Fische gegen Krebs - Sonja Funke - E-Book

Fische gegen Krebs E-Book

Sonja Funke

5,0

Beschreibung

Überbordend und nachdenklich zugleich, unprätentiös und mit einer gehörigen Portion Galgenhumor erzählt Sonja Funke die Geschichte ihrer Krankheit. Sie ist 37 Jahre alt, als sie erfährt, dass sie an Brustkrebs erkrankt ist. Es folgt der übliche Therapieverlauf: OP, Chemotherapie, Bestrahlung. Sie erfährt viel Unterstützung durch ihr Umfeld, sieht sich aber auch mit völligem Unverständnis konfrontiert, begegnet hervorragenden Ärzten, aber auch solchen, die besser umschulen sollten. Schließlich zerbricht auch ihre Beziehung. Eine Achterbahn der Gefühle und ein außergewöhnliches Buch.

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Seitenzahl: 331

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Sonja Funke

Fische gegen Krebs

Die Krankheit, mein Leben und ich

Impressum

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Designbüro Gestaltungssaal

Umschlagmotiv: © Getty Images

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (Buch) 978-3-451-31235-9

ISBN (E-Book) 978-3-451-80204-1

„Es sind nicht immer die Lauten stark, nur weil sie lautstark sind. Es gibt so viele, denen das Leben ganz leise viel echter gelingt“

KONSTANTIN WECKER

Inhalt

1. Träume, Hoffnungen, Wünsche

2. Krebs

3. Krankenhaus

4. Mittendrin

5. Fische gegen Krebs

6. Verstrahlt und verloren

7. Schwarzwald-Klinik

8. Das ganz normale Leben leben

Ende/Anfang

Dank

Die Hitliste der dümmsten Sprüche

1. Träume, Hoffnungen, Wünsche

Mein Freund, seine Kinder und ich

Mein Freund, seine Kinder und ich sind in der Stadt. Mein Freund und sein Sohn müssen etwas besorgen. Sie brauchen etwa zwanzig Minuten. Die Männer ziehen los. Wir Mädels sollen uns die Zeit vertreiben. Wir stehen mitten in der Fußgängerzone. Hanna sieht mich an. „Was machen wir jetzt?“ Ich sehe Hanna an. Was tut man mit einer Achtjährigen zwanzig Minuten in der Innenstadt? Ich habe keine Ahnung. „Hmm. Wozu hast du denn Lust?“ Sie vergräbt die Hände tief in den Jackentaschen, zieht die Schultern hoch: „Keine Ahnung!“ Kein Wunder. „Wir können ja auf ein Hochhaus fahren und schauen, wie weit man von dort oben gucken kann.“ „Au ja.“ Es klingt wenig begeistert. Um uns herum ist es voll, hektisch und ungemütlich. Kaffee trinken? Zu H&M? In einen Buchladen? Vermutlich alles wenig erbauliche Vorschläge für ein Kind. Plötzlich habe ich eine Idee. „Komm mit“, sage ich und ziehe Hanna am Arm. „Ich zeig dir was.“ „Waaas?“, fragt sie leicht genervt. „Einen meiner Lieblingsplätze in der Stadt.“ Sie guckt kritisch. Ich ziehe sie um zwei Häuserecken und schiebe sie durch ein Tor. Mitten hinein in den Hinterhof einer Kirche, gleich bei der Fußgängerzone. Dort im Hof stehen ein paar Bänke, ein Marienbild, Kerzen zum Anzünden. Der Lärm der Stadt prallt an den Mauern des Kirchhofs ab. Es ist friedlich. Hanna staunt. Sie will eine Kerze anzünden. Ich sage ihr, dass sie sich dabei etwas wünschen soll. „Geht das dann in Erfüllung?“ „Bestimmt!“ „Gehen wir auch in die Kirche?“ Nun staune ich. An der Tür ein Handy-Verbotsschild: „Gott erreicht dich ohne Worte.“ Schnell stelle ich den Klingelton ab – und rein. Drinnen beginnt gerade eine Messe. Wir bleiben stehen. Hanna zieht mich am Arm und drückt sich auf eine Holzbank. Wir lauschen der Orgelmusik. „Darf ich ein Gesangbuch holen?“, flüstert sie. Klar. Während Hanna das Buch holt, schaue ich verstohlen auf mein Handy. Mist. Drei unterdrückte Anrufe und zwei SMS vom Freund. „Wo seid ihr?!“ Was soll ich tun? Hanna drückt sich gerade wieder neben mich auf die Bank, hält mir das aufgeschlagene Buch unter die Nase. „Sing!“ Ich singe. Während ich singe, fange ich an zu überlegen. Beim Freund scheint es dringend zu sein. Wenn ich vielleicht das Telefon in den Mantelärmel … und dann ganz leise spreche … während alle singen …? Nein. Nicht gut, denke ich. Neben mir steht Hanna und singt aus voller Kehle mit. Sie hat offensichtlich Spaß. Das Handy vibriert. Neue SMS. „Wo seid ihr denn? Ich erreich euch nicht“, simst der Freund. Ich blicke mich verstohlen um. „In der Kirche“, simse ich. Die alte Dame neben mir sieht mich an. Ertappt. Ich werde knallrot und lasse das Telefon in meiner Jacke verschwinden. Ich fühle mich, als hätte ich einen Lippenstift geklaut. Kommt man ins Fegefeuer, wenn man im Gotteshaus eine SMS verschickt? Hanna blickt mich an. Sie singt weiter. Inbrünstig. Ich atme tief durch. Das Telefon vibriert schon wieder. Ich versuche, es zu ignorieren. Das gelingt mir exakt drei Sekunden. „Woooo seid ihr???“, simst der Freund. „Wann können wir uns treffen?“ Mir ist heiß. Ich bin hin- und hergerissen. Zwischen dem Kind, das selig singend neben mir steht, dem Freund, der es offenbar eilig hat, und dem drohenden Fegefeuer. Was tun? Hanna singt, der Freund simst, und ich schwitze. Endlich ist das Lied zu Ende. Hanna stößt mich an. „Guck mal“, flüstert sie. „Lass uns gehen“, flüstere ich zurück und ziehe an ihrer Hand. „Aber guck mal!“, flüstert sie. „Komm“, sage ich und stoße sie an. Sie rührt sich nicht. Sie starrt nach rechts. „DA!“, sagt sie eindringlich und etwas zu laut in die gerade totenstille Kirche: „Da ist einer von den sieben Zwergen!“ Ich bleibe stehen. Drehe mich um und sehe ein bärtiges Gesicht. Dort drüben steht ein Kapuzinermönch.

