Flip my Heart - Liv Modes - E-Book

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Liv Modes

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Beschreibung

**Tanz die Kür deines Lebens** Die 18-jährige Mel hat nur ein Ziel: eines Tages olympisches Gold im Eiskunstlauf gewinnen. Selbst als sie die Weihnachtsferien mit ihrer Familie in einem noblen Resort verbringt, kann sie an nichts anderes denken als an die bevorstehenden Wettkämpfe. Zumindest bis sie im Foyer auf die faszinierende June trifft, deren unerschütterliches Selbstbewusstsein Mel sofort elektrisiert. Die nächsten Tage sind die beiden unzertrennlich, und Mel fühlt sich so unbeschwert wie nie zuvor in ihrem Leben. Doch dann nimmt ihre Begegnung eine jähe Kehrtwendung. Mel erfährt etwas über Junes Familie, das ihre Chancen auf olympisches Gold für immer zerstören könnte … Eine berührende Geschichte voll von künstlerischem Eiskunstlauf, schweren Entscheidungen und der ersten großen Liebe. Gefühlvoll und einnehmend bis zur letzten Seite! //»Flip my Heart« ist ein in sich abgeschlossener Einzelband.//

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Impress

Die Macht der Gefühle

Impress ist ein Imprint des Carlsen Verlags und publiziert romantische und fantastische Romane für junge Erwachsene.

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Liv Modes

Flip my Heart

**Tanz die Kür deines Lebens**

Die 18-jährige Mel hat nur ein Ziel: eines Tages olympisches Gold im Eiskunstlauf gewinnen. Selbst als sie die Weihnachtsferien mit ihrer Familie in einem noblen Resort verbringt, kann sie an nichts anderes denken als an die bevorstehenden Wettkämpfe. Zumindest bis sie im Foyer auf die faszinierende June trifft, deren unerschütterliches Selbstbewusstsein Mel sofort elektrisiert. Die nächsten Tage sind die beiden unzertrennlich, und Mel fühlt sich so unbeschwert wie nie zuvor in ihrem Leben. Doch dann nimmt ihre Begegnung eine jähe Kehrtwendung. Mel erfährt etwas über Junes Familie, das ihre Chancen auf olympisches Gold für immer zerstören könnte …

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Vita

Danksagung

© privat

Liv Modes wurde 1997 geboren. Nach bestandenem Abitur konvertierte sie vom ländlichen Sachsen nach Berlin und absolvierte eine Ausbildung im Sozialversicherungsbereich, wo sie bis heute arbeitet. Daneben ist sie Mitgründerin des Autor:innen-Netzwerks #BerlinAuthors und hat Social Media Management studiert. Beim Schreiben faszinieren sie vor allem zwischenmenschliche Beziehungen und wie sich diese verändern – und wie lässt sich das besser entdecken als in Liebesgeschichten?

Kapitel 1

Das Eis konnte Geschichten erzählen.

Davon war ich fest überzeugt. Ich glitt über die kalte Fläche und nahm jede kleine Unebenheit war, fühlte jede Vertiefung, die sich unter dem scharfen Metall unserer Kufen gebildet hatte. Lauschte mit jeder Faser meines Körpers der Stimme des Eises.

»Mel!«

Nicks Stimme in meinem Nacken riss mich zurück in die Wirklichkeit. Eigentlich war es nicht viel mehr als ein Raunen gewesen, kaum hörbar durch »Nothing Else Matters« in einer Remix-Version von Metallica und Marlisa Punzalan, zu dem wir unser Programm liefen. Doch es reichte, um mich daran zu erinnern, dass gerade nicht die beste Zeit zum Tagträumen war. Im nächsten Moment entließ Nick mich auch schon aus dem Rückwärtslauf, in dem wir synchron über das Eis geglitten waren, und leitete das letzte Element unserer Choreografie ein. Seine kräftigen Hände legten sich um meine Hüfte und einen Augenblick später befand ich mich in der Luft. Ich streckte mich, soweit ich konnte, spannte jeden Muskel in meinem Körper an und breitete die Arme aus, als wären es Flügel. Ja, so musste es sich anfühlen, fliegen zu können.

Es gab nichts auf der Welt, das sich besser anfühlte.

Viel zu schnell kam ich wieder auf die Füße. Zu den letzten Takten des Songs liefen wir unsere finalen Schritte, bevor wir unsere Abschlussposition einnahmen und darin verharrten, bis die Musik verklungen war.

Ein langsames Klatschen, das von der Bande der hochmodernen Eishalle zu uns herübertönte, erlöste uns aus unserer Anspannung.

»Bravo!«, rief unsere Trainerin Jurenka uns zu. Für den Bruchteil einer Sekunde durchflutete mich die Wärme des Lobs – Jurenka ging sparsam damit um. Dann entdeckte ich jedoch die Falte auf ihrer Stirn, die sich tief genug eingegraben hatte, dass ich sie selbst auf zehn Meter Entfernung gut erkennen konnte. Gleich würde es Ärger geben.

Ich fluchte ungehalten.

