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Der 15-jährige Sohn eines Selfmademan-Millionärs, Harvey Cheyne Jr., gilt zu Recht als schlecht erzogen und verweichlicht. Bei der Überquerung des Atlantiks fällt er bei einem heftigen Sturm über Bord. Gerade noch rechtzeitig wird er von Fischern aus Neufundland gerettet, insbesondere von dem portugiesischen Seemann Manuel. Der Junge berichtet der Mannschaft des Schoners We’re Here von seiner Herkunft und verlangt eine Rückkehr zum nordamerikanischen Festland. Allerdings glauben die Seeleute und ihr Kapitän Disko Troop nicht an den Reichtum seines Vaters und selbst wenn, so würden sie die Rückkehr scheuen, da ihnen sonst wertvolle Zeit beim Fischfang in der Sommersaison verstreicht. Gezwungenermaßen muss Harvey sich nun mit der Situation zurechtfinden und als zusätzlicher Esser Kost und Logis durch körperlich schwere Arbeit erst verdienen. Langsam erlernt er die Grundzüge des Fischerhandwerks im Umkreis der Neufundlandbank und erringt die Achtung sowie schließlich auch die Freundschaft der Besatzung. Insbesondere mit Dan, dem Sohn des Kapitäns, freundet sich Harvey Cheyne an. Somit wird im Laufe der Zeit allmählich aus dem verwöhnten Millionärszögling ein harter und Selbstdisziplin gewohnter junger Erwachsener. Als der längst totgeglaubte Harvey nach Monaten auf dem Umweg über den Heimathafen des Schiffs in Gloucester wieder nach New York zurückkehrt, ist sein Vater, der Eisenbahntycoon, doppelt glücklich: Hat sein Sohn doch endlich jene von ihm erhoffte Wandlung durchgemacht und wird in Zukunft seine Mitmenschen nicht mehr nach ihrer Herkunft und ihrem Vermögen einschätzen, sondern vorrangig nach ihren Fähigkeiten. Seine Dankbarkeit äußert Harvey, indem er die Ausbildung Dans zum Kapitän mitfinanziert, und sein Vater, Harvey Cheyne senior, indem er Dan auf einem seiner Tee-Clipper anheuern lässt. Fischerjungs kann man durchaus als Bildungsroman des Viktorianischen Zeitalters bezeichnen: „Körperliche Abhärtung, Selbstbeherrschung und Bereitschaft, gehorchen zu lernen und gelegentlich eine Tracht Prügel einzustecken – das waren nach Meinung Kiplings und der Verfechter der viktorianischen Tradition die Voraussetzungen, unten denen Knaben zu Männern werden.“ Der zu seiner Entstehungszeit gerade bei den jüngeren Lesern extrem populäre Roman ist frei von der üblichen Sentimentalität seiner Zeit und erzählt in realistischen Beschreibungen eine spannende Geschichte. Dabei werden die damaligen Fischereitechniken detailliert aufgeführt
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Bookworm Klassiker – Band 2
Rudyard Kipling – Fischerjungs
1. eBook-Auflage – Oktober 2013
© vss-verlag Hermann Schladt
Titelbild: Armin Bappert unter Verwendung eines Fotos von http://www.gratis-foto.eu/
Übersetzung: Chris Schilling
Lektorat: Hermann Schladt
Rudyard Kipling
Fischerjungs
Durch die Tür des Rauchzimmers, die nach der Wetterseite offenstand, drangen Nebelmassen des Nordatlantik ein. Der große Dampfer stampfte und schlingerte, und die Sirenen pfiffen zur Warnung der Fischerflottille.
»Dieser junge Cheyne ist die lästigste Wanze auf dem ganzen Schiff«, sagte ein Passagier in einem wollenen Paletot, indem er die Tür zuschlug. »Können wir hier nicht brauchen. Ist viel zu frech.«
Ein weißhaariger Deutscher langte nach einem belegten Brötchen und brummte kauend:
»Die Brut kenn' ich. Amerika ist voll davon. Ich sag' Ihnen, Sie sollten Tauenden zollfrei einführen bei Ihnen.«
»Pah! Er ist nicht wirklich bösartig. Er kann einem eher leidtun«, brummte ein New Yorker, der bequem der Länge nach ausgestreckt unter dem feuchtbeschlagenen Deckfenster lag. »Seit seiner frühesten Kindheit schleppen sie ihn von Hotel zu Hotel. Gerade heute Morgen sprach ich mit seiner Mutter darüber. Eine reizende Frau, aber sie gibt selbst ohne weiteres zu, dass sie dem Jungen nicht gewachsen ist. Sie gehen nach Europa, um seine Erziehung zu vollenden ...«
»Die noch nicht mal begonnen hat«, warf ein Herr aus Philadelphia, von seinem Eckplatz her, dazwischen. »Dieser Bub bekommt zweihundert Dollar monatlich Taschengeld. Er ist noch keine sechzehn.«
»Eisenbahnen, der Alte, nicht?« fragte der Deutsche.