„Ich bin ganz sicher: Es ist nichts …“

Ich sitze beim Frauenarzt. Routineuntersuchung. Ultraschall vom Unterleib. „Oh, da haben Sie …“ „Ja?“ „… eine kleine Zyste.“ „Zyste?“ „Ja, an den Eierstöcken.“ Zyste? An den Eierstöcken? „Na ja, das kann man schon mal haben. Das ist nicht schlimm, das kann man ruhig so lassen.“ Ich will keine Zyste, ich will ein Kind! „Bin ich schwanger?“ „Nein.“ Wie nein? Der Eisprung! Das ist sicher der Eisprung. Schließlich habe ich immer kräftig mitgezählt – es muss der Eisprung sein. Ich weiß es genau. Aber wieso erkennt er den denn nicht? Als Frauenarzt? Das müsste er doch sehen. Der muss doch einen Eisprung von einer Zyste unterscheiden können. Komisch. Vielleicht hat er nicht so genau hingeschaut.

Es geht schon weiter. Ultraschalluntersuchung der Brust. Rechte Seite. „Alles in Ordnung, alles wunderbar“, sagt er und kurvt inzwischen mit dem Ultraschalldings über die linke Brust. Glitschig, dieses Glibbergel. Und kalt. „Ist auch alles wunder-“ Er hat das Wort schon halb ausgesprochen, dann stockt er. „Was ist das denn?“ Er tastet nochmal, guckt, tastet, fährt nochmal mit dem Ultraschall hin und her. Guckt. Tastet. Ultraschall. „Nee. Ist auch alles in Ordnung, ist auch wunderbar. Ein bisschen verdicktes Gewebe. Kann man schon mal haben. Ist alles kein Problem, alles in Ordnung.“

Nachdenklich gehe ich nach Hause. Zweimal „Kann man schon mal haben“ in einer Untersuchung finde ich ein bisschen viel. Einmal stutzen – okay. Aber zweimal? Ich weiß nicht. Vielleicht gehe ich doch lieber noch mal zu einer anderen Ärztin?

Bisher fand ich den Arzt gut. Er ist ein angesehener Frauenarzt, das weiß ich sicher. Aber – und auch das ist sicher – er hört inzwischen ziemlich schlecht. Das ist mir nicht nur bei dieser Untersuchung wieder aufgefallen, auch bei den vorherigen Untersuchungen hatte ich schon den Eindruck, dass ich sehr laut und langsam sprechen muss. Ist ja auch nicht schlimm. Wird halt auch immer älter, der Gute. Aber vielleicht sieht er auch einfach nicht mehr so gut?

Ich entschließe mich, noch zu einer anderen Frauenärztin zu gehen. Bei meinem Hausarzt in der Praxis ist eh eine, und ich habe schon öfter gedacht, dass es eigentlich ziemlich praktisch wäre, alles in einem Haus zu haben. Dann könnte ich die Termine gleich hintereinander machen und müsste nicht immer quer durch die halbe Stadt und in unterschiedliche Richtungen fahren, wenn ich mal zum Arzt will. Vielleicht ließe sich das dann sogar in der Mittagspause erledigen. Ich nutze die Gelegenheit, um diese Ärztin zu testen.

Ich erzähle ihr von der vorangegangenen Untersuchung. Sie kennt den Arzt, bekräftigt seine Kompetenz und wiederholt die Ultraschalluntersuchung. „Also, ich bin mir eigentlich auch sicher, dass da nichts ist. Das ist alles in Ordnung. Aber ich bin ja jetzt hier schon der Check-up. Und um wirklich ganz, ganz sicher zu gehen … –, also, ich würde sagen, zu 98 Prozent, das ist alles in Ordnung.“ Sie guckt noch einmal genau auf das Ultraschallbild und dreht den Bildschirm so, dass ich es sehen kann. Ich erkenne gar nichts. „Also da“, sie drückt mit dem Ultraschalldings auf meiner Brust rum, „da ist was, da sehe ich was. Aber ich bin mir sicher, dass das nichts Schlimmes ist. Aber das ist …, nur weil ich jetzt hier schon der Gegencheck bin – …, also wenn Sie jetzt bei mir zum ersten Mal wären, würde ich auch sagen, ist alles in Ordnung. Aber weil ich jetzt hier schon die Kontrollperson bin, schicke ich Sie noch mal zur Mammographie. Gehen Sie doch mal kurz eben gegenüber in das Gebäude.“ Sie zeigt aus dem Fenster auf das gegenüberliegende Haus. „In der Praxis gegenüber ist eine Mammographie, machen Sie die mal eben. Ich rufe an, dass Sie heute drankommen. Aber gehen Sie nur zu Frau Doktor Sachs. Sagen Sie, ich hätte Sie geschickt, und bestehen Sie darauf, zu Doktor Sachs zu kommen.“