Nick blickte halb amüsiert, halb mitfühlend auf mich herunter. Auf seiner tiefbraunen Haut glänzte der Schweiß, seine Wangen glühten und ich wusste, dass ich ebenso erledigt aussah wie er.

»Schlimmer als die Kesselflicker!«, kommentierte er, womit er mir zumindest ein halbherziges Schmunzeln abrang. »Lass das nur Jurenka nicht hören. Sonst wäscht sie nicht nur dir, sondern zur Sicherheit auch mir den Mund mit Seife aus.«

Ich verdrehte die Augen. Jurenka hielt Fluchen für verschwendeten Atem, den man lieber darauf verwendete, es besser zu machen. Und natürlich war ihr auch mein winziger Augenblick der Ablenkung nicht entgangen.

Ich straffte die Schultern, in der Hoffnung, mich dann gewappneter zu fühlen. Leider blieb ich damit erfolglos.

Also setzten wir uns wieder in Bewegung und liefen an den Rand der Eisfläche, wo unsere Trainerin an der Bande lehnte. In ihrer dicken, weißen Jacke und dem Stirnband aus rosa Wolle sah sie aus wie ein glasiertes Marshmallow. Das tat dem autoritären Klang ihrer Stimme jedoch keinen Abbruch. Nicht zum ersten Mal unterdrückte ich den Drang, vor ihr zu salutieren. Leider war ich mir sicher, dass Jurenka das nicht halb so witzig fände wie ich.

Erschöpft ließen Nick und ich uns neben Jurenka gegen die Bande sinken. Meine Wangen glühten von der kalten Luft und der Anstrengung und meine Beine fühlten sich an, als wäre die Eismaschine darüber hinweggerollt. Am liebsten hätte ich mich sofort unter eine heiße Dusche gestellt und mich danach mit Lakritzstangen und einem Film in mein Bett eingekuschelt. Dem im Weg standen allerdings noch Jurenka und ihre berüchtigte Stirnfalte.

»Mel, wirst du wohl einmal deine Gedanken dort behalten können, wo sie hingehören?«, schimpfte die zierliche Russin da auch schon.

»Ich war …«, setzte ich an, bevor mir auffiel, dass es sich um eine rhetorische Frage handelte.

Jurenka schüttelte missbilligend den Kopf. »In einer Wettbewerbssituation hätte ganz allein Nick die Punkte für diese Figur verdient. Ich hoffe, das ist dir bewusst?«

Ich nickte pflichtschuldig. Nick tat unbeteiligt und starrte sehnsüchtig Richtung Hallenausgang.

»Nick war technisch sauber«, fuhr Jurenka fort. »Aber du musst fokussiert bleiben, Mel. Der Kopf ist am Ende das, was entscheidet. Lass dich nicht zu sehr von den Geschichten und Emotionen mitreißen, die ihr darstellen wollt. Sonst verlierst du an Präzision und das kann euch wertvolle Punkte kosten.«

»Es soll sich nur echt anfühlen, nicht echt sein«, murmelte ich ergeben und wiederholte damit eine Lektion, die Jurenka mir einzubläuen versuchte, seit sie uns trainierte. Meistens schaffte ich es, mich daran zu halten. Ich hielt zwar nicht viel davon, dass so subjektive Komponenten wie »Skating Skills« oder »Transitions« Bestandteil der Bewertung waren, aber ich wollte nicht riskieren, dass wir darin Punkte abgezogen bekamen, nur weil ich zu nachlässig war.

Unerwartet glättete sich die Falte auf Jurenkas Stirn und ein warmer Ausdruck trat in ihre Augen. »Ihr könnt stolz auf euch sein. Wenn ihr so weitermacht, habt ihr ausgesprochen gute Chancen beim nächsten Wettkampf!«

Ich hob den Kopf, ein Kribbeln jagte über meine erhitzte Haut. »Weißt du schon etwas Neues wegen der Zulassungen?«

Jurenka musterte mich resigniert. »Wie ein so ungeduldiger Mensch wie du es bis zu den Juniorenweltmeisterschaften gebracht hat, wird mir ein ewiges Rätsel bleiben.«

Nick warf mir einen belustigten Blick zu. »Ich schätze, das heißt dann wohl nein.«

In nur halb gespielter Verzweiflung warf ich die Arme in die Luft. »Wir warten seit Wochen! Ich meine, wir haben alle Voraussetzungen für die Qualifikation erfüllt, langsam müssten die Briefe doch mal kommen!«

»Wie arm sind die, die nicht Geduld besitzen«, deklamierte Nick mit Grabesstimme.

Drei Sekunden lang starrte ich ihn sprachlos an. »Hast du … war das Shakespeare?«

Nick grinste teuflisch. »Othello.«

Ich versetzte ihm einen Klaps gegen den Arm, woraufhin sein Grinsen nur noch breiter wurde. Ich hielt Shakespeare für überbewertet und nicht mehr zeitgemäß. Was an sich nicht weiter erwähnenswert wäre, wenn mein bester Freund es nicht unfassbar witzig finden würde, mir bei jeder Gelegenheit entsprechende Zitate unter die Nase zu reiben.

