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Köln im Jahr 2049. Längst herrschen neue Gesetze in der Stadt am Rhein. Den Kölner Dom gibt es zwar noch - und doch ist alles anders. Nur wenige Auserwählte wie Anton und Milena haben das Glück, in einem der Dom-Türme zu leben - und doch schweben sie in Lebensgefahr. Denn wer auserwählt ist, wird unerbittlich gejagt. Eine Bande ist Anton und Milena im Auftrag der Stadt auf den Fersen, in einem Spiel um Macht, Liebe und den Erhalt eines der letzten großen Bauwerke der Menschheit. Ein packender Zukunftsroman!
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Seitenzahl: 239
Christoph Schmitz, geboren 1961, studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Literatur. Nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Brasilien war er u. a. Journalist beim ARD-Hörfunk und Redakteur beim Spiegel. Heute ist er Kulturredakteur und Moderator beim Deutschlandradio in Köln und hat bereits mehrere Bücher veröffentlicht. Flüchten und Fliegen ist sein erster Jugendroman.
Christoph Schmitz
FLÜCHTEN
UND
FLIEGEN
Roman
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Originalausgabe
Copyright © 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln
Abdruck der historischen Abbildungen im Vor- und Nachsatz mit freundlicher Genehmigung der Dombauhütte am Metropolitankapitel der Hohen Domkirche Köln. Bildnachweis am Ende des Buches.
Einbandgestaltung: Johannes Wiebel, punchdesign, München
Einbandmotiv: © Johannes Wiebel, punchdesign, München unter Verwendung von Motiven von iStock/hsvrs; shutterstock/ssguy; shutterstock/diversepixel
E-Book-Produktion: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-732-50689-7
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für Steffi, Enza, Clara und Golda
Köln im Jahr 2049. Längst herrschen neue Gesetze in der alten Stadt am Rhein. Den Kölner Dom gibt es zwar noch und auch die mittelalterlichen Straßennamen der Altstadt, und doch ist alles anders. Nur ein paar wenige Auserwählte wissen noch um die Schätze aus vergangenen Zeiten. Doch bald könnten auch diese Erinnerungen für immer ausgelöscht sein. Denn wer auserwählt ist, wird unerbittlich gejagt.
Anton Wiemer rannte, so schnell er konnte. Auch wenn ihn seine Schritte auf dem Asphalt verraten würden. Bisher hatte er Glück gehabt.
Zweimal waren seine Verfolger an ihm vorbeigelaufen. Er hatte sich in einem der Hauseingänge verkrochen. Jetzt musste er flüchten.
Der Boden war nass. Am frühen Morgen hatte es heftig geregnet. Kühl war es plötzlich geworden, obwohl noch Sommer war. Dauernd wechselten die Temperaturen. Die Schulferien waren vorbei, der erste Schultag stand bevor, heute, Donnerstag, der 12. August 2049.
Anton hörte die Stimmen seiner Verfolger, sie waren ihm dicht auf den Fersen. Gleich würden sie aus den Seitengassen strömen und ihn entdecken. Die Sohlen seiner Sportschuhe klatschten über das harte Kopfsteinpflaster. Seine angewinkelten Arme durchschnitten die Luft wie zwei mechanische Messer auf Hochtouren. Er legte den besten Sprint seines Lebens hin. Obwohl seine Lunge schmerzte, wie mit Nadeln stach es ihm in er Brust. Aber er durfte nicht langsamer werden, denn jetzt hörte er ihren Aufschrei. Sie hatten ihn entdeckt!
Anton rannte über den Quatermarkt, durch die Obenmarspforten, die Budengasse, in die Goldschmied. Er drehte sich um. Gut zehn oder zwölf setzten ihm nach, Jungen und Mädchen, in seinem Alter. Er kannte niemanden. Warum waren sie hinter ihm her?
Schrilles Bremsen und Hupen! Anton sprang hoch und landete auf dem Glasdach eines Citycoopers. Das Gesicht unter der Scheibe schimpfte. Anton rutschte herunter und rettete sich auf den weiten Roncalliplatz am Dom, der riesig vor ihm aufragte. Noch wenige Meter und er hatte den Südturm erreicht und konnte sich in Sicherheit bringen. Dort, wo er jetzt wohnte. Wo er gestern Abend eingezogen war, zusammen mit seinen Eltern.
