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So anregend, sinnlich und spannend wie die neuen Weine Apuliens – perfekte Sommerlektüre! Commissario Cozzoli braucht Entspannung. Findet zumindest sein bester Freund Gigi und lädt ihn zu einem Weinseminar ein. Höhepunkt ist der letzte Abend auf dem Gut einer jungen Winzerin, deren Weine zu den »stillen Stars des Salento« zählen, die seit Kurzem international rasant an Renommee gewinnen. Ausgerechnet ein französischer Sommelier darf als Gastreferent sein aufgeblasenes Urteil abgeben – am nächsten Morgen liegt seine Leiche im Weinkeller. Ein Fall, der sich für Commissario Cozzoli kompliziert entwickelt, denn ausgerechnet Gigi zählt zu den Verdächtigen. Da kann sich seine Nichte, die Hamburger Journalistin Elena Eschenburg, nicht aus den Ermittlungen heraushalten. Die Spuren führen das ungewöhnliche Ermittlerteam in das Geschäft mit europäischem Wein, in die noble Familie der Gastgeberin und in die jüngere, fast schon vergessene Geschichte Süditaliens, die noch immer ihre Schatten wirft.
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Seitenzahl: 404
Kirsten Wulf
Ein Apulien-Krimi
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Titelseite
Inhaltsverzeichnis
Über Kirsten Wulf
Über dieses Buch
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
Widmung
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
Nachwort
Grazie
Inhaltsverzeichnis
Meiner mutigen, inspirierenden Freundin Petra
Inhaltsverzeichnis
Ein Hotel über den Wolken, nur für eine Nacht.
Elena lenkte ihren Wagen durch die Berge hinter Neapel. Der Vesuv zeichnete sich schwarz und elegant gegen den leuchtend blauen Himmel ab. Vor Jahren hatte Elena aus dem Flugzeugfenster in den Krater geblickt, hinein in diesen Schlund, der sich wie eine offene Wunde in die Erde fraß.
Das Monster schlief nur. In aller Schönheit. Doch es konnte jederzeit wieder explodieren. Die Lava würde nicht gemächlich über den Kraterrand kriechen. Nein, der Vesuv würde mit einem gigantischen Knall bersten und in wenigen Sekunden alles Leben um sich herum begraben. In Pompeji hatte der glühende Ascheregen die Bewohner im Gespräch, in einer Geste überrascht.
Elenas Gedanken flogen dahin. Gestern erst hatte sie Hamburg verlassen, war einfach gefahren, bis in die Nacht. Heute Morgen war sie in einem Bergdorf aufgewacht und hatte die Fahrt fortgesetzt. Sie mochte das. Lange Strecken allein zurücklegen. Eine Art bewegter Meditation.
Als die Autobahn sich von der Küste ins Hinterland zog und durch die wilden Berge Kampaniens schlängelte, tauchte dieses Bild auf: ein Hotel über den Wolken, nur für eine Nacht. Irgendwo da oben, in einem dieser eingemauerten Dörfer, die sich auf den Gipfeln festkrallten. Ungeplant die Rückkehr nach Lecce hinauszögern. Nur so. Es gab niemanden, der sie dort dringend erwartete.
Elena nahm die nächste Autobahnabfahrt.
Ihr Handy klingelte, kaum hatte sie die Mautstation passiert. Vor ihr teilte sich die Straße, in der Mitte eine Wand aus Hinweisschildern. Sie rollte darauf zu, fischte nach dem Handy, während sie versuchte, sich im Schilderwald zu orientieren, »Pronto?«, meldete sie sich. Wo könnte ihr Hotel über den Wolken liegen? Eher links oder rechts? Links oder …
»Commissario Cozzoli hier, buona sera!«, bellte es aus dem Telefon. »Fahren Sie gerade?«
»Buona sera, Commissario!«, rief Elena ins Telefon. »Come va? Tutto bene?«
»Bene, bene. Halten Sie mal einen Moment an.«
Cozzoli konnte mit seinen dicken Brillengläsern wohl von Lecce aus bis zu ihr ins neapolitanische Hinterland spähen. Sie rollte an den Straßenrand.
»Verteilen Sie aus der Ferne Strafzettel?«, scherzte sie.
»Nicht mein Fachgebiet. Stehen Sie jetzt endlich?«
Pazienza, Commissario, Elena hatte selbst schon erlebt, wie Cozzoli am Steuer in sein telefonino gebrüllt hatte, um seiner Gurkentruppe Dampf zu machen. Aber sie sparte sich weitere Bemerkungen, der Commissario konnte sehr humorlos sein.
»Wann kommen Sie zurück?«, ohne weiteres Geplänkel kam Cozzoli zur Sache. Er war ein guter Freund von ihrem Onkel Gigi, aber mit Elena pflegte Cozzoli das Sie. Nur Gigi duzte er – und seine Untergebenen, das beruhte allerdings auf Einseitigkeit. Seit wann interessierte sich Cozzoli dafür, wo und wann Elena auftauchte? Es sei denn …
»Ist etwas mit meinem Onkel?«
»Nicht direkt«, wand sich Cozzoli, »aber es wäre gut, wenn Sie morgen wieder hier wären, Elena.«
War das der Stil, in dem der Commissario die Angehörigen seiner Opfer auf die schlechte Nachricht vorbereitete? Einfühlsam wie ein Vorschlaghammer.
»Cozzoli, was ist los?«, drängte Elena, »ist Gigi etwas zugestoßen?«
»Nicht direkt«, wiederholte der Commissario seine Floskel für tragische Momente, »sagen wir mal so: Ein französischer Sommelier ist ihm zugestoßen.«
Elena seufzte erleichtert. Nur das Weinseminar, dem Himmel sei Dank. Am Vormittag hatte es anfangen sollen.
Das Seminar war eine von Gigis famosen Überraschungen gewesen. Diesmal hatte es seinen Freund Pantaleo Cozzoli getroffen. Der Onkel hatte Elena am Telefon davon erzählt. Nein, nicht einfach am Telefon, am Computer. Beim ersten Skype-Gespräch in Gigis Leben, was für ein Spektakel! Mit bewegten Bildern von Elena und vor allem von Ben, ihrem siebenjährigen Sohn im fernen, kalten Hamburg, während Gigi auf der Dachterrasse seines barocken Palazzo in Lecce gesessen hatte, tief im sonnigen Süden Apuliens, und Schwärme von Mauerseglern über den orangeroten Abendhimmel gefegt waren. Elenas Freund Michele hatte dem Onkel einen Laptop eingerichtet. Eine Kiste voller Wunder! »Fantastico, Elena!«, Gigi war hingerissen gewesen.
In dieser Bestlaune hatte er von dem Seminar über die neuen apulischen Weine erzählt, zu dem er sich und seinen Freund Pantaleo angemeldet hatte. Ausgerechnet Gigi wollte noch etwas über Weine lernen? Noch dazu über die Weine aus seiner Heimat, kurz: über sein Lieblingsthema? Gigi redete doch auch ohne Seminar bereits wie Bacchus persönlich über Lagen und Jahrgänge, Vanille- und Waldbeeraromen, zu viele Tannine und zu flache Strukturen im Wein. Wenn Cozzoli dazukam – und in der richtigen Stimmung war –, wurde es unerträglich. Die beiden zusammen in einem Kurs – halleluja! Kein Dozent der Welt würde das überleben.
Es sei eine spontane Idee gewesen, hatte Gigi frohlockt. Er wollte die gemeinsame Liebe der Freunde zum Wein vertiefen und Cozzoli auch etwas Gutes tun.
»Bella mia, Pantaleo hat mich im August wieder auf meinem Landsitz besucht. Er lag in der Hängematte und war tiefenentspannt, sah richtig erholt aus. Wenn er sich jetzt wieder in seinen alten Mafiageschichten und den Lecceser Kleinkram verheddert, ist er bald wieder grau. Er braucht Ablenkung. Man muss ihn schützen, vor sich selbst.«
Elena wollte nicht wissen, ob Gigi auch seinem Geliebten Ettore so begeistert von dieser Jahrhundert-Idee vorgeschwärmt hatte. Denn Ettore, der Opernsänger, der glücklicherweise in Genua lebte, konnte ziemlich schnell ziemlich eifersüchtig sein. Dabei ging von Cozzoli nun wirklich keine Gefahr aus.
