Flaschenpost vom Leben - Patricia Koelle - E-Book

Flaschenpost vom Leben E-Book

Patricia Koelle

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Beschreibung

Romantische Häfen und Geschichten vom Meer – das ist die Glückshafen-Reihe von Bestseller-Autorin Patricia Koelle Pixie ist Fantasy-Schriftstellerin. Neuerdings ist sie unzufrieden, denn das Schreiben stockt. Da nimmt sie das Angebot an, für eine Zeitschrift die Geschichte eines alten Flaschenschiffs zu recherchieren. Die Suche führt sie zu Häfen der ostfriesischen Nordseeküste, wo sie auf Feeke trifft – die Enkelin einer Frau, die den Flaschenschiffbauer Kapitän Flömer einst mit ihrer Zuneigung und Lebensklugheit geprägt hat. Pixie verliebt sich in den historischen Gulfhof, auf dem Feeke lebt. Doch der Hof steckt in Schwierigkeiten. Um ihn zu retten, forscht Pixie nach weiteren Flaschenschiffen und entdeckt dabei auch ihre wahre Berufung.

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Seitenzahl: 430

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Patricia Koelle

Flaschenpost vom Leben

Glückshafen-Reihe 1

 

 

Über dieses Buch

 

 

Die Geschichte eines alten Flaschenschiffs führt Pixie zu Häfen der ostfriesischen Nordseeküste. Bald trifft sie auf Feeke, die Enkelin einer Frau, die den Flaschenschiffbauer Kapitän Flömer einst mit ihrer Zuneigung und Lebensklugheit geprägt hat. Pixie verliebt sich in den historischen Gulfhof, auf dem Feeke lebt. Doch der Hof steckt in Schwierigkeiten. Um ihn zu retten, forscht Pixie nach weiteren Flaschenschiffen und entdeckt dabei auch ihre wahre Berufung.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Patricia Koelle ist eine Autorin, die in ihren Büchern ihr immerwährendes Staunen über das Leben, die Menschen und unseren sagenhaften Planeten zum Ausdruck bringt. Bei FISCHER Taschenbuch erschienen, neben Romanen und Geschichten-Sammlungen, die Ostsee- und Nordsee-Trilogie, die Inselgärten-Reihe sowie die Sehnsuchtswald-Reihe. ›Flaschenpost vom Leben‹ ist der erste Band ihrer Glückshafen-Reihe.

Inhalt

[Widmung]

Pixie

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

Feeke

15. Kapitel

Pixie

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

Feeke

23. Kapitel

Pixie

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

Feeke

27. Kapitel

Pixie

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

Epilog

Danksagung

[Ankündigung]

Für Frank,

bei dem ich angekommen und mit dem ich überall glücklich bin.

Und für das Licht am Himmel und das, was es uns allen immer wieder zu geben hat, ganz gleich, was sonst geschieht.

Pixie

Roseburg, Harz

2021

1

»Guten Morgen, Pixie! Hast du heute endlich ein neues Kapitel mitgebracht, das du mir vorlesen kannst?«

Pixie blieb erschrocken stehen. Woher hatte Lotte schon wieder gewusst, dass sie sich näherte? Die alte Gärtnerin hatte ihr doch den Rücken zugewandt und war damit beschäftigt, eine Spinnwebe aus dem Auge einer der Putten auf der steinernen Brüstung zu entfernen. Und Pixies Turnschuhe machten auf dem Gras kein Geräusch.

»Du brauchst dich gar nicht wundern. Ein Leben lang auf die Vögel und all die kleinen Geschöpfe zu lauschen macht feine Ohren«, sagte Lotte, warf ihr einen verschmitzten Seitenblick zu und griff sich einen Pinsel aus der ledernen Tasche an ihrem Gürtel. Sorgsam reinigte sie damit das Gesicht der Putte vollends. Es wäre kein Wunder gewesen, wenn das Kerlchen geniest hätte.

»Ich habe schon etwas geschrieben«, sagte Pixie, in der sofort die dunkle Verzweiflung der letzten schlaflosen Nacht wieder hochkam. »Aber es ist noch nicht vorzeigbar.« Fast meinte sie, den Pinsel auf der eigenen Nase zu spüren. Wenn sich ihre verflixte Phantasie doch nur endlich wieder einmal nützlich machen würde!

»Das behauptest du seit Wochen.« Lotte schlug den Staub nachdrücklich aus den Borsten. Das Klopfen hallte in der Grotte unter ihnen wider.

»Weil es stimmt.« Pixie lehnte sich zerknirscht auf die warme Brüstung und sah zum Brocken hinüber. Friedlich lagen die Felder, Dörfer und Hecken in der Spätsommersonne, dahinter hockte gemütlich Norddeutschlands höchster Berg im Dunst. Es hatte sie immer amüsiert, dass man ihn schlichtweg den »Brocken« getauft hatte. Er wirkte beruhigend auf sie, wohl weil er so ungerührt und zuverlässig gegenwärtig war. Bei anderen Wetterlagen im Harz sah man ihn oft gar nicht, doch er tauchte stets unversehrt wieder aus den Wolken auf. Sie wünschte sich nur, das wäre mit ihrer Zuversicht bezüglich des Schreibens genauso. Sie hatte unbedingt gerade hierherkommen wollen, so sehr hatte sie dieser Ort berührt und fasziniert. Voller Hoffnung und Energie war sie gewesen. Doch die Puttenpärchen entlang der großzügigen Parkterrasse schienen ihr wesentlich lebendiger als die paar Seiten Text, die sie gestern getippt hatte.

Die Skulpturen waren vielfältig beschäftigt, sie stritten sich, küssten sich, trugen Gefäße, träumten in die Gegend, spielten mit Vögeln oder aßen Früchte. Pixies eigene Figuren dagegen kamen ihr neuerdings hölzern vor, erschreckend unecht. Dabei liebte sie, seit sie denken konnte, nichts mehr als das Schreiben. Normalerweise konnte sie gar nicht anders. Die Worte waren bis vor kurzem aus ihr herausgeflossen wie das Wasser aus den Brunnen des Parks.

Doch der Architekt Bernhard Sehring, der sich mit diesem unkonventionellen Märchenschloss einst einen Traum erfüllen konnte, hatte anscheinend mehr Durchsetzungskraft, Phantasie und Ausdauer besessen als sie selbst. Weil sein Werk so verrückt war, war Pixie darauf verfallen, sich genau hier eine Anstellung zu suchen. Sie war sich sicher gewesen, an diesem Ort endlich wieder zu ihren alten Fähigkeiten und der neuen Geschichte zu finden, die sie umtrieb, ohne dass sie sie greifen konnte.

»Schade«, meinte Lotte und lehnte sich neben sie an das sonnenwarme Geländer. »Sagtest du nicht, bis September würdest du auf jeden Fall ein Stück vorangekommen sein?«

»Ich hab ja nicht gesagt, wann im September«, murmelte Pixie.

»Vielleicht versuchst du, zu perfekt zu sein?«, überlegte Lotte. »Sieh mal, als der Herr Sehring damals die Roseburg und ihren verwunschenen Garten zu bauen begann, da hat er einfach in einem unbeschwerten Stilmix alles durcheinandergemischt, was ihm gefiel. Römische Säulen, ägyptische Sphinxe, Putten und Brunnen und Mauern, Türme, das Mausoleum, all die Brücken und Terrassen. Er scherte sich nicht um das, was andere dachten oder für richtig hielten. Er importierte manches aus Italien und ließ anderes kurzerhand aus Beton gießen. Er pflanzte exotische und einheimische Gehölze durcheinander, und sie gedeihen heute noch bestens. Seine Vision hat bis jetzt Bestand, weit über hundert Jahre später. Warum machst du es mit deiner Geschichte nicht auch so? Hat doch bisher ganz gut geklappt. Ich jedenfalls freue mich auf die Fortsetzung.« Streng begegnete sie Pixies Blick. »Ich will dir keinen Druck machen. Nur Mut.«

»Ich weiß, Lotte. Deswegen wollte ich ja genau hierher, weil es hier so ungewöhnlich und phantasievoll ist. Hier schien mir alles möglich, auch für mich. Und du machst mir eine Menge Mut! Allein schon, dass jemand wie du … ich meine …« Sie wurde rot und ärgerte sich.