Vor Sonnenaufgang war Anton heute früh aufgewacht und zum ersten Mal nach draußen gegangen, um die Gegend zu erkunden. Etwas Neues würde beginnen. Er hatte es nicht gewollt. Im Nieselregen war er durch die leeren Einkaufsstraßen geschlendert, zum Rhein und durch die Gassen um die Konzerthalle Groß Sankt Martin. Trotz des schlechten Wetters hatte ihm alles ganz gut gefallen, bis er spürte, dass er beobachtet wurde, von immer mehr Seiten, von immer mehr Augen.
Jetzt hatte er das rettende Domportal fast erreicht. Doch da krallte sich eine Hand von hinten in sein Hemd und riss ihn zu Boden.
»Halt ihn fest!«, zischte eine Stimme.
»Setz dich auf ihn!«, eine zweite.
»Ich hab ihn!«, eine dritte, eine Mädchenstimme.
Das Mädchen presste Antons Schultern auf die Platten. Der blonde Zopf, festgezurrt am Hinterkopf, zappelte durch die Luft. Ein Rothaariger zerrte an Antons Armen. Ein Dunkelhaariger warf sich mit seinem Übergewicht auf Antons Oberkörper und versuchte ihm das aufgerollte Kletterseil zu entreißen, das Anton aus Gewohnheit mit einer Schlaufe am Gürtel befestigt immer bei sich trug. Doch Anton ergab sich nicht. Er bäumte sich auf. Mit gebündelter Kraft schleuderte er seine Beine nach oben, schrie und schlug und trat um sich, dem Zopfmädchen in den Hintern, dem Rotschopf in den Bauch, dem Dicken ins Gesicht, mit der Faust, dass es klatschte. Anton kam frei und stürzte mit einem roten Haarbüschel in der Hand die Stufen zum Dom hinauf, kramte den Schlüssel aus der Hosentasche, stürmte in den gläsernen Vorraum, schloss die kleine Pforte zum Südturm auf, schlüpfte in letzter Sekunde durch den Türspalt ins Treppenhaus und schob von innen den Riegel vor. Geschafft! Mit dem Rücken an der Steinwand glitt er zu Boden und ließ das rote Haarbüschel durch die Luft rieseln. Flüche und Tritte traktierten von außen die Tür.
»Idioten!«, schrie Anton.
»Wir kriegen dich!«, schrie das Zopfmädchen zurück. Anton erkannte es an der kehligen Stimme.
»Aber jetzt nicht«, murmelte er.
Er roch das alte Holz und sog die kühle Luft so gierig ein, als wollte er sie trinken. Schweiß perlte über sein Gesicht, der Puls schlug ihm bis in die Lippen, seine Beinmuskulatur zitterte, und auf den Schürfwunden an seinen Händen und Ellbogen bildete sich ein klebriger Film aus wässeriger Flüssigkeit, Blutschlieren und Schmutz. Alles tat ihm weh. Dann krempelte er sich die Jeans hoch übers Knie: Schürfwunden und blaue Flecken auch dort. Der Baumwollstoff war kein richtiger Schutz. Seine Verfolger hatten es besser, dachte Anton. Sie trugen Hosen und langärmelige T-Shirts aus dichten Hightechfasern, die alles Mögliche abhielten, Hitze, Kälte, Regen. Und sie schützten vor Schürfungen, wie Bikeranzüge, aber Antons Tritte und Schläge hatten sie kaum gedämpft. Stoßfest war das Kunstgewebe nicht. Trotzdem sehr teuer. Seine Eltern hatten ihm noch nie solche Sachen gekauft.
Hinter der Tür war es plötzlich still geworden. Erst als Anton das kurze Knirschen im Schloss hörte, wusste er, was passiert war. Die Bande war in den Besitz seines Schlüssels gekommen. Er hatte ihn außen stecken lassen!