»Jawohl«, antwortete der aus Philadelphia faul. »Eisenbahnen und Bergwerke und Sägewerke und Reedereien. Ein Werk hat er in San Diego, eins in Los Angeles; ihm gehören ein halbes Dutzend Eisenbahnen, die Hälfte aller Waldungen nach dem Stillen Ozean hin, und seine Frau hat nichts zu tun, als Geld auszugeben. Im Westen fühlt sie sich nicht wohl, sagt sie. Reist einfach zwecklos 'rum mit ihrem Jungen und ihren Nerven, bloß auf der Suche danach, scheint's, was ihm Spaß machen könnte. Immer in der Runde 'rum, Florida, Adirondacks, Lakewood, Hot Springs, New York, und wieder von vorn. Hat nicht mehr Schliff wie ein x-beliebiger Hotelboy, der Kerl, und wenn seine Erziehung in Europa >vollendet< ist, wird er erst der richtige Schrecken für alle sein.«
»Weshalb kümmert sich der eigne Vater nicht um den Jungen?« fragte der wollene Paletot.
»Der Alte muss Geld scheffeln. Will dabei nicht gestört werden, vermutlich. In ein paar Jahren wird er sich seinen Schaden besehen. Ein Jammer, steckt allerhand Gutes in dem Jungen, wenn man bloß 'ran könnte.«
»Mit dem Tauende, mit dem Tauende!« brummte der Deutsche.
Die Tür wurde aufgerissen, und ein Knabe von etwa fünfzehn Jahren, lang und schmächtig, eine halb gerauchte Zigarette im Mundwinkel hängend, kam herein geschlakst. Seine käsige Gesichtsfarbe passte wenig zu seinem Alter, und seine Haltung und Erscheinung war ein Gemisch aus Unentschlossenheit, Aufdringlichkeit und falscher Eleganz. Er trug eine kirschfarbene Joppe, Knickerbockers, rote Strümpfe, Tennisschuhe; eine rote Flanellmütze hatte er tief in den Nacken geschoben. Durch die Zähne pfeifend und die Anwesenden musternd, sagte er mit hoher, lauter Stimme:
»Mulmig draußen, was? Man hört nichts wie das Getute von den Fischerbooten rundum. War' ein Mordsspaß, wenn wir eins rammen würden, was?«
»Tür zu, Harvey«, sagte der New Yorker, »Tür zu und draußen geblieben; wir verzichten auf Ihre Gesellschaft.«
»Wer kann mich hindern«, antwortete der Junge unverfroren. »Haben Sie vielleicht meine Überfahrt bezahlt, Mister Martin? Ich denke, ich habe hier das gleiche Recht wie jeder andre.«
Er nahm ein paar Würfel von einem Schachbrett und begann zu würfeln, rechte Hand gegen linke.
»Stinklangweilig hier, meine Herren, was? Könnten wir nicht eine Partie Poker machen?«
Niemand gab ihm Antwort. Trotzdem paffte er ungeniert seine Zigarette, schlug die Beine übereinander und trommelte mit reichlich unsauberen Fingern auf den Tisch. Dann zog er einen Pack Banknoten aus der Tasche, wie um sie zu zählen.
»Wie geht es heute Ihrer Mutter?« fragte einer der Herren. »Sie war nicht beim Lunch.«
»Ist in ihrem Salon, vermute ich. Sie ist fast immer seekrank bei der Überfahrt. Ich wollte grade die Stewardess mit fünfzehn Dollar tippen, dass sie sich ein wenig um sie kümmert. Ich gehe nicht öfter 'runter als unbedingt nötig. Wird mir immer ganz schwummrig, wenn ich an der Anrichte vorbei muss. Ich bin zum ersten Mal auf See, verstehen Sie.«
»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Harvey.«
»Wer spricht von entschuldigen? Ich fahre zum ersten Mal nach Europa, meine Herren, und außer am ersten Tage bin ich keine Spur seekrank gewesen Ich nicht!« Er schlug triumphierend mit der Faust auf den Tisch, nässte die Finger und fing wieder an, seine Scheine zu zählen.