»Dass jemand so Uraltes wie ich deine Bücher mag, obwohl sie für junges Gemüse gedacht sind?«, ergänzte Lotte trocken. »Ich glaube, für gute Geschichten gibt es kein bestimmtes Alter, ebenso wie der Herr Sehring als angesehener Architekt mit kindlicher Freude ein völlig verrücktes Märchenschloss errichten konnte.«

»Das wäre schön.« Pixie fand es trotzdem schwer vorstellbar. Fantasy war ein Genre, das nicht jeden ansprach. Außerdem gab es ihre Geschichten noch nicht in gedruckter Form. Das konnte sie sich nicht leisten, und einen Verlag hatte sie bisher nicht ansprechen wollen. Aber ausgerechnet Lotte fand E-Books toll. »Dieses Leseding liegt so schön leicht in meiner Hand, da bedankt sich meine Arthritis«, hatte sie erklärt. »Und ich kann die Schrift groß stellen, da ist die Brille, die immerzu weg ist, nicht mehr nötig. Ich kann sogar unter dem Sternenhimmel lesen, wenn ich will, weil man keine Lampe mehr braucht. Das ist genial!«

Trotzdem hatte Pixie ihr das letzte Buch vorgelesen, in Etappen, während der Mittagspausen. Lotte hatte das genossen.

 

Im Laufe der Zeit hatte sich Pixie zu ihrem glücklichen Erstaunen eine wachsende Leserschaft aufgebaut. Mit sechzehn hatte sie zu schreiben begonnen, aus reinem Vergnügen und weil sie nicht anders konnte. Da sie fürchtete, ausgelacht zu werden, vorsichtshalber unter dem Pseudonym Ellie Ennis. Jetzt, elf Jahre später, warteten so viele treue Fans auf ihre Fortsetzungen, dass sie niemanden enttäuschen wollte. Am wenigsten sich selbst. Geschichten zu verfassen machte ihr immer noch ungemein Freude. Warum also hakte es auf einmal? Startschwierigkeiten hatte sie bei jedem Buch. Sie musste sich erst hineinfinden, das war normal. Doch diesmal dauerte es viel zu lange. Irgendetwas beschwerte sie und bremste sie komplett aus. War es vielleicht, dass sie inzwischen so gründlich zu Ellie Ennis geworden war, dass Pixie Paleske irgendwo darunter erstickt wurde?

Wenn Lian jetzt hier wäre, hätte sie mit ihm darüber sprechen können. Bestimmt wüsste er Rat, wie immer. Da fiel ihr etwas ein. Sie zog ihr Handy aus der Tasche und suchte ein Bild heraus, das sie Lotte vor die Nase hielt. »Guck mal, das hat mir Lian vorhin geschickt. Wie glücklich er aussieht, findest du nicht? Endlich! Das freut mich so für ihn.«

Lotte kniff die Augen zusammen. »Ist das seine neue Freundin?«

»Ja, Anna-Lisa. Sie passen perfekt zusammen.« Ob sie selbst auch einmal so jemanden finden würde? So richtig war ihr das noch nie gelungen, nicht auf Dauer. Aber im Moment vermisste sie in dieser Hinsicht nichts. Nur manchmal eben wäre jemand zum Reden schön, jemand, der sie ohne lange Erklärungen verstand.

»Woher kennt ihr beide euch noch mal?«, fragte Lotte.

»Von früher. Als ich ein Teenager war, habe ich Lian zu meinem selbstgewählten Patenonkel erklärt, und er hat mitgespielt und mich mit Nordseewasser getauft. Wir hatten es beide nicht leicht und haben uns trotz des großen Altersunterschieds gegenseitig unsere Sorgen anvertraut. Er ist jetzt meine einzige Familie. Deshalb ist das so geblieben.«

»Gut so«, meinte Lotte entschieden. »Und nun an die Arbeit, Frau Hilfsgärtnerin! Das nützt gegen Sorgen immer noch am besten. Und das Zwitschervolk füttert sich auch nicht von allein.«

Nur zu gern schob Pixie alle Bedenken beiseite und machte sich auf zu der Voliere an der Burg, in der ein Schwarm Kanarienvögel residierte, dessen Gesänge man durch den halben Park hörte. Für Pixie gehörten diese Klänge unwiderruflich zur Magie des Ortes. Der auffälligste Hahn besaß eine dunkle Beatlesfrisur. Lotte hatte ihn ausgerechnet Fiffi getauft.

»Warum Fiffi?«, hatte Pixie am ersten Tag entgeistert gefragt.

Lotte zuckte mit den Schultern. »Weil mir nichts anderes eingefallen ist. Du bist die Schriftstellerin, nicht ich.«

Dabei stellte Pixie bald fest, dass Lotte jede Menge zu erzählen hatte. Doch das waren wahre Geschichten aus ihrem Leben.

 

Von ihren eigenen konnte man das nicht behaupten. Die hatte sie damals als eine reine Persiflage auf die üblichen Fantasy-Epen begonnen. Sie hatte die ewigen Helden satt. Statt auf edlen, kämpferischen und praktisch unbesiegbaren Drachen ritten ihre Figuren auf überdimensionierten Flughörnchen mit einem Hang zum Schluckauf. In der Phantasiewelt, die sie erschaffen hatte, ging es nicht um kriegerische, heroische Völker mit hochdramatischer Leidensfähigkeit, die sich gegenseitig bekämpften oder Unholde besiegen mussten. Stattdessen teilten sich ein Feenvolk mit leicht machohaften Zügen und eine Koboldsippe mit einem absurden Ordnungsfimmel den Lebensraum. Die Feen bauten auf Nebelfeldern immer neue Blumenarten an. Mithilfe von unberechenbaren Geistern, die sich »Fixe Ideen« nannten, sorgten sie dafür, dass sich die Samen bunter und lebenshungriger Gewächse überall verteilten und Wurzeln schlugen, während die Kobolde mit Rasenmähern bewaffnet auf sanftmütige, jedoch hartnäckige Weise versuchten, das Ganze so zu gestalten, wie es ihnen genehm war.

Pixie hatte sich damals mit Hilfe dieser kleinen Erzählungen abreagiert und das Ganze als Witz betrachtet, allerdings schließlich auf das Drängen einer Freundin hin als Fortsetzungsroman auf einem Blog online gestellt. Das Pseudonym war nützlich, weil sie sich auf ihren Schulabschluss konzentrieren und keine Fragen beantworten wollte. Niemals hatte sie in Betracht gezogen, dass aus der Handvoll Stammleser ihres Blogs so rasch mehr werden würden. Dass es, als sie den Link und ein paar Leseproben auf Facebook veröffentlichte, mit den Leserzahlen rasant nach oben gehen sollte. Und dass sie von vielen Seiten Zuspruch, die Bitten um mehr Geschichten und schließlich Forderungen nach einem E-Book erhalten würde. Immer noch aus reinem Jux hatte sie tatsächlich mit Lians Hilfe ein E-Book formatiert, lektorieren lassen und veröffentlicht – immer noch als Ellie Ennis.

Was sie nach der mittleren Reife machen wollte, darauf hatte sie keine Antwort gehabt, und ihr Großvater drängte sie auch nicht dazu.

Das war der erste Band ihrer Flughörnchen-Reihe gewesen, von der sie damals nicht geahnt hatte, dass es eine Serie werden würde. Diese hatte sich seitdem stetig fortgesetzt – jedes Jahr ein Roman. Pixies Figuren wurden mit ihr gemeinsam erwachsen und älter, die Leserschaft auch. Diese Leserschaft wuchs immer noch, aber nur langsam. Pixie konnte nicht annähernd von den Einnahmen leben und nahm regelmäßig irgendwelche neuen Jobs an. Das inspirierte sie, und den ganzen Tag am Schreibtisch sitzen zu müssen wäre für sie ohnehin unerträglich gewesen.

 

Abends öffnete sie in ihrem engen Pensionszimmer in Alexisbad den Laptop, saß eine Weile ratlos davor, tippte drei Worte, dann schloss sie ihn entnervt wieder.