Jurenka, die unseren kurzen Schlagabtausch mit irritiert zusammengekniffenen Augen belauscht hatte, schüttelte nur den Kopf. Bevor Nick und ich weiter herumalbern konnten, unterbrach sie uns: »Es ist nun mal ein privater Veranstalter. Beschwert euch nicht.«

Nick warf mir einen Blick zu und auch ohne, dass er etwas sagte, wusste ich, was ihm durch den Kopf ging: Nette Umschreibung für eine Handvoll weißer alter Männer, die zu viel Geld haben und deswegen einen Förderverein für Eiskunstlauf gründen, mit dem sie kompensieren können, dass sie selbst nie gut genug waren.

Trotzdem nickten wir brav. Jurenka schien nicht überzeugt von unserem plötzlichen Anflug von Einsicht, beließ es jedoch dabei.

»Ein Letztes noch, bevor ich euch in die Weihnachtspause entlasse: Ich will keinen von euch auf dem Eis sehen. Nutzt die trainingsfreie Zeit für ein paar Stabilisations- und Kräftigungsübungen. Und nur das, ist das klar? «

Es hätte Jurenkas strengen Blick in meine Richtung nicht gebraucht, um zu wissen, dass sich die letzten Worte hauptsächlich an mich richteten.

Ich verzog das Gesicht. Nick formte das Wort »Junkie« mit den Lippen. Bevor ich jedoch etwas Adäquates antworten konnte, fuhr Jurenka mit versöhnlicherer Stimme fort: »Leichtes Cardio-Training ist in Ordnung. Ich weiß, dass du keine drei Tage die Füße stillhalten kannst.«

»Danke«, stieß ich erleichtert aus.

Nick wackelte vielsagend mit den Augenbrauen, was ich geflissentlich ignorierte. Es hätte ohnehin nicht viel gegeben, was ich dem hätte entgegensetzen können – »Pause« war, genauso wie »Geduld«, ein Wort, von dem ich gern so tat, als existierte es gar nicht.

»Mit der Betonung auf leicht«, fügte Jurenka warnend hinzu, als hätte sie meine Gedanken gelesen. »Im Ernst, macht mir nicht den Rovelier. Wir haben zu hart gearbeitet, um jetzt zu …« Sie unterbrach sich, ihre Miene wurde düster. Sie brauchte nicht auszusprechen, was sie dachte, wir wussten auch so, was sie meinte.

Der Unfall.

Mir wurde flau im Magen. Jeder, der sich auch nur im Entferntesten mit Eiskunstlauf beschäftigte, hatte von diesem Unfall gehört. Sogar die ach so seriöse Tageszeitung meiner Eltern hatte darüber berichtet, dass Armand Rovelier, der bis dahin vielversprechendste Einzelläufer Deutschlands, bei einem Trainingsunfall gestürzt und erst nach einer Woche wieder aus dem Koma aufgewacht war.

»Hat jemand von euch in den letzten Tagen mal geschaut, ob es etwas Neues zu seinem Gesundheitszustand gibt?«, fragte ich in die bedrückende Stille hinein.

»Er ist wohl zurzeit in der Reha«, meinte Nick, ohne den üblichen Schalk in der Stimme. »Sein Verein in Stuttgart hat am Wochenende gepostet, dass er im Vollbesitz seiner geistigen Fähigkeiten ist.«

Ich atmete erleichtert auf.

»Wissen sie schon, ob er wieder aufs Eis zurückkommt?«, fragte Jurenka, dann kniff sie den Mund zu einer harten Linie zusammen.

Nick hob ratlos die Schultern. »Es gibt Spekulationen auf Elodys und Milos Blog, aber nichts Konkretes. Es heißt, die Ärzte wüssten im Moment wohl noch nicht einmal, ob Armand überhaupt je wieder gehen können wird. Das Einzige, was bisher offiziell bestätigt wurde, ist, dass sein Vater trotzdem in der Jury beim Wettbewerb sitzen wird.«

Unwillkürlich biss ich mir auf die Unterlippe. Nicht mehr eislaufen zu können, war mein schlimmster Albtraum. Manchmal wachte ich schweißgebadet und mit panisch rasendem Herzen auf, weil ich geträumt hatte, mir wären die Beine abgefallen. Wie schlimm es für Armand und seine Familie sein musste, für die dieser Albtraum jetzt Realität war, konnte ich mir nicht einmal vorstellen.

»Ein Grund mehr, auf euch aufzupassen«, meinte Jurenka ernst.

