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Eine tragische Geschichte über einen an Verfolgungswahn leidenden Mann: Als Robert erkennt, dass er psychisch erkrankt und Realität und Phantasie nicht mehr voneinander trennen kann, verlässt er seine Verlobte - aber sucht sich bald eine neue Geliebte. Sein Bruder Otto, ein Arzt, nimmt anfangs Roberts Krankheit nicht ganz ernst, doch als sich der Zustand seines Bruders verschlechtert und er besorgt nach dem Rechten schauen will, wird ihm dies zum Verhängnis...-
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Seitenzahl: 156
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Arthur Schnitzler
Saga
Flucht in die FinsternisCoverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 1912-1917, 2020 Arthur Schnitzler und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726544374
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 2.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.
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– a part of Egmont www.egmont.com
Es klopfte ; der Sektionsrat erwachte, und auf sein unwillkürliches „Herein” erschien ohne weiteres der Kellner mit dem regelmässig für acht Uhr bestellten Frühstück in der Tür. Roberts erster Gedanke war, dass er gestern abend nun doch wieder vergessen hätte, die Tür zu versperren; aber er hatte kaum Zeit, einer Verstimmung über dieses neuerliche Zeichen von Zerstreutheit nachzugeben, da seine Aufmerksamkeit sofort durch die auf der Frühstückstasse neben Tee, Butter und Honig bereitliegenden Briefschaften in Anspruch genommen wurde. Unter anderen, gleichgültigeren fand er ein Schreiben seines Bruders vor, in dem dieser seiner Freude über das nahe bevorstehende Wiedersehen Ausdruck gab und nach Mitteilung unwesentlicher Familienneuigkeiten mit einer nicht unabsichtlichen Beiläufigkeit seiner kürzlich erfolgten Ernennung zum ausserordentlichen Professor Erwähnung tat. Robert setzte eine herzliche Glückwunschdepesche auf und liess sie ohne Verzug zum Amt befördern. Wenn auch Berufspflichten und andere Lebensumstände den persönlichen Verkehr zwischen den Brüdern oft für Tage und Wochen zu unterbrechen pflegten, es kam doch immer wieder ein Ereignis, das — oft gerade in seiner Geringfügigkeit — sie beide ihre Zusammengehörigkeit als unzweifelhaft und unauflöslich empfinden liess. Dem jüngeren Bruder zumal wollten bei solchen Gelegenheiten alle anderen abgelaufenen und noch bestehenden Beziehungen seines Lebens, sogar seine frühe Ehe mit einer trefflichen, nun längst verstorbenen Frau, als solche von geringerem Rang erscheinen, und immer mehr glaubte er das Verhältnis von Bruder zu Bruder nicht nur für sich als den besten und reinsten Gewinn seines Daseins, sondern auch im allgemeineren Sinne als das einzige von natürlich gesicherter Beständigkeit zu erkennen; sicherer als das zu den Eltern, die man allzu früh in Alter und Tod entschwinden sieht, fester als das zu den Kindern, die man, wie Robert freilich für seine Person niemals erfahren hatte, wenn nicht an andere Menschen, so doch an ihre eigene Jugend zu verlieren bestimmt ist; vor allem aber blieb es jederzeit frei von jenen Trübungen, die, unerwartet aus dunklen Seelengründen aufsteigend, über die Beziehungen zwischen Mann und Weib wolkenhaft heraufzuziehen pflegen.
So nahm Robert des Bruders Brief, der gerade heute, am Tage seiner Abreise, anlangte, wie ein günstiges Vorzeichen entgegen und fühlte sich in seinen Hoffnungen für die Zukunft, in die er nach einer unruhvollen Zeit wie in eine neue Epoche seines Daseins sollte, wunderbar gestärkt.