Also latsche ich gegenüber in die Praxis. Dass ich meine Mittagspause so dermaßen überziehe, war nicht abgesprochen. Ich habe ein schlechtes Gewissen. Kurzer Anruf in der Redaktion. Dort ist heute viel zu tun, und die Stimmung ist nicht gut. Meine ausgedehnte Mittagspause trägt nicht zur Verbesserung der Lage bei. Mist. Bestimmt gibt es Stunk, wenn ich nachher zurückkomme. Aber das muss jetzt sein. Ich sitze in der Praxis und warte. Ewig. Das Wartezimmer ist voll. Ich warte, warte, warte. Nach einer gefühlten Ewigkeit frage ich die Dame an der Rezeption, wie lange es denn wohl ungefähr dauern wird, bis ich drankomme. „Sie sind doch erst seit zehn Minuten da. Ein bisschen Geduld brauchen Sie schon.“ Die Ärztin sei grad in der Mittagspause. Wenn sie zurückkomme, sei erst noch eine andere Patientin dran. Was? Und die Untersuchung selbst? Woher sie das denn wissen solle? Ja, woher eigentlich. Aber wie lange so Mammographien halt sonst so üblicherweise dauern? Vierzig Minuten. Oder so. Huch! So lange? Ja, klar, die Bilder müssen erst einmal gemacht werden. Ich setze mich wieder ins Wartezimmer. Zappel auf meinem Stuhl hin und her. Und warte. Tief ein- und ausatmen. Meine Fußspitzen trommeln auf den Boden. Nach dreieinhalb Minuten beschließe ich: So geht das nicht. Ich will einen anderen Termin. Ich kann jetzt nicht untätig hier rumsitzen, und in der Redaktion ist die Hölle los. Das gibt dort einen Riesenärger, wenn ich statt dreißig Minuten drei Stunden Mittagspause mache. „Aber Sie sollten doch …“ „Ja, ja, aber jetzt muss ich halt eben gehen, und ich komm später nochmal wieder. Am späten Nachmittag. Oder morgen. Aber jetzt muss ich zurück zur Arbeit.“ Im Laufschritt flitze ich ins Büro – leider bin ich nicht vor dem Anpfiff der Kollegen zurück.

Irgendwie finden Doktor Sachs und ich in den nächsten Tagen dann doch zusammen. Auch sie macht noch mal Ultraschall. „Ich bin mir ganz sicher“, sagt sie. „Da brauchen Sie sich überhaupt keine Sorgen zu machen, da ist gar nichts. Das ist alles in Ordnung. Aber wir machen jetzt, wo Sie schon mal da sind – und Sie sind ja auch schon 37 – machen wir mal halt doch noch mal eine Mammographie.“ Was? Schon 37? Das ist ja frech! „Wo ich doch schon mal da bin“, echoe ich und füge in Gedanken hinzu: „Wo ich doch schon mal Privatpatientin bin …“ Also machen wir eine Mammographie.

Kurze Zeit später sitzt Frau Doktor Sachs mir wieder gegenüber und lächelt. Sie zeigt mir die Mammographiebilder und deutet auf ein paar weiße Pünktchen. „Die Röntgenstrahlen, mit denen die Mammographie gemacht wird, zeigen andere Dinge als der Ultraschall. Deswegen macht man zur Abklärung häufig eine Mammographie. Genauen Aufschluss gibt nur die Kombination beider Methoden.“ Sie zeigt auf das Röntgenbild: „Diese kleinen weißen Pünktchen hier, das ist Mikrokalk. Das ist nicht schlimm, aber den sollte man mal entfernen.“ Ich schaue sie fragend an. Sie antwortet: „Also es ist so: Dass ich hier so verdicktes Gewebe sehe, das ist überhaupt nichts Schlimmes.“ Sie deutet auf ein hellgraues Irgendwas. Ich kann auf dem Bild ohnehin gar nichts erkennen. Es könnte genauso gut mein Magen oder mein linker Fuß sein, den sie mir da zeigt. „Und es gibt hier so Mikrokalk. Und jetzt müsste man abklären, ob das deckungsgleich ist oder nicht. Und wenn das nicht deckungsgleich ist, dann ist alles in Ordnung. Wenn es aber deckungsgleich ist, dann müsste man gucken, was das genau ist. Aber da geht es auch nur um den Mikrokalk, und den müsste man dann eventuell rausnehmen – damit der gar nicht erst bösartig werden könnte. Irgendwann einmal …“ Okay. „Was soll ich jetzt tun?“ Ich soll eine Kernspintomographie machen. Ja, okay, dann mache ich das halt. „Aber nur in der Klinik an der Soundso-Allee. Und nur bei Doktor Soundso.“ Ist klar, denke ich. Ihr kennt euch doch alle und reicht euch hier schön die Privatpatienten rum. Das ist doch Privatpatienten-Melken hier! Aber na ja, mach ich das halt.