»Gut zu wissen, dass du uns auf einer Stufe mit dem großen Armand Rovelier siehst«, neckte Nick, wofür er einen Todesblick von unserer Trainerin kassierte, doch ihre Mundwinkel zuckten im Anflug eines Lächelns. Und damit verflog die angespannte Stimmung und nun musste auch ich grinsen. Jurenka hatte die meiste Zeit ihres Lebens in Eishallen verbracht und sie benahm sich gern so, als wäre ihr dabei auch das Herz eingefroren. Doch Nick und ich wussten, dass das nicht stimmte. Und wir wussten auch: Würde Jurenka nicht ernsthaft daran glauben, dass wir es bis ganz an die Spitze schaffen konnten, würde sie ihre Zeit nicht mit uns verschwenden. Sie war selbst eine erfolgreiche Eiskunstläuferin gewesen, bevor sie eine Verletzung zu lange ignoriert hatte und aus gesundheitlichen Gründen in den Trainerstand hatte wechseln müssen. Die Auswahl an jungen Nachwuchstalenten, die geradezu darum bettelte, von ihr zur Schnecke gemacht zu werden, war groß. Aber nein – sie war in unseren Verein gekommen.

»Ich verspreche hiermit feierlich, mich während der Weihnachtspause nicht zu verletzen«, fügte Nick jetzt mit todernster Miene hinzu und hob die Hand zum Schwur. Der besondere Moment wurde leider dadurch zerstört, dass auf der anderen Seite der Halle eine Bandentür aufging und Henning die Eisbearbeitungsmaschine auf die Fläche steuerte.

Jurenka schüttelte missbilligend den Kopf. »Schert euch weg, ihr Nichtsnutze.« Ein Lächeln konnte sie jedoch nicht vollständig unterdrücken. Nick und ich tauschten ein verschwörerisches Grinsen, während wir uns auf den Weg zu den Umkleidekabinen machten.

In der Eingangshalle sahen wir Kian Sommerfeld, mit Vereinsjacke und Sporttasche über der Schulter. Er schien auf dem Weg ins Trainerbüro zu sein. Wir hatten immer zusammen mit ihm und seiner Partnerin Mariella Meitner trainiert. Hätte Mariella nicht vor einem Monat plötzlich hingeschmissen, wären die beiden unsere stärkste Konkurrenz in dieser Saison gewesen (abgesehen natürlich von Elody Petrowa und Milo Tanaka, den Wunderkindern aus München).

»Hey, Kian!«, rief ich in seine Richtung.

Er drehte sich irritiert um, dann entdeckte er uns und winkte kurz. Entschuldigend deutete er auf die Armbanduhr an seinem Handgelenk, offenbar hatte er keine Zeit für einen Plausch, bevor er im Büro der Trainer verschwand.

»Glaubst du, er sucht sich eine neue Partnerin oder hört er auf?«, überlegte ich laut. »Ich meine, er hat damals schon gesagt, dass er nur bis zum Abschluss weitermachen will und jetzt ist er schon seit ein paar Monaten fertig mit der Schule.«

Dass Kians Ambitionen zeitlich begrenzt waren, war für mich der Hauptgrund gewesen, wieso Nick mein neuer Partner geworden war, als er damals in den Verein gekommen war. Ich hatte nach jemandem gesucht, der bereit war, nach den Sternen zu greifen.

Im Moment griff allerdings niemand nach irgendetwas, Nick antwortete mir nicht einmal. Ich warf ihm einen prüfenden Blick zu und ertappte ihn dabei, wie er Kian nachdenklich hinterherschaute. Grinsend verpasste ich ihm einen Stoß in die Seite.

»Pass bloß auf, dass Alena das nicht sieht!«, zog ich ihn auf, was Nick mit einem gutmütigen Schulterzucken quittierte.

»Pass du lieber auf, Nancy. Wenn du wieder so lange unter der Dusche stehst, fährt meine Mutter dieses Mal ohne dich los und du kannst nach Hause laufen.«

Beim Klang des Spitznamens, den er mir verpasst hatte – angelehnt an die großartige Eiskunstläuferin und mein größtes Vorbild: Nancy Kerrigan –, streckte ich ihm die Zunge heraus, doch da hatte Nick die Tür der Herrenumkleide bereits hinter sich zugezogen.

Kopfschüttelnd betrat ich den Umkleideraum der Frauen, den ich heute für mich allein hatte. Es fühlte sich merkwürdig an, die Einzige zu sein. Normalerweise war ich hier immer auf Mariella getroffen, die sich gerade umzog, wenn Nick und ich mit dem Training fertig waren. Aber statt sich mein Haarspray auszuleihen und mir von den Mitgliedern südkoreanischer Boybands zu erzählen, saß sie jetzt in irgendeiner Schule in Seoul. An ihrem Gymnasium gab es dieses Austauschprogramm, bei dem sie wegen zu vieler Bewerbungen anfangs abgelehnt worden war. Als überraschend ein Platz freigeworden war, hatte Mariella nicht gezögert und die Chance ergriffen.

Das war der Punkt, an dem ich ins Straucheln geraten war, als ich mit meinen Freunden beim letzten Filmabend darüber diskutiert hatte. Ich bekam einfach nicht in meinen Kopf, wie jemand, dem sich die Türen zu Olympia hätten öffnen können, einfach alles stehen und liegen lassen und auf einen anderen Kontinent umziehen konnte. Alena hatte mich engstirnig genannt und Nick hatte gefragt, ob mir bewusst sei, dass manche Menschen auch ein Leben außerhalb von Eishallen und Trainingsräumen besaßen. Ich hatte Stofftiere nach ihnen geworfen und als wir unsere Kabbelei beendet hatten, hatten die beiden das Thema des Gesprächs schon wieder vergessen. Seitdem bemühte ich mich, es ihnen gleichzutun. Nur dieser kleine Stich im Herzen, der ließ sich nicht so einfach ignorieren.