»Das hat einfach keinen Zweck«, sagte sie traurig zu einem Marienkäfer, der auf der Fensterbank hin- und herlief. Sie ließ ihn hinaus, dann setzte sie die Schutzbrille auf und widmete sich ihrem Hobby. Kürzlich erst hatte sie für Lian und Anna-Lisa Anhänger mit germanischen Runen angefertigt, die ihr als Glücksbringer und Denkanstoß passend erschienen.

»Das bedeutet uns sehr viel, Pixie! Es ist viel origineller als Freundschaftsringe«, hatte Lian am Telefon gesagt. Sie kannte ihn gut genug, um die ehrliche Begeisterung in seiner Stimme zu hören.

Pixie hatte eine Schwäche für alles Keltische und Nordische. Es war die Klarheit und Naturverbundenheit, die sie ansprach. Mit Sonnenwendfesten konnte sie zum Beispiel mehr anfangen als mit Weihnachten oder Ostern. Sie benutzte je nach Bedarf das keltische oder das germanische Runenalphabet. Ogham oder Futhark. Die Anhänger hatte sie aus glatten Flusskieseln hergestellt, in die sie ein dünnes Loch gebohrt hatte, durch das sich eine Lederschnur ziehen ließ. Mit ihrem elektrischen Gravierstift ritzte sie die Runen hinein und behandelte die Oberflächen danach mit Specksteinöl. Für Lian hatte sie aus gegebenem Anlass eine Rune gewählt, die für Freude, Partnerschaft und Harmonie stand. Auch Lotte trug inzwischen einen. Für sie hatte Pixie die Rune Sowilo ausgesucht, die unter anderem Sonne und Gesundheit symbolisierte. Jetzt aber entschied sich Pixie für einen Stein, der halb hell, halb dunkel war und nicht ganz oval in seiner Form. Dieser Anhänger war für sie selbst gedacht, darum wollte sie ihn nicht perfekt haben. Das Unrunde entsprach ihrer gegenwärtigen Verfassung besser. Sie gravierte die Rune Berkano hinein, die einem »B« ähnelte. Die Rune von Erneuerung und Wachstum. Vielleicht würde ihr das symbolisch bei ihrem neuen Manuskript helfen.

 

Sie lächelte, als sie den Stein polierte. »Jeder davon ist auch für dich, Moina«, dachte sie. Denn es war ihre irische Großmutter Moina gewesen, die ihr die Runenalphabete nahegebracht hatte, zusammen mit den Sagen und Geschichten, die sie erzählte, und den Liedern, die sie mit ihrer warmen, brüchig gewordenen Stimme sang. Moinas Geschichten waren bestimmt die Ursache dafür, dass Pixie selbst nicht anders konnte, als immer wieder Geschichten zu erzählen. Moina war es auch gewesen, die ihr ihren Namen gegeben hatte, in dem Augenblick, als sie das Kind kurz nach der Geburt zu Gesicht bekommen hatte. – »Look at that, the child is a pixie!« – »Seht euch das an, das Kind ist ein Kobold!«, hatte sie ausgerufen. Das hatte an den schwarzen Locken und den leicht abstehenden und ungewöhnlich spitzen Ohren gelegen, derentwegen man Pixie später in der Grundschule geneckt hatte. Das hatte sie nicht gestört, sie war eher stolz darauf. Meist respektierte man sie sowieso. Denn manch eines der anderen Kinder war sich nicht sicher, ob sie nicht doch eine Verbindung zu mythischen Wesen hatte und womöglich jemanden mit einem unangenehmen Zauber belegen konnte, wenn man sie zu sehr ärgerte.

Diese Ohren und ihr Name prädestinierten sie geradezu für das Schreiben von Fantasybüchern. Heutzutage kamen ihr die spitzen Ohren wegen der Wirkung auf ihren Profilbildern durchaus zupass. Es machte sie als Autorin von Geschichten über Feen und Kobolde noch glaubwürdiger und ein bisschen geheimnisvoll. Sie versteckte ihre Ohren nicht, im Gegenteil. Sie klemmte ihre schulterlangen schwarzen Locken dahinter und schmückte das rechte mit einer silbernen Ohrmanschette. Oft war das ein Drache, manchmal eine Blätterranke, eine Eidechse oder ein Bogen aus Seetieren. Das war ihr Markenzeichen geworden.

 

Bald hing das neue Amulett um ihren Hals, ein ermutigendes kleines Gewicht auf ihrer Haut. Sie postete ein Bild davon und erklärte die Bedeutung, um ihren Fans wenigstens etwas Interessantes zu bieten. Dass es noch kein Zitat aus der neuen Geschichte gab, ließ manche bereits ungeduldig werden. Wann erscheint das neue Buch?, schrieben sie. Gibt es schon eine Leseprobe?

Sie freute sich doch so sehr über dieses Interesse. Sie wollte niemanden enttäuschen. Hoffentlich würde die Rune Wirkung zeigen. Sie lächelte ein wenig spöttisch über sich selbst, als sie noch einmal aus dem Fenster in das dunkle Tal blickte, bevor sie sich schlafen legte. Nur zu gut wusste sie, dass sie dafür schon selbst sorgen musste und das Symbol nur eine Mahnung sein konnte, die sie an sich richtete.

Gegenüber zogen sich kaum sichtbar die Gleise der Selketalbahn entlang, dahinter floss klar und sprudelnd die Selke. Das würde der Fluss unbeirrt weiter tun, und auch sonst würde es die Welt nicht verändern, ob Pixie ein neues Buch schrieb oder nicht. Im Grunde spielte es keine Rolle. Warum machte sie sich also solchen Stress?

Weil sie schreiben wollte! Weil das ihr Leben war und sie sich nichts anderes vorstellen konnte. Dazu war sie geboren. Das wenigstens wusste sie. Auch noch, als sie in einen Traum glitt, in dem aufmüpfige altmodische Federhalter eine Rolle spielten. Und eine widerborstige Speicherkarte, die alle Worte löschte, kaum dass sie sie geschrieben hatte.

2

Am folgenden Tag hatte Pixie frei. Zum Glück, denn sie war erschöpft nach dieser Nacht, in der sie erneut mehrmals aufgewacht war. Schließlich hatte sie sich ein Glas Wasser geholt, es an ihre heiße Stirn gedrückt und den Mond über dem Wald betrachtet. Sie sah, wie das kühle Licht die Gleise in silberne Stränge verwandelte, die einem geschwungenen magischen Weg gleich in die neblige Ferne wiesen. Die Silhouette eines abgestellten Waggons, vorn mit einer roten Warnleuchte, wirkte wie ein rätselhaftes Ungeheuer. Es hätte eine Szene aus einer ihrer Geschichten sein können. Doch wohin würde ihr eigener Weg sie führen? Sicher lag es an der Uhrzeit, dass sie sich unendlich einsam fühlte.

Die Wolfsstunde nannte man es, wenn zwischen drei und vier Uhr morgens viele Menschen aufwachten, grübelten und nur schwer wieder einschlafen konnten. Angeblich lag das am Hormonspiegel und war normal, nur nützte ihr dieses Wissen jetzt nichts.

Eigentlich war sie doch gar nicht einsam. Lotte war inzwischen mehr als nur eine Kollegin und Vorgesetzte, und dann waren da ja auch noch Lian und ihre Freundin Emily in England. Aber weder Emily noch Lian waren hier, und ein Videocall war manchmal hilfreich, doch nicht dasselbe.

Pixie kuschelte sich wieder ins Bett, damit ihr wenigstens äußerlich warm wurde. Sie wusste ja, was los war. Sie vermisste ihren Großvater Nathan, bei dem sie aufgewachsen war – jedenfalls, wenn er sie nicht gerade in Irland bei Moina, ihrer Großmutter väterlicherseits, untergebracht hatte. Manchmal war er auf einem Törn gewesen, der aus Forschungsgründen unvermeidbar, jedoch für ein kleines Mädchen völlig ungeeignet war. Meistens aber hatte sie bei ihm sein können. Irgendwie machte er es möglich und hatte unterwegs durch Privatlehrer, häufig aber selbst für ihre Schulbildung gesorgt. Als sie erwachsen war, hatte sie dann mal hier, mal dort gewohnt. Trotzdem hatte sie ihn immer wieder besucht oder auf seinen Schiffstouren begleitet, wenn es ging.