»Ja, du bist ein Mordskerl, steht dir an der Stirn geschrieben«, sagte der Philadelphier. »Du wirst noch zur Zierde deines Vaterlandes heran blühen, wenn du so weiter machst.«
»Weiß ich! Ich bin Amerikaner, durch und durch und allemal. Das werd' ich ihnen zeigen, wenn ich nach Europa komm'. Pff! Mein Kraut ist ausgegangen. Ich kann den Mist nicht rauchen, den der Steward verzapft. Hat einer der Herren eine echte Türkische bei sich?«
Der Obermaschinist kam einen Augenblick herein, gerötet, lächelnd, nass. »He, Mac«, rief Harvey kameradschaftlich. »Wie steht's, wie geht's?«
»Ganz wie immer«, war die ruhige Antwort. »Die Jugend ist höflich gegen die Erwachsenen, und die Erwachsenen wissen das zu schätzen.«
Aus der Ecke kicherte es. Der Deutsche öffnete seine Zigarrentasche und bot Harvey eine dunkle, dünne Zigarre an. »Das ist das Richtige für Sie, mein junger Freund«, sagte er. »Wollen Sie sie versuchen, ja? Da werden Sie mal sehen, wie Ihnen wohl wird.«
Harvey zündete sich schwungvoll das verdächtige Kraut an. Er fühlte seine Stellung unter Erwachsenen gefestigt.
»Das langt nicht, um mich umzuwerfen«, sagte er, nicht ahnend, dass das furchtbare Produkt, das er sich da ansteckte, ein »Wheeling«-Stumpen, eine Giftnudel schlimmster Sorte, war.
»Das wird sich gleich zeigen«, sagte der Deutsche. »Wo sind wir jetzt, Herr Macdonald?«
»So hier- oder dort herum, Herr Schäfer«, erwiderte der Maschinist. »Bis heute Abend können wir bei den >Großen Bänken< sein; aber ganz allgemein gesprochen, sind wir mitten in der Fischerflotte. Wir haben seit Mittag drei Jollen angerannt und einem Franzosen den Klüverbaum gekappt. Das kann man knapp vorbei nennen!«
»Schmeckt Ihnen, meine Zigarre, hm?« fragte der Deutsche, denn Harveys Augen standen voll Tränen.
»Feines, kräftiges Aroma«, antwortete er mit zusammengebissenen Zähnen. »Mir scheint, wir fahren jetzt langsamer, nicht? Ich will mal 'raus und nach dem Log sehen.«
»Das täte ich auch an Ihrer Stelle«, sagte der Deutsche.
Harvey stolperte über die nassen Decks zur nächsten Reling. Er fühlte sich miserabel; aber da er vor dem Decksteward, der Stühle zusammenstellte, erst kürzlich geprahlt hatte, er werde nie seekrank, ließ er sich aus Stolz verleiten, nach rückwärts über das Zweite-Klasse-Deck bis zum Heck zu gehen, das in ein sogenanntes Schildkrötendeck auslief. Das Deck lag ganz verlassen, und er schleppte sich zum äußersten Ende, bis an den Flaggenstock. Er krampfte sich halb ohnmächtig vor Schmerz zusammen, denn der Stumpen im Verein mit dem Dröhnen der aus dem Wasser auftauchenden Schraube schien ihm die Seele aus dem Leib zu drehen. Sein Kopf schwoll; Funken tanzten ihm vor den Augen; sein Körper schien kein Schwergewicht mehr zu haben; seine Glieder flogen. Die Seekrankheit raubte ihm die Besinnung, und beim nächsten Überholen kippte er über die Reling, auf den glatten Rand des Schildkrötendecks. Dann tauchte eine graue, mütterliche Woge aus dem Nebel auf, nahm Harvey sozusagen unter einen Arm und schleppte ihn mit sich fort; das große Wasser schloss sich über ihm, und er sank sanft in Schlummer.
*
Er erwachte durch den Ton eines Horns, wie es ihm von seiner Sommerschule in den Adirondacks her als Signal zum Mittagessen bekannt war. Langsam kam ihm die Erinnerung, dass er Harvey Cheyne war, tot, ertrunken inmitten des großen Wassers. Aber er war zu schwach, sich die Einzelheiten zusammenzureimen. Ein ungewohnter Geruch drang ihm in die Nase; kaltes Schuddern lief ihm über den Rücken, und er fühlte sich hoffnungslos mit Salzwasser angepumpt. Als er die Augen aufschlug, vermeinte er, noch auf den Wellen zu liegen, denn es glitzerte wie Silberkämme um ihn; und dann sah er, dass er auf einem Haufen halbtoter Fische gebettet lag, und sah vor sich einen Menschenrücken, in eine blaue Wolljoppe gekleidet.
Das hilft alles nichts, dachte der Junge. Ich bin tot, sicherlich, und der da hat irgendwas damit zu tun.
Er stöhnte. Da drehte die Gestalt ihren Kopf herum und ließ ein Paar goldener Ohrringe sehn, die halb in schwarzem, lockigem Haar verschwanden.