Nun habe ich einen Kernspin machen lassen. Bei Doktor Soundso in der Praxis an der Soundso-Allee. Gerade warte ich auf das Ergebnis. Ein netter Pfleger hat sich sehr gefühlvoll nach meinem Befinden erkundigt. Der ist ja rührend. Mir ist kalt, sonst ist alles okay. Er führt mich ins Besprechungszimmer, der Arzt kommt gleich. Bis gleich dauert es ziemlich lange, und als Doktor Soundso dann endlich erscheint, erklärt er mir sehr nüchtern, sehr unsensibel und mit einem Schwall von Fremdwörtern den Befund. Ich verstehe kein Wort. Der Arzt guckt mich an. Ich gucke zurück. „Bitte?“ Er wiederholt seine Ausführungen mit denselben medizinischen Fachbegriffen. Ich verstehe noch immer kein Wort. „Verstehe ich nicht.“ Er verdreht die Augen. Er verdreht tatsächlich die Augen! Das kann ja wohl nicht wahr sein! Was für eine Unverschämtheit! „Können Sie es mir bitte noch mal erklären?“ Ich versuche ein Lächeln. Es misslingt. Er wiederholt dieselben Fachbegriffe, nun etwas langsamer und lauter. Ich bin weder schwerhörig noch blöd, aber ich verstehe kein Wort. „Hamse kapiert?“ Bitte was? Was ist denn das für ein Ton? „Nein“, sage ich scharf. Inzwischen ist er deutlich gereizt. Ich allerdings auch. Er setzt an, mir zum vierten Mal seine medizinischen Vokabeln herunterzuleiern. „Da ich zwischen Ihren Ausführungen kein Medizinstudium absolviert habe, werde ich die Wiederholung Ihrer Fachbegriffe auch jetzt nicht verstehen können.“ Ich werde wütend. Als Redakteurin bin ich es zwar gewohnt, nachzufragen, wenn ich etwas nicht begriffen habe – gerne auch mehrmals –, aber das hier geht eindeutig zu weit. Ich versuche, ruhig und freundlich zu bleiben. „Was heißt das denn?“ Doktor Soundso blickt mich scharf an, schnappt sich ein Blatt und einen Stift und malt zwei große Us auf das Papier. „Das hier sind Ihre Brüste.“ Aha. Er malt den beiden Us zwei kleine Kringel. Die Brustwarzen. Er blickt mich herausfordernd an. Ich fass es nicht. Er grinst. „Und das hier“, er macht ein Kreuz in eines der Us, „ist die Stelle, um die es geht. Hier.“ „Ja“, sage ich. „Und was heißt das nun?“ Es folgt erneut ein Schwall medizinischer Fachbegriffe. „Ham Sie’s jetzt kapiert?“ Ich schaue ungläubig. Er leiert genervt noch einmal seine Vokabeln herunter und piekst mit seinem Kugelschreiber auf dem gemalten Kreuz in dem linken U herum. Ich versuche zu erahnen, was der Mann mir sagen will. „Sie gucken mich an wie ein Auto. Sie verstehen ja überhaupt nichts“, sagt er gerade. Ich glaub, es hackt! Jetzt reicht’s mir. „Nein, natürlich verstehe ich nichts. Ist ja auch nicht mein Fachgebiet. Aber nur um das hier richtig verstanden zu haben: Dieses kleine Dings“, ich deute auf das Kernspin-Bild, das auf dem Tisch liegt, „das muss man jetzt nochmal untersuchen und dann notfalls entfernen, damit das nicht bösartig wird? Richtig?“ Doktor Soundso lehnt sich zurück und lächelt jovial: „Na – dat kann auch schon ’nen Tumor sein.“ Wie bitte? Der hat sie ja wohl nicht mehr alle. „Also, muss nicht“, schränkt er gerade ein, „aber kann.“ Was für ein Typ! Ich packe meine Sachen und rege mich den Rest des Tages über diesen Arzt auf. Über seine unverschämte, schnodderige Art, die herablassende Arroganz. Ich solle eine Biopsie machen, also eine Gewebeprobe entnehmen lassen, hat er mir noch mit auf den Weg gegeben. Ja, ja, denke ich mir. Ist schon klar. Gewebeprobe. Aber nur bei Doktor …, denke ich weiter. Super! Gehe ich halt noch mal einen glücklich machen, was soll’s. Wehe, die erheben nicht ihr Glas auf mich, bei ihrem nächsten Ärztestammtisch.

Ich will zurück zur Frauenärztin und mit ihr besprechen, wie es weitergeht. Geht aber nicht. Sie ist im Urlaub. Urlaub? Gute Idee. Ich mache auch erst mal eine Woche Urlaub, mit dem Freund und seiner Tochter. Eigentlich wollen wir nach Afrika, aus irgendeinem Grund kommen wir nur bis zum Schliersee. Nun ja, auch schön.

Nach dem Urlaub mache ich mich im Internet auf die Suche nach einem zertifizierten Brustzentrum in meiner Nähe und werde schnell fündig. In einem Forum werden die Kompetenz, die besondere Freundlichkeit und die ausgesprochene Fürsorge für die Patientinnen gelobt. Das klingt gut, da geh ich hin. Ein Termin ist schnell gemacht, und wieder sitze ich vor einer Ärztin. Sie untersucht meine Brust mit Ultraschall. Sehr genau, sehr ausführlich. Sie dreht mir den Bildschirm zu und erklärt, was sie sieht. „Das ist alles gut.“ Sie untersucht weiter. Ganz schön gründlich. Als sie fertig ist, schaut sie mich freundlich an und sagt: „Machen Sie sich keine Sorgen. Beim Großteil der Frauen, die hier reinkommen – ich denke, bei 98 Prozent –, muss ich an dieser Stelle sagen: Stellen Sie sich darauf ein, dass Sie Brustkrebs haben.“ Ich halte die Luft an und gucke sie mit großen Augen an. Was wird das? Sie blickt mich an und lächelt. „Bei Ihnen bin ich mir ganz sicher: Es ist nichts. Es ist alles in Ordnung. Ganz sicher.“ Nun lächeln wir beide.

„Aber zur Sicherheit entnehmen wir mal ein Stück Gewebe. So eine Stanzbiopsie ist nicht schlimm, das mache ich jetzt gleich.“ Stanzbiopsie? Ich verschränke die Arme vor meiner Brust und ziehe die Schultern hoch. Ist das so fies, wie es klingt? Ich glaube nicht, dass ich will, dass mir ein Stück aus meiner Brust herausgestanzt wird. Muss das sein? Sie sagt, es muss. Zur Sicherheit. Langsam frage ich mich, ob diese Privatversicherung wirklich ein Segen ist. Ich bekomme eine Spritze zur lokalen Betäubung und fürchte mich. Die Biopsie-Spritze, die sich die Ärztin zurechtlegt, um das Gewebe zu entnehmen, sieht furchterregend aus. Aber sie beruhigt mich mit freundlichen Worten, und während die Betäubungsspritze ihre Wirkung entfaltet, beginnt sie ein Gespräch über die Brüste von Hollywoodstars. Während wir über die Brustvergrößerungen von Stars und Sternchen plaudern, entnimmt sie das Gewebe – ich spüre fast nichts.