Moina war schon lange tot und fehlte ihr immer noch. Dagegen war es nur drei Jahre her, dass Nathan plötzlich gestorben war, weit in seinen Achtzigern und passenderweise auf einem Segelboot. So hatte er es sich immer gewünscht. Doch er war ihr Fels in aller Brandung gewesen. Es schmerzte sie tief, dass er nicht mehr da war. Manchmal konnte Pixie immer noch nicht glauben, dass nicht irgendwann das Telefon klingeln würde. »Mein Kobold, ich muss unbedingt das neue Bootsmodell ausprobieren! Sie ist eine Schönheit. Noch nie waren die Paneele so leicht! Selbst bei Regen macht sie Tempo, du wirst staunen. Du kommst doch mit, oder? Dann kannst du mir auch deine neue Geschichte vorlesen.« Bald darauf wären sie an irgendeiner der Küsten dieser Welt über die Wellen geflogen. Nathan hätte ihr genau erklärt, warum diese neue Solarzelle, die er entwickelt hatte, noch effektiver funktionierte und günstiger war als alle zuvor und dass man damit einer umweltverträglichen Schifffahrt wieder einen Riesenschritt nähergekommen war …

»Ach, Thani!«, flüsterte Pixie in die Dunkelheit. Draußen fuhr ein Auto vorbei und zerriss für einen Moment die Stille. Sie war beinahe dankbar dafür. Die Lichtkegel der Scheinwerfer glitten wie ein Gruß über die Zimmerwand und verschwanden wieder.

 

Nathan hatte bereits Solarboote entworfen, als die Welt noch nichts davon gehört hatte, in der Öffentlichkeit niemand das Wort Klimawandel kannte und von Energiewende noch lange nicht die Rede war. Mit Sonnenkraft über die Meere getragen zu werden faszinierte ihn zutiefst, und so blieb es sein Leben lang. Daraus folgte, dass er sich nie lange an einem Ort aufgehalten hatte. »Neue Einfälle kommen immer aus der Landschaft«, sagte er. »Von Inseln, Ufern, Küsten.«

Pixie fröstelte immer noch und rollte sich unter ihrer Bettdecke zusammen. An ihre Eltern konnte sie sich kaum erinnern. Einen Geruch, der vage Klang einer Stimme, tiefdunkle Haare wie ihre eigenen. Aber nach dem Unfall hatten Nathan und Moina ihr alles gegeben, was sie brauchte, und noch viel mehr.

Nun war da nur noch Lian, ihr Wahlpatenonkel, den sie aus den Ferien auf Amrum kannte.

Und das Meer. Das hatte sie schon immer begleitet. Es hatte ihre Tränen abgewaschen und dafür gesorgt, dass sie sich in Trauerphasen manchmal trotzdem leicht fühlte, hatte erst das Kind, dann die junge Frau abgekühlt und getragen und getröstet. Es hatte ihr flammende Sonnenunter- und -aufgänge geschenkt, wenn es in ihr dunkel war, und einen weiten Horizont, wenn sie sich eingeengt fühlte. War sie einmal eine Weile fern von ihm, während ihres Studiums oder weil sie einen Job im Inland hatte, wartete es bei ihrer Rückkehr zuverlässig und unverändert auf sie, so wie es schon dagewesen war, als Nathan und Moina noch Kinder waren, und immer noch da sein würde, wenn es Pixie nicht mehr gab. Die Nähe von Wasser beruhigte sie unweigerlich und schaffte Klarheit in ihren Gedanken. Wenn es nicht das Meer sein konnte, dann halfen auch ein See, ein Fluss oder ein Bach.

Darum beschloss sie etwas später an diesem Morgen, der ein wenig verhangen daherkam, zum Selkefall zu fahren, einem ihrer Lieblingsplätze, seit sie ihn kurz nach ihrer Ankunft entdeckt hatte.

Auf Frühstück hatte sie noch keinen Appetit. Sie packte eine Thermoskanne Tee in den Rucksack, ein Käsebrot, Obst und ihr Tablet und machte sich auf den Weg. Nebelflecken lagen unten im Tal. Die Selketalbahn ratterte vorbei, und im Café Elysium, wo sie gern aß, wenn sie nicht kochen mochte, fegte jemand die Terrasse. »Guten Morgen!«, rief sie hinüber und bekam ein freundliches Nicken zurück.

Vom Parkplatz aus war es noch ein Stück zu laufen. Das tat ihr wie immer gut. Ein Schritt nach dem anderen, ein Rhythmus, der allmählich ruhiger wurde, das Gefühl von Erde und Wurzeln unter den Sohlen, leichter Wind in den Bäumen, der erste gelbe Blätter wie freundliche Konfetti um sie herumsegeln ließ. Das Wissen vorwärtszukommen, auch wenn es nur auf einem Spaziergang war und immer noch nicht mit ihrer Geschichte. Von Ferne schon hörte sie das heitere Plätschern, das die Spinnweben aus ihren Gedanken spülen würde.

Auch über dem Wasser zogen letzte Nebelfetzen wie feenhafte Wesen. Pixies, dachte sie. Naturgeister. Seelenverwandte. Nirgends richtig zu Hause, immer umhergetrieben. Frei, aber manchmal ziellos. Sie setzte den Rucksack auf einem Stein ab und blickte noch einmal auf ihr Handy, ob etwas Wichtiges gekommen war, bevor sie es zur Sicherheit im Reißverschlussfach verstaute. Da war eine Mail von Anna-Lisa – nanu? Von ihr wusste Pixie nur, dass sie Fotografin war und jetzt Lians Freundin. Sie hatten noch nie Kontakt gehabt. Sicher wollte sich Anna-Lisa nur aus Höflichkeit für den Anhänger bedanken. Das konnte warten.

 

Anderes dagegen nicht. Pixie schloss den Rucksack, zog die Sneaker und Socken aus und watete ins flache, glasklare Wasser. Genussvoll schloss sie die Augen. »Hach!«, sagte sie laut zum Erschrecken einer Amsel. Die Kälte fuhr wie ein erfrischender Schock durch sie hindurch, von den Sohlen bis zu ihren Ohren. Sofort fühlte sie sich hellwach und völlig eins mit der Wunderwelt um sie herum, die sich ihr offenbarte, als sie die Augen wieder öffnete. Die Sonne kämpfte sich jetzt durch und ließ die filigranen Farne, die sich an die dunklen Steine klammerten, grün aufleuchten. Die verschiedenen Arme des Wasserfalls begannen, nach und nach zu glitzern, wo sie schneeweiß schäumend über die Stufen sprangen, spritzten und funkelnde Tropfen ins Gras streuten. Im Rauschen und Fließen klang gelegentlich ein glockenheller Unterton, wenn das Wasser auf einen hohlen Stein traf. Der sandig-kieselige Boden schimmerte goldbraun unter ihren Füßen. Die Selke reichte Pixie hier unterhalb des Falls nur bis zu den Knöcheln, während sie zu der Halbinsel watete, auf der ein Baum in einem Farnnest wuchs. Dort lehnte sie sich an den Stamm, wärmte ihre Füße auf dem Moos in der aufsteigenden Sonne und ließ ihre Gedanken fließen wie das Wasser.