»Aha! Jetzt besser?« sagte die Gestalt. »Still liegen! Dass wir grade bleiben!«
Mit einem raschen Ruderschlag drehte der Sprecher den schwankenden Bootsbug einem schaumlosen Wellenberg zu, der ihn zwanzig Fuß hochhob, um ihn sodann in einen glasigen Abgrund hinab gleiten zu lassen. Aber diese Bergpartie störte die blaue Joppe nicht in ihrer Rede. »Fein, dass ich dich erwischt hab', was? Noch feiner, dass euer Boot nicht mich erwischt hat, was? Wie bist du denn 'rausgefallen?«
»Mir war furchtbar elend«, sagte Harvey, »und ich konnte nichts machen.«
»Ich tute noch grade rechtzeitig in mein Horn, und dein Boot piert ein bisschen, und da kommst du 'runtergerollt. Halt, denk' ich, der is jetzt zu Fischköder zermahlen von der Schraube! Aber nein, du treibst - treibst auf mich zu, und ich fang' dich ein, wie einen großen Fisch. Für diesmal geht's noch nicht ans Sterben.«
»Wo bin ich?« fragte Harvey, der sich in seiner Lage nicht sonderlich gesichert vorkam.
»Mit mir auf unserer Jolle, Manuel heiß' ich. Ich bin vom Schoner >Da sind wir<, von Gloucester. Da wohn' ich auch. Bald gibt's Abendbrot, he?«
Er schien vier Hände und einen Kopf aus Eisen zu haben, denn er tutete nicht nur durch eine große Muschel, sondern drehte im Stehen das flache Boot, indem er zugleich breiige hohle Töne in den Nebel schickte. Wie lange dieses Spiel gedauert haben mochte, dessen konnte sich Harvey nicht erinnern; denn er lag nur da, ganz überwältigt vom Anblick der dampfenden Wellenberge. Er glaubte, einen Schuss, ein Hornsignal und Rufe zu hören. Ein Fahrzeug, größer als die Jolle, aber nicht weniger flink, wurde sichtbar. Stimmen sprachen durcheinander. Er wurde in einen dunklen, schwankenden Raum gehoben, wo Männer in Ölzeug ihm einen heißen Trank einflößten, ihm die Kleider abzogen. Dann schlief er ein.
Beim Erwachen wartete er auf die Frühstücksglocke seines Dampfers und wunderte sich, wieso seine Kabine so eng geworden war. Sich umwendend, sah er in ein kleines, dreieckiges Loch, von einer Lampe erhellt, die an einem Querbalken hing. Just in Reichweite lief ein dreieckiger Tisch vom Bugwinkel bis zum Fockmast. Rückwärts, wo der verrauchte Ofen stand, saß ein Junge seines Alters, mit rotem, breitem Gesicht und lustigen grauen Augen. Er trug eine blaue Joppe und hohe Wasserstiefel. Mehrere Paare der gleichen Art, eine alte Mütze, ein paar ausgetragene, wollene Socken lagen auf dem Boden, und gelbes und schwarzes Ölzeug schlug gegen die Kojen. Der Raum war von Gerüchen so vollgepfropft wie ein Sack mit Wolle. Das Ölzeug hatte einen eigentümlich schweren Geruch, der sozusagen den Untergrund bildete für die Düfte von gebackenem Fisch, angebranntem Fett, Farbe, Pfeffer und altem Tabak. Über dem allem aber schwebte der Geruch von Schiff und Salzwasser. Mit Widerwillen bemerkte Harvey, dass sein Lager keine Leintücher aufwies. Er war auf ein Stück schmutzig-braunen Drillich gebettet, voller Knoten und Knubbeln. Ja, und die Bewegungen des Schiffes waren auch nicht die eines Dampfers. Es glitt nicht, schlingerte nicht, sondern schien sich albern und wie ziellos um sich selbst zu drehen, wie ein Fohlen am Halfter. Wasserrauschen drang nah an sein Ohr, und die Deckbalken knarrten und winselten. Bei alledem wurde ihm so verzweifelt zumute, dass er plötzlich an seine Mutter denken musste und laut aufstöhnte.
»Geht's besser?« fragte ihn der Junge freundlich grinsend. »Magst du Kaffee?« Er brachte ihm einen Blechbecher voll und süßte den Kaffee mit Melasse.
»Gibt's denn hier keine Milch?« fragte Harvey und musterte die Doppelreihe der Kojen, als ob er eine Kuh zu finden hoffte.
»Nein«, lachte der Junge. »Nicht bis Mitte September. Der Kaffee ist aber nicht schlecht. Ich hab' ihn selbst gemacht.«
Harvey trank ohne weitere Entgegnung und machte sich heißhungrig über einen Teller voll rasch gebratenen Specks, den ihm der Junge reichte.