Mariellas offensichtliche Abwesenheit versetzte mir diesen Stich jetzt erneut. Sie hatte mir beigebracht, wie man falsche Wimpern aufklebte und ich hatte bei Wettkämpfen immer extraviele Bobby Pins für sie dabeigehabt. Bis zu ihrem Umzug war ich davon ausgegangen, Eiskunstlauf hätte für sie die gleiche Priorität wie für Nick und mich. Wozu sonst opferte man es, gedankenlos ein zweites Stück Kuchen zu essen oder nachmittags nach der Schule ins Kino zu gehen statt zum Training?

Dass ich falsch gelegen hatte, verunsicherte mich. Dabei war Unsicherheit das Letzte, das ich gerade gebrauchen konnte. Also tat ich, was ich gern mit unangenehmen Dingen tat – ich schob sie von mir weg.

Ächzend schälte ich mich aus meinen verschwitzten Klamotten und tapste in den angrenzenden Duschbereich. Kaum spürte ich das Prasseln des Wassers auf meiner Haut, kam ein wohliger Seufzer über meine Lippen. Ich schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Während mir das Wasser über das Gesicht lief, dachte ich noch einmal an das Gefühl, fliegen zu können. Unwillkürlich begann ich zu lächeln.

Mein ganzer Körper tat weh. Meine durchgefrorenen Finger brannten, je mehr sie auftauten, und morgen würde ich mich vor lauter Muskelkater wahrscheinlich kaum rühren können. Aber für mich war es das wert.

***

Natürlich brauchte ich viel zu lang. Witzigerweise war ich genauso schlecht darin, auf die Zeit zu achten, wie ich darin war, geduldig zu sein. Als ich die Umkleidekabine verließ, stand Nick schon davor und tat so, als hätte er jahrelang auf mich warten müssen und nicht nur ein paar Minuten.

Okay, vielleicht waren es ein paar mehr Minuten gewesen, wie ich nach einem kurzen Blick auf mein Handy zerknirscht bemerkte.

»Also – Othello?«, fragte ich schnell, bevor Nick – mal wieder – etwas zu meiner Verspätung sagen konnte. Eine Standpauke am Tag war mehr als genug. Nick musterte mich mit gerunzelter Stirn. »Textlernen mit Alena. Sie hat doch eine Rolle in dem Stück an ihrer Schule bekommen. Ist schon Wochen her.«

»Und sie spielen ›Othello‹?«

Nick nickte. »Eine moderne, nicht rassistische Version davon. Hat sie dir das nicht erzählt?«

Ich verzog das Gesicht. Bestimmt hatte sie das. Aber mein Kurzzeitgedächtnis war nicht besonders zuverlässig, was solche Dinge betraf. »Ich werde es mir ansehen müssen, oder?«

Nicks Grinsen nahm einen schadenfrohen Zug an. Mit einer galanten Geste, die den selbstzufriedenen Ausdruck in seiner Miene Lügen strafte, öffnete er mir die Hallentür.

Es war längst dunkel geworden und die Temperaturen waren gefallen. Das hätte beinahe einen Anflug von Weihnachtsstimmung in mir geweckt – wenn wir uns nicht in Hamburg befunden hätten, wo die Menschen schulterzuckend ihre Gummistiefel anzogen, wenn der Fischmarkt überflutet wurde, aber panisch den Weltuntergang ausriefen, wenn sich das Thermometer auch nur in die Nähe der Null-Grad-Grenze wagte. Unter einer Laterne auf der anderen Seite der Straße parkte einsam und allein der rote Opel von Nicks Mutter, die auf uns wartete. Nick öffnete die Tür zum Beifahrersitz, klappte den Sitz nach vorn und ließ mich auf die Rückbank klettern. Mit einer routinierten Bewegung schob ich die Bilderbücher von Nicks kleiner Schwester Nelli beiseite, die wie immer über die Sitze verstreut lagen, und verstaute meine Sporttasche im Fußraum, bevor ich Nicks Mutter begrüßte.

»Hi, Yaaba! Danke fürs Warten.«

Yaaba Mensah lächelte mir freundlich durch den Rückspiegel zu. »Kein Problem, Mel. Wie war das letzte Training vor den Ferien?«

Während Nick zu erzählen begann – und dabei maßlos übertrieb –, startete Yaaba den Motor und lenkte das Auto in den Feierabendverkehr.

»Ich verstehe. Ihr habt den ersten Platz beim Wettbewerb eigentlich schon sicher, werdet aber ganz bestimmt verlieren, weil Mel eine Tagträumerin ist«, schlussfolgerte Yaaba, nachdem Nick seine Erzählung beendet hatte. Ihre Stimme klang todernst, doch in ihren warmen Augen lag dasselbe verschmitzte Funkeln, das ich auch bei Nick so oft sah, und für das ich Yaaba vom ersten Moment an geliebt hatte.