Die Sonne stand schon ziemlich hoch, als Robert fertig gepackt hatte und sein Zimmer verliess. Es war die Stunde, da die meisten Gäste sich im Bad oder auf Spaziergängen befanden und es grade im näheren Umkreis des Hotels am stillsten war. Robert trat auf den breiten steinernen, weit ins Wasser laufenden Landungssteg, an den gelehnt der kleine helle Dampfer seine Mittagsrast hielt, blickte zu den wenigen, fast unbeweglichen, weissen, gelben und rötlichen Segeln hin, die im Kanal erglänzten, und liess seine Augen endlich nordwärts gleiten, wo die Enge, allmählich sich verbreiternd, das offene Meer ahnen liess. Er nahm den Hut ab, um sich die Sonne grade auf den Scheitel brennen zu lassen, atmete tief mit geöffneten Lippen, um den Salzgeschmack auf der Zunge zu spüren, und freute sich der linden Luft, die auf dieser südlichen Insel auch an solchen Spätoktobertagen oft noch mit sommerlicher Wärme schmeichelte. Allmählich kam ihm das Gefühl, als wäre der Moment, den er eben durchlebte, in Wirklichkeit längst vergangen und er selbst, so wie er eben dastand — auf dem Landungssteg, den Hut in der Hand, mit geöffneten Lippen —, ein verschwimmendes Bild seiner eigenen Erinnerung. Er hätte gewünscht, dieses Gefühl, das ihn keineswegs zum erstenmal und durchaus nicht als ein unheimliches, sondern eher als ein erlösendes überkam, länger festhalten zu können; aber mit dem Wunsche selbst war es auch geschwunden. Und nun war ihm, als hätte er mit der Gegenwart sich entzweit; Himmel, Meer und Luft waren fremd, kühl und fern geworden, und ein blühender Augenblick welkte dürftig dahin.
Robert verliess den Steg und beschritt einen der schmalen, wenig begangenen Pfade, die unter Kiefern und Steineichen, zwischen wildwachsendem Gestrüpp, ins Innere der Insel führten. Doch auch die Landschaft schien ihm duftlos, trocken und ihres gewohnten Reizes wie entkleidet. Er freute sich jetzt, dass die Stunde der Abreise nahe war, und in seiner Seele tauchten höchst lebendige Bilder von winterlich-städtischen Vergnügungen auf, nach denen ihn schon lange nicht mehr verlangt hatte. Er sah sich im Theater, auf einem bequemen Samtsessel, der Betrachtung eines heiteren Bühnenspiels hingegeben, sah sich durch hellbeleuchtete, menschenerfüllte Strassen wandeln, zwischen lockenden Auslagefenstern mit köstlichen Juwelen und Lederwaren; und endlich erschien ihm seine eigene Gestalt, ein wenig aufgefrischt und verjüngt, im stillen Winkel eines behaglich-vornehmen Restaurants an der Seite eines weiblichen Wesens, dem seine Phantasie unwillkürlich Albertens anmutige Züge verlieh. Zum erstenmal seit der Trennung dachte er ihrer mit einiger Wehmut; er fragte sich, ob es sonderlich klug gewesen war, sie widerstandslos dem jungen Amerikaner zu überlassen, dessen sie, der gefährlichen Nähe entrückt, nach wenigen Tagen gewiss nicht mehr gedacht hätte, und er überlegte, ob es in jenem abendlichen Waldgespräch am Vierwaldstätter See nicht vielmehr seine Pflicht gewesen wäre, die Freundin zu warnen — statt ihr zur Annahme eines Heiratsantrages zu raten, der, trotz aller leidenschaftlichen Bestimmtheit, als Ergebnis einer Bekanntschaft von nur wenigen Tagen doch einigermassen verdächtig erschien. Freilich täuschte sich Robert auch darüber nicht, dass sein augenblickliches Missbehagen viel weniger aus solchen verspäteten Gewissenszweifeln als aus der dankbaren und nun beinahe schmerzlich erwachenden Erinnerung seiner Sinne floss.