»Ich hab' auch deine Kleider getrocknet. Die werden wohl ein bisschen eingeschrumpft sein«, fuhr der Bub fort. »Passen sowieso nicht recht hier zu uns. Versuch mal, dich umzudrehen, ob du nicht verletzt bist.«
Harvey drehte sich nach allen Richtungen, aber er konnte sich über keine Schmerzen beklagen.
»Das ist recht«, sagte der Junge herzlich. »Mache dich fertig und komm auf Deck. Mein Vater will dich sehn. Ich bin sein Sohn - Dan werd' ich gerufen -, ich bin Küchenjunge und mach' auch alle andre Arbeit, die den Männern zu dreckig ist. Ich bin jetzt der einzige Junge hier, seit Otto über Bord gegangen ist. War bloß'n Holländer, zwanzig Jahre alt. Wie bist du bloß bei so 'ner Flaute über Bord gekommen?«
»Es war gar nicht ruhig«, sagte Harvey mürrisch. »Es war ein richtiger Sturm, und ich war seekrank. Ich muss über die Reling gerollt sein.«
»War 'ne ganz gewöhnliche leichte Dünung gestern und vorgestern, jawoll«, sagte der andre. »Aber wenn das bei dir Sturm ist«, ... er pfiff durch die Zähne ... »da kannst du noch etwas erleben, bis du seefest wirst. Fix jetzt, der Vater wartet!«
Harvey hatte, wie so manche bedauernswerte junge Menschen, noch nie in seinem Leben einen direkten Befehl zu hören bekommen - wenigstens nie ohne lange und oftmals tränenreiche Erläuterungen über die Vorteile des Gehorsams und die Gründe, weshalb dies oder jenes von ihm verlangt wurde. Frau Cheyne lebte in ständiger Angst, ihren Sohn zu verstimmen, was vielleicht der Grund war, dass sie ihrerseits immer am Rande eines Nervenzusammenbruchs stand. Er konnte daher nicht begreifen, warum er sich wegen jemand anderem beeilen sollte. Er sagte: »Dein Vater kann ja herunterkommen, wenn er mich durchaus sprechen will. Er soll mich nach New York bringen, sofort. Es wird sich bezahlt machen!«
Dan riss die Augen auf, als ihm der köstliche Spaß in seinem ganzen Umfang aufdämmerte. »Hör mal, Papp«, rief er hinauf. »Er sagt, du kannst ja 'runterkommen, wenn du ihn durchaus sprechen willst. Hörst du, Papp?«
In einem Bass, wie ihn Harvey noch nie aus einer Menschenbrust gehört hatte, kam die Antwort: »Lass den Unsinn, Dan,und schick ihn 'rauf.«
Dan kicherte und warf Harvey seine aufgeweichten Tennisschuhe zu. Etwas in den Tönen von da oben bewirkte, dass der Knabe seine Wut unterdrückte, indem er sich mit dem Gedanken tröstete, wie er nach und nach auf der Heimreise die Geschichte von seinem und seines Vaters Reichtum den Leuten hier zu Gemüte führen würde. Und daheim, bei seinen Freunden, würde er sicherlich ein Held auf Lebenszeit sein nach diesem Abenteuer.
Er f rettete sich die senkrechte Leiter hinauf, stolperte über eine Menge Hindernisse vorwärts und landete vor einem kleinen, untersetzten, glattrasierten Mann mit grauen Augenbrauen, der auf einer Stufe saß, die zum Achterdeck führte. Über Nacht hatte sich die See gelegt und wogte nur noch in langer, öliger Dünung, gegen die sich rings in der Ferne die Segel von einem Dutzend Fischerbooten abhoben - kleine schwarze Punkte -, das waren die Jollen, die beim Fischen waren. Der Schoner spielte leicht um den Anker, am Großmast war nur das Gaffelsegel aufgezogen. Und außer dem Mann am »Kartenhaus« war das Schiff völlig verlassen.
»Guten Morgen, um nicht zu sagen guten Mittag! Du hast vier Wachen überschlafen, mein Junge«, begrüßte ihn der Fischer.
»Guten Morgen«, erwiderte Harvey. Es passte ihm nicht, »Junge« tituliert zu werden; auch erwartete er mehr Mitgefühl für das Schicksal eines vom Tode Erretteten. Seine Mutter litt Qualen, wenn er nur nasse Füße hatte, aber dieser Seemann schien sich nicht im mindesten zu beunruhigen.
»Jetzt erzähl uns mal die ganze Geschichte! War richtig 'ne Schicksalsfügung, wenn man's genau bedenkt. Wie heißt du denn und woher kommst du? Europa scheint's, was?«
Harvey nannte seinen Namen, den Namen des Dampfers, gab eine kurze Schilderung des Unglücks und schloss mit der Aufforderung, ihn sofort nach New York zurückzubringen, wo sein Vater jede verlangte Summe bezahlen würde.