 

Ähnliches war es auch, was sie an der Roseburg von Anfang an fasziniert hatte, seit sie ein Bild der verspielten Wasserachse gesehen hatte, die den Park teilte. Von einem Becken ins andere floss es dort durch die Mäuler mystischer Wasserspeier, die jeder für sich eine Fantasygeschichte wert gewesen wären. Jedes Becken, jede Stufe war anders gestaltet, aus dunkel gewordenem Stein, von Treppen flankiert, mit Blumenkübeln und Figuren und Säulen bestückt, geschickt bepflanzt und mit Brunnen und Fontänen ergänzt. Das Ganze hätte kitschig sein können, war aber stattdessen von einer ganz eigenen, würdevollen, einzigartigen, verwegenen Schönheit, die zeitlos Mut zum Träumen machte und für die, die es sehen wollten, hinter jeder verwunschenen Kurve ein Märchen bereitlegte. Im Park drumherum gab es Terrassen, unvermutete Sitzgruppen unter exotischen Bäumen und schattige Tunnel, die in überraschende Tiefen zu geheimnisvollen Veranden führten, dann wieder geschwungene Brücken mit versteckten steinernen Bänken darunter. Ständig taten sich neue Perspektiven auf, aus der Ferne gemütlich bewacht vom Brocken und durchzogen vom immerwährenden Gesang der Kanarienvögel. Pixie hatte trotz ihrer Arbeit als Hilfsgärtnerin noch längst nicht alle Winkel entdeckt. Vielleicht kam sie deshalb nicht mit ihrer Geschichte voran? Da war immer das Gefühl, dass sie etwas Entscheidendes übersah, egal, durch welches Dickicht sie sich beim Unkrautzupfen kämpfte oder wie gründlich sie dornige Zweige kürzte, die einen der unzähligen Pfade versperrten.

Das Foto gestern von Lian und Anna-Lisa hatte sie noch unruhiger gemacht. »Warum nur?«, fragte sie den Baum.

 

Dann, mitten in der berauschenden Klarheit des Selkefalls, begriff sie es. Der Anblick von Lians Gesicht war schuld daran, dass sie noch mehr als sonst an Nathan denken musste und sich schmerzlich zurücksehnte in eine einfachere Zeit. Damals, als sie sich nur um ihre Schulaufgaben sorgen musste, mit Lian und Nathan und manchmal Emily lachen konnte und das Meer immer in der Nähe war. Vor allem auf Amrum, wenn sie dort bei Rhea wohnten, der Tochter von Nathans bester Freundin, die wie eine Mutter zu ihr war.

Pixie kletterte zurück ans Ufer, fischte ihr Handy heraus, machte ein Bild vom lichterfüllten Wasserfall und schickte es an Emily nach England.

Hier ist es so schön, aber ich finde, wir sollten uns mal wieder auf Amrum treffen, wie früher, für eine Ferienwoche, was meinst du?

Die Antwort kam schnell. Ja, irgendwann bestimmt, das wäre schön. Aber in absehbarer Zeit geht das leider nicht. Ich schreibe an meiner Doktorarbeit. Pass auf dich auf! Du hast es doch gut dort.

Ja, das hatte sie. Aber sie hätte sich gern wieder einmal so glücklich gefühlt wie die bronzene Trompeterin, die glänzend und leichtfüßig auf einer Säule hoch über dem Park der Roseburg thronte und ihre überschäumende Lebensfreude hinaustrompetete.

 

Um die seltsame Leere in sich zu füllen, machte Pixie es sich auf einem Baumstamm gemütlich, aß ihr Brot und schenkte sich Tee ein. Von dem Plätschern wurde sie schon wieder müde. Um nicht einzudösen und ihren freien Tag zu verschwenden, stellte sie das Display auf volle Helligkeit, damit sie die Mail von Anna-Lisa lesen konnte. Inzwischen war eine weitere Nachricht gekommen von einer Frau, die sie nicht kannte. Bestimmt nur Spam. Doch dann sah sie bei beiden Mails den Betreff.

WICHTIG stand bei der Fremden oben drüber, bei Anna-Lisa Ergänzung zu Remys Nachricht.

Eine Ergänzung, also war die Nachricht von dieser Remy kein Spam und sollte wohl zuerst gelesen werden. Was wollte sie von ihr? War das wieder eine Anfrage von einem dubiosen Pseudoverlag, der naive Autoren geschickt mit Veröffentlichungsangeboten lockte, nur um ihnen hohe Summen für nichts abzuknöpfen? Nun, Pixie hatte ohnehin kein Manuskript, das sie hätte anbieten können. Sie war gerade mal beim fünften Kapitel, und mit keinem davon war sie zufrieden.

Neugierig war sie trotzdem und öffnete die Mail.

Hallo, Pixie Paleske!

Bitte wundere dich nicht. Lian hat dich für einen Auftrag empfohlen, für den ich unbedingt bald jemanden finden möchte, denn die Sache liegt mir sehr am Herzen. Anna-Lisa wird dir Näheres erklären. Ich bin Lian für den Tipp sehr dankbar. Ich habe auf deiner Website gesehen, wie phantasievoll und gewissenhaft du bist und wie neugierig auf so viel Verschiedenes, vor allem auf Orte, Menschen und Geschichten. Daher glaube ich, du wärst wunderbar geeignet für genau diese Sache, und ich würde mich freuen, dich kennenzulernen! Lian meint, eine Abwechslung würde dir momentan guttun, also vielleicht können wir uns gegenseitig helfen? Eine fürstliche Summe kann ich nicht zahlen, aber ich denke, es könnte sich trotzdem für dich lohnen, sowohl finanziell als auch auf andere Weise. Ich weiß nicht, wie lange es dauern würde, vielleicht einige Wochen? Einfach wird es sicher nicht. Es geht darum, etwas zu finden, was dich vermutlich an die Nordsee führen würde. Lian sagt, ihr kennt euch von dort, also kennst du dich da sicher ein wenig aus. Bitte überlege, ob du dazu bereit wärst. Je eher du beginnen könntest, desto besser. Ich würde mich sehr freuen und bin gespannt auf deine Antwort!

Herzlich,

Remy Kreyhenibbe.

Das Impressum sagte etwas davon, dass die Frau Herausgeberin einer Zeitschrift war.

 

Pixie ließ das Tablet sinken. Lian! Wie kam er darauf, dass sie eine Abwechslung brauchte, ausgerechnet sie, die ohnehin nie lange irgendwo blieb? Ach so, sicher meinte er nicht vom Ort, sondern von ihrer Tätigkeit. Natürlich, sie hatte ihm ja von ihren Schwierigkeiten beim Schreiben erzählt! Und ebenso wusste er, wie gut ihr die Nähe zum Meer tat, wenn sie in einer Krise steckte. Er hatte also noch vor ihr selbst daran gedacht.

Eine zaghafte Aufregung kribbelte in ihr. Warum nicht? Dann würde sie eben ohne Emily an die Küste fahren, ganz allein wieder mal, dafür mit einem Auftrag in der Tasche, den sie nur allzu gut gebrauchen konnte. Auf ihrem Konto war es schon lange kritisch. Das Gehalt als Hilfsgärtnerin ergänzte die knappen Tantiemen aus den Buchverkäufen kaum.

Doch so spontan diese neue Zuversicht in ihr aufgekeimt war, so schnell verflog sie auch wieder. Wenn sie jetzt ging, würde sie womöglich nicht zurückkehren. Dieser Hilfsjob hier war keiner, wo man einfach Urlaub bekam, kaum dass man angefangen hatte. Sie würde kündigen müssen. Und wenn sie Remy zusagte, würde sie zumindest dieses Buch wahrscheinlich nie zu Ende schreiben. Denn dann war sie vollends und endgültig aus der aktuellen Stimmung gerissen. Dann würde die Geschichte, von der sie sicher war, dass sie hier auf der Roseburg verborgen lag, vielleicht niemals erzählt werden und immer vorwurfsvoll als verpasste Möglichkeit in ihrem Hinterkopf bleiben wie ein Gewicht. Und sie müsste Lotte zu plötzlich im Stich lassen.

Das ging alles nicht! Nein. Das wollte sie nicht, egal, worum es sich handelte! Auf gar keinen Fall.

Sie öffnete Anna-Lisas Mail nur, um herauszufinden, wie sie am höflichsten absagen konnte.

3

Liebe Pixie,

wir kennen uns nicht, aber Lian hat so viel und herzlich von dir berichtet, dass mir ist, als wäre es so. Zunächst danke für den schönen Anhänger, er gefällt mir sehr und bringt bestimmt Glück!

Remy hat mich gebeten, dich zu informieren, worum es bei ihrem Anliegen geht. Geschichten sind ja dein Thema, deshalb werde ich dir die Informationen wie eine kleine Geschichte erzählen, aber es ist alles wahr.