„Es kommt jetzt nur darauf an, ob ich hier mit dem Ultraschall diesen Mikrokalk erwischt habe. Das ist etwas schwierig, weil ich im Ultraschall den Kalk nicht sehe, also nur ahnen kann, wo er etwa sein müsste. Wenn ich ihn also erwischt habe – und da bin ich ziemlich sicher –, dann können wir ihn untersuchen und entscheiden, ob er entfernt werden muss. Damit der sich nicht später womöglich zu was Bösartigem entwickelt. Sollte ich ihn nicht erwischt haben, müssten Sie noch mal wiederkommen. Dann müsste man unter einer Mammographie, also unter Röntgenstrahlen, die den Kalk abbilden, noch einmal eine etwas größere Biopsie, eine Vakuumbiopsie, machen.“ Sie blickt in einen Kalender. „Und zwar nächsten Dienstag. Kommen Sie am Dienstag. Um neun Uhr.“ Mist. Dann komme ich schon wieder später zur Arbeit. Ob das lange dauert? Und tut das weh? Sie lächelt. „Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Ich habe ihn bestimmt erwischt. Und dann ist alles okay. Machen Sie sich jetzt erst mal ein schönes Wochenende. Dann kommen Sie am Dienstag wieder – und dann wird Ihnen Herr Doktor Richard sagen, dass alles in Ordnung ist.“

Grinsende Kürbisse

Am Wochenende fahre ich nach Hause zu meiner Familie. Eine Freundin aus Kindertagen hat zur Halloween-Party geladen, außerdem ist meine Oma zu Besuch. Da ich sie nicht häufig sehe, sind das zwei gute Anlässe für einen kurzen Wochenendtrip in die Heimat.

Am Samstagnachmittag stehe ich mit meiner Oma in der Küche, wir backen ein Brot. Wir backen ein Brot heißt: Ich knete den Teig, und sie sagt mir, wie ich kneten soll. Nicht so schnell, nicht so langsam, etwas kräftiger und vor allem noch viel, viel länger. Mir fallen gleich die Arme ab. Sie erzählt, wie sie früher als junge Bäuerin in Ostpreußen auf ihrem Hof das Brot geknetet hat. Nicht mit einem Knethaken, mit den Händen. Jede Woche. Damals war sie zwanzig Jahre alt. Jetzt ist sie 95. Und noch immer glänzen ihre Augen, wenn sie von ihrem Leben in Ostpreußen erzählt und etwas tut, was sie damals schon getan hat. Ich schaue ihr zu, wie sie immer wieder prüfend den Finger in den Teig steckt. Weiter kneten! Selten habe ich meine Oma so glücklich gesehen. Sie schwelgt in Erinnerungen, und ich knete, was das Zeug hält. Sie strahlt. Irgendwann ist sie mit der Konsistenz zufrieden, nun muss der Teig gehen. Dann wieder kneten, dann wieder gehen. Gegen Abend mache ich mich auf den Weg zur Halloween-Party. Der Teig steht auf der Heizung, um ein letztes Mal zu gehen, Oma will ihn dann in den Ofen schieben. Das Brot ist fast fertig, die Oma glücklich – Mission erfüllt.

Die Party ist großartig, alle haben sich verkleidet und bleich geschminkt, es wimmelt von Draculas und anderen gruseligen Gestalten. Die Wohnung ist hübsch dekoriert, überall sitzen kleine Spinnen, bei denen ich zweimal hinsehe, um zu erkennen, ob sie wirklich aus Plastik sind. Über dem Spiegel und den Türklinken hängen Wattestreifen wie Spinnweben, und ausgeschnitzte Kürbisse grinsen aus jeder Ecke. Viele Gäste kenne ich seit dem Kindergarten oder aus der Schulzeit. Wir drängeln uns, wie auf jeder guten Party, in der Küche, lassen uns das leckere Essen schmecken, freuen uns über das Wiedersehen und feiern bis tief in die Nacht. Irgendwann ist die Party dann zu Ende, wir haben die Mäntel an, stehen schon an der Haustür und plaudern noch ein bisschen über unsere Pläne für die nächsten Tage und Wochen. Einen kurzen Augenblick überlege ich, von meinen Untersuchungen und der möglicherweise am Dienstag bevorstehenden zweiten Biopsie zu erzählen. Ach was, schiebe ich den Gedanken beiseite. Das passt jetzt wirklich nicht hierher. Und was soll das – es ist doch sowieso alles in Ordnung, nicht dass die Mädels sich noch Sorgen um mich machen.

Als ich am nächsten Morgen in die Küche komme, sitzt meine Oma traurig am Tisch. Ihre Hand liegt auf einem Küchentuch. Darunter steckt das Brot. Was ist los? Das Brot – sie guckt mich traurig an – das Brot ist nicht aufgegangen. Der Ofen war nicht richtig an. Sie hatte nur den einen Knopf angedreht, den, der das Licht anmacht. Dass man noch einen zweiten Knopf für die Temperatur andrehen muss, wusste sie nicht. Und ich Trottel habe auch nicht daran gedacht. Und als sie es bemerkt hatte, war es zu spät. Der Teig hatte zu lange im kalten Ofen gestanden und wollte nicht mehr recht aufgehen. Nun sitzt sie da, meine kleine Oma, mit schlohweißen Haaren, das glückliche Lächeln vom Vortag ist verschwunden. Sie hat den Zweiten Weltkrieg überstanden, dabei ihren Mann, ihren Hof und ihre Heimat verloren. Sie hat ihre Kinder aus Ostpreußen gerettet, ihnen ein neues Zuhause geschaffen, ihnen eine Ausbildung ermöglicht, ein Haus gebaut, jahrelang für ihre Kleidung und Nahrung geschuftet. Sie hat so viel geschafft. Und nun sitzt sie da am Tisch, ihre Hand ruht auf dem, was ein duftender, wohlgeformter Laib werden sollte – und trauert um das Brot. Es ist ein fingerdicker, harter Klotz. Mir kommen fast die Tränen, so unglücklich ist sie. Es ist nichts zu machen, das Sonntagsfrühstück ist verdorben, da können selbst die eilig organisierten frischen Brötchen vom Bäcker nichts retten.