Verspätet ins Hotel zurückgekehrt, nahm er sein Mittagessen wie immer allein an einem der breiten Saalfenster mit dem Blick aufs Meer. Nachher verabschiedete er sich höflich von einigen Badebekanntschaften und liess sich endlich für eine kurze Weile am Tisch der Damen Rolf nieder, die auf der Uferterrasse ihren Nachmittagskaffee tranken. Fräulein Paula, der Robert während seines Aufenthalts auf der Insel keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt hatte, wie ihm überhaupt der Verkehr mit unverheirateten Damen aus guter Familie wenig zusagte, betrachtete ihn heute mit einer Teilnahme, die ihn nachdenklich stimmte. Als er zum Abschied nicht nur der noch immer schönen, etwas hoheitsvollen Mutter, sondern, gegen seine Gewohnheit, auch der Tochter die Hand küsste, fühlte er auf seiner Stirn den warmen Glanz eines freundschaftlich-nahen Blickes ruhen, der gleichsam dunkler wurde, als ihm Roberts Augen begegneten.
Er begab sich ins Klavierzimmer, griff ein paar Akkorde auf dem verstimmten Flügel, verliess aber bald wieder den Raum, hinter dessen herabgelassenen Vorhängen der schwüle Nachmittag dunstete; und auf dem weissen, strahlenden Uferkies hin und her wandelnd, empfand er peinlich die unergründliche Leere jener nutzlosen Stunden vor einer festgesetzten Abreise. Daher entschied er sich, statt abends mit dem regelmässigen Dampfer, lieber gleich mit einem der kleinen Motorboote, noch im vollen Licht, die kurze Strecke übers Meer zu fahren, und wanderte bis kurz vor Abgang des Zuges in den winklighügeligen Strassen der Hafenstadt umher, deren Altertümer zu besichtigen er sich täglich vorgenommen hatte, um es ebensooft und endlich bis zur letzten Stunde aufzuschieben. Als er auf den obersten verwitterten Stufen der Arena stand, vom entweichenden Tagesschein umflossen, stieg, gleich einer dunklen Mahnung, aus der Tiefe des ungeheuren Kreises der Abend zu ihm empor.
Als der Zug den Bahnhof verliess, verweilte Robert am Fenster seines Abteils und nahm ohne Rührung von der gegenüber im blassrötlichen Grau verdämmernden Insel und vom Meere Abschied, auf dessen fernsten Wellen ein violetter Nachglanz der versunkenen Sonne schwamm. Zwischen ärmlichen Weinbergen keuchte der Zug langsam aufwärts, dem Karstland entgegen, und fuhr bald durch einen langen Tunnel in die abendliche Felsenlandschaft ein, deren Horizont nur die Ahnung, aber nicht mehr das Bild der See in sich fasste. Nun erst streckte sich Robert, den das Umherwandern in den unebenen und schlecht gepflasterten Strassen der alten Hafenstadt ermüdet hatte, auf sein Lager hin und suchte im Herzen nach dem frohen Vorgefühl, das ihn noch heute morgen während seines Spazierganges bewegt und beinahe beglückt hatte. Aber was er fand, war nicht Freude mehr, sondern eine sonderbare Bangigkeit, als fahre er einer bedeutungsvollen, ernsten Entscheidung entgegen. Kündigte die Nähe der Heimat in so unerwünschter Weise sich an? Sollte es ihm bestimmt sein, ebenso bedrückt, wie er fortgereist war, wieder heimzukehren, und brach nun nach manchen guten und freien Stimmungen der letzten Monate jenes Unbegreifliche, kaum in Gedanken, nimmer in Worte zu Fassende über ihn herein, das dunkel drohend noch Schlimmeres anzumelden schien?
Hatten die Ärzte sich geirrt oder ihn mit Absicht getäuscht, die von einer sechsmonatigen zerstreuenden Reise vollkommene Genesung für ihn zu erwarten behaupteten? Doktor Leinbach, sein Freund aus Jugendtagen, war freilich immer geneigt, Beschwerden, die man ihm klagte, leicht zu nehmen, und es konnte kaum als sehr beruhigend gelten, dass er alle irgendeinmal schon am eigenen Leib verspürt haben wollte. Aber dass auch Otto, wenn er ihn für ernstlich krank gehalten, die Verantwortung auf sich genommen hätte, den einzigen Bruder für ein halbes Jahr, ohne jede Begleitung, in die Welt hinauszuschicken, das war in keinem Fall anzunehmen. Zugleich aber musste Robert sich fragen, und nicht zum erstenmal, ob er sich dem Bruder auch ohne Rückhalt aufgeschlossen und nicht vielmehr in sonderbarer Scheu noch in der letzten Unterredung ihm gegenüber seinen Zustand als harmloser dargestellt, als er selbst ihn empfunden hatte, in der unbewussten Hoffnung, auf diese Art ein gelinderes Urteil zu erfahren?