»Hm«, machte der Glattrasierte, gänzlich unberührt von Harveys Schlussbemerkung. »Könnte nicht sagen, dass wir hier viel halten von einem, der bei völliger Flaute von so 'nem großen Kahn über Bord geht, und wenn's auch bloß ein Bub ist. Am allerwenigsten, wenn er sich damit entschuldigt, dass er seekrank war.«
»Entschuldigt!« schrie Harvey. »Bilden Sie sich vielleicht ein, ich bin zu meinem Vergnügen in euer dreckiges kleines Boot gefallen?«
»Da ich nicht weiß, was bei dir Vergnügen heißt, kann ich dir darauf nicht antworten, mein Junge. Aber an deiner Stelle würd' ich das Schiff, das dich durch Gottes Vorsehung gerettet hat, nicht beschimpfen. Erstens ist das sträfliche Lästerung und zweitens verletzt das meine Gefühle, denn ich bin Disko Troop, Kapitän der >Das sind wir< von Gloucester, was du nicht recht zu wissen scheinst.«
»Weiß ich auch nicht und ist mir auch höchst einerlei«, gab Harvey zurück. »Ich bin natürlich sehr dankbar, dass ich gerettet worden bin und so weiter, aber ich möchte Ihnen endlich begreiflich machen, dass Sie um so besser bezahlt kriegen, je schneller Sie mich nach New York zurückbringen!«
»Was heißt das?« Troop zog eine buschige Braue hoch über einem verdächtig sanften blauen Blick.
»Was das heißt? Dollars und Cents!« sagte Harvey, beglückt, sich aufspielen zu können. »Blanke Dollars!« Er fuhr mit der Hand in die Tasche und reckte ein wenig den Bauch heraus, wie es seine Art war, wenn er sich ein Ansehen geben wollte. »Das war der beste Fang eures Lebens, dass ihr mich aufgefischt habt. Ich bin der einzige Sohn von Harvey Cheyne.«
»Da hat er Glück gehabt!« sagte Disko trocken.
»Und falls ihr nicht wisst, wer Harvey Cheyne ist, dann wisst ihr überhaupt nicht viel, basta. Also wenden und hoppla!«
Harvey war der festen Überzeugung, dass halb Amerika nichts anderes zu tun hatte, als vom Reichtum seines Vaters zu reden und ihn darum zu beneiden.
»Vielleicht kenn' ich ihn, vielleicht nicht! Reff deinen Bauch ein, Junge, der ist voll von meiner Kost!«
Harvey hörte, wie Dan kicherte, der sich zum Schein am Fockmast zu schaffen machte, und das Blut stieg ihm zu Kopf.
»Für die Kost werden wir auch bezahlen«, sagte er. »Wann meinen Sie, sind wir in New York?«
»Ich hab' nichts zu suchen in New York. Auch nicht in Boston. Kann sein, wir sind im September in Eastern Point. Dein Vater -tut mir leid, hab' nie von ihm gehört -, der gibt mir dann zehn Dollar vielleicht nach allem, was du da schwatzt. Vielleicht auch nicht.«
»Zehn Dollar! Was stellen Sie sich vor! Sehen Sie ...« Harvey griff in seine Tasche nach dem Bündel Banknoten. Aber nichts wie ein Päckchen aufgeweichter Zigaretten kam zum Vorschein.
»Nicht die geläufige Scheidemünze und schlecht für die Lungen! Schmeiß weg, mein Junge, und versuch's noch mal.«
»Man hat mir's gestohlen!« schrie Harvey hitzig.
»Werd' also warten müssen mit meinen Dollars, bis du deinen Papa wiedersiehst, was?«
»Hundertvierunddreißig Dollar, alle weg!« Er wühlte wild in allen Taschen. »Geben Sie sie zurück!«
Ein merkwürdig veränderter Ausdruck glitt einen Augenblick über das wetterharte Gesicht des Schiffers.
»Was hast du in deinem Alter wohl mit hundertvierunddreißig Dollar angefangen, Junge?«
»Es war ein Teil von meinem Taschengeld - für den Monat natürlich.« Damit glaubte Harvey den Alten endgültig umgeworfen zu haben. Das traf auch zu. Aber in anderm Sinn.