»Pah«, machte ich. »Wenn wir verlieren, dann, weil Nicks Ego so riesig ist, dass es keine Schlittschuhe in der passenden Größe gibt.« Ich beugte mich vor und pikste meinem besten Freund von hinten in die Seite. Erschrocken quiekte Nick auf, wofür ich ihn auslachte.

Yaaba gab mittlerweile keinen Kommentar zu unseren gegenseitigen Neckereien mehr ab. Nick und ich trainierten seit fünf Jahren zusammen, sie war daran gewöhnt.

»Wehe, du machst das, wenn die Scouts in der Nähe sind!«, drohte er mir jetzt. Ich setzte ein böses Grinsen auf, das er mir keine Sekunde abkaufte.

»Wenn wir unter die Top Drei kommen, lasse ich dich mindestens einen Monat in Ruhe«, versprach ich ihm.

»Und wenn wir gewinnen?«, fragte Nick herausfordernd.

»Dann werdet ihr gar keine Zeit mehr für so etwas haben, weil ihr das Trainingsstipendium bekommt und nie wieder eine Eishalle von außen sehen werdet«, warf Yaaba trocken ein. »Oder wollt ihr euch auf euren Trophäen ausruhen? So als Jung-Stars mit Autogrammstunden …«

»Es waren nur zwei Unterschriften!« Mir schoss die Röte ins Gesicht. Es war mir immer noch peinlich, dass mich zwei Siebtklässlerinnen aus meiner Schule nach der letzten Meisterschaft gebeten hatten, ihre Mathehefte zu signieren.

»Nancy würde niemals zulassen, dass wir uns auch nur eine Sekunde ausruhen«, verkündete Nick und griff sich dramatisch an die Brust. »Sie ist ein Junkie.«

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und gab ein wegwerfendes »Pfff« von mir, allerdings eher aus Prinzip, denn aus Überzeugung. Wir erreichten Altona und ich sah die Elbe am Ende der Straße im Licht der Hafenanlage glitzern.

Yaaba hob belustigt die Augenbrauen und warf mir durch den Rückspiegel einen kurzen Blick zu. »Muss ich mir Sorgen machen, dass du Entzugserscheinungen bekommst?«

»Ich habe den Therapeuten schon auf Kurzwahl gespeichert, nur für den Fall«, spottete Nick. Ich beschloss, ihn einfach zu ignorieren.

»Keine Sorge, ich komme klar. Mein Vater fliegt gleich nach Weihnachten in so ein schickes Sporthotel in der Schweiz, irgendein superwichtiger Deal mit einer Partnerfirma, der unbedingt noch dieses Jahr unter Dach und Fach muss. Mam hat ein schlechtes Gewissen, dass wir die Feiertage nicht als Familie verbringen, und hat versprochen, dass wir zwei ganz viel unternehmen werden.«

Ich gab mir Mühe, es ganz beiläufig klingen zu lassen, so, als wäre es völlig normal für mich, Zeit mit meiner Mutter zu verbringen. Leider glaubte ich mir selbst nicht.

Als wir das Schild passierten, das uns sagte, dass wir uns in Hamburg Othmarschen befanden, breitete sich eine mir wohlbekannte Leere in meiner Brust aus. Ich sehnte mich nach den Tagen zurück, an denen meine Mutter uns Mikrowellenpopcorn gemacht und mir bei einem alten Actionfilm Zöpfe in die Haare geflochten hatte. Als sie noch keine bekannte Anwältin gewesen war und mein Vater unter der Woche in einer anderen Stadt gearbeitet hatte. Bevor wir umgezogen waren und das Wort »Familie« für mich zu einem Wort geworden war, dessen Bedeutung ich im Lexikon nachschlagen musste.

Nick musste gespürt haben, dass seine Mutter gefährlich nah am Abgrund eines unschönen Themas balancierte, denn nun schaltete er sich mit betont beleidigter Stimme ein: »So wie früher, als ihr ganze Tage in diesem kleinen, alten Kino verbracht habt und du nie mit mir Fußball spielen wolltest?«

Damit gelang es ihm tatsächlich, mich zum Lachen zu bringen.

»Genauso. Du hast mich jedes Mal angeschaut, als würde ich Hochverrat begehen.«

Nick schmunzelte bei der Erinnerung an sein zwölfjähriges Ich. »Zu deinem Glück habe ich dir jedes Mal verziehen.«

Als Antwort bohrte ich ihm erneut meine Finger in die Seite, doch dieses Mal war er vorbereitet und wich aus.

***

Schließlich erreichten wir das schicke Hochhaus, in dem ich mit meinen Eltern wohnte. Yaaba hielt auf einem der beiden Parkplätze, die die Schilder als »Reserviert für Familie Hertz« auswiesen. Auf dem anderen parkte Mams Firmenwagen. Das Angeberauto meines Vaters konnte ich nirgendwo entdecken und in mir keimte die Hoffnung auf, mich nach einem schnellen Abendessen in mein Zimmer verkriechen zu können, bevor er nach Hause kam.