Lian wird dir von der Halbinsel Darß berichtet haben, wo er nun schon länger arbeitet und ich ihn kennengelernt habe. Ich selbst bin auf dem Darß aufgewachsen, bevor ich für lange Zeit ins Ausland ging. Damals lebte hier ein alter Mann, ein Kapitän im Ruhestand. Kapitän Fiete Flömer, so hieß er, aber alle nannten ihn nur Flömer. Er wollte es so. Flömer bedeutete mir eine Menge, und nicht nur mir. Er war ein Ruhepol für so viele, die im Umkreis wohnten, und auch für manchen Feriengast.

Wir haben hier einen kleinen, malerischen Hafen. Dort liegen die alten hölzernen Zeesboote mit den braunen Segeln. Eines davon gehört meinem Vater, schon deshalb habe ich oft Zeit dort verbracht. Es gab kaum ein Wetter, bei dem Flömer nicht am Ende des Stegs saß und auf das Wasser hinaussah. Hinter seinem Ohr steckte stets ein Stück Kreide. Damit schrieb er oft ein Wort auf den Steg, über das er nachdenken wollte. Er war immer da, wenn man einen Rat brauchte oder einfach jemanden zum Zuhören, ähnlich wie Momo in Michael Endes Buch. Nur dass Flömer als sehr lebenserfahrener, weltoffener und weitgereister Mann natürlich eine andere Art Weisheit besaß als jenes kleine Mädchen in der Erzählung. Was er sagte, half meist irgendwie oder tröstete, ohne dass er jemals einem anderen seine Meinung aufgedrängt hätte. Er brachte einen dazu, selbst entspannter nachzudenken. Häufig bot er seinem Gesprächspartner die Kreide an und schlug vor, das Wort auf den Steg zu schreiben, das ihn gerade am meisten bewegte. Dabei kamen erstaunliche Sachen heraus, und man war hinterher häufig ein ganzes Stück weiter. Flömer hatte nie Probleme damit, über Gefühle zu reden. Er lachte und weinte mit uns, schwieg oder sang mit uns, nahm uns in den Arm oder klopfte uns auf die Schulter, was eben gerade am besten passte.

Eine Familie hatte er nicht, doch er schien über Zwischenmenschliches unglaublich viel zu wissen. Wohl von der ständigen Seeluft war er gesund bis ins hohe Alter. Auch seine Lebenseinstellung hat bestimmt dazu beigetragen. Als er irgendwann doch hinfällig wurde, kümmerten sich alle um ihn. Er bekam einen Rollstuhl, und irgendjemand schob ihn immer in den Hafen und holte ihn wieder ab, versorgte ihn mit Essen und schrieb auch für ihn die Worte auf den Steg, um die er bat. Flömer wurde hunderteins. Nun liegt er seit zehn Jahren auf dem Friedhof der Schifferkirche in Ahrenshoop, umgeben von vielen, die ihn sehr gern gehabt haben und die ihn ihr Leben lang gekannt haben.

Sogar die Feriengäste von früher fragen noch manches Mal nach ihm oder schreiben wieder ein Wort auf den Steg. Er ist hier nicht vergessen, er bleibt ein Teil des Ortes und, wie man so schön sagt, »eine Person von öffentlichem Interesse«. Aus diesem Grund entstand der Wunsch, mehr darüber herauszufinden, wie sein Leben ausgesehen hat, bevor er sich zur Ruhe setzte. Denn über sich selbst hat er fast niemals gesprochen. Remy möchte nun seine Geschichte in ihrer Zeitschrift veröffentlichen und auf diese Art seiner gedenken. Er ist übrigens entfernt mit ihr verwandt.

Und warum gerade jetzt, nach über zehn Jahren?, wirst du dich fragen, wenn sie doch selbst keine Zeit hat, diese Geschichte aufzuspüren.

Ja, und da komme ich ins Spiel. Wie du weißt, bin ich Fotografin. Es gab hier eine antike Kamera, die ich auf einem Dachboden fand und die man mir geschenkt hat, weil ich mich für solche schönen Apparate interessiere. Als ich sie da oben zwischen dem Gerümpel herausgezogen habe, nahm ich auch eine alte lederne Tasche mit Zubehör mit. Als ich diese später öffnete, entdeckte ich darin, in ein schwarzes Tuch gewickelt, zu meiner Überraschung ein Flaschenschiff. Es war nicht nur ungewöhnlich groß, es war auch ungewöhnlich sorgfältig gefertigt, ein wahres Kunstwerk. Wenig später fand ich durch einen Zufall heraus, dass Flömer es gebaut hat. Und nicht nur das. In dem hölzernen Ständer war ein Siegelring versteckt, der wohl ihm gehörte, und ein aufgerolltes Dokument.

Das also sind die Hinweise, denen nachgegangen werden soll. Flömer hat mein Leben stark geprägt, als ich sehr jung war, und noch heute ist mir manchmal, als ob ich hilfreiche Worte von ihm höre, wenn ich in einer schwierigen Situation stecke. Damals habe ich nicht darüber nachgedacht, wie sein Leben wohl gewesen ist. Nun, da ich älter bin, wüsste ich auch sehr gern mehr über ihn, doch ich bin mit meinem gerade erst eröffneten Fotostudio voll ausgelastet und kann mich der Sache leider ebenso wenig widmen wie Remy.

Dass das Schiff etwas mit ihm zu tun hat, hätte mich nicht überraschen sollen. Wir hatten früher eine Nachbarin, Henny, die mir erzählte, dass sie nur wegen Flömer einmal drei Bernsteinschiffe als Glücksbringer gekauft hat. Er hat ihr damals den Gedanken in den Kopf gesetzt, dass Schiffe mehr tragen können als nur Fracht, nämlich auch kostbare Erinnerungen und Erfahrungen, kurzum, alles, was einem im Leben widerfährt und man nicht vergessen möchte.

Lian sagt, dein Großvater hat Solarboote gebaut. Vielleicht ist das ja eine Verbindung zum Thema, an die du anknüpfen kannst?

 

Wenn die Sache mit Flömer dein Interesse weckt und du Lust hättest, diese Aufgabe zu übernehmen, sag bitte Bescheid. Denk in Ruhe darüber nach. Remy hat dir ja schon mitgeteilt, dass du dann wohl an die Nordsee müsstest. Ein Umweg hierher auf den Darß wäre unnötig weit für dich. Wir könnten uns in der Mitte treffen, denn ich habe demnächst einen Fotoauftrag in der Lüneburger Heide. Dort könnte ich dir alle Informationen übergeben, die du brauchst, und auch das Flaschenschiff. Remy meint, du solltest es auf alle Fälle mitnehmen. Lian wird mich begleiten, so hättet ihr eine schöne Gelegenheit, euch wiederzusehen.

Ich soll dich ganz herzlich von ihm grüßen, und wir sind gespannt, was du sagst.

Alles Gute, Anna-Lisa

 

PS: Deine Geschichten von den Flughörnchen gefallen mir sehr, sie sind eine wunderbare Ablenkung nach einem anstrengenden Arbeitstag.

Ein Tropfen fiel auf das Display. Überrascht sah Pixie auf. Es hatte sich bewölkt, ein Schauer zog über das Tal. Das Plitschen des Regens auf der Oberfläche mischte sich in das Rauschen des Wasserfalls. Pixie war von Anna-Lisas Erzählung so gefangen gewesen, dass sie einen Moment brauchte, um sich in der Gegenwart zurechtzufinden. Hastig steckte sie das Tablet in den Rucksack, rückte unter ein dichtes Blätterdach und zog ihre Kapuze über den Kopf. Der Tee in ihrer Tasse war kalt geworden, sie füllte warmen aus der Thermoskanne nach und überlegte.

Dieser Kapitän Flömer erinnerte sie ein wenig an Nathan. Gegen ihren Willen hatten Anna-Lisas Worte sie in den Bann gezogen. Es war wie immer: Sofort entstanden Bilder in Pixies Vorstellung, leuchtend und lebendig, samt den dazugehörigen Gerüchen und Geräuschen und so dreidimensional, dass ihr war, als hätte sie das schon alles erlebt. Genau das war es, was sie dazu gebracht hatte, Geschichten zu schreiben: Die Bilder mussten heraus, sonst wurden es zu viele in ihrem Kopf. Dort gerieten sie durcheinander, verwirrten ihre Gefühle und verstopften ihr Denken. Wenn sie einmal da waren, gab es kein Zurück.