Urteil: dies war das Wort, das sich ihm innerlich aufdrängte; und es was das richtige. Denn von Jugend auf hatte er sich dem älteren Bruder gegenüber bei äusserlich glänzenderen Eigenschaften als einen Menschen von geringerem Wert erkannt, und er verhehlte sich nicht, dass sein eigener bürgerlicher Wandel von Otto zwar mit Nachsicht, oft aber mit Ungeduld und Unmut betrachtet wurde. Und Robert begriff das sehr gut. Ottos pflichtenschweres Dasein, der Ernst seines Berufes, bei dessen Übung es um so wesentliche Dinge wie um Leben und Gesundheit ging, sein sicheres und zugleich opfervolles Ruhen in der Familie, all das stellte sich für Robert in so hehrem Lichte dar, dass ihm dagegen seine eigene Existenz, wenn sie auch in den Rahmen eines Amts gespannt war, oft genug wie ohne rechte Würde und ohne tieferen Sinn erschien.
Von seinem Bruder als ein Genesener, ja als ein Gebesserter vielleicht, mit Herzlichkeit begrüsst zu werden, dünkte ihn das Beste, was die Heimat zum Empfang ihm bieten konnte. Und dass die freudige Erwartung eines guten Wiedersehens sich allmählich in eine immer unruhevollere Bangigkeit gewandelt hatte, das musste verborgene Ursachen haben, denen Robert zögernd, aber widerstandslos nachgrübelte. Und er fühlte, wie aus den Gründen seiner Seele dumpf, doch unverscheuchbar, eine Erinnerung emportauchte, als wollte sie sich nicht länger in ihrem jahrelangen trügerischen Schlummer halten lassen; ein Wort fing an in ihm zu klingen, das sich vorerst seinen eigenen Sinn nicht einzugestehen wagte; und mit Absicht flüsterte er dieses Wort einmal, zehnmal vor sich hin, als vermöchte er es auf diese Weise seiner Bedeutung wie seiner Kraft zu berauben. Und wirklich begann es allmählich leerer und nichtiger zu werden, war am Ende nichts als ein zufälliges Nacheinander von Buchstaben, willkürlich aneinandergereiht, nicht sinnvoller als unter dem heimrasenden Zug das Singen der Räder mit dem es sich vermischte und in dem es sich endlich für den mählich Entschlummernden völlig verlor.
Als Robert in strömendem Regen am Bahnhof in den Wagen stieg, gab er dem Kutscher zuerst die Adresse seiner früheren Wohnung, die er vor der Abreise aufgegeben hatte; dann erst, sich besinnend, nannte er den Namen des alten Gasthofes, in dem er Quartier bestellt hatte. Hinter einer Kirche, zwischen hohen, düsteren Häusern der inneren Stadt gelegen, bot er nicht den freundlich-festlichen Anblick dar, mit dem neuentstandene den Anlangenden willkommen zu heissen pflegen; Robert aber hatte grade diesen gewählt, nicht nur, weil seine Geldmittel, wenn auch noch leidlich zusammengehalten, ihm einen längeren Aufenthalt in einer der moderneren Fremdenherbergen nicht gestatteten, sondern auch, weil er grade hier in einem Zimmer des vierten Stockwerks vor vielen Jahren in Gesellschaft eines längst verstorbenen Freundes, dessen Geliebte hier wohnte, manche fröhliche Stunde verbracht hatte. In seiner Erinnerung hatte er das Bild des Gasthofes sonderbarerweise wie das eines kleinen, alten Palastes aufbewahrt und suchte nun vergeblich nach den Spuren verblichener Pracht, die damals eine solche Täuschung hervorgerufen oder begünstigt haben mochten. Weder gab es die kunstreichen Zierate an dem eisernen Treppengeländer, noch waren an den Flurdecken die barocken Reliefs zu sehen, die er zu finden erwartet hatte; und der Stiegenteppich, schmal und zerschlissen, schimmerte in einem verblassten und ärmlichen Purpurrot. Doch das Zimmer, das man ihm anwies, hochgewölbt, mit zwei breiten Fenstern, behaglich eingerichtet und mit dem Ausblick auf die grünpatinierte