Nick stieg aus und klappte seinen Sitz wieder nach vorn. Umständlich kletterte ich aus dem Auto. Dabei verhedderte sich der Gurt meiner Sporttasche in einem der Gurtverschlüsse und ich wäre beinahe vornüber in das Skelett eines Zierstrauchs gepurzelt.

»Warte, ich helfe dir.« Nick beugte sich ins Auto, löste den Tragegurt und schloss dann die Autotür, damit seine Mutter drinnen nicht erfror. Ich musterte währenddessen besorgt meine Sporttasche.

»Hoffentlich hat dein Geschenk nichts abgekriegt.« Vorsichtig zog ich den Reißverschluss auf und tastete in der Tasche nach der Geschenkbox, die ich schon den ganzen Tag mit mir herumtrug. Endlich bekam ich sie zu fassen und zog sie hervor. Sie bestand aus dem grellsten Schweinchenrosa, das ich hatte finden können, und war über und über mit goldenen Krönchen bedruckt.

Nick hob die Augenbrauen. Dann verzog sich sein Gesicht langsam zu einem sehr breiten Grinsen und er zog seinerseits ein kleines Päckchen aus der Tasche seiner Trainingsjacke. Im Licht der Parkplatzbeleuchtung dauerte es einen Augenblick, bis ich erkannte, worin es eingeschlagen war. Dann begann ich so laut zu lachen, dass sich die Passanten auf der anderen Straßenseite irritiert zu uns umdrehten.

»Nikolas Kojo Panyin Mensah, ich bin beeindruckt!«, erklärte ich, nachdem ich mich wieder beruhigt hatte. Überaus selbstzufrieden streckte Nick mir das Päckchen hin. Das Geschenkpapier war dunkelblau, bedruckt mit sonnengelben Bulldozern und stellte damit einen neuen Höhepunkt in Nicks und meinem jährlichen Wer-macht-sich-besser-über-Geschlechterklischees-lustig-Contest dar. Irgendwie mussten wir schließlich kompensieren, dass wir eine der konservativsten Sportarten der Welt ausübten.

»Ich habe der Frau im Laden gesagt, es wäre für meinen kleinen Bruder«, feixte er. Dann wurde seine Stimme unerwartet sanft. »Fröhliche Weihnachten, Nancy. Versprich mir, dass du dich von deinen Eltern nicht zu sehr runterziehen lässt, ja?«

Ich seufzte. »Ich verspreche, dass ich es versuchen werde, okay?«

Nick betrachtete mich einen Moment lang mit gerunzelter Stirn, bevor er beschloss, sich damit zufriedenzugeben. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und umarmte meinen besten Freund.

»Frohe Weihnachten!«, flüsterte ich durch seine kurzen, lockigen Haare in sein Ohr und drückte ihn noch einmal an mich.

Kapitel 2

Ich hörte Nicks Mutter wegfahren, als ich den Eingangsbereich des Hauses betrat. Am Tresen empfing mich, stoisch wie ein Fels in der Brandung, der Nachtportier.

»Guten Abend.«

»Hi, Albert!« Ich winkte ihm zu, das blau-gelbe Päckchen noch in der Hand. Etwas in meiner Brust summte nervös, als ich hinzufügte: »Ist denn heute Post für mich angekommen?«

Alberts Miene verzog sich bei meinen Worten zu einem faltigen Lächeln. Er bückte sich und suchte unter dem Tresen nach etwas. Als er wieder hervorkam, hielt er einen Umschlag in der Hand.

»Nur so ein Brief, von …« Er legte den Kopf schief und tat so, als würde er den Absender eingehend studieren. Dann sah er mich unschuldig an. »Förderverein Deutscher Eiskunstlauf e.V.? Sagt dir das zufällig etwas?«

»Albert!« Ich stieß einen kleinen Schrei aus und riss ihm den Brief beinahe aus der Hand. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Das hellblaue Logo war unverkennbar. Ich starrte darauf, als könnte es verschwinden, wenn ich auch nur blinzelte. Mit unruhigen Fingern begann ich, an der Verschlusslasche des Briefes herumzuknibbeln, gab aber nach ungefähr einer Sekunde auf und riss ihn einfach auf. Dass ich dabei auch eine Ecke des Briefes im Inneren erwischte, ignorierte ich geflissentlich. Als ich das Papier endlich herausziehen konnte, wummerte mein Herz so heftig, als wollte es aus meinem Brustkorb herausspringen.

In meinen Händen hielt ich das Einladungsschreiben zum Wettbewerb. Mit Datum, Startnummer und allem.

»Wir sind dabei!«, flüsterte ich laut, halb ungläubig, halb triumphierend.

»Ich dachte mir, dass dich das freut.« Alberts Lächeln war warm und weich wie Honigmilch. »Ich wollte es dir persönlich geben, deswegen habe ich den Umschlag zurückgehalten, als deine Mutter vorhin die andere Post mitgenommen hat.«

Am liebsten hätte ich den Portier in den Arm genommen, aber ich wusste, dass Albert keine Umarmungen mochte. Also begnügte ich mich mit einem so breiten Lächeln, dass es sich anfühlte, als könnte es einmal um den Mond herumreichen.