Sie sah das kunstvolle Miniaturschiff deutlich vor sich und Anna-Lisas Erstaunen, als sie es aus dem Tuch wickelte, das etwas muffig roch. Wie nach Jahrzehnten zum ersten Mal Licht auf die alte Flasche gefallen war, wie es auf dem Glas glänzte und dahinter die mystische Schönheit des Schiffes zutage trat. Sah einen alten Mann mit einem Stück Kreide hinter dem Ohr und seltsamerweise mit Nathans Gesicht. Wie seine Hände, sicher schon etwas zittrig, dieses Schiff gebaut hatten – mit viel Mühe, weil es ihm wichtig war. Man sah ihm an, dass er wusste, es würde das Letzte sein, das er schuf – oder war es sogar das Einzige? Sie sah, wie er es liebevoll in das Tuch gewickelt und in der Tasche verwahrt hatte. Aus einem bestimmten Grund? Für eine bestimmte Person? Oder nur, weil es ihn zufrieden machte? Weil er sich etwas beweisen musste? Etwas hinterlassen wollte, das von ihm erzählte, wenn er nicht mehr da war?

Die unerwartete Deutlichkeit ihrer Vorstellungen war erfrischend, fand Pixie. Vielleicht konnte sie doch noch schreiben?

Und warum hatten diese Informationen, dieser Auftrag ausgerechnet den Weg zu ihr gefunden? Vielleicht, weil sie Kapitän Flömers Hang zu Worten mit ihm gemeinsam hatte. Sollte es sie inspirieren? Die Idee mit der Kreide fand sie wunderbar und bedauerte, dass sie keine besaß. Aber das ging auch anders. Sie hob einen Zweig auf und schrieb damit in den halbtrockenen Schlamm am Ufer.

UNENTSCHLOSSEN

VERLOCKEND

Versonnen betrachtete sie die Buchstaben. Flömer hatte recht! Wenn man das, was in einem vorging, nach außen holte, konnte man es klarer sehen. Von beiden Worten erschien ihr das zweite wesentlich freundlicher. Denn Worte besaßen Persönlichkeiten, das hatte sie bereits gemerkt, als sie lesen gelernt hatte.

Über den Buchstaben T versuchte jetzt eine Ameise zu laufen, doch der Sand hatte sich an den Rändern aufgetürmt und machte es ihr schwer. Ein Käfer dagegen war in das U gefallen und lief von einem Ende zum anderen und zurück, ohne zu merken, dass er ganz leicht hätte herausklettern können. Ein bisschen wie ich in letzter Zeit, dachte Pixie. Wahrscheinlich hat Lian recht. Ich muss mal etwas ganz anders machen. Etwas Wirkliches.

NORDSEE

Sie schrieb dieses dritte Wort unter die anderen.

Und da war alles klar.

Als sie es da stehen sah, überflutete sie das Heimweh nach dem Meer, dem Wind, dem Watt und seinem Geruch so heftig, dass es sie fast umwarf.

»Danke, Flömer!«, sagte sie unwillkürlich laut. Da hatte sie diesen Mann, der nicht mehr lebte, nie gekannt und bis eben nichts von ihm gewusst, und trotzdem hatte er ihr gerade geholfen. Sie hob ein Stück Rinde auf und warf es in die Selke, sah, wie es fortgetragen wurde, seinen Weg durch die Steine suchte, einen Moment an einer Wurzel hängenblieb und dann in der Ferne verschwand.

 

Wann und wo werdet ihr in der Heide sein? Sag Anna-Lisa, ich komme, schrieb sie an Lian.

 

Während sie auf eine Antwort wartete und der Regenschauer allmählich wieder abzog, überlegte sie, was Lotte wohl dazu sagen würde, wenn Pixie alles hinschmiss, nachdem sie erst vor einigen Monaten auf der Roseburg angefangen hatte. Es war zwar von Anfang an klar gewesen, dass es nur ein Aushilfsjob für die Saison sein würde. Sie war keine Gärtnerin, sie war eben nur jung und konnte anpacken. Lotte arbeitete auch bloß noch, um ihre Rente etwas aufzubessern und weil sie nicht anders konnte. In Gebäuden hielt sie es schwer aus, sie musste sich, wann immer möglich, draußen aufhalten.

Lotte hatte Pixie von Anfang an fasziniert. Die alte Frau schien eins zu sein mit dem verwunschenen Park und den verwitterten, geheimnisvollen Figuren. Lotte Eichhorn war 1945 geboren worden, kurz vor Kriegsende, in einem Magdeburger Luftschutzkeller, während draußen ein Bombenhagel niederging. Wahrscheinlich kam daher ihr unstillbarer Hunger nach Licht und Luft, behauptete sie. Pixie fand es plausibel. Lottes Mutter hatte nach dem Krieg eine Anstellung auf der Roseburg gefunden, als Dienstmädchen. Die kleine Lotte durfte im Park spielen. Die Erinnerung an die zahllosen Wege, die Grotten und Brücken und Brunnen und all die steinernen Figuren hatten sich in ihr Gedächtnis gebrannt. Als ihr Vater aus dem Krieg zurückkam, gingen sie fort. Doch es zog Lotte zurück in ihr verlorenes Paradies. Auf der Roseburg eröffnete die DDR eine Ausbildungsstätte für Geflügelzüchterinnen, und 1963 ging Lotte dorthin. Nicht weil ihr Herz an der Geflügelzucht hing, sondern an der Roseburg – und warum nicht Hühner züchten? Nach Ende der Ausbildung musste sie wieder einmal fort. In den frühen siebziger Jahren konnte sie immerhin zu ihrer großen Freude mit ihrem frisch angetrauten Ehemann einige Tage ihrer Flitterwochen in einem Gästezimmer der Roseburg verbringen. Zurück im Alltag gelang ihnen wenig später die Flucht in den Westen, und die Burg war fortan völlig unerreichbar.

Dann kam die Wende. Lottes Mann war da schon krank und starb bald danach. Als Lotte, die mittlerweile in einem Veterinäramt tätig gewesen war, das Rentenalter erreicht hatte, kehrte sie endlich auf die Roseburg zurück. Die hatte da gerade den Besitzer gewechselt und wurde restauriert. Lotte bot sich an, dabei zu helfen, den verwahrlosten Park wieder in Ordnung zu bringen. Schließlich konnte sie sich genau erinnern, wie er einmal gewesen war.

Seitdem war sie so etwas wie der gute Geist des Parks. Pixie konnte ihr ewig zuhören, so viel hatte Lotte aus ihrem wechselvollen Leben zu erzählen, wenn sie es denn tat. Die Details hatte Pixie erst nach und nach durch behutsames Nachfragen herausbekommen können. Nun würde sie wohl nie alles erfahren.

An dem Park mit seiner Magie hing sie inzwischen selbst. Er bewies, dass der verwirklichte Traum eines Menschen – wie hier des Architekten Bernd Sehring – zur Heimat eines anderen werden konnte. Auch zu einer seelischen. Ihr größter Wunsch war, dass eines Tages eines ihrer Bücher den einen oder anderen Leser in dieser Art berühren würde.

Davon aber war sie noch weit entfernt. Irgendetwas musste sich verändern, musste geschehen, um ihr den Weg dahin zu weisen.

 

Pixie wusste, dass die Roseburg eine unvergessliche Stelle auch in ihrem Lebenslauf bleiben würde. Und doch! Vielleicht war sie einfach zu sprunghaft, aber auf einmal zog es sie mit Macht an die Nordsee und in dieses neue, andere Abenteuer. Ausnahmsweise hatte sie ein konkretes Ziel: möglichst viel über diesen Kapitän herauszufinden, der ihrem Großvater ein wenig ähnelte. Sich mit etwas aus dem echten Leben zu beschäftigen, nicht mit Phantasiegestalten. Sicher würde sie das erden.