Am späten Nachmittag mache ich mich auf den Rückweg. Ich fahre mit dem Zug. Die Landschaft fliegt am Fenster vorbei. Ich schaue ihr dabei zu. In Gedanken mache ich Pläne für die kommende Woche. Morgen gehe ich nach der Arbeit zum Sport, am Dienstag vor der Arbeit dann schnell ins Krankenhaus, das Ergebnis abholen, und abends treffe ich dann den Freund. Blöd, dass ich schon wieder zu spät zur Arbeit kommen werde. Muss ich morgen noch Bescheid sagen. Der Zug fährt durch die Dunkelheit, Regen schlägt an die Scheibe. Ich folge den Tropfen mit meinem Blick. Sie ziehen lange Spuren. Wie war das? Wenn sie den Mikrokalk erwischt haben, ist alles okay, wenn sie ihn nicht erwischt haben, müssen sie noch eine Biopsie machen, damit sie ihn dann auf jeden Fall erwischen und untersuchen und mir dann sagen können, dass alles in Ordnung ist. Okay. Ich hauche an die Scheibe und male mit dem Finger Haare und zwei Augen in die beschlagene Stelle. Ach so. Es durchfährt mich wie ein Blitz, und mein Finger bleibt an der Scheibe kleben. Wenn sie ihn jetzt erwischt haben, dann wissen sie ja schon, ob er … Quatsch! Es ist alles in Ordnung. Ich sehe die Ärztin vor mir: „Dann kommt Doktor Richard und sagt Ihnen, dass alles in Ordnung ist.“ Ich male dem Gesicht ein Lächeln. Weil alles in Ordnung ist.

2. Krebs

Die Diagnose

Ich sitze im Bus. Es ist kurz nach acht, und ich bin auf dem Weg zum Krankenhaus. Dort soll ich mir heute den Befund abholen. Um neun Uhr ist der Termin, dann müsste ich es bis zehn zur Arbeit schaffen. Nu ja, wird schon nicht so lange dauern, vielleicht schaff ich es ja sogar etwas früher. Ich gehe ins Krankenhaus, nehme die Treppen ins Brustzentrum und warte kurz an der Anmeldung. Die Krankenschwestern an der Rezeption begrüßen mich mit einem freundlichen „Guten Morgen, Frau Funke.“ Wow, die sind aber nett hier, die kennen ja sogar meinen Namen. Das ist ja toll! Ich strahle die Dame an und sage fröhlich: „Guten Morgen, ich hab um neun Uhr einen Termin hier.“ „Ja, ja, ich weiß“, ist die freundliche Antwort. So ein netter Empfang, das ist ja mal ein gutes Zeichen!, denke ich. „Frau Funke ist da! Frau Funke ist da“, ruft die Krankenschwester gerade in einen anderen Raum und außer „Das ist ja wirklich nett“ denke ich weiter nichts. Ich werde gebeten, mich zunächst in den Wartebereich zu setzen. „Haben Sie gesehen, die Frau Funke ist da?!“, höre ich die eine Schwester zu jemand anderem sagen. „Ja, ja, ich bin gleich da“, ist die Antwort. Wow! Im Internet hatte ich ja gelesen, dass diese Klinik wegen ihrer Freundlichkeit und Zuwendung gelobt wurde – aber das überrascht mich nun doch. Ich freue mich. Da hab ich mir ja wohl mal eine gute Klinik ausgesucht. Ich habe kein komisches Gefühl, ich habe keine Vorahnung, nichts. Ich freue mich nur über die Freundlichkeit, mit der ich hier begrüßt werde, und ahne nicht, was die Krankenschwestern am Empfang offenbar schon wissen. Ich ahne nicht, dass sie mir hier gleich den Boden unter den Füßen wegreißen werden, und ich weiß nicht, ob die Krankenschwestern womöglich denken, das ist doch die, die noch gar keinen Schimmer hat von dem, was gleich auf sie zukommt. Oder ob sie bei meiner fröhlichen Begrüßung denken: Das ist ihr letzter unbeschwerter Guten-Morgen-Gruß für eine sehr, sehr lange Zeit. Ich sitze also da und warte. Warte auf diesen Herrn Richard, der mir ja die frohe Kunde überbringen soll, dass der Mikrokalk erwischt wurde, mit dem selbstverständlich alles in Ordnung ist, so dass eine weitere Stanzbiopsie nicht notwendig ist. Vielleicht müsse man den Mikrokalk entfernen, hatte man mir gesagt. Aber nur, damit der nicht irgendwann mal bösartig wird. Nun ja. So ein bisschen Mikrokalk kann man ja schon mal haben. Das ist ja nichts Schlimmes. Höchstens vorsorglich ein bisschen Kalk entfernen, da macht man sich ja keine Gedanken. Eine Ärztin im weißen Kittel und mit ein paar Röntgenbildern in der Hand eilt an mir vorbei, grüßt mich freundlich und verschwindet hinter einer Tür. Auch freundlich, auch ein gutes Zeichen, denke ich. Ich lehne mich entspannt zurück und warte weiter. Irgendwann kommt dann nicht der Herr Richard, sondern die Ärztin im weißen Kittel, die vorhin schon an mir vorbeigelaufen war, steuert über den Gang geradewegs auf mich zu. „Frau Funke?“ Ach, denke ich, das ist ja super, da hat der Herr Richard sicher keine Zeit. Und das ist ja ein gutes Zeichen, wenn der jetzt gerade etwas Besseres zu tun hat. Das heißt ja wohl, dass ich hier nicht so wichtig bin. Und das ist ja gut so. „Das bin ich, guten Morgen!“, strahle ich. Inzwischen steht die Dame im weißen Kittel vor mir, streckt mir die Hand entgegen und bittet mich, ihr in den Raum um die Ecke zu folgen. Unterwegs sagt sie: „Mein Name ist Reza. Ich bin die Leiterin des Brustzentrums.“ Oh!, denke ich. Das ist jetzt mal kein gutes Zeichen. Dann denke ich nichts mehr.

