillkürlich den Mund. Auf der Titelseite der Zeitung war sein Bild. Das Bild, das ein Mann vor dem Reisebüro von ihm gemacht hatte. „Verrückter randaliert in Reisebüro – Polizei machtlos?“ Lautete die Überschrift.

Mac Lane lachte aus vollem Hals los.

„Chique“, sagte Blake trocken. „Besonders die Blume im Haar - sehr neckisch. Die Zeitungen sind voll davon, gratuliere. Will ich wissen, was ihr da veranstaltet habt?“, fragte Blake rhetorisch.

„Dafür kann ich nichts, Boss! Ich …“, sagte Flaubert bis er Blakes zornigen Blick auffing.

Blake schüttelte nur den Kopf. Er zog eine Akte aus einem Stapel auf dem Schreibtisch hervor und schlug sie auf, dann legte er sie über die Zeitung. „Márkos Kraikos“, sagte Blake. „Ihr hättet ihn gestern am Flughafen abholen und hierher bringen sollen.“

„Chauffeur spielen für diesen Kerl? Was soll denn daran so schwer gewesen sein, dass du unbedingt uns beide dazu gebraucht hättest?“ Flauberts Meinung nach gab es genug anderes Personal für eine so wichtige Aufgabe wie Babysitten.

„Das Schwierige an der Sache wäre gewesen, ihn lebendig hier abzuliefern“, presste Blake wütend heraus. Seine Augen funkelten Flaubert bedrohlich an, sodass der instinktiv einen Schritt zurücktrat. „Ich habe mich nicht zum Sightseeing in New York herumgetrieben. Im Gegensatz zu euch habe ich gearbeitet“. Blakes Finger glitten andächtig über die Knopfleiste sein Jacketts. „Die Gegenleistung für den Job in New York, waren Informationen. Natürlich hätte ich mir diese Informationen auch ohne Gegenleistung beschaffen können, aber auf Dauer gesehen sind vertrauensvolle, lebendige Kontakte mehr wert, als der kleine Aufwand. Nicht einmal ich kann überall gleichzeitig sein.“

„Was für Informationen?“, fragte Flaubert. Mac Lane versetzt ihm einen tadelnden Stoß mit dem Ellenbogen in die Rippen. „Schhh!“, zischte er Flaubert aus dem Mundwinkel an.

„Informationen über ein Artefakt“, erklärte Blake. „Seine bloße Existenz war lange Zeit für einen Mythos gehalten worden. Dieser Mann“, Blake nickte in Richtung der aufgeschlagenen Akte auf dem Tisch vor sich. „Sollte, zusammen mit einem Kollegen, zwei Edelsteine von Griechenland nach Tokyo überführen. Da unsere lieben Artgenossen in Griechenland jedoch nicht, anders als wir drei, das ausgesprochene Glück haben unter der Sonne wandeln zu können, schickten sie zwei Sterbliche aus ihrem Gefolge.“

„Lass mich raten, die Idioten haben sich in der Stadt verlaufen und wir sollen sie dir jetzt wiederbringen?“ Mac Lane streichelte dem toten Hamster behutsam über den Rücken. Er hatte das Tier in der Zwischenzeit wieder in seinen Mantel gesteckt.

Blake wollte gerade antworten, als Flaubert ihn unterbrach. „Du kannst nicht immer alle Leute einfach als „Idioten“ bezeichnen.“ Er sah Mac Lane verärgert an.

„Wenn sie aber doch Idioten sind?“, fragte Mac Lane ruhig.

„Woher willst du das denn wissen? Du kennst die beiden Männer doch gar nicht.“

„Na und? Was gibt ’s denn da zu kennen? Die haben sich verlaufen. Solche Leute sind für mich Idioten.“

„Sie haben sich in einer fremden Stadt verlaufen!“

„Und? Hätten ja einen Stadtplan mitnehmen können. Idioten!“

„Sie haben sich nicht verlaufen, ihr verdammten Vollidioten! Sie sind tot!“ Blake war aufgestanden und stützte sich mit beiden Händen auf dem Tisch ab. Er kochte vor Wut.

„Mr. Darkwater?“, ertönte Yumis Stimme unerwartet aus der Gegensprechanlage auf dem Schreibtisch.

„Was?“ Blake brüllte in unverminderter Lautstärke in das Gerät. Er brauchte einen Moment um zu realisieren woher die Stimme gekommen war und sich etwas zu beruhigen. „Was gibt es denn?“

„Der 12-Uhr-Termin ist auf dem Weg nach oben.“

„Danke“, antwortete Blake knapp.