Die Sonne brach wieder durch und weckte in den Tropfen auf den Gräsern kleine Regenbogen. Im selben Augenblick meldete ihr Handy eine Nachricht.

In der letzten Septemberwoche! In der Pension Heidelerche. Wir buchen Zimmer und zahlen dir eine Übernachtung, dann können wir alles in Ruhe besprechen. Von da hättest du es nicht mehr so weit. In Ostfriesland ist zunächst auch schon für eine Unterkunft gesorgt, wenn du dich dafür entscheidest. Ich freue mich sehr, dich zu sehen. Liebe Grüße, Lian.

Darunter ein Link zu der Pension. Die sah nett aus.

»Na dann, Flömer«, sagte Pixie zu den Worten im Schlamm. »Mal sehen, ob ich dich finde.«

Sie hatte sich entschieden, ohne es gemerkt zu haben.

 

»Mach es!«, sagte Lotte. »Das klingt spannend. Ich werde dich vermissen, aber ich bin ja nicht allein, weißt du doch. Die restlichen Gärtner können gut anpacken, auch wenn sie nicht so viel Phantasie und Liebe zum Park haben wie du. Der Fiffi und sein Volk passen sowieso auf. Und ewig werde ich die Arbeit auch nicht mehr machen können.« Sie hob die Schultern. »Der Park braucht uns nicht. Der wird noch lange da sein, hoffentlich, auch wenn er bald wieder einmal den Besitzer wechselt. Er wird mal mehr, mal weniger gepflegt sein, aber er wird bleiben.«

Lotte hatte recht, dachte Pixie. Die anderen Kollegen würden schon auf sie achtgeben, wenn Pixie ihnen noch mal Bescheid sagte.

 

»Aber eins muss klar sein«, sagte Lotte beim Abschied und hob streng einen Finger. »Wenn du was schreibst, schickst du es mir! Per E-Mail! Nicht mit dem kleinen Kästchen da.« Mit Handys konnte sie sich nicht anfreunden.

»Versprochen, Lotte. Aber das kann dauern. Ich hab ja erst mal eine andere Arbeit.«

»Die hattest du hier auch, und trotzdem flutschte es bei den ersten Kapiteln. Vergiss nicht, was du bist und wirklich willst. Und meld dich mal, Mädchen.«

»Das mach ich.« Sie umarmte Lotte und spürte die Zerbrechlichkeit unter der Stärke. Pixie hasste Abschiede. Es hatte schon zu viele davon gegeben in ihrem Leben. Damit niemand ihre Tränen sah, lief sie die gefühlt unendlich lange, schmale, steinerne Treppe hinunter, deren Eingang sich unauffällig hinter einem Busch befand. Die ging um mehrere Ecken, hatte oben ein Dach, war auf der einen Seite von einer Wand aus demselben verwitterten Stein und auf der anderen von Säulen flankiert und wirkte wie ein verwunschener Tunnel in die Unterwelt. An die Säulen drängte sich von außen ein Urwald, dessen dämmriges grünes Licht die ausgetretenen Stufen färbte. Ganz unten gelangte man in ein kühles, quadratisches Versteck, von dem aus man den unteren Ausguck und den Turm der Burg sehen konnte mitsamt einem der strengen Wasserspeier, der von hier unten aus den Himmel zu bewachen schien. Hierhin hatte sich Pixie oft mit ihrem Pausenbrot zurückgezogen, oder wenn sie nachdenken wollte. Sie hatte auf der Bank sogar ein Kapitel geschrieben, als es ihr noch gut von der Hand ging.

Jetzt weinte sie sich in dieser ungestörten Zuflucht eine ganze Weile aus.

Danach ging es ihr besser. Sie putzte sich die Nase und stieg wieder hinauf. Als Letztes wollte sie sich noch von den beiden marmornen Sphinxen verabschieden, deren große, erhobene Pfoten sie oft morgens zum Gruß berührt hatte, nur so, weil die beiden so nett aussahen und wie Maskottchen ihrer Tage waren. »Behütet mir die Lotte!«, sagte sie leise. »Und den Park.«

Die beiden blickten ungerührt über das Tal.

Ein neues Kapitel ihres Manuskripts hatte sie nicht geschrieben, aber dafür wieder mal eines in ihrem Leben abgeschlossen. Wie es weitergehen würde, wusste sie nicht, weder beim einen noch beim anderen. »Das hängt jetzt von dir ab, Flömer«, dachte sie, während sie in Alexisbad ihre wenigen Sachen packte. »Schließlich bist du Kapitän. Die wissen doch immer den richtigen Kurs, oder?«

4

Mit Lian und Anna-Lisa war sie erst nachmittags verabredet, und die Fahrt würde nicht einmal drei Stunden dauern. So beschloss Pixie, sich zuvor noch mit einem Ausflug zu den Gegensteinen zu belohnen, dem östlichsten Ausläufer der Teufelsmauer. Diese lückenhafte Reihe gewaltiger und bizarrer Felsen, in Wirklichkeit ein Überbleibsel der Kreidezeit, waren der Sage nach Reste eines gescheiterten Projekts des Teufels. Pixie war zuversichtlich, dass dieses Scheitern nicht ansteckend war und ihrem eigenen Vorhaben nicht schaden würde, wenn sie den großen Gegenstein bestieg. Sie war anfangs schon einmal hier gewesen, und den Blick in die Weite wollte sie unbedingt noch einmal genießen. Außerdem würde es sie auf das einstimmen, was vor ihr lag, denn damals hatte sie der Ausguck oben deutlich an den Bug eines mächtigen Schiffes erinnert. Wenn man die Augen halb zukniff, wirkten die verschwimmenden blauen Bergrücken in der Ferne dazu wie Wellen.

Auch diesmal war sie überwältigt von den tiefschwarzen Steinformationen, die mitten im grünen Land so mächtig aufragten, dass sie sich winzig darunter vorkam. Es war einschüchternd und gleichzeitig befreiend, denn es zeigte ihr wieder einmal deutlich, dass es keinen großen Unterschied machen würde, was sie tat. Außer für ihr eigenes Glück natürlich. Ob sie ein neues Buch schrieb oder nicht, ob sie den Auftrag dieser Remy erfüllen konnte oder versagen, es würde nichts Wesentliches verändern. Diese Felsen würden weiter in den Himmel ragen, der Selkefall wie immer ins Tal rauschen und die Sphinxen in der Roseburg jeden Tag den Sonnenaufgang anblinzeln. Im schlimmsten Fall würde sie wieder einmal pleite sein – aber sie hatte immer noch eine bescheidene Rücklage, die Nathan ihr hinterlassen hatte und die sie streng für absolute Notfälle hütete. Sie wollte unbedingt allein zurechtkommen, so wie er es ihr beigebracht und selbst immer gehalten hatte. Auch Moina war das stets gelungen. Unabhängigkeit war Pixie extrem wichtig, und zum Leben brauchte sie nicht viel, denn Dinge hatten wenig Bedeutung für sie. Ein paar funktionelle und gemütliche Lieblingsklamotten, ihr Laptop, ihr Gravierwerkzeug, ein bescheidenes Dach über dem Kopf und genug zu essen hatten ihr bisher immer genügt.

Sie war völlig außer Atem, als sie oben ankam. Der Fels war glitschig und die hineingehauenen Stufen waren nur mit Händen und Füßen zu erklimmen. Außer ihr war niemand anwesend, nur weit in der Tiefe bewegten sich ameisengleich zwei Wanderer am Feldrand. Hier oben pfiff der Wind scharf. Sie hielt sich vorsichtshalber am Gipfelkreuz fest. Auf dem Wald lag ein erster goldener Schimmer, der den Herbstbeginn ankündigte. Jetzt, da die Abschiedsmelancholie von gestern vorüber war, lief ein Schauer freudiger Aufregung durch Pixie. Sie liebte den Herbst. Sie war gespannt auf das Abenteuer der Suche nach Flömers Spuren. Und sie würde das Meer wiedersehen!

Lange stand sie dort und beobachtete ein Paar Greifvögel, das majestätisch und gelassen auf der Thermik seine Kreise