»Glaub mir, dieses Seminar rettet seine Entspannung mindestens bis Weihnachten.«
An Gigi war eine italienische Mamma verloren gegangen. Doch Elena hatte bereits geahnt, dass dieses Weinseminar Blödsinn war. Und nach dem, was Cozzoli ihr erzählte, während sie am Straßenrand parkte, war alles noch schlimmer gekommen, als sie es sich ausgemalt hatte. Viel schlimmer.
Inhaltsverzeichnis
Was tat er hier eigentlich, hatte sich Cozzoli gefragt, als er mit Gigi den eleganten Speisesaal eines frisch restaurierten Luxushotels in der Altstadt von Lecce betrat. Normalerweise besuchte er solche Etablissements nur für Befragungen oder mit Durchsuchungsbefehl. Nun sollte er hier also Spaß haben.
Drei Wochenenden Weinseminar an unterschiedlichen Orten. Rund fünfzehn Teilnehmer, fast ausschließlich Männer, registrierte Cozzoli und wurde schon begrüßt: zwei Anwälte – gleich zwei! Unangenehmes Lächeln, weicher Händedruck, sie behandelten den Commissario wie einen alten Freund.
In weiser Voraussicht, dachte Cozzoli.
Gigi scherzte derweil mit seinem Zahnarzt, ein geschäftstüchtiger Architekt steckte einem schwedischen Ehepaar, das gerade eine sonnige Ruine auf dem Land erworben hatte, seine Karte zu. Ein britischer Professor und seine Gattin hörten höflich einem pensionierten Lehrer zu, der bereits vor dem ersten Schluck die Etiketten der Weinflaschen überschwänglich kommentierte – Cozzoli war das alles zu schwatzhaft.
Er setzte sich an einen der kleinen Tische, die mit Wein- und Wassergläsern gedeckt waren, schloss die Augen und stellte sich vor, er baumele in einer Hängematte.
Irgendwann rüttelte Gigi ihn an der Schulter, und die Stimme des Veranstalters Riccardo Lanzilotto drang zu ihm durch.
»… sind auf der Suche nach einer Orientierung in der Welt der Weine«, Cozzoli öffnete die Augen. Zwischen den Tischen bewegte sich ein schmaler Mann, lässig gekleidet in hellem Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln und cremefarbener Hose, Hobby-Winzer sei er und Sommelier aus Leidenschaft. Zusammen mit dem Weinhändler Luca Pellegrino habe er dieses Seminar organisiert, das nicht nur die Tür zu einer Schatzkammer öffnen, sondern auch eine Hilfestellung sein solle »bei der Suche nach Worten für das überschwängliche Bouquet der Duft- und Geschmacksnoten, die die salentinischen Weine heute bieten. Tabak und Kakao, Vanille und Waldbeeren, die Ahnung von Meersalz und Mineralien«. Ein Schwätzer, dachte Cozzoli, aber amüsant.
Launig umriss Lanzilotto einige Themen des Seminars für die angehenden Hobby-Sommeliers, vom richtigen Korkenzieher und der Kunst, lautlos eine Flasche zu öffnen, über den tatsächlichen oder eingebildeten Unterschied zwischen namenlosem Wein aus dem Tetrapack und einer dreißig Jahre alten Riserva bis zu den »Geheimnissen des Terroir«. Damit leitete er zu seinem französischen Gast über.
»Wer, wenn nicht ein unvoreingenommener Spezialist und Kenner großer Weine, könnte die neuen Weine Apuliens besser würdigen? Insbesondere die Weine aus dem Süden Apuliens, aus unserem Salento, die dank sachverständiger Önologen in den vergangenen Jahren ihre unglaubliche Kraft entfaltet haben.«
Cozzoli schaute auf die Uhr und entdeckte vor sich ein Glas Wein. Wann war das gefüllt worden? Er nippte schon mal zur Entspannung. Lanzilotto kam zum Ende.
»Bitte, George, ich will dir nicht vorgreifen! Freuen Sie sich auf George Lille, Sommelier und Weinjournalist aus Frankreich, eine der bedeutendsten Stimmen aus der Welt des Weins.«
Nun prosteten die Fast-schon-Weinexperten George Lille zu. Auch Gigi. Ein etwas aus der Form geratener Mann Mitte fünfzig erhob sich mit einem feinen Lächeln. Er dankte in holperigem Italienisch seinem Gastgeber Riccardo Lanzilotto, in dessen »charmantem Schlösschen« er seinen Urlaub verbringen dürfe und der ihn durch die apulischen Weinkeller geführt habe.
Dann begann Lille einen gedämpft schmeichelhaften Vortrag über die salentinischen Weine. Ausbaufähig, sicher, aber ohne ins Detail gehen zu wollen, der Zucker, den müssten die Önologen etwas eleganter unter Kontrolle halten. Zu viel der Sonne sei zu viel des Guten, und von Weißweinen möge man doch bitte hier unten die Finger lassen. Chardonnay, wie man am Klang schon hören könne, sei beileibe keine süditalienische Traube.
Er gab ein kurzes selbstzufriedenes Lachen von sich und schaute in die Runde, als warte er auf Zustimmung. Alle lächelten etwas irritiert, nur Gigi nicht. Der grummelte und trommelte mit den Fingern auf die Stuhllehne. Cozzoli hörte entspannt zu, er war nicht patriotisch, wiegte sich in seiner mentalen Hängematte und wusste ansonsten selbst, was ein guter Wein war.
Die Rosé-Weine, traditionell eine Domäne des Salento, befand George Lille für zufriedenstellend. Im Vergleich mit französischen Produkten jedoch …, er wiegte zweifelnd den Kopf. Gigi sprang auf und rief: »Monsieur, erzählen Sie uns doch bitte nichts über Rosato! In Ihrem hochgeschätzten Weinland firmiert Rosato doch unter dem Begriff ›Boisson aromatique‹! Zumindest stand das auf dem Etikett eines Weins, den ich irrtümlich für Rosato hielt: ›Aromatisierte Suppe‹, so würde ich das Zeug wohlwollend nennen. Das einzige, was vage an Rosato erinnerte, war die Farbe!«
Cozzoli zog seinen Freund zurück auf den Stuhl. »Ehi, Gigi, lass Monsieur Lille ausreden.«
George Lille ließ sich nichts anmerken. Er flanierte weiterhin durch den Raum, zwirbelte seine Lesebrille zwischen Daumen und Zeigefinger und bewahrte sein feines Lächeln.
»Rosato ist sehr en vogue in Frankreich, darunter gibt es natürlich diese und jene Qualitäten. Generell verkaufen sich Rosé-Weine hervorragend«, und süffisant setzte er mit einem Blick auf Gigi hinzu, »über den salentinischen Marktanteil bin ich im Detail allerdings nicht informiert.«
Gigi zischte: »Was bildet der sich eigentlich ein, dieser arrogante …«
»Entspann dich, Gigi. So sind sie, die Franzosen«, versuchte Cozzoli ihn zu beruhigen.
Lille fuhr ungerührt fort, »Aber grundsätzlich gilt doch: Zu jedem großen Wein, insbesondere Rotwein, ist es ein langer Weg. Über Generationen hinweg!«
Gigi grummelte: »Hier bei uns wurde schon Wein gemacht, da wussten die Franzmänner noch nicht mal, was eine Weintraube ist.«
»Potenzial!«, erhob George Lille nun seine Stimme und wedelte mahnend mit seiner Brille. »Zweifellos haben die salentinischen Weine Potenzial. Doch das allein garantiert noch keine großen Weine. Große Weine …«, er legte Pathos in seine Stimme, »tragen Tradition in sich, Generationen harter Arbeit.«
Er machte eine theatralische Pause, senkte seine Stimme. »Bevor ich hierhergekommen bin, hörte und las ich viel von der sogenannten ›geheimen Schatzkammer im Süden Italiens‹. Nun, lassen Sie mich ehrlich sein: Die Begeisterung einiger Kollegen halte ich für etwas frühreif. Für übertrieben, für einen Hype!«
Gigi schlug mit der Hand auf die Tischplatte. »Gigi«, murmelte Cozzoli und legte seinen Arm betonschwer auf die Schulter seines Freundes, »lass ihn ausreden.«
»Wir wissen doch alle, wie so ein Hype entsteht«, versuchte Lille zu beschwichtigen, »wie gesagt, ich sehe Potenzial in einigen Weinen, aber lassen wir diesen Weinen doch ihre Zeit und«, er setzte zum finalen Scherz an, »lagern sie derweil in französischen Eichenfässern.«
Er ließ wieder sein kurzes Lachen hören, erhob sein Glas, doch bevor er den angehenden Experten zuprosten konnte, klatschte ihm ein Schwung Wein ins Gesicht. Gigis Glas flog hinterher und zersprang klirrend auf dem Boden. Ein roter Fleck breitete sich auf dem weißen Hemd des Franzosen aus. Cozzoli konnte gerade noch Gigis Arm festhalten, bevor der nach weiteren Gläsern und der Flasche griff.