»Oh! Hundertvierunddreißig Dollar ist nur ein Teil von seinem Taschengeld - bloß für einen Monat! Kannst du dich nicht erinnern, ob du dich irgendwo angeschlagen hast beim Runterfallen? Vielleicht an einen Pfosten? Der alte Hasken vom >Ostwind<« - Troop schien nur noch zu sich selbst zu sprechen - »der ist damals bloß über 'ne Luke gestolpert und ist mit dem Kopf an den Großmast geschlagen, und drei Wochen drauf, da hat er sich steif und fest eingebildet, der >Ostwind<, der war 'n Kriegsschiff und müsste Handelsschiffe kapern, und da hat er richtig Krieg erklärt gegen Sable Island, weil's britisch war' und die Sandbänke zu weit vorliefen. Sie mussten ihn in einen Bettsack einnähen, dass bloß noch Kopf und Füße 'rausschauten - die ganze Reise über. Und jetzt ist er wieder in Essex zu Hause und spielt mit kleinen Puppen.«
Harvey erstickte fast vor Wut. Aber Troop fuhr tröstend fort: »Du tust uns leid, sehr leid ... noch so jung... Wollen lieber nicht mehr reden von dem Geld, denk' ich.«
»Natürlich nicht, Sie haben's gestohlen.«
»Gut, gut, wir haben's gestohlen, wenn dich das beruhigt. Und was die Rückreise betrifft: Angenommen, wir könnten dich zurückbringen - was wir aber nicht können - du bist jetzt nicht im richtigen Zustand für zu Hause; und wir, wir sind eben erst in die >Bänke< eingelaufen und müssen uns unser Brot verdienen. Wir besehen keine fünfzig Dollar im Monat - nicht zu reden von Taschengeld, und wenn wir Glück haben, sind wir so gegen September wieder irgendwo an Land.«
»Aber - aber jetzt ist doch erst Mai. Ich kann doch nicht einfach hier bleiben und nichts tun, nur weil ihr fischen wollt. Ich kann nicht, sag' ich Ihnen!«
»Schön und gut, gut und schön. Niemand verlangt von dir, dass du nichts tust. Es gibt sogar 'ne Menge zu tun für dich - an Ottos Stelle -, der ist in Le Havre über Bord gegangen. Hat scheint's den Halt verloren bei 'nem Sturm dort. Hat sich nicht drüber äußern können, weil er nie wiedergekommen ist. Du kommst grade recht, für alle Teile, wie von der Vorsehung geschickt. Verstehen wirst du nicht viel, kann ich mir denken, was?«
»Ich werd's euch zeigen, euch allen, wenn wir an Land sind«, sagte Harvey mit einem giftigen Kopfnicken und etwas von »Pirat« murmelnd, was ein - allerdings nur halbes - Lächeln auf Troops Antlitz hervorrief.
»Bloß mit dem Mundwerk bist du nicht faul. Das hatt' ich vergessen. Aber auf der >Da sind wir< schwatzt man nur, wenn man was zu sagen hat! Halt die Augen offen und hilf Dan bei seiner Arbeit und so, und dafür geb' ich dir- du bist's zwar nicht wert - aber trotzdem doch - zehn und einen halben im Monat - sagen wir: fünfunddreißig am Ende der Fahrt. Ein bißchen Arbeit wird dir den Kopf klarmachen, und später mal kannst du uns dann alles erzählen von Pappa und Mamma und von deinem Geld.«
»Sie ist auf dem Dampfer«, rief Harvey, und seine Augen füllten sich mit Tränen. »Bringen Sie mich nach New York, sofort!«
»Arme Frau - arme Frau! Aber sie wird's schon verwinden, wenn sie dich erst wieder hat. Wir sind unser acht auf der >Da sind wir<. Wenn wir jetzt umkehren - das sind mehr als tausend Meilen -, da verlieren wir die gute Fischzeit. Das kann ich nicht wegen der Mannschaft, selbst wenn ich wollte.«
»Aber mein Vater wird das alles gutmachen!«
»Er würd's versuchen, ohne Zweifel würd' er's versuchen«, sagte Troop. »Aber unser Fang ist das Brot von acht Leuten, und im Herbst, wenn du ihn wiedersiehst, wird's dann auch wieder mit deiner Gesundheit besser sein. Vorwärts jetzt und hilf Dan. Zehneinhalb, wie ich gesagt hab'. Und die Kost natürlich, wie für uns alle.«
»Soll das heißen, dass ich Töpfe und Pfannen und so rein machen soll?« fragte Harvey.
»Und sonst allerhand. Das ist noch lange kein Grund, so laut zu schreien, Junge!«
»Das tu' ich nicht! Mein Vater gibt euch so viel, dass ihr den dreckigen, kleinen Fischkasten hier« - Harvey stampfte auf das Deck auf - »zehnmal, nicht einmal, damit kaufen könnt, wenn ihr mich heil nach New York bringt! Und - und außerdem seid ihr mir sowieso noch hundertdreißig Dollar schuldig.«
»Wieso?« fragte Troop, und sein unbewegliches Gesicht verfinsterte sich.