Kirchenkuppel, versöhnte ihn mit dem trübseligen ersten Eindruck. Er liess sein Gepäck heraufschaffen und machte sich sofort daran, mit Hilfe einiger Kleinigkeiten aus eigenem Besitz, die er auch auf Reisen stets mit sich zu führen pflegte, wie Briefmappe, Papiermesser, Aschenschale und dergleichen, dem Gasthofzimmer einen leisen Schein von Häuslichkeit zu verleihen. Nachher begab er sich in das Badezimmer, dem wohl anzumerken war, dass es nur nach der widerwillig anerkannten Forderung einer neuen Zeit aus irgendeinem unbenützten Bodenraum für seine jetzige Bestimmung umgewandelt worden war. Eine gelbliche, in die Decke eingelassene Lampe verbreitete spärliches Licht in dem fensterlosen Raum, und durch den länglichen Spiegel, der in einem glatten, alten Goldrahmen an der Wand hing, ging ein Sprung von unten bis oben. Seiner Gewohnheit nach blieb Robert ziemlich lange im Bad, dann, den rauhen, weissen Mantel um die Schulter geschlagen, trat er vor den Spiegel hin und fand sein bartloses, schmales Gesicht recht frisch, ja sogar für seine dreiundvierzig Jahre von ziemlich jugendlichem Aussehen. Schon wollte er sich befriedigt abwenden, als aus dem trüben Glas in rätselhafter Weise ein fremdes Auge ihn anzublicken schien. Er beugte sich vor und glaubte zu bemerken, dass das linke Lid tiefer herabsinke als das rechte. Er erschrak ein wenig, prüfte mit den Fingern nach, zwinkerte, presste die Lider fest aneinander und öffnete sie wieder — doch der Unterschied gegenüber der rechten Seite blieb bestehen. Er kleidete sich rasch an, trat vor den grossen Wandspiegel zwischen den beiden Fenstern, öffnete die Lider, so weit er vermochte, und musste feststellen, dass das linke Lid seinem Willen nicht so rasch gehorchte wie das rechte. Doch das Auge selbst blickte klar, die Pupille antwortete dem Lichtreiz ohne Zögern; und da Robert sich überdies erinnerte, dass er die Nacht hindurch auf der linken Seite gelegen hatte, schien immerhin eine genügende Erklärung für die Schwäche des Lids gegeben. Trotzdem nahm sich Robert vor, morgen Doktor Leinbach oder Otto zu Rate zu ziehen oder, lieber noch, es darauf ankommen zu lassen, ob sein Bruder die Ungleichheit der Lider von selbst entdecken würde. Zugleich aber fühlte er diesen Vorsatz wie von einer unbestimmten Angst durchzittert, ungefähr so, als wenn er etwas Unrechtes begangen hätte und zumindest eines Verweises, wenn nicht gar einer Strafe gewärtig sein müsste. Zuerst wehrte er sich dagegen, diese Regung zu verstehen; dann streckte er beide Arme aus, wie um einen nahenden Feind abzuwehren, entfernte sich von seinem Spiegelbild und trat zum Fenster hin, an das die schweren Regentropfen klatschten. Sein Blick fiel auf die Marmorstatue des heiligen Christophorus, die gegenüber in einer Mauernische der Kirche stand, gradeso wie vor zwanzig Jahren. Nun erst merkte er, dass er sich in demselben Zimmer befand, das die Geliebte seines Freundes Höhnburg vor so vielen Jahren bewohnt hatte; nur die Möbel waren neu, und statt der schweren dunkelroten Plüschportieren fiel von der Messingstange des Alkovens in leichten Falten ein lichter, geblümter Kretonnevorhang herab, der zu der Farbe der neuen Tapete abgestimmt war. Sollte er diese Veränderung ins Helle, Freundliche als günstige Vorbedeutung ansehen? Er versuchte es vergebens. Denn mit grausamer Deutlichkeit stieg vor Roberts Sinnen der längst vergangene Frühlingsabend wieder auf, an dem nicht nur des Freundes, sondern — wie er tief erschauernd fühlte — vielleicht schon sein eigenes Schicksal geheimnisvoll sich angekündigt hatte. Und er erlebte ihn wieder.