»Wir gehen jetzt besser«, herrschte Cozzoli ihn an, aber Gigi tobte wie ein wütender Stier.
»Ohne unseren Wein, unseren Rotwein aus dem Salento, hättet ihr euren feinen Bordeaux als Limonade verkaufen können! In Eisenbahnwaggons habt ihr unseren Wein rübergeschafft, damit eure Traubensäftchen nach irgendetwas aussehen und schmecken. Von wegen Potenzial, harte Arbeit – Blödsinn! Nichts als Panscherei! Genauso kippt ihr euren Coca-Cola-Rosato zusammen, aber uns Lektionen erteilen wollen!«
Inhaltsverzeichnis
»Also, wann kommen Sie, Elena?«, fragte Cozzoli erneut.
Nun, da klar war, dass Gigi keinen Totalschaden erlitten hatte, sondern nur über einen französischen Schnösel gestolpert war, entspannte sich Elena und versuchte ihr Hotel über den Wolken noch zu retten.
»Wenn jemand seinen Salento beleidigt, versteht Gigi keinen Spaß«, wandte sie ein, »nörgeln darf nur er selbst.«
»Ihr Onkel war nicht nörgelig, er stand vollkommen neben sich«, widersprach Cozzoli. »Dieser George Lille war tatsächlich unerträglich, aber so einen näselnden Heißluftballon muss man doch nicht ernst nehmen. Aber Gigi hat gepöbelt und gedroht, Lille könne was erleben, wenn er seinen Blödsinn in der internationalen Weinpresse breittreten würde – anscheinend zählt Lilles Urteil etwas in der Szene.«
»Das mag ja alles sein, Cozzoli, aber was hat das mit mir zu tun? Ich suche gerade ein Hotel und …«
»Wo sind Sie denn?«, fuhr Cozzoli dazwischen.
»Irgendwo hinter Neapel in den Bergen.«
»Sehr gut, dann können Sie zum Abendessen hier sein«, bestimmte der Commissario, »morgen geht das Seminar weiter, und Gigi sollte nicht allein hingehen. Er sollte eigentlich gar nicht hingehen, solange Lille noch hier herumläuft.«
»Aber Sie sind doch da und passen bestens auf meinen Onkel auf«, wandte Elena ein.
»Morgen bin ich eben nicht da«, antwortete Cozzoli mit beherrschter Stimme. »Muss nach Rom. Zwei Tage.« Die Tonlage klang nach Commissario. Kurz, bestimmt, keine Nachfragen.
Das Übliche, vermutete Elena. Alte Geschichten, Mafia, Drogen, Geldwäsche. Aber da hatte noch etwas anderes in Cozzolis Stimme gelegen, das spürte sie. Etwas, das dem Commissario auch persönlich an die Nieren ging.
Elena schwieg. Cozzoli ebenfalls. Plötzlich drang leise »Beerdigung. Ein Kollege« an Elenas Ohr. Das war so unerwartet persönlich, dass sie erschrak.
»Das tut mir leid«, sagte Elena.
»Scheißgeschichte«, presste Cozzoli hervor. Der Commissario hatte ihr gerade sein Herz ausgeschüttet. Es blieb still.
»Va bene, Cozzoli«, sagte Elena. »Ich bin heute Abend zu Hause.«
Ihr Hotel über den Wolken hatte sich aufgelöst.
Inhaltsverzeichnis
Der Anruf aus Rom war nicht unerwartet gewesen. Doch der Tod schnappt am Ende immer überraschend zu.
Der Boden, auf dem Pantaleo Cozzoli sich gerade leidlich entspannt bewegt hatte, bebte. Porca misera, fluchte er, es war wieder so weit. Die Nachricht aus Rom hatte die Dinge wieder an den richtigen Platz gerückt. Vielleicht nicht an den richtigen, zumindest aber an den gewohnten. Hatte ihn zurückkatapultiert in sein altes Leben.
Commissario Pantaleo Cozzoli, Ex-Anti-Mafia, hatte Dinge gesehen, die er niemandem, wirklich niemandem erzählen konnte. In der normalen Welt mit ihren normalen Sorgen und Freuden fühlte er sich wie ein Alien. In den Katakomben des organisierten Verbrechens hingegen kannte er sich bestens aus, dort wusste er sich zu bewegen. Richtig zu reagieren, zu handeln. Es war seine vertraute Umgebung geworden. Das Grauen hatte sich in seinem Kopf eingebrannt, er konnte es weder vergessen oder, noch viel weniger, einfach hinnehmen.
Er war immer mit Leib und Seele Polizist gewesen, und in der Anti-Mafia hatte er seine Berufung gefunden. Davon war er noch immer überzeugt. Trotz allem. Obwohl diese Berufung auch ihn fast umgebracht hätte.
Seine Frau hatte damals nur zufällig allein im Auto gesessen. Doch sie zu überleben war schlimmer als die Angst vor dem Tod. Er würde die Täter zur Strecke bringen, das war lange der einzige Gedanke gewesen, der ihn am Leben gehalten hatte. Würde ihnen die Eier …
Er sollte sich besser im Griff haben, sich endlich ablenken lassen. Entgiften.
Das hatte er sich vorgenommen. Ging auch gar nicht anders, seitdem er aus Sicherheitsgründen Mailand verlassen musste und am äußersten Zipfel von Italien entsorgt worden war. Aber immer, wenn er sich ernsthaft den amüsanten Dingen des Lebens widmen wollte, wenn er die Füße auf den riesigen Schreibtisch legte, der wie auch immer in sein mönchszellenkleines Büro gezwängt worden war, um sich mit Minzpastillen den Nichtigkeiten seines neuen »Freizeit-Jobs« als Hauptkommissar der Provinzhauptstadt Lecce zu erfreuen, immer dann riss ihn etwas in sein altes Leben zurück.
Dieses Mal hatte es länger gedauert als sonst. Er hatte sich bereitwillig von Gigi einlullen lassen, dem einzigen Menschen, den Cozzoli nach zwei Jahren hier unten im Süden seinen Freund nennen würde. Das Weinseminar war eine nette Idee gewesen, wirklich. Ebenso wie der Urlaub in der Hängematte auf Gigis Landsitz, inzwischen ein erprobtes Konzept zum Entgiften. Cozzoli brauchte keine aufregenden Reisen. Zwischen Olivenbäumen zu baumeln war ihm Exotik und Grenzerfahrung genug.
Vielleicht klappt es dieses Mal, hatte Cozzoli zwischendurch gehofft. Er schlief besser, träumte keine Horrorszenarien – zumindest erinnerte er sich nicht mehr daran –, doch kurz bevor er dachte, »geschafft!«, holte ihn der Anruf aus Rom wieder zurück, nicht unerwartet, trotzdem. Er musste zur Beerdigung von Rodolfo. Seinem Seelenverwandten.
Rodolfo war einer der Ersten gewesen, die sich die Hände mit Ermittlungen gegen die Giftmüll-Mafia schmutzig gemacht hatten – richtig schmutzig, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Kein Schreibtischtäter, der andere in den Dreck vorschickte. Rodolfo war immer selbst mittendrin gewesen. In unzähligen offenen Giftmüllkippen und auf harmlosen Gemüsefeldern, von denen niemand wusste, oder wissen wollte, was darunter lagerte. Aber Rodolfo wollte es wissen und buddelte nicht nur im Müll, sondern auch in den Verstrickungen zwischen Giftmüll-Mafia und Lokalpolitikern, ermittelte, fotografierte, schrieb akribisch Hunderte von Seiten Untersuchungsberichte. Offiziell wurden diese hochgelobt, doch am Ende verschwanden sie meist in irgendwelchen Schubladen irgendwelcher Staatsanwälte.