»Wieso? Das wissen Sie besser als ich. Und obendrein soll ich noch Knechtsarbeit tun bis zum Herbst«. - »Knechtsarbeit« schien ihm sehr eindrucksvoll. - »Ich sag' Ihnen nochmals, ich will nicht. Haben Sie verstanden?«
Troop betrachtete eine Weile die Spitze des Großmasts mit scheinbar größtem Interesse, während Harvey nicht aufhörte, auf ihn einzuschwätzen.
»Ksch!« machte er endlich. »Ich muss mir die Sache mal zurechtlegen. Da steckt Verantwortung dahinter.«
Dan kam verstohlen heran und zupfte Harvey am Ellbogen. »Hör auf, dich mit Vater 'rumzustreiten«, flüsterte er. »Du hast ihn jetzt schon paarmal einen Dieb geheißen, und das lässt er sich von keinem lebenden Wesen bieten.«
»Ich will aber nicht!« schrie Harvey, ohne auf den Rat zu achten. Troop überlegte noch immer.
»Klingt richtig verrückt«, sagte er schließlich und wandte seinen Blick Harvey zu. »Ich verdenk' dir's nicht, nicht ein bisschen, mein Junge, aber du wirst mir's auch nicht verdenken, wenn du erst mal deine Galle los bist. Pass jetzt gut auf, was ich sage: Zehneinhalb als zweiter Schiffsjunge hier auf dem Schoner und die ganze Kost, damit du was lernst und wieder gesund wirst. Ja oder nein?«
»Nein!« schrie Harvey. »Bringen Sie mich nach New York zurück oder ich ...«
Er konnte sich nicht mehr genau erinnern, was dann geschah. Er lag im Speigat und hielt sich seine blutende Nase zu. Troop sah ihn gelassen an.
»Dan«, sagte er zu seinem Sohn, »der Junge hat mir von Anfang an nicht gefallen, weil er so vorschnell urteilt. Lass dich nie zu vorschnellen Urteilen verleiten, Dan. Jetzt tut er mir leid, denn es ist sicher oben was nicht richtig bei ihm. Er kann nichts dafür, dass er mich beschimpft hat, auch nicht für das, was er sonst geschwätzt hat und dass er über Bord gesprungen ist; denn ich glaub' jetzt beinahe, das hat er getan. Sei nett mit ihm, Dan, sonst kriegst du die doppelte Tracht. Das Nasenbluten wird ihm den Kopf klarmachen. Lass ihn nur ausbluten.«
Troop ging gemessen in die Kajüte, wo er und die älteren Männer schliefen. Er überließ es Dan, den unglückseligen Erben von dreißig Millionen zu trösten.
»Ich hab' dich gewarnt«, sagte Dan, während das Blut in raschen Tropfen auf das dunkle, ölige Plankenwerk fiel. »Papp is nicht jähzornig, aber du hast's redlich verdient. Hab dich doch nicht so«. - Harvey schüttelte sich vor Schluchzen. - »Ich kenn' das. Einmal hat er mich geschlagen und nie wieder. Und das war auf meiner ersten Reise. Da kommt man sich dann ganz elend vor und gottverlassen; das kenn' ich.«
»Du hast recht«, stöhnte Harvey. »Der Alte ist entweder verrückt oder betrunken, und ich - und ich kann gar nichts tun.«
»Lass das Papp nicht hören! Alkohol, das gibt's bei ihm nicht, und ... und er hat gesagt, dass du verrückt bist. Warum hast du ihn denn auch bloß einen Dieb geschimpft? Er ist doch mein Vater.«
Harvey richtete sich auf, wischte seine Nase ab und berichtete über das Missgeschick mit seinen verschwundenen Banknoten. »Ich bin gar nicht verrückt«, schloss er; »aber dein Vater hat scheinbar nie mehr als eine Fünfdollarnote beisammen gesehen, und mein Vater könnte jede Woche einmal so einen Kasten wie euern hier kaufen und würde es gar nicht mal merken.«
»Du weißt nicht, was die >Da sind wir< wert ist. Da müsste dein Vater ja haufenweise Geld haben. Womit hat er sich's denn verdient? Mein Vater sagt immer, Verrückte können kein richtiges Garn spinnen. Erzähl nur weiter.«
»Womit er es verdient hat? In Goldbergwerken und so, im Westen.«
»Davon hab' ich gelesen. So, so, im Westen! Ob er da wohl auch mit der Pistole und einem dressierten Pony 'rumreitet wie im Zirkus? Sie nennen das >Wildwest<, und ich hab' gehört, dass sie Sporen und Zaumzeug aus purem Silber haben.«