Ich weiß später nicht, wie ich in diesen Raum gekommen bin. Ich weiß auch nicht mehr, was Frau Reza genau zu mir gesagt hat. Ich weiß noch, dass ich auf diesem Stuhl saß und sie geredet hat. Frau Reza hat geredet, ich habe nichts gehört. Ich saß nur da auf meinem Stuhl. Neben mir. Ich erinnere mich an Bruchstücke. Frau Reza erklärt mir, dass das Gewebe, das sie entnommen hatten, bösartig ist. Und ich sitze da und verstehe nichts. Ich kapiere es nicht. Es ging doch immer nur um diesen Mikrokalk. Und darum, ob sie den bei der Biopsie überhaupt erwischt haben. Haben sie. Offenbar. Aber … aber … – Frau Reza redet. Sie redet und redet. Ich starre sie an. Ich merke, dass mein Mund offen steht. Sonst spüre ich nichts. Gar nichts. Ich höre zwar, was sie sagt, aber ich bin wie in einem Luftballon, wie in einer Embryoschutzhülle. Ich sitze mit offenem Mund in einer schützenden, warmen Wolke. Meine Unterarme liegen auf meinem Schoß, ich sitze leicht nach vorn gebeugt. In meinen Augen sammeln sich Tränen. In meinem Hals wächst ein Kloß. Ich höre alles, was sie sagt, aber ich verstehe es nicht. Es dringt nicht zu mir durch. Ich sitze hier auf diesem Stuhl, umgeben von einer schützenden, warmen, weichen Wolkenwatteschicht. Ich weiß, dass das alles nicht einfach nur schlechter Traum ist, aber real ist es auch nicht. Ich merke, dass ich überhaupt nicht begreife, was Frau Reza mir da eigentlich sagen will. Ich sitze da, höre, was sie sagt, merke, dass ich den Mund gar nicht zukriege. Er bleibt einfach offen stehen.

Ich bin ganz sicher, dass sie mir etwas ganz anderes sagen möchte, als hier drüben unter meiner Glasglocke bei mir ankommt. Sie redet, und ich weiß, dass ich nachfragen muss. Ich muss nachfragen. Ich muss sie fragen. Jetzt. Ich muss fragen, ob sie sagen will, was ich nicht fassen kann. Ich muss. Sonst gehe ich gleich hier raus, und das alles ist ein großes Missverständnis. Das kann ja nicht sein. Aber alles andere kann auch nicht sein. Ich versuche, etwas zu sagen. Es geht nicht. Mein Mund klappt nur zu und wieder auf. Jetzt steht er wieder offen. Und ich gucke ihm dabei zu. Frau Reza guckt auch. Sie redet inzwischen nicht mehr. Ich nehme einen neuen Anlauf. Mund zu, Mund auf. Wieder nichts. Es geht nicht. Der Kiefer bewegt sich, es kommt kein Ton heraus. Ich kann nicht mehr sprechen. Die Zunge liegt im Weg. Sie bewegt sich nicht. Als hätte sie vergessen, wie man Worte formt. Sie versperrt meiner Angst den Weg nach draußen. Frau Reza schaut mich fragend an. Ich schnappe noch einmal nach Luft. Kein Ton. Nichts. Wenn ich frage, was ich wissen will, muss ich dieses Wort in den Mund nehmen. Und das geht nicht. Es geht nicht. Ich kann es nicht sagen. Ich kann es nicht mal denken. Sie hat es bis jetzt noch nicht gesagt. Dann ist sicher doch alles anders, als ich es verstanden habe. Ich will diesen Satz nicht formulieren. Es ist, als würde es erst dann real und diese Ahnung zur Gewissheit, wenn ich es ausspreche. Und wenn es so wäre, wie ich befürchte – dann hätte sie es doch gesagt. Dann hätte sie es doch ausgesprochen. Ich nehme einen neuen Anlauf. „H…, h…, hei…“ Pause. Weiter schaffe ich es nicht. Nochmal. „Hei…, heißt …“, flüstere ich. In meinem Kopf forme ich den Satz zu Ende. Einmal, zweimal, es geht. Ich weiß jetzt, was ich sagen muss. Und ich stelle mir vor, wie sie reagiert. Wie sie völlig überrascht, ja erschreckt aufschaut, mich anblickt und sagt: „NEIN, Nein! Frau Funke, nein! Das haben Sie jetzt ganz verkehrt verstanden!“ So wird es sein. Es kann nicht anders sein. Es darf nicht anders sein. Ich muss nur fragen, nur diesen einen Satz sagen, dann bin ich erlöst. Ich nehme all meinen Mut, meine Kraft und meine Zuversicht zusammen und befehle meinen Lippen den Satz: „Heißt das – heißt das, dass ich Krebs habe?“ Meine Stimme ist leise und tonlos. Frau Reza blickt auf. Sie schaut mich an. Und sagt: „Ja.“

Ich sehe die graue Oberfläche des Tisches. Frau Reza schiebt mir ein Blatt Papier herüber. Darauf sind zwei Brüste gezeichnet, ein paar Kreuze und ein paar unverständliche Abkürzungen. Da steht „rechts“ – und das Wort rechts ist durchgestrichen, daneben steht „links“. Ich frage, was das zu bedeuten hat. Es sei nicht die rechte Seite, sondern die linke, heiße das. Dann sagt Frau Reza noch etwas, ich höre sie nicht. Die können mir doch hier nicht erklären, dass ich Krebs habe, wenn sie nicht mal rechts und links auseinanderhalten können! Das gibt’s doch nicht. Wie können die behaupten, so schwerwiegende Sachen zu wissen, wenn sie nicht mal wissen, wo rechts und links ist? Das kann doch nicht sein. Ich kann mir nur die Hälfte von dem merken, was Frau Reza sagt. Später fällt mir auf, dass ich keine Ahnung mehr davon habe, was sie tatsächlich gesagt hat.

Es sind diese Momente, an die ich denken werde, wenn ich später in der Therapie oder anderswo die Formulierung „das Trauma einer Krebsdiagnose“ höre. So also fühlt sich ein Trauma an. Man fühlt gar nichts. Man ist nur ein kleiner Mensch in einem großen Luftballon. Das ist ja ganz praktisch, ganz gut so. Da ist man schön geschützt. Alles, was um einen herum geschieht, nimmt man wahr. Man kann auch reagieren. Man registriert, dass die anderen Menschen wiederum auf die eigenen Reaktionen reagieren. Aber man spürt gar nichts. Man guckt sich nur noch zu. Und aus „ich“ wird „man“. Es dauert auf den Tag genau drei Jahre, bis ich genug Abstand zu diesem Moment haben werde, um ihn aufschreiben zu können.