Er war vielen unangenehm gewesen. Nicht nur den Mafiosi. Doch um ihn loszuwerden, war kein Killer nötig. Auf irgendeiner Müllkippe mit radioaktiven Schlacken hatte er sich einen Tumor eingefangen, der ihn seit Jahren auffraß. Doch Roberto machte weiter. Trotz allem.
»Wenn ich nur ein Menschenleben rette«, hatte er immer gesagt, »dann lohnt sich dieser Dreck.«
Er hatte mehr als eins gerettet. Und sein eigenes dafür aufs Spiel gesetzt.
Cozzoli musste zur Beerdigung. Für Rodolfos Frau und seine kleine Tochter, für Rodolfo, für sich selbst. Doch bevor er abreiste, musste er noch eine Vorsichtsmaßnahme für Gigi organisieren. Der sollte sich nicht über den aufgeblasenen, französischen Schnösel ärgern, sondern weiterhin entspannt und stolz und gut gelaunt seine salentinischen Weine genießen. Die hatten nämlich mehr als nur Potenzial. Außerdem brauchte Cozzoli ihn. Als Freund. Und falls er sich doch noch irgendwann dauerhaft in der Welt der normalen Nichtigkeiten einnisten wollte.
Inhaltsverzeichnis
Elena hatte noch knapp vier Stunden, um ihre Gedanken durch die geschwungene Weite Apuliens ziehen zu lassen, die karg und leer war, nur selten sah sie mal eine Ansammlung von Häusern. Als sie die Adriaküste erreichte, hatte sie sich mit der Situation arrangiert – und mit Cozzoli, mit Gigi, mit sich.
Hinter Bari ging es nur noch Richtung Süden, schnurstracks am Meer entlang. Das Land streckte sich flach vor ihr aus, die salentinische Halbinsel, der Stiefelabsatz von Italien. Mit dem letzten Licht des glasklaren Septembertages erkannte sie aus der Ferne den angestrahlten Glockenturm des Doms von Lecce. Ihr Herz weitete sich. Trotz allem. Ihre Sehnsucht nach kleinen – und auch großen – Abenteuern hatte sie verschoben.
Elena fand Gigi im Lagerraum seines Ladens, während er in seinem Sammelsurium aus Trödel und Antiquitäten herumwühlte.
»Bereitest du endlich deinen Sommerschlussverkauf vor?«, fragte Elena.
Er strahlte, als er sie sah. »Jetzt ist die allerbeste Zeit, ein paar Ladenhüter loszuwerden. Gerade erst sind alle Leute vom Sommer am Meer in die Stadt zurückgekommen und leben sich mit guten Vorsätzen für den Alltag zu Hause ein. Da möchte man doch auch seine Wohnung auffrischen, oder? Und wenn es nur«, er zerrte an einem Bilderrahmen, der hinter einem Stapel Stühle lehnte, »ein neues Bild ist, das man sich an die Wand hängt.« Er wuchtete ein Ölgemälde hoch: Weinreben, goldene Blätter, tiefblauer Himmel, muntere Landarbeiter.
Elena lächelte, so liebte sie ihren zio, ihren Onkel. Sie war überzeugt, dass er irgendeinen ahnungslosen Kunden mit diesem Kitsch überraschen – und glücklich machen würde. Solange er nicht versuchte, sie mit derlei Gruselgemälden zu beglücken. Oh Gott!, sie war noch gar nicht zu Hause gewesen.
»Hast du unsere Wohnung auch schon aufgefrischt?«, fragte sie vorsichtig. Elenas Wohnung war nur durch eine – meist offen stehende – Schiebetür von Gigis Reich getrennt.
»Einige Kleinigkeiten, bella mia. Nicht der Rede wert«, Gigi stellte das Schauergemälde zur Seite, und bevor Elena die Kleinigkeiten erörtern konnte, umarmte er seine Nichte.
»Aaah, wie gut, dass du wieder hier bist. Du hast mir gefehlt!«
Elena beschloss, die »Kleinigkeiten« zu ignorieren, küsste ihren Onkel auf die Wangen und hörte exakt das, was sie erwartet hatte: »Komm, wir gehen zu Antonio. Du hast doch bestimmt Hunger, oder?«
Kurz darauf saßen Onkel und Nichte auf der kleinen Piazza vor der Osteria Fichi d’India, im Herzen des centro storico von Lecce. Die Altstadt war ein Gesamtkunstwerk aus honiggelbem Sandstein, barocken Kirchen und Palazzi, versteckten und großartigen Plätzen und durchzogen von mittelalterlich verworrenen Gassen.
Nach dem quirligen, heißen August und den ersten Regenfällen vor einigen Tagen hatte sich das Leben im Städtchen beruhigt. Es war zwar auch abends noch angenehm warm, aber eine magische Hand hatte das Lebensgefühl auf Herbst umgeschaltet.
Die Osteria Fichi d’India gehörte Antonio, dem Onkel von Elenas Freund Michele, und seiner Frau Donata, die in der Küche das bodenständige Regiment führte und nicht im Traum darauf käme, irgendeinen neumodischen Schnickschnack auszuprobieren. Natürlich war zio Gigi, der lokalpatriotische Feinschmecker, schon seit Jahren Stammgast, lange bevor Michele als junger Maler aus Rom hier aufgetaucht war, sich als Neffe von Antonio vorgestellt und bald darauf Elena tief, sehr tief in die Augen geschaut hatte.
Zur Pasta hatte Gigi Rosato bestellt, kühl und, nein, nicht blumig, schon gar nicht süßlich. »Schmeckst du die feine Struktur, die dezenten Aromen?«, fragte er seine Nichte. »Das ist Negroamaro. Eine der Trauben des Salento, aus der auch unser warmer, kräftiger Rotwein gemacht wird.«
Gigi lächelte glücklich.
»Im Salento haben wir schon Rosato gemacht, lange bevor er in Mode kam. Die Bauern haben ihn nicht nur im Sommer, sondern das ganze Jahr über in der Mittagspause getrunken. Es war der erste Wein, der in Flaschen abgefüllt und sogar nach Amerika exportiert wurde. Direkt nach dem Krieg sogar in Bierflaschen, weil es keine anderen gab. Ein amerikanischer Soldat hatte sich in den Wein verliebt und ihn importiert.«
Gigi nippte an seinem Glas und ließ den Wein im Mund zirkulieren.
»Wir nennen ihn vino di una notte«, sagte er verträumt.
Elena brauchte nicht zu fragen, was es mit dem »Wein einer Nacht« auf sich hatte, und konnte ungestört ihre hausgemachten Spaghetti alla chitarra weiter aufdrehen, denn Gigi fuhr ohne Pause fort. »Die Farbe eines Weines liegt in der Schale, das Fruchtfleisch der Traube ist farblos. Für unseren Rosato werden die Trauben gepresst, danach bleiben Saft und Schale nur noch wenige gemeinsame Stunden. Vielleicht zehn oder zwölf, nicht viel mehr als eine Nacht. Die Zeit reicht gerade, um den Wein zart zu färben. Dann werden sie getrennt.«
Gigi seufzte. Elena sah gerührt, wie sich die Wangen ihres Onkels unter den grauen Bartstoppeln rosig färbten. Er war tatsächlich ein Weinliebhaber. Sie stießen an, nahmen einen Schluck, und Gigi sagte befriedigt: »Das ist doch ein Rosato!«
Er stellte das Glas ab und beugte sich zu seiner Nichte. »Weißt du, was sie in Frankreich machen, diese Schaumschläger?« Er hielt inne, dann platzte es aus ihm heraus: »Die kippen Rot- und Weißwein zusammen!«
Gigi spuckte die Worte aus, als ob er Essig im Mund hätte. »Die panschen, bis die Farbe passt – voilà! Von wegen ›Grande Nation‹!«
Elena horchte auf. Seit wann war Gigi verächtlich? Das hatte sie noch nie erlebt. Er konnte sich begeistern, himmelhoch lobpreisen und maßlos übertreiben, aber er ätzte nicht über andere. Zio Gigi erfreute sich an den schönen Dingen des Lebens.