»Jetzt haben wir dich doch, Locke!«, jubilierte eine Jungenstimme, die nach dem Rotschopf klang, ziemlich rau, als würde er viel schreien. Aber warum nannte er ihn Locke, dachte Anton. Er hatte doch gar keine Locken. Nur welliges Haar, füllig, lang und braun.
Ein Schlag gegen die Klinke. Anton musste sich etwas einfallen lassen. Sobald die Tür von innen einmal nicht verriegelt war, würden seine Feinde jederzeit zu ihm in den Turm gelangen können. Entweder musste er seinen Schlüssel wiederbekommen oder dafür sorgen, dass ein neues Schloss eingebaut würde. Er machte sich an den Aufstieg. 533 Stufen. Er hatte sie beim Abstieg in der Früh gezählt. Langsam trottete er die enge, steinerne Wendeltreppe nach oben.
97 Meter über der Erde! Der Blick von der Aussichtsplattform des Südturms auf die Stadt war schwindelerregend! Die Wolkendecke war an einigen Stellen aufgebrochen. Lichtstrahlen drangen wie Säulen zur Erde. Anton sah in der Ferne das Siebengebirge, wo er bis gestern gewohnt hatte. Er dachte an seine Großmutter, bei der er bis gestern gelebt hatte. Am liebsten hätte er sich auf das Turmgeländer gestellt, die Arme ausgebreitet und wäre davongeflogen, hinweg über die Skyline der Stadt, den Rhein entlang Richtung Süden, zu ihr. Aber seine Großmutter war alt und müde. Sie konnte sich nicht mehr um ihn kümmern. Die Kraft, für ihn zu sorgen, täglich zu kochen, zu waschen, einzukaufen, war ihr nach all den Jahren geschwunden. Mehr als seine Eltern hatte sie für ihn gesorgt. Aber jetzt brauchte sie Ruhe und hatte Antons Eltern gedrängt, nach Köln zu ziehen. Und irgendwie war es ihr gelungen, die Familie in den Werkstätten des Kölner Doms als Steinmetze unterzubringen. Sie kannte den Chef des Betriebs, den Dombaumeister.
»In der Dombauhütte bist du gut aufgehoben«, hatte sie Anton beim Abschied zugeflüstert und ihn fest an sich gedrückt. Ein Zittern war durch ihren alten Körper gegangen.
»Anton!«, rief eine Stimme weit über ihm. Er sah den steilen Turmhelm hinauf und entdeckte seine Mutter. In halber Höhe hing sie, von Klettergurten gehalten, wie in der Steilwand eines Gebirges. Sein Vater arbeitete sich rechts von ihr aufwärts.
»Ich komme mit!«, rief Anton, aber seine Mutter winkte ab. »Später!«, rief sie und kletterte weiter.
Anton hatte nichts anderes erwartet. Seine Eltern sagten meistens »später« oder »jetzt nicht«. Er schaute ihnen eine Weile hinterher, bis ihm der Nacken schmerzte. Er wandte sich ab, drehte eine Runde auf der Aussichtsplattform und warf hin und wieder einen Blick durch die auf der Fensterbank montierten Fernrohre. Auf den Hügeln des Bergischen Landes drehten sich ganze Wälder von Windrädern. Zwischen ihnen glänzten die endlosen Flächen der Photovoltaikanlagen. Die Stadt selbst war ein wirres System ineinander verschachtelter Häuserblöcke und gläserner Bürotürme, Shopping-Malls und Gewerbezentren. Die Gassen, Straßen, Alleen und Autobahnen bildeten ein völlig undurchschaubares Labyrinth. Silberne Hochgeschwindigkeitszüge schossen wie Pfeile in die Stadt hinein und wieder hinaus. Eine Flotte von Cargoliftern lag auf der anderen Rheinseite am Boden. Blinde Wale aus dem Weltall, fremde Wesen, die auf ihren nächsten Schwertransport warteten.
Dann wieder der Süden, das Siebengebirge. Jeden Berg kannte Anton, jede Anhöhe, die Täler dazwischen, alles zum Greifen nah. Und beim Gedanken an seine Großmutter kamen ihm die Tränen.
