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Wulf Kirsten ist einer der sprachmächtigsten Dichter unserer Zeit. Beinahe verlorene Worte, in seinem Werk haben sie ihren Platz. Sinnlichkeit und Klarheit, in seinen Gedichten finden sie ihren Ausdruck. Leise und doch so unmittelbar und unausweichlich entfalten sich Landschaftsszenen, Kindheitserinnerungen und Dichterporträts. Kirsten erweist sich in jedem Text als aufmerksamer Beobachter, eloquenter Formulierer und kluger Analyst. Seine Betrachtungen sind politisch, literarisch und historisch verortet, seine Worte von feinem Witz getragen.
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Seitenzahl: 39
Wulf Kirsten
fliehende ansicht
Gedichte
Fischer e-books
kahl die baumzeile, die im fluß
sich spiegelt flächig-filigran,
häuser an den waldhang gewürfelt,
festgezurrt in sich verkrallt
abbild des dorfes, die kalkwände
schroff und leuchtend weiß,
fallend wie steigend, hart
an der kante herrisch-beherrschend
thront einsam ein haus, Schultze-
Naumburg läßt grüßen jedweden fahrgast,
der nichtsahnend vorübergewinkt wird,
neben der Saale her über die brücken
gerasselt, daß es scheppert und klirrt,
breitwanniger stauraum belassen
für überfließendes flußwasser landein,
verstrauchte wiesen, erdfarbne streifen
eingezogen, eingezwängt gärten,
umzäunung zerbrochen, an Bad Kösen
vorbeigedonnert, wo Friedrich Nietzsche
ein bier trank oder war es eins über
den durst? schandbar, nein, schändlicher
noch, wenn der portaner das glas
am henkel schon faßte und seinen inhalt
austrank zu allem übel, welch ein genuß,
den staub in der kehle schluckweis
zu löschen, o tempora, o mores,
jeder bahnhof, der vorbeifliegt, ist
längst abgeschrieben, triste
angelegenheiten langhin verzettelt,
eine ruinöser als die andre,
scherbenhaufen hinterlassen, schutt
zur schau gestellt, trümmerbrocken
außer kraft und ohne sinngehalt,
noblesse oblige, zweckgebunden war einmal,
aber wohlbestellt im wintergrün
immer noch die felder, mistelbälle
schmarotzen im sperrigen geäst,
hie ein dornstrauch, da
ein dampfender misthaufen quer
in die landschaft gekippt, der
nichts beweisen will
als florierenden ackerbau
und was viehzucht hinterläßt,
globalité-égalité, nur die kirchen
tanzen noch aus der reihe
mit ihren altmodischen türmen,
ein jeder anders gereckt,
teils gezwirbelt, teils gezwiebelt,
als wollten sie die seligkeit preisen
hocherhobnen fingers nach eigner fasson.
schon wieder so ein sonntagmorgen,
dem letzten zum verwechseln ähnlich,
ausgebreitet bescheidene bildwelten,
die einer lustlos abgezogen haben muß,
weiß nicht wovon und wozu,
wahrheit in kisten verpackt,
die nun als leergut herumliegen
und sich stapelweise offenbaren,
jede hausecke zeigt scharfkantig,
wo ein rechter winkel haken schlägt,
beispiele für existentielle bewußtwerdung,
gäbe es nicht immerzu diese zweifel
am sinngehalt dieses trüben morgens,
die allmacht des marktes
weiß angeblich schon, wo das hinausführt,
erst recht, wohinaus sie selbst
noch gelangen will, dann doch lieber
einen eigenen weg nehmen in freier natur,
auch wenn er nirgendwo ankommt,
sieh, wie sie dir alle vorangehen:
eine mutter hält an jeder hand
eines ihrer schulpflichtigen kinder,
ein einsamer fußgänger rudert,
mit beiden armen schwimmt er kräftig voran,
weit ausschwenkendes gestikulieren
mit der luft, die ihn mühelos einholt,
während ein anderer den eisenzaun streift,
beide hände tief vergraben in den manteltaschen,
eine ganze kavalkade wintermäntel,
schwer abhangend, die straßenbesen ersetzen,
über den köpfen nachgeahmter stilwille,
der mit mir nichts zu tun haben will,
alle vorgärten tief in sich versunken,
und so viele leere kisten an diesem morgen,
der dem gefrierpunkt noch einmal knapp entkam.
auf einen blick zu erfassen
abgeschriebenes verdinglichtes leben,
nun nur noch gerümpel,
das an hauswänden lehnt
und bürgersteige füllt
an diesem lichtüberfluteten morgen,
kisten und kästen, lampen und lumpen,
alteisen voller ausdrucksmuster,
zu neuen kunstwerken degradiert
abgewohntes mobiliar, ausrangiert
wie dieser ordinationsstuhl
aus der praxis von medizinalrat K.,
auf dem ich glücklicherweise
nie platz nehmen durfte,
um mir die hand aufschneiden
zu lassen, jählings gefällt der mann,
ein hüne, sportlich gestählt,
firm in so mancher olympischen disziplin,
inbegriff eiserner konstitution,
ein luftzug hat ihn unter die erde
geweht, auf dem entsorgten gestühl
singt eine amsel und schmettert
voller wohllaut ihren nachruf
in den taufrischen morgen.
häufig an dorfstraßen, strichweise,
an zäunen hochgeschoßne bestände
bis zu den lattenspitzen aufgereckt
und ausgestreckt, achtlos ausgewildert,
tee-anbau außer gebrauch gesetzt,
artenbereichernd heimische flora,
hohle vierkantstengel, langgestielt
bis sonstwohin, dornige zähne
am kelchrand, fünf an der zahl,
dreilappige unterlippe, ein lappen
helmförmig drübergestülpt,
lippenblütler am straßenrand,
blätter gleich lanzetten,
ungelappt, aber ausstaffiert
mit sägezähnen, wer weiß,
warum und von wem so beschlossen,
in welchem designerbüro
die scheinquirle entworfen
wurden, blattwinkelständig,
eine pflanze wie die andre
gleichermaßen blühfreudigen gemüts,
begleitgrün an flußufern, wildwuchs
auf brachflächen, zweijährig,
weißdrüsig nun auch noch, um dieses
spezifische detail nicht zu vergessen,
teils rotviolett, teils violettrot,
je nachdem, wer weiß, wieso
und nicht anders seit unvordenklichen
zeiten, nicht eben farblos in die welt
gesetzt, aus welch geheimen gründen
auch immer, vormals als tee angewandt
gegen wassersucht, rheuma zuvörderst
und gicht fernerhin, auf heilkraft
abonniert war einmal und ist nicht mehr,
eine fülle klangvoller namen blieb hängen
an dir, die sich der volksmund erdacht
hat, alle so bildhaft aufgedonnert,
und wofür, wo du nun so lang schon
völlig nutzlos herumlungerst
an wegrainen mit vorliebe,
als stündest du dir selbst im wege:
Löwenschwanz, Herzheil, Falscher Andorn,
Berufkraut zudem mitunter auch noch
gerufen, zumeist jedoch, wenn überhaupt
noch einer imstande, dir namen zu geben:
Leonurus, Katzenschwanz oder ganz einfach
Gemeines Herzgespann.
novembernacht stiller als still
auf graswuchs gebettet, teppich-
polster im regengeglinster, als wär
ein scherbenhaufen drüber geschüttet,
rekristallin, nachtversunken