»In Italien ist so eine billige Panscherei verboten – verboten!«, setzte er nach.
Elena hatte vermutet, dass Cozzoli die Ereignisse vom Weinseminar dramatisiert hätte. Der Commissario war zwar kein Typ, der dicker auftrug als nötig, und schwatzhaft war er schon gar nicht, aber er hatte schließlich gewollt, dass Elena ohne Umwege zurückkam. Doch Cozzoli hatte nicht übertrieben.
»Dieser Franzose ist wirklich der Allerletzte, der uns, uns!, etwas über Rosato erzählen könnte!«, beendete Gigi seine Tirade. »Nicht wahr, Antonio?«
»Französischer Rosato?«, Antonio war an den Tisch getreten, um die Pastateller abzuräumen, und schnalzte verächtlich. »Ma figurati«, er wischte mit der Hand durch die Luft, nicht der Rede wert.
Den Wirt interessierten die wirklich wichtigen Dinge. »Was nehmt ihr als secondo? Auf dem Grill liegen Sardinen, die habe ich heute Morgen frisch in Gallipoli am Hafen bekommen.« Er sah Elena fragend an. »Pferd ist immer noch nichts für dich, oder?«
Elena verzog das Gesicht und verneinte mit dem Finger. »Pferde habe ich lieb.«
Antonio schaute gutmütig. »Kälbchen auch? Ich hätte heute sehr zarte, dünne Filets da, kurz gebraten mit Salbei und mit etwas Zitrone beträufelt.« Der Duft vom Grill zog herüber. Keine Frage: Sardinen für beide, Salat, »… und wir bleiben beim Rosato!«, bekräftigte Gigi. »Bei unserem Rosato!«
War es jetzt mal gut? Bei aller Liebe zu ihrem Onkel, zum Salento mit all den wunderbaren Köstlichkeiten und zum Rosato sowieso – aber Elena hatte verstanden. Konnten sie langsam mal das Thema wechseln? Immerhin war sie vier Wochen fort gewesen.
Tatsächlich schaute Gigi, nachdem er Dampf abgelassen hatte, seine Nichte neugierig an.
»Jetzt erzähl doch auch mal was! Wie war es in Hamburg? Wie geht es Ben? Und Michele?«
Ihr Geliebter Michele knatterte auf seiner »kleinen dicken Italienerin« durch Frankreich. Die Moto Guzzi hatte trotz ihres Alters diese Tour de France bisher wacker durchgehalten. Und Michele ging es auch gut. In dieser Reihenfolge. Zumindest war das die Reihenfolge, die Michele in ihren Telefongesprächen wählte. Elena dagegen sehnte sich einfach nach ihm, kribbelig wie ein Teenager, mit oder ohne Guzzi. Zwei Wochen noch.
Ben, ihr siebenjähriger Sohn, tobte noch auf Sylt durch die Dünen und im Ferienhaus ihrer Eltern herum, mit dem Hamburger Opa und der süditalienischen Oma. Ein hanseatisch-apulischer Kulturclash, den auch Elena überlebt hatte.
Sie war in Hamburg aufgewachsen und hatte als Kind die Sommerferien im Salento, der süditalienischen Heimat ihrer Mutter, verbracht. Vor zwei Jahren war Elena, ehemals Fotoreporterin, dann Mutter und Halbtags-Redakteurin, endgültig aus Hamburg getürmt und mit ihrem kleinen Sohn bei zio Gigi aufgekreuzt. Sie hatte die Affäre ihres Gatten Aron mit seiner Sekretärin entdeckt, daraufhin ihren öden Halbtagsjob geschmissen und kurzerhand die Flucht nach Apulien angetreten. Im Winter waren es bereits zwei Jahre.
In den vergangenen Wochen in Hamburg hatte sie sich mit Aron getroffen und versucht zu klären, was zu klären war. Zumindest Äußerlichkeiten: Gemeinsam hatten sie das halbe Doppelhaus leer geräumt und einem Makler übergeben. Aron hatte eine kleine Wohnung in Hamburg, aber war auf dem Sprung nach Israel. Elenas Kisten und ein paar Möbel sollten in einigen Tagen in Lecce ankommen. Sie schien ihr Leben sortiert zu haben – doch da hatte sie sich geirrt.
Elena hätte Gigi gerne von ihrem Gefühlskarussell erzählt, doch dazu kam sie nicht mehr.
Gigis Gesichtszüge froren unvermittelt ein, mit verkniffenem Mund starrte er an Elena vorbei.
»Ma va fa …, der hat mir heute Abend gerade noch gefehlt«, knirschte Gigi.
»Wie bitte, wer?« Elena folgte Gigis Blick, hörte ein aufdringlich lautes Lachen und entdeckte zwei Männer und eine junge zierliche Frau mit sehr langen, dunklen Haaren, die sich so leicht bewegte, als wäre sie Luft. Die Gruppe war am Rand der Piazza stehen geblieben und hielt nach einem freien Tisch Ausschau.
»Der da«, Gigi zeigte unauffällig auf den Mann mit den kurz geschnittenen dunkelgrauen Haaren, der gedrungenen Figur und dem jadegrünen Polohemd mit dem Krokodillogo – dem echten vermutlich, keine Kopie. Der sah aus, als ob er es sich leisten könnte. Er sagte etwas auf Französisch, so laut, als ob es für den Rest der Piazza gedacht war.
»Ist das dieser Lille? Dieser Sommelier vom Weinseminar?«
»Sto cretino, dieser arrogante Vollidiot. Der Typ daneben in Weiß mit dem Panamahut ist Lanzilotto. Scheint einen Haufen Geld zu haben. Ich vermute, Luca Pellegrino und er haben das Seminar nur aus Freude am Wein organisiert. Lanzilotto ist ein netter Kerl, hat Ahnung und baut auch selbst Negroamaro an, exklusives Hobby, keine zwei Hektar, alles Handarbeit, kennt jede seiner Trauben mit Vornamen.«
»Und die Frau?«
»Boh? Keine Ahnung«, Gigis Augen verfolgten die drei, während der Wirt sie zu einem freien Tisch führte – glücklicherweise am Rand der Piazza, so dass sie halb verdeckt waren. Sicherheitsabstand, dachte Elena beruhigt. Doch bevor die drei sich setzten, wandte sich Lanzilotto ab und schlenderte zu Gigi und Elena an den Tisch.
»Buona sera! Come andiamo?« Er knuffte Gigi kumpelhaft an die Schulter.
»Bene, tutto bene!« Gigi tat so, als habe nichts und niemand, kein aufgeblasener Schnösel und kein gepanschter Rosato, an diesem fantastischen Samstag seine Laune trüben können.
»Darf ich Ihnen meine Nichte Elena vorstellen? Frisch aus Deutschland zurückgekehrt.«
»Piacere, Riccardo«, er schüttelte herzlich Elenas Hand. »Sie leben hier? Bei Ihrem Onkel?«, und als Gigi eifrig nickte, fügte Lanzilotto mit einem Zwinkern hinzu: »Ihr Onkel ist ein Glückspilz!«
Sie lachten, der Smalltalk wischte die Spannung aus Gigis Gesicht. Lanzilotto drückte Gigis Hand, warf einen kurzen Blick zu seinem Tisch und scherzte: »Ihr entschuldigt mich, ich muss auf meine Frau aufpassen. Claire ist Französin, und endlich kann sie mal bei jemandem ihr Herz in ihrer Muttersprache ausschütten.«
Lanzilotto war zwanglos zum Du übergegangen.