»Was ist los? Warum weinst du?« Wie aus dem Nichts kam der Dombaumeister auf Anton zu. Vor ihm ein Terrier, nicht viel größer als eine große Katze, weiß-braun gescheckt, blitzende Knopfaugen. Vergnügt sprang er an Anton hoch, weil er meinte, einen Spielgefährten gefunden zu haben.
»Lass das, Henry!«, zischte der Dombaumeister, fing den Hund auf, als er wieder an Antons Körper hochsprang, und setzte ihn hinter sich auf dem Boden ab.
Der alte Herr besah sich Antons aufgeschürfte Hände und Ellbogen. »Wie ist das passiert?«, fragte er und wischte Antons Gesicht trocken. »Wo sind deine Eltern?«
»Oben«, sagte Anton und wies mit dem Kopf Richtung Turmspitze.
»Komm mit, wir müssen die Wunden behandeln.« Der Dombaumeister legte einen Arm um Antons Schultern. Sie stiegen die Eisentreppe hinab in die Küche, wo sich Anton endlich setzen konnte und der alte Herr ihm mit einem feuchten Abtrockenhandtuch vorsichtig den Schmutz von den Verletzungen tupfte. Der Hund hockte daneben und schaute mit seinen großen Augen aufmerksam zu.
Sehr groß war der Dombaumeister, er überragte Anton, auch wenn er vor ihm kniete. Ein verquollenes Gesicht hatte er, eine knollige Nase, dunkle Augen und einen breiten Mund, der sehr freundlich lächeln konnte. Meister Schäfer, so wurde der Dombaumeister genannt, der Chef der Dombauhütte und damit des Kölner Doms. Des Museums Kölner Dom, denn als Kirche hatte die Kathedrale ausgedient.
»Die Wunden lassen wir an der Luft trocknen. So werden sie leichter heilen«, sagte Meister Schäfer und schaute auf die Uhr. »Zeit fürs Frühstück, um zehn vor sieben ist für alle gedeckt.« Sein Mund verwandelte sich zum freundlichsten Lächeln der Welt, zum »Schäfergesicht«, wie es in der Hütte hieß. Einem solchen Schäfergesicht würde man alles anvertrauen können, dachte Anton. Und als sie hintereinander die endlosen Stufen des Südturms hinabstiegen, erzählte er dem Dombaumeister, was er vorhin erlebt hatte, vom Überfall der Bande und vom Verlust des Schlüssels. Er erzählte es stotternd, wie so oft, wenn er aufgeregt war. Dann bekam Anton Wiemer keinen einzigen vernünftigen Satz hin. Seit er denken konnte, war das so. Manchmal blieb er beim Reden sogar stecken wie ein Geländewagen im Morast. Diesmal schlängelte er sich einigermaßen hindurch. Der Dombaumeister hörte ihm geduldig zu und versprach, sich zu kümmern.
Brötchenberge wuchsen auf der Tafel. Dazwischen Felder aus Fleischwurst-, Blutwurst- und Käsescheiben, blumengelbe Butterfelsen und feuerrote Marmeladensümpfe. Der Speisesaal duftete nach einer Mischung aus Tee, Kaffee, Kakao, heißer Milch und frischgebackenem Brot. Dreißig, vierzig, fünfzig und mehr Kinder und Erwachsene waren in dem Raum versammelt, saßen bereits an dem großen U, innen und außen, oder deckten den Tisch. Manche trugen Schüsseln voller Hühnereier auf, die in der Morgenluft dampften, einige verteilten Wasserflaschen, andere Körbe mit Äpfeln.
Der Geräuschpegel sank, als Anton an der Seite des Dombaumeisters den Saal betrat und zur Tafel ging. Ringsum Weinranken, Fratzen, Fabeltiere, halbe Engel, kopf- und armlose Heilige aus schwarzem, grauem oder ockerfarbenem Stein. Die Kinder musterten den Neuling. An der Kopfseite der Tafel blieb Meister Schäfer vor einem der Stühle stehen, der Hund mit gespitzten Ohren neben ihm, verschränkte die Hände und ließ seinen Kopf leicht nach vorn sinken, als nickte er ein. Anton tat es ihm nach und behielt doch alles im Blick. Wer auftrug, ging zu seinem Platz, wer saß, stand auf. Der Dombaumeister wartete. Nichts geschah. Dann sah er sich um, als müsse jemand erscheinen. Niemand kam. Raunen im Saal.