»Danke. Ehrlich.«

Der Portier schenkte mir ein Nicken und mit dieser kleinen Bewegung drückte er mehr aus, als ich in Worte hätte fassen können.

Im Aufzug versuchte ich, meinen noch immer rasenden Herzschlag ein wenig zu beruhigen. Natürlich war mir klar gewesen, dass die Zusage sehr wahrscheinlich kommen würde – in meinem Zimmer standen die Trophäen der Deutschen Juniorenmeisterschaften vom letzten und vorletzten Jahr, daneben ein ganzer Ständer voller Medaillen in allen Größen und Farben aus über einem Jahrzehnt Leistungssport. Trotzdem war da immer noch eine Portion Zweifel gewesen, die mich nicht losgelassen hatte, seit Jurenka uns angemeldet hatte. Und jetzt war er da. Der Schlüssel, der uns die Tür zur Weltspitze aufschließen könnte.

Ich fühlte mich wie eine Colaflasche, in die jemand ein Mentos gesteckt hatte. Meine Emotionen sprudelten durcheinander, fühlten sich zu groß, zu viel an für meinen Körper und reichten von »Bitte lass es uns nicht verkacken« über ein wenig hilfreiches »Ohmeingottohmeingottohmeingott!« bis hin zu »Hell, yes, Olympia, ich komme!«.

In einem Anflug von Übermut stellte ich mir vor, wie Nick und ich bei der Winterolympiade in Peking liefen. Ich konnte die Musik fühlen, wie sie durch meinen Körper pulsierte, wie wir jedes Element fehlerlos liefen, das ganze Publikum hielt den Atem an und dann … ein Jubel, so laut, dass er die Musik übertönte und die Stimme der Kommentatorin – in meinem Tagtraum verstand ich, was sie sagte –, die atemlos durch die Halle rief: »Sie hat es geschafft! Sie hat es geschafft! Melanie Hertz steht als erste Deutsche einen dreifachen Axel!«

Mitgerissen von meiner Vorstellung verbeugte ich mich nach allen Seiten. Leider reagierten die Wände des Aufzugs nicht so enthusiastisch wie das Publikum in meinem Kopf.

Ein Knacken ließ mich abrupt auffahren. Es war das Geräusch des Lautsprechers, der mit der Überwachungskamera an der Rezeption verbunden war. Siedend heiß fiel mir ein, dass Albert mich ja sehen konnte.

»Das sah jetzt bestimmt gar nicht lächerlich aus oder so«, murmelte ich vor mich hin.

»Fast gar nicht«, antwortete Alberts belustigte Stimme aus dem Lautsprecher. Mir schoss die Röte in die Wangen.

»Kannst du das nächste Mal bitte weggucken, wenn ich mich in aller Heimlichkeit zum Deppen mache?«, fragte ich, meinte es jedoch nur halb ernst. Der Brief in meiner Hand machte mich viel zu glücklich, als dass ich mir von einer kleinen Peinlichkeit hätte die Laune verderben lassen.

»Bedaure«, sagte Albert mit gespieltem Bedauern. »Wenn ich das tun würde, dann wären meine Nachtschichten nur halb so unterhaltsam.«

Ich konnte das vergnügte Funkeln in seinen Augen beinahe vor mir sehen. Spätestens jetzt hätte ich ihm nicht mehr böse sein können, wenn ich es überhaupt gewesen wäre. Ich drehte mich in die Richtung der Kamera und knickste.

Albert applaudierte, bis der Aufzug mit einem Pling verkündete, die oberste Etage erreicht zu haben.

Das sprudelnde Glücksgefühl in mir hielt an, bis ich die Wohnungstür hinter mir zuzog. Sofort spürte ich, dass etwas nicht stimmte.

Stirnrunzelnd kickte ich meine Winterstiefel von den Füßen und stellte meine Sporttasche in der ungefähren Nähe der Garderobe ab. Das versetzte dem schicken Design unserer Wohnung zwar einen minimalen Dämpfer, aber ich fand es hier drinnen sowieso viel zu leer und zu unpersönlich. Würde ich nicht ab und zu etwas in der Gegend herumliegen lassen, sähe diese Wohnung aus wie ein Anschauungsobjekt für modernminimalistischen Einrichtungsstil und nicht wie zweihundert Quadratmeter, auf denen tatsächlich echte Menschen lebten.

Mein Blick fiel auf die blankgeputzten Oxfords meines Vaters, die so ordentlich nebeneinander unter der Garderobe standen, als wären sie an einem Lineal ausgerichtet worden. Er war also doch zu Hause. Mein Magen zog sich zusammen. Nun sammelte ich doch lieber meine Schuhe auf und stellte sie beiseite.

Auf dem Weg in die Küche erkannte ich schließlich, was nicht stimmte.

Die Musik fehlte.