»Bis morgen, du bist doch wieder dabei, nicht wahr? Luca hat einige schöne Rotweine ausgesucht …«
Auf keinen Fall! Elenas Alarmglocke schrillte. Sie hörte, wie Lanzilotto erklärte: »… Weine, die eine erste Idee von den verschiedenen Traubensorten geben, die ausschließlich im Salento kultiviert werden …«
»Ma zio!«, platzte Elena dazwischen. »Bevor meine Kisten kommen, sollten wir in der Wohnung aufräumen, einige Schränke rücken, Bens Zimmer ausmisten. Es wäre zumindest hilfreich, wenn du zu Hause wärst und anpacken könntest.«
Gigi schaute seine Nichte verwundert an. Elena wusste, dass sie Blödsinn faselte, aber Lanzilotto rettete sie verständnisvoll. »Le donne, die Frauen sind doch alle gleich. Aber du bist ja ohnehin schon Weinexperte, Gigi. Dann aber nächsten Sonntag, versprochen? Das wird eine besondere Weinprobe.«
Lanzilotto zog sich nun doch einen Stuhl heran, setzte sich, und seine Stimme wurde vertraulich. »Sie findet auf dem Weingut De Vittorio statt, das von dieser erstaunlichen, jungen Herzogin und Önologin geleitet wird, die das Gut geerbt hat – hast du von ihr gehört? Wir werden einige richtig alte Flaschen öffnen.« Riccardo Lanzilotto zwinkerte Gigi verschwörerisch zu. »Du wirst sie zu schätzen wissen. Für den Rest des Kurses ist es vielleicht noch ein wenig früh, aber nein, für einen guten Wein ist es nie zu früh«, er lachte. »Außerdem ist es der letzte Abend von George Lille. Zum Abschied möchte ich ihn gerne noch überraschen.«
Gigi wiegte zweifelnd seinen Kopf und spottete leise: »Perlen vor die Säue.«
»Dai, Gigi! Lass gut sein. Ihr seid aneinandergeraten, das kommt zwischen Weinexperten vor. George tat es hinterher wirklich leid. Er ist nicht nur Sommelier, sondern auch Journalist und muss kritisch sein. Eine Frage der Berufsehre.«
Gigi schaute zweifelnd, Lanzilotto beugte sich zu ihm und seufzte: »Franzosen sind manchmal ziemlich, sagen wir mal: eigenwillig. Glaub mir, ich habe meine Erfahrungen.« Lanzilotto warf schmunzelnd einen leidenden Seitenblick zu seiner jungen Frau. Er konnte ihr offensichtlich trotzdem nicht widerstehen.
»Also, Gigi, sei nicht nachtragend. Ich rechne mit dir und dem Commissario. Va bene?«
Gigi fuhr mit der Hand durch die Luft. »Für einen großen Wein …«, die Männer lachten und klopften sich zum Abschied auf die Schulter.
Elena konnte von ihrem Platz aus zum Tisch hinter der Statue schauen. Claire plauderte fröhlich, naschte Oliven und schien nicht zu bemerken, dass Lille ihr überhaupt nicht zuhörte. Elena fing den Blick auf, mit dem George Lille ihren Onkel betrachtete. Sie erstarrte vor Schreck.
Inhaltsverzeichnis
Gigi hatte sich bestens auf die Weinprobe auf dem Gut De Vittorio vorbereitet und sich ausgiebig in der Gerüchteküche der Enoteca Pellegrino umgehört. Das Destillat aus real nicht existierenden Neuigkeiten und glaubwürdigen Gerüchten, das er in der Weinhandlung zusammengetragen hatte, servierte er Cozzoli, während sie am frühen Samstagabend im milden Septemberlicht durch die verworrenen Gassen von Scansano kurvten. Direkt hinter dem Weindorf sollte das uralte Gut De Vittorio liegen.
Die junge Duchessa Paola De Vittorio hatte nach dem Tod ihres Vater überraschend das Weingut übernommen, wider alle Ratschläge den Anbau ihrer Weintrauben nach strengen Kriterien des biologischen Landbaus umgekrempelt und prompt einen internationalen Preis für den besten Bio-Wein kassiert.
»Nicht schlecht, oder?«, fragte Gigi. »Das sollte diesen französischen Witzbold beeindrucken.«
»Wenn du meinst«, murrte Cozzoli, ein Hinweisschild hatte sie um das Dorf herumleiten wollen, aber »da fahren nur Feiglinge«, hatte Gigi behauptet und den lokalen Experten gegeben. »Wir ziehen gerade durch.«
»Cavolo!«, fluchte Cozzoli. »Dieses Dorf hat doch nur drei Gassen, wie zum Teufel …?«, sie rollten zum dritten Mal über die Piazza del Popolo, an der Kirche vorbei Richtung Bar dello Sport, Tabacchi und Barbier. Zum dritten Mal schaute ihnen eine Gruppe Männer gleichmütig entgegen, die unter der Markise der Bar saßen und das Geschehen im Zentrum bestens im Blick hatten.
»Route wird neu berechnet«, informierte die sanfte Stimme aus dem Navi. Gigi zeigte auf ein Hinweisschild, das den Weg zum Sportplatz auswies. »Da entlang. Die Straße führt raus. Sportplätze liegen immer außerhalb«, und kehrte mit seinen Gedanken zurück zu den leider nicht vorhandenen Geschichten um das Gut De Vittorio.
Die Journaille hätte sehr gerne mehr über die junge Herzogin geschrieben, die jedoch keinerlei Interesse an schillernder Berichterstattung zu haben schien. Sie sei eine eigenwillige Persönlichkeit, hieß es.
Viele Winzer pflegten Journalisten einzuladen und zu hofieren – Duchessa Paola dachte nicht daran. Andere vermieteten, angeblich versteckte, Villen auf ihren Gütern an Stars und Sternchen, hideaways für romantische Fluchten fern des Medienrummels. Doch rein zufällig und trotz aller privaten Sicherheitsdienste krabbelten immer wieder Paparazzi durch die Büsche oder saßen in den Bäumen. Kurz darauf erschienen erstaunlich scharfe Fotos der Starlets am Pool und beim Candle-Light-Dinner in den einschlägigen Zeitschriften. Nicht ohne den Namen dieses diskreten Weingutes im letzten Winkel von Italien zu erwähnen.
Paola De Vittorio hingegen machte, was ihre Familie schon immer gemacht hatte: guten Wein.
»Bitte wenden«, säuselte die Dame im Navi. Ja, wo denn, zum Teufel? Sie rollten in Schrittgeschwindigkeit zwischen den aneinandergereihten Häusern hindurch. In Cozzoli brodelte es.
»Bitte wenden!«, wiederholte die Signora erbarmungslos. Cozzoli stöhnte auf. »Wäre das eine Verdächtige, würde ich sie einbunkern, bis sie ihren Text ändert.«
»Knips sie aus, ich frage jemanden!«, entschied Gigi, als sie erneut auf der Piazza landeten, und hängte sich aus dem Fenster. Die signori vor der Bar hoben interessiert die Augenbrauen.
»Scusi, wir suchen De Vittorio, das Weingut?«
»Certo, De Vittorio!«, nickten sie, als ob Gigi in Paris gefragt hätte, wo der Eiffelturm zu finden sei. Einer der Männer schlurfte heran. »Hinter der Kirche links runter, nicht zu übersehen.«
Na also. Zwei Ecken weiter lichteten sich die Häuserreihen und öffneten die Aussicht auf weit gespanntes flaches Land. Struppige Wiesen, frisch gepflügte rostrote Äcker und unendliche Streifen Grün – die langen Reihen der Weinreben zogen sich wie gekämmt zum Horizont –, ein Patchwork-Teppich, ausgerollt unter einem maßlos hohen Himmel. Mittendrin strahlte weiß die Masseria De Vittorio.
»Caspita! Che bello!«, rief Gigi begeistert aus. »Eine befestigte Masseria.«
»Und eigentlich nicht zu übersehen«, muffelte Cozzoli, »wir hätten genauso gut um das Dorf herumfahren können.«
Gigi überhörte Pantaleos Nörgelei, er schien entschlossen, sich seine gute Laune zu bewahren. Aber Cozzoli war gereizt. Sie waren spät dran, und überhaupt nervte ihn seit der Beerdigung in Rom und dem Treffen mit alten Kollegen alles in Lecce. Er war noch nicht wieder in dieser Welt der angenehmen Nichtigkeiten gelandet. Dazu der Gedanke, dass er heute Abend für Gigi den Aufpasser machen würde – lächerlich. Er traute Gigis sonniger Laune nicht. Cozzoli hatte eine finstere, verborgene Wut gespürt, die sein Freund in sich trug.