»Wir beginnen dennoch«, sagte Meister Schäfer schließlich. Und es erklang ein Gong, ein einziger Schlag, der den Raum in Schwingung versetzte. Vollkommene Stille. Bis der Ton sich auflöste. Verbeugung. Ende der Zeremonie, der »Schweigezeremonie«, wie dieser Moment der Ruhe unter den Dombauern hieß.
»Anton Wiemer«, sagte der Dombaumeister, während alle Platz nahmen, wies mit der Hand auf ihn und lächelte ihm gutmütig zu. »Seit gestern gehören seine Eltern zum Gewerk der Steinmetze, wie ihr wisst. Außerdem sind alle drei vorzügliche Kletterer und können zu den entlegensten Winkeln des Doms steigen, Schäden aufspüren und begutachten, bevor wir die Gerüste anbringen. Das wird unsere Arbeit erleichtern. Antons Eltern waren so neugierig auf ihren neuen Arbeitsort, dass sie sich in aller Frühe schon einmal den Südhelm vorgenommen haben.«
Einige im Saal nickten anerkennend, andere applaudierten.
»Denn unser Hauptproblem ist bekanntlich der Südturm«, fuhr Meister Schäfer fort. »Es gibt Risse in der Verankerung. Und seit heute weiß es die ganze Stadt!«
Mit diesen Worten hob der Dombaumeister ein E-Paper in die Luft und zeigte die Titelseite des »Metropol«. Eine animierte Fotomontage der Domtürme war zu sehen. Die Spitze des rechten Turms, des Südturms, war abgeknickt und stürzte in die Tiefe, was ziemlich bedrohlich aussah. Und in großen schwarzen Buchstaben prangte über dem Bild die Schlagzeile: »Wann kippt der schiefe Turm von Köln?« Meister Schäfer las sie vor, auch die Bildunterschrift: »70 Tonnen aus 150 Metern Höhe bedrohen Weltkulturerbe und Domplatz!« Dann ließ er die Zeitung vor sich auf den Tisch fallen und fügte hinzu: »Die Presse übertreibt! So schlimm ist es nicht, noch nicht. Aber wir müssen schnell handeln. Ich hoffe, dass wir mit Hilfe von Antons Eltern bald wissen, wie die Schäden genau aussehen und wie wir sie beheben können, damit die Kreuzblume wieder so fest sitzt wie eh und je.«
Dann machte er eine kurze Pause, als müsste er sich besinnen, sah Anton an und lächelte.
»Lieber Anton«, sagte er. »Es tut mir leid, wenn dein erster Tag mit Sorgen begonnen hat. Manchmal läuft nicht alles so rund, wie man es gerne hätte. Aber das kriegen wir wieder hin. Jedenfalls heiße ich dich und deine Eltern im Namen der Kölner Dombauhütte herzlich willkommen! Wir freuen uns, dass ihr hier seid, und wünschen dir alles Gute und keine weiteren Stürze.«
Hoffentlich erzählt er nicht, dass ich fast verprügelt worden bin, dachte Anton. Der Dombaumeister aber verlor darüber kein Wort, setzte sein Schäfergesicht auf, reichte Anton unter dem Beifall der Erwachsenen und dem Löffelgeklapper der Kinder die Hand und wies ihm einen Platz in seiner Nähe an.
»Lasst uns mit dem Frühstück beginnen«, rief der Dombaumeister gut gelaunt in den Saal, »auch wenn die Kerze noch fehlt, Milena ist sicherlich unterwegs«, was Anton nicht verstand, was ihn aber auch nicht sonderlich interessierte, sein Magen jaulte vor Hunger.
»Sieht ja übel aus«, sagte der Junge, neben dem Anton zu sitzen kam, und sah auf die Verletzungen.
»Halb so wild«, sagte Anton knapp, er wollte möglichst lange verbergen, dass er stotterte, und machte sich über Brötchen, Butter, Wurst her.