Ich weiß noch genau, wie das Zimmer ausgesehen hat, der Stuhl, der Tisch, der zwischen der Ärztin und mir stand. Ich kann mich an seltsame Details erinnern, aber an die Worte, mit denen sie mir die Diagnose verständlich machen wollte, kann ich mich nicht erinnern. Ich weiß noch, dass Frau Reza sehr, sehr viel Zeit hatte. Irgendwann kommt die Dame von der Rezeption und sagt ihr, sie müsse jetzt wirklich dringend mal ans Telefon kommen. „Okay“, sagt Frau Reza zu ihr. „Ich gehe raus, aber Sie bleiben hier sitzen.“ Dann sitzt die Dame von der Rezeption neben mir, hält mir die Hand und streichelt mein Knie. Ich gucke ihr dabei zu. Ich sehe diese fremde, streichelnde Hand auf meinem Knie. Auch sie redet. Sie erzählt mir etwas, aber ich habe keine Ahnung mehr, was. Es fällt alles wie durch ein Sieb. Irgendwann geht die Tür auf, und Herr Richard kommt herein. Er, der mir ursprünglich Bescheid geben sollte, dass alles in Ordnung ist. Er steht neben der Tür, lehnt an der Wand, beide Arme hinter dem Rücken verschränkt, macht sich ganz schmal, als wäre auch er jetzt lieber nicht hier. Er sagt – daran kann ich mich ausnahmsweise später noch erinnern –, dass sie, seine Kollegen und er, alle völlig schockiert gewesen seien. Sie hätten den Mikrokalk untersucht und: „Es hätte kein Mensch damit gerechnet, dass da was drin ist.“ Sie hätten auch alle mehrmals nachgeguckt und es alle nicht glauben können. „Aber es ist halt nicht umzudeuten – das ist eindeutig bösartig“, sagt er und guckt mich traurig an. Leise sage ich: „Sie haben es vertauscht! Sie haben es bestimmt vertauscht!“ Ich gucke ihn an. Er müsste nur „Ja“ sagen, „wir schauen nochmal nach.“ Er lächelt traurig. „Nein.“ Er schüttelt den Kopf. „Nein, wir haben nichts vertauscht.“ Monate später wird er mir irgendwann erzählen, dass diesen Satz alle seine Patientinnen sagen. Ausnahmslos.

Er fragt mich, ob sie mir die Psychoonkologin rufen sollen. Sie könne mir sicher helfen. Ich zucke mit den Schultern, nicke dann. Er soll rufen, wen er will, wenn nur irgendwer kommt, der mir hier raushelfen kann. Irgendwann kommt Frau Reza wieder. Sie will mit mir zum Professor, der mich operieren soll. Professor? Operieren? Wie? Wann? Jetzt? Frau Reza eilt durch den Flur, ich gehe langsam hinter ihr her. Es fällt ihr schwer, ihren flotten Schritt zu bremsen. Ich versuche, etwas schneller zu gehen. Sie ist mir immer einen halben Schritt voraus, auch wenn sie sich offenbar bemüht, ihr Tempo zu drosseln. „Wir werden alles tun, damit Sie in zwei Jahre sagen können: ‚Ich bin gesund!‘“ Weißer Arztkittel vor gelbem Krankenhaus-Flur. Ich bin gesund. In zwei Jahren? Hat die ’nen Knall? Ich mein, ich bin gesund. Heute Morgen, als ich aufgestanden bin, bin ich noch gesund gewesen. Gerade eben, bevor ich meine Füße in dieses Krankenhaus gesetzt habe, bin ich noch gesund gewesen. Kerngesund! In zwei Jahren? In zwei Jahren hab ich drei Kinder und ’nen Hund! Ich glaub, die spinnt! Ich will mein Leben leben! Und zwar jetzt! Ich habe ü-b-e-r-h-a-u-p-t k-e-i-n-e Z-e-i-t für so was!

Sie bringt mich ins Sekretariat des Professors. Frau Tieps, die Sekretärin, soll mir einen Termin geben. 17. November, schlägt sie vor. „Das ist der nächste Termin.“ 17. November? Das geht nicht. Da kann ich nicht. Am 20. November bin ich zu einem Ball eingeladen. Ich habe schon ein tolles Kleid. Und einen Friseurtermin. Das geht echt nicht. Sie lächelt. „Okay“, sagt sie zu meiner Verwunderung. „Wir machen es so: Ich trage den 17. November einfach schon mal hier ein – und Sie überlegen noch mal. Aber dann steht er schon mal hier drin.“ Später frage ich mich, wie oft Frau Tieps diese Situation schon erlebt hat. Sie weiß ganz genau, dass ich nicht zu diesem Ball gehen, sondern dass ich mich am 17. November von ihrem Chef operieren lassen werde.

In diesem Moment geht mir das alles viel zu schnell. Ich versteh das auch alles nicht. Ich verstehe nur, dass sie hier alle sehr nett zu mir sind und mich sehr ernst nehmen. Auch wenn ich teilweise recht wirres Zeug von mir gebe. Frau Tieps fragt mich gerade: „Wenn Sie hier zur OP sind, möchten Sie denn dann ein Einzelzimmer oder ein Zweibettzimmer?“ „Was heißt denn das?“, frage ich zurück. Auch hier nimmt sie mich vollkommen ernst. Freundlich antwortet sie: „Also, ein Einzelzimmer heißt, dass Sie alleine im Zimmer liegen, und in einem Zweibettzimmer würden Sie zu zweit im Zimmer liegen.“ Jetzt muss ich fast schon wieder lachen. „Ja“, sage ich mit einem schiefen Grinsen. „Das habe ich gerade noch kapiert.“ Aber ich weiß doch nicht, ob meine Versicherung das zahlt. Und was das kostet – und wer was zuzahlt und wie ich versichert bin, weiß ich grad auch nicht. „Ich will auch gar nicht operiert werden, und das geht mir alles viel zu schnell.“ Frau Tieps nickt: „Ich weiß.“ Ich fühle mich verstanden. Auch wenn ich selber gerade gar nichts verstehe. Frau Reza fragt, ob sie meinen Freund anrufen soll, damit er mich abholt. „Das geht nicht, der ist ja bei der Arbeit.“