Über eine schmale Straße, die durch die Weinfelder führte, näherten sie sich dem Portal des Weingutes. Vor der Mauer, die das Anwesen umgab, zog Cozzoli mit einem rasanten Schwung auf einen sandigen Parkplatz und rutschte in die Lücke zwischen einem staubigen Jeep und einer silbernen Limousine.
»Die Ersten sind wir nicht gerade.« Cozzoli sah über den nahezu voll besetzten Parkplatz. Ihm wäre nach einer Handvoll Pfefferminzpastillen gewesen. Doch die hatte er zu Hause gelassen, Gift für jede Weinprobe, betäubten die Geschmacksnerven. Ohne sein Döschen erhöhte sich allerdings die Gefahr, dass er sich eine – und bei einer würde es nicht bleiben – Zigarette ansteckte. Basta, basta, zügelte er sich, schluck verdammt noch mal deinen Ärger runter und genieß einen netten Abend.
»Da sind wir also«, Cozzoli stieg aus dem Wagen und reckte sich. Er rückte seine dicke Brille zurecht und blickte über die Weinreben. Flach und weit das Land, hoch der Himmel. Stille. Milde Abendluft. Weiches Licht. Es könnte alles so schön sein.
»Gigi«, er bemühte sich, in einer tiefen Tonlage zu sprechen, um seinen Freund, aber vor allem sich selbst zu besänftigen. Cozzoli legte ihm die Hand in den Nacken und sah ihm fest in die Augen. »Tranquillo, va bene? Halte dich von dem Franzmann fern. Ich habe ihn im Auge, aber ich spiele nicht das Kindermädchen, capito?«
Gigi schaute Cozzoli amüsiert an und kniff ihm in die Wange. »Ich könnte mich glatt in dich verlieben, wenn’s nicht aussichtslos wäre.«
Cozzoli riss für einen Moment verwirrt seine gigantischen Augen auf, aber Gigi klopfte ihm beruhigend auf die Schulter. »Keine Sorge, amico mio!«
Kein Mensch war zu sehen, als sie den Hof betraten. Innerhalb ihrer Mauern wirkte die Masseria, ein befestigtes Landgut, wie ein aus Würfeln zusammengesetztes Dorf, strahlend weiß mit kobaltblau lackierten Fenstern und Türen. Sie beherbergte Wohngebäude mit hohen, schlanken Fenstern, hinter Mauerbögen verbargen sich Lagerräume und ehemalige Ställe, es gab eine kleine Kapelle und einen wuchtigen quadratischen Wachturm, an dem eine Außentreppe in den ersten Stock hinaufführte. Dazwischen wiegte sich roséfarbener Oleander und in kleinen eingefassten Beeten wuchsen dichte Stauden von Lavendel und Rosmarin.
»Eine klassische Masseria«, stellte Gigi voller Bewunderung fest, »bildschön restauriert.«
Ein knorriger Olivenbaum, mahnend und gütig wie ein Methusalem, wurzelte im Zentrum. Drum herum waren einige Tische mit Gläsern gedeckt – allerdings war kein Gast zu sehen.
»Buona sera!«, hörten sie eine kräftige, rauchige Frauenstimme. In einem Mauerbogen stand eine wuchtige ältere Frau im blauen Arbeitskittel. Ihre kurz geschnittenen grauen Haaren standen kreuz und quer vom Kopf ab.
»I signori sono lì«, nuschelte sie um eine möglichst dialektfreie Aussprache bemüht. Die Herrschaften seien dort hinten, sie zeigte am Olivenbaum vorbei, »nel frantoio«, in der alten Olivenmühle. Sie nickte und verschwand.
Gigi und Cozzoli betraten durch eine hohe, breite Tür einen leeren Raum mit einer Gewölbedecke, von dort führte eine steinerne Treppe hinunter in einen Keller, eher eine Höhle, die in den felsigen Untergrund gehauen worden war. Es war kühl, in der Luft lag das frische säuerlich-würzige Aroma von gegorenem Wein. Erst als Gigi und Cozzoli am Fuß der Treppe angelangt waren, hörten sie Stimmen und Gelächter.
Gemauerte Rundbögen verbanden die Gewölbe, Lämpchen gaben gerade genug Licht, um den unregelmäßig gepflasterten Boden zu erkennen.
»Attenti!«, warnte eine Frauenstimme. »Stolpern Sie nicht!«
Im Halbschatten stand eine hochgewachsene, schlanke Frau vor einer Besuchergruppe. Cozzoli erkannte die füllige Gestalt von George Lille neben einer zierlichen Frau und einigen weiteren Seminarteilnehmern.
»Buona sera, Commissario!«, rief Lanzilotto und warf noch ein »Ciao Gigi!« hinterher.
»Darf ich kurz vorstellen? Duchessa Paola De Vittorio, Önologin und Eigentümerin dieses Weingutes, eines der ältesten im Salento. Ihre normannische Familie ließ sich vor rund tausend Jahren hier nieder.«
Paola De Vittorio nickte den Neuankömmlingen kurz zu, dann drehte sie sich wieder um und fuhr in ihren Erklärungen fort.
»Wir befinden uns hier unten im ältesten Teil der Masseria. In den Gewölben dieses frantoio wurde nachweisbar bereits im 16. Jahrhundert nicht nur Olivenöl, sondern auch Wein gemacht.«
Angesichts der Familiengeschichte der De Vittorios, die in jeder Mauerspalte und jedem Felsvorsprung schlummerte, versank die Besuchergruppe in ehrfürchtiges Schweigen. An den Felswänden lehnten noch die mächtigen Mahlsteine, die bis Mitte des letzten Jahrhunderts von einem Esel gedreht worden waren und Öl aus frisch geernteten Oliven gequetscht hatten.
In den Nischen lagerten Weinflaschen übereinander, bedeckt von dicken Staubschichten. Doch nicht die Urahnen Paola De Vittorios hatten sie hier eingelagert – die ältesten Flaschen waren »nur« gut dreißig Jahre alt.
»Mein Vater gehörte zu den Ersten, die nicht nur Quantität, sondern auch Qualität produzierten. Anfang der Achtzigerjahre begann er, Wein in Flaschen abzufüllen und auch zu etikettieren, damit gab er ihnen einen Namen und eine Herkunft«, erklärte Paola De Vittorio. »Seitdem liegt aus jedem Jahr unserer Produktion eine Reserve hier unten.«
»Nur aus dem Jahr ihrer Geburt nicht mehr«, wisperte Lanzilotto, der sich zu Gigi und Cozzoli gestellt hatte.
»Zu schade«, seufzte er, »ein ausgezeichneter Jahrgang. Die letzte Flasche wurde zu Ehren von Paolas Hochzeit getrunken.«
Paola hatte die Bemerkung im Vorbeigehen aufgeschnappt. »Verlorene Liebesmüh«, warf sie ein und zog mit der Gruppe ins nächste Gewölbe.
Gigi und der Commissario schauten Lanzilotto fragend an.
»Geschieden«, verriet er mit gedämpfter Stimme.
»So jung und schon …«, bedauerte Gigi Paolas Familienstand.
»War ein alter Sack«, spottete Lanzilotto. Und sie ist eine ungewöhnliche Frau, dachte der Commissario. Höchstens dreißig Jahre alt, leitet ein bekanntes Weingut und ist bereits zum ersten Mal geschieden – Hut ab.
»Ein alter Sack? Wie du?« Die zierliche Frau war lautlos neben Lanzilotto aufgetaucht, sie lächelte.
»Oh, Claire!«, er grinste betreten und legte ihr den Arm um die Schultern. Cozzoli schätzte sie mindestens zwanzig Jahre jünger als ihren Mann, und augenscheinlich war sie in der Lage, diesen eloquenten Schwätzer mit leichter Hand aus dem Konzept zu bringen.
Sie folgten langsam den munter plaudernden Hobby-Sommeliers und Paola De Vittorio durch die Gewölbe.
»Französische Eiche?«, hallte eine kräftige Stimme nach hinten – George Lille, unverkennbar. Cozzoli schaute sich instinktiv nach Gigi um. Der stand in sicherer Entfernung. Entspann dich, Cozzoli.