Der Junge neben ihm hatte große blaue Augen und trug eine Schirmmütze mit Ohrenklappen, die hochgeschlagen waren und flügelartig abstanden. Blonde Haarbüschel ragten darunter hervor.
»Kannst du wirklich so gut klettern?«, fragte gegenüber ein anderer Junge, der den Mund so voll hatte, dass sich seine Wangen beim Kauen zu wulstigen Beulen wölbten. »Meister Schäfer hat erzählt, dass du Rheinlandmeister im Freiklettern bist!«, fügte er bewundernd hinzu. Er war etwas kleiner als Anton, recht kräftig, um nicht zu sagen dicklich, hatte schwarze Augen und einen fast kahlgeschorenen Kopf.
Anton nickte, biss ins Brötchen und hielt nach einem Getränk Ausschau. Der Junge mit dem geschorenen Schädel stand auf und stellte Anton einen Kakaokrug hin. Dabei kam unter seinem T-Shirt ein ganzes Sortiment Silvesterraketen mit halbierten Stöcken zum Vorschein. Sie klemmten unter dem Hosengürtel.
»Was machst du denn damit?«
»Feuerwerk«, sagte der Junge nur kurz und grinste.
»Mitten im Sommer?«
»Man kann ja nie wissen«, entgegnete er mit noch dickeren Backenbeulen.
»Wie heißt ihr überhaupt?«, fragte Anton, nachdem er die ersten Kakaoschlucke getan hatte. Dass seine Wörter immer wieder stockten, schien die beiden Jungs nicht zu stören. Jedenfalls ließen sie sich nichts anmerken. Sie stellten sich vor.
»Yussuf Atesch!« Der Junge mit dem Raketengürtel. Seine Eltern führten die Hüttenküche. Sie waren die Chefköche.
»Leon Kuckelkorn!« Der Junge mit der Schirmmütze. Seine Eltern gehörten zu den Glasmalern, die die Domfenster in Stand hielten und neue gestalteten.
»Prost!«, sagte Leon und hielt seinen Becher in die Mitte. Yussuf und Anton stießen mit ihm an.
In diesem Moment kam ein Mädchen hereingeschwebt.
So kam es Anton jedenfalls vor. Er hätte sich fast verschluckt. Zwar wippte ihr Körper beim Gehen ganz normal auf und ab, aber so federleicht, als berührten ihre Füße die Erde nicht. Vor sich her trug sie einen Bronzeleuchter mit Kerze. Das Licht der Flamme beschien ihr Gesicht. Das lange, fast schwarze Haar war in der Mitte gescheitelt und fiel in Wellen rechts und links über ihre Schultern. Die Augen schimmerten so dunkel wie das Haar. Ein Bild wie im Traum, dachte Anton. Dieses Mädchen musste Milena sein. Milena mit der Kerze, die der Dombaumeister vorhin erwähnt hatte. Und als sie näher kam, sah Anton, wie blass sie war, wie traurig und unruhig zugleich. Sie hatte es eilig, obwohl sie versuchte, sich wegen der flatternden Flamme nicht allzu schnell zu bewegen.
Milena kam direkt auf Anton zu und stellte den Leuchter am Kopfende der Tafel ab. Leon und Yussuf sahen sie kurz an und widmeten sich wieder dem Frühstück. Sie setzte sich neben Yussuf, Anton gegenüber. Ihre Blicke trafen sich, huschten aber sogleich wieder fort.
»Ärger mit den Alten?«, fragte Leon, ohne aufzusehen.
Das Mädchen nickte, ließ die Schultern fallen und die Luft durch die geplusterten Lippen strömen. Leon hatte Antons neugierigen Blick bemerkt.
»Milena«, sagte er nur, um sie ihm vorzustellen.
»Anton«, sagte der kauende Yussuf, »der Neue«, und machte mit dem Kinn eine Bewegung in Antons Richtung.
Milena sah Anton wieder kurz an, überrascht und verärgert. Wieso verärgert?, überlegte Anton. Sie griff nach einem Brötchen, legte sich Butter und Käse auf den Teller, nahm einen Apfel, biss hinein und kaute wütend drauflos.
»Die gehen mir auf die Nerven!«, sagte Milena. Ihre Zähne gruben sich förmlich ins Fruchtfleisch.