Mit seinem Bruder Otto, dem Leutnant Höhnburg und anderen guten Bekannten war er nach einem Wettrennen in der Freudenau in einem menschenüberfüllten Pratergarten eingekehrt. Höhnburg war unter ihnen allen der Lauteste und Lustigste gewesen, noch lauter und übermütiger, als er sonst zu sein pflegte, und es war nicht sonderlich aufgefallen, als er dem Kellner ein Trinkgeld in ungewöhnlicher Höhe überreichte. Auf dem Heimweg aber hatte Otto den Bruder beiseitegenommen und ihm anvertraut, dass ihr gemeinsamer Freund Höhnburg — was die andern noch nicht ahnten, er selbst als Arzt aber seit etlichen Tagen mit Bestimmtheit wusste — unheilbarem Wahnsinn verfallen sei und in spätestens drei Jahren unter der Erde liegen werde. Robert lehnte sich zuerst gegen die Zumutung auf, in dem jungen Kavallerieoffizier, der ein solches Bild ungetrübter, ja gesteigerter Gesundheit bot und der zudem sein Freund war, einen Gezeichneten, einen Verurteilten zu erblicken. Als er sich aber endlich den Fachkenntnissen seines Bruders gegenüber bescheiden musste, begann ihm Wesen und Benehmen, ja die ganze Erscheinung seines Freundes unheimlich und immer unheimlicher zu werden; er vermied es, das Wort an ihn zu richten, ja hatte geradezu Angst, dass jener sich wieder zu ihm wenden und vielleicht den Arm unter den seinen schieben würde, und ohne Abschied verschwand er aus der Gesellschaft. Schon wenige Tage darauf erlitt Höhnburg einen Tobsuchtsanfall und musste einer Anstalt übergeben werden.
Bei der nächsten Begegnung mit Otto, ohne vorherige Absicht, wie einer ganz plötzlichen, unwiderstehlichen Eingebung folgend, stellte Robert die Forderung an den Bruder, dieser möge, wenn er irgendeinmal, sei es morgen oder in ferner Zukunft, die Vorzeichen einer Geisteskrankheit an ihm entdecke, ihn ohne weiteres auf rasche und schmerzlose Weise, wie sie dem Arzte ja immer zu Gebote stünde, vom Leben zum Tode befördern. Otto verspottete ihn zuerst als unverbesserlichen Hypochonder, Robert aber gab nicht nach und erklärte, dass brüderliche Liebe einen solchen Dienst nie und nimmer verweigern dürfe, da ja in jedem andern Fall der Kranke selbst nach Belieben seinen Leiden ein Ende machen könnte, während eine Geistesstörung den Menschen zum willenlosen Sklaven des Schicksals erniedere. Otto brach unmutig das Gespräch ab. Im Laufe der nächsten Wochen aber kam Robert mit solcher Beharrlichkeit immer wieder auf seine Forderung zurück, unterstützte sie mit so ruhig vorgebrachten und eigentlich unwidersprechlichen Gründen, dass Otto, um nur das unleidliche Geschwätz endlich loszuwerden, sich das erbetene Wort entreissen liess. Doch auch damit gab Robert sich noch nicht zufrieden; er schrieb an seinen Bruder einen Brief, darin er ihm trocken, gradezu geschäftsmässig, den Empfang jenes Versprechens bestätigte und ihm überdies riet, diese Bestätigung sorgfältig aufzubewahren, um sich vielleicht später einmal Anklägern oder Zweiflern gegenüber mit der unwiderleglichen Rechtfertigung einer notwendigen Tat ausweisen zu können.