»Oui, Monsieur!«, antwortete Paola De Vittorio kurz, »Aber die meisten Fässer sind leer. Wir verzichten so weit wie möglich auf Holz in unseren Weinen«, erklärte Paola De Vittorio, »unsere Weine aus dem Salento sind von sich aus kräftig und ausdrucksstark, die brauchen nicht auch noch das Aroma des Holzes.«
»Ah, ah, ah!«, tönte George Lilles kritische Stimme aus dem Dunkel.
»Brava!«, rief Gigi dagegen wie ein Fußballfan. »Das haben unsere Weine wahrhaftig nicht nötig!«
Cozzoli schob Gigi zur Seite und zischte: »Wenn du nicht sofort deine Klappe hältst, verfrachte ich dich eigenhändig in meinen Kofferraum und du kannst den Rest des Abends Fingernägel kauen! Capito?« Dieses Scharmützel war ja wohl nicht zu fassen.
Kurz darauf versammelten sich die wahrhaftigen und werdenden Weinexperten mit einem Glas Rosato unter dem Olivenbaum im Hof. George Lille zeigte keinerlei Interesse an weiteren Provokationen – im Gegenteil. Er hatte sich neben Gigi geschoben und sagte: »Ich würde übrigens gerne noch etwas klarstellen …«
Cozzoli hatte es nicht glauben können, sein Blick war nervös von einem zum anderen gewandert, er wäre bereit gewesen, dazwischenzugehen, doch Gigi hatte brav geantwortet: »Kein Problem. Nach der Degustation?«
Lille hatte genickt und sich in die Nähe von Paola De Vittorio gedrängt. Er blieb an ihrer Seite, während sich die Besucher an die Tische verteilten. Weinhändler Luca Pellegrino schenkte Rosato aus, zeigte das Etikett. Die Seminaristen ließen den Wein in den Gläsern kreisen und hielten mutig, aber mit gebotenem Respekt ihre Nasen hinein.
»Kirsche …«, murmelte der pensionierte Lehrer, »vielleicht auch Himbeere.«
»Johannisbeere«, sinnierte die Frau des Professors.
George Lille hingegen hatte seinen Blick auf Paola De Vittorio geheftet. Er betrachtet sie wie einen guten Wein, dachte Cozzoli amüsiert, vermutlich hätte er sie auch gerne degustiert. Zumindest lachte der Franzose zu laut, als Riccardo Lanzilotto seine Laudatio auf den Rosato von Paola De Vittorio hielt.
»Ein Rosato, wie die junge Frau, die ihn kreierte: klar, frisch, doch mit einem starken Charakter, den man beim Anblick der zarten Farbe vielleicht nicht erwartet …« Er hielt das Glas schräg, und im letzten Licht des Tages funkelte der Wein korallrot. »… aber ihn bereits erahnt, sobald sein ungewöhnlicher Duft aufsteigt.«
Lanzilotto war in seinem Element. »Negroamaro, die Traube dieses Weines, ist seit Jahrhunderten in dieser sonnenverbrannten Erde verwurzelt. Wie auch Paola De Vittorio, eine junge, mutige Frau, die ein großes Erbe angenommen hat. Aber wer ihre Weine kostet, weiß: Die Tradition bedeutender Weine von De Vittorio liegt bei ihr in guten Händen.«
Alle applaudierten, sogar Lille. Riccardo Lanzilotto schaute zufrieden und warf einen verstohlenen Blick zu Claire. Sie nickte unmerklich – verzieh sie ihm damit die Komplimente für Paola oder bedeutete die Geste: George Lille beeindruckt – Mission erfüllt?
»Riccardo, genug der Ehre«, Paola war aufgestanden, sie trug ein lang geschnittenes Jackett zu weißen Jeans, burschikos, lässig, elegant.
»Liebe Freunde und Gäste, natürlich freue ich mich, wenn unsere Weine gerne getrunken werden. Aber sie müssen keine ›großen‹ Weine sein, keine Weine, die jedem schmecken. Wichtig ist, dass sie besonders sind, individuell, und ihre Herkunft nicht verleugnen.«
Das gefiel den frischen Weinexperten, in George Lilles spöttischer Mimik hingegen war deutlich abzulesen, was er von Paolas Konzept hielt: Nichts – so konnte man sich einen mittelmäßigen Wein schönreden.
»Aber es gibt etwas, worauf ich wirklich stolz bin«, fuhr Paola fort. »Jeder in unserer Familie hat der langen Kette unserer Geschichte ein kleines oder großes Glied hinzugefügt. Mein Vater gab unseren Weinen Namen, indem er als Erster auf die Flaschen schrieb, was überhaupt drin war: Negroamaro oder Primitivo vor allem. Kaum noch vorstellbar, aber dafür schämte man sich hier im Salento noch vor wenigen Jahren. Heute verbindet jeder diese Trauben mit Apulien, mit kräftigen, ausgewogenen Weinen voller Sonne.
Inzwischen kann ich den Etiketten unserer Weine noch etwas hinzufügen: bio. Auf unseren Weinfeldern gibt es weder chemischen Dünger noch Pestizide, Insektizide, Fungizide oder was der landwirtschaftliche Chemiebaukasten sonst noch zu bieten hat.«
Cozzoli betrachtete diese junge Frau nun von Nahem und wunderte sich immer mehr. Hatten ihre normannischen Vorfahren auch nach tausend Jahren noch Spuren in den Genen hinterlassen? Da leuchteten blaue Augen, sie hatte lange dunkelblonde Haare, ihre Ausstrahlung war ein wenig herb, zurückhaltend, keine aufgeregten Gesten – unglaublich. Tausend Jahre!
»Dieser Rosato war meine Bio-Wein-Premiere«, Paola hielt eine der Flaschen in der Hand, die gerade ausgeschenkt wurden, und erwähnte nicht einmal den internationalen Preis, mit dem dieser Wein ausgezeichnet worden war.
»Ausschließlich aus biologisch angebauten Trauben und sogar ohne Schwefel gekeltert. Wir haben nur noch wenige Flaschen«, sie machte eine kleine Pause, ein Lächeln flog über ihr Gesicht, und Vorfreude schwang nun in ihrer Stimme, »doch morgen früh, vor Sonnenaufgang, beginnen wir mit der Ernte der Primitivo-Trauben und in etwa zehn Tagen mit dem neuen Negroamaro. Die Trauben sehen großartig aus.«
Während Paola De Vittorio sich von Luca Pellegrino ein Weinglas reichen ließ, traf ihr Blick George Lille. Die junge Herzogin gefällt diesem Schnösel, dachte Cozzoli. Sie gefällt ihm sogar sehr. Verständlich. Aber sie findet ihn abscheulich. Ebenso verständlich.
»Buona sera, Commissario! Wie schön, Sie zu treffen«, eine leise Frauenstimme riss ihn aus seinen Gedanken. Elisabetta, Elenas beste Freundin, stand mit ihrem Mann Stefano neben ihm.
»Sie auch hier?«, fragte Cozzoli spontan und wenig formvollendet.
»Paola hat mich eingeladen, ich kenne sie, seitdem sie so war«, erklärte Elisabetta und hielt ihre Hand neben das Knie. Natürlich, dachte Cozzoli, man kennt sich. Auch Elisabettas Familie hatte tiefe und weitverzweigte salentinische Wurzeln und gehörte, soweit er das beurteilen konnte, zu den wirtschaftlichen Strippenziehern in der Provinz.
»Fragen Sie sich gerade, wer hier heute Abend noch wen ermordet?«
»Oh nein! Ich bitte Sie«, Cozzoli lachte verlegen. Hatte er in Gedanken versunken so ein finsteres Gesicht gemacht?
»Warum hat Gigi Elena nicht mitgebracht? Ich hätte ihr gerne Paola vorgestellt«, fragte Elisabetta. »Vielleicht braucht das Gut professionelle Fotos für die PR. Elena gibt ja gerne die Überzeugungstäterin. Hier kann sie ihre grüne Gesinnung ablichten, und so eine junge, attraktive Winzerin kann sie bestimmt auch ihrer ehemaligen Redaktion verkaufen.«
Typisch Elisabetta, dachte Cozzoli. Sie hatte mal wieder alles im Griff. Die Geburt in eine der