»Kommen sie nicht frühstücken?«, fragte Leon.
»Streiten lieber«, sagte Milena. »Wollten auch nicht, dass ich gehe.«
»Was ist denn bei euch los?«, fragte Anton und versuchte seiner Stimme einen gleichgültigen Ton zu verleihen, obwohl sein Herzschlag einen ordentlichen Zahn zugelegt hatte.
»Meine Eltern sind im Krieg«, sagte Milena.
»Kommt schon mal vor«, entgegnete Anton.
»Seit ich denken kann«, sagte Milena und biss zum dritten Mal in den Apfel.
»Meine streiten sich nie«, sagte Yussuf.
»Meine selten«, sagte Leon. Die beiden löffelten einen Brei, den sie sich aus gesalzenen Butterbrotwürfeln, Schnittlauch und zerquetschten Frühstückseiern hergestellt hatten.
»Gibt’s einen bestimmten Grund?«, fragte Anton.
»Wegen allem und nichts, was weiß ich.«
Anton war froh, dass sie miteinander redeten, auch wenn sie sich nicht das lustigste Thema ausgesucht hatten und Milena ihn gar nicht ansah und sie ihre Sätze mehr zu sich selbst zu sprechen schien.
»Warum trennen sie sich nicht?«, fragte er weiter und war selbst überrascht, dass er sich das traute. Milena schien sich nicht zu wundern.
»Vielleicht wegen mir?«, sagte sie. »Vielleicht aus Gewohnheit? Aus Angst, alleine zu sein? Vielleicht, weil sie einmal bessere Zeiten hatten?« Mit ihren Schneidezähnen schabte Milena an dem auf die Hälfte geschrumpften Apfel herum. »In der letzten Zeit ist alles schlimmer geworden«, erzählte sie weiter. »Mein Vater ist von der Hütte genervt. Meine Mutter nicht. Mein Vater will hier weg. Meine Mutter nicht.« Dann sah sie Anton in die Augen. Sie fixierte ihn. Zornig, wie Anton fand. »Mein Vater war dagegen, dass deine Eltern Dombauer werden und ihr hier einzieht.«
Die letzten Worte platzten aus Milena förmlich hervor. Anton wusste nicht, was er sagen sollte. Er wurde angegriffen, ohne zu wissen, warum! Wie heute Morgen! Auch Yussuf und Leon waren sprachlos. Sie stellten das Kauen ein.
»Was hat dein Vater denn gegen uns?« Anton brauchte eine ganze Weile, bis er den Satz bewerkstelligt hatte.
»Keine Ahnung«, sagte Milena in etwas milderem Ton und ließ die Apfelkitsche auf den Teller fallen.
Ein Glockenschlag riss Anton aus seiner Grübelei. Ein zweiter und dritter Schlag folgten, tief und wuchtig. Vor der Fensterfront zum Innenhof legte der Koch einen Holzhammer auf die Balken eines Gerüsts, in dem eine Kirchenglocke hing. Milena blies die Kerze aus und trug sie fort. Die Frühstücksrunde zerstreute sich in alle Richtungen.
»Komm mit«, sagte Leon zu Anton, »wir haben zu tun.«
»Was denn?« Anton fühlte sich noch ganz benommen.
»Wir sollen dich in die Hofarbeit einführen. Auftrag von Schäfer!«
Anton folgte ihm und Yussuf zum Innenhof, der eigentlich kein Hof war, wie sich jetzt zeigte, sondern ein weitläufiger Garten, größer als ein halbes Fußballfeld. Domgarten hieß das Gelände offiziell. Das hatte ihm seine Großmutter kurz vor dem Umzug erzählt. Bevor der Garten angelegt und mit einer hohen Mauer umsäumt worden war, hatte es hier ein Museum samt römischem Mosaik gegeben. Beides war von der Kathedrale weg an den Rand des Domplatzes verlegt worden. Außerdem waren die Tiefgaragen rund um die Kathedrale abgebaut worden, sodass man einige Stufen zu ihr hinaufsteigen musste, wie jahrhundertelang zuvor. Zu seiner Linken sah Anton jetzt die Fensterfront des Speisesaals und der Werkstätten, die sich an die Domwand schmiegten. Steinquader und Platten türmten sich überall. Ganz außen gab es unterhalb eines Gebäudes eine Tordurchfahrt. Ein alter Elektrotransporter stand darin, pink und ziemlich zerknautscht. Das schwere Eisentor zur dahinterliegenden Trankgasse war verriegelt.
Vor Anton aber öffnete sich der Domgarten in üppigem Grün. Obstbäume wuchsen hier, Obststräucher, Salat-, Kräuter- und Gemüsebeete gab es, Kartoffel-, Kohl- und Erdbeerfelder. Bohnenstangen ragten in den Himmel, Sonnenblumen und Stockrosen. Weinranken voller Dolden kurz vor der Reife nahmen eine ganze Außenwand ein und bildeten bogenförmige Laubengänge. Sternförmig führten sie zu einer Laubhütte und zu einer kleinen, efeuumrankten Gartenmauerpforte. In der Laubhütte und überall verteilt gab es Bänke und in der Mitte einen riesigen Brunnen. Über mehrere Stufen fiel das Wasser schleierartig in immer größere Muschelschalen und schließlich in ein Bassin, wo Seerosen blühten und Fische schwammen, Forellen, ein ganzer Schwarm, wie Anton feststellte, als er das steinerne Becken passierte.
»Unser Fischvorrat«, sagte Yussuf und rieb sich den Bauch.
»Ihr angelt hier?«, fragte Anton.
»Mit Netzen«, sagte Leon, »an jedem ersten Freitag im Monat, fürs Mittagessen. Mein Vater ist der Brunnenmeister.«
»Los, beeil dich«, sagte Yussuf und wollte Anton mit sich schleppen, »vor der Schule muss alles erledigt sein!«
Da huschte ein Schatten über das blitzende Gewässer. Ein Rauschen ging über dem Brunnen nieder. Und in Antons Sichtfeld schlüpfte ein Schwanenpaar, dicht an dicht, weit entfaltet die weißen Flügel, langgestreckt die schlanken Körper, aus den Schnäbeln Trompetenrufe. Die Tiere flogen eine Spirale, ließen sich auf dem Wasser nieder und tunkten ihre Häupter für einen Moment ins kühle Nass. Dann hüpften sie auf den Beckenrand und von dort auf die unterste und größte Muschelschale, in ein Nest aus Zweigen, Gras und Daunen, wie Anton jetzt sah, wo ein Jungtier auf sie wartete und die Eltern mit lautem Geschnatter begrüßte. Die Elternköpfe huschten über das graue Gefieder hinweg, als wollten sie sich vergewissern, ob an ihrem Kind noch alles dran sei.
Yussuf schob Anton vorwärts und drückte ihm einen Blecheimer mit Körnern in die Hand und schleppte ihn zum Hühnerstall.
»Verteil sie gut, damit alle was abkriegen«, sagte er. »Und pass auf die Gänse auf, die sind aggressiv! Wir versorgen inzwischen die Kaninchen.«
Anton öffnete das Zauntor, und das Hühnervolk samt Hahn und Gänseschar stürzte sich auf ihn. Wie ein Sämann streute er die Körner über die braunen und weißen Federrücken und versuchte gleichzeitig die Gänse zu vertreiben, die an seinen Hosenbeinen zerrten. Anton war umzingelt und konnte sich bald nicht mehr bewegen. Bis Milena ihn befreite. Mit einer Schüssel voller Eierschalen, Käserinde, Brotkrumen, Apfelschalen und Brötchenresten im Arm mischte sie sich unters Federvieh und verteilte das Futter nach rechts und links, ohne stehen zu bleiben. Die Gänse, die plötzlich von Anton abließen, kamen nicht an sie heran. Als die Schüssel leer war, ließ Milena ihre Arme plötzlich nach vorn in die Hühnermenge schnellen, sie packte eines der Tiere an Hals und Beinen und zog es an ihren Körper. In der Umarmung blieb das Huhn ruhig liegen und ließ sich streicheln. Milena warf Anton einen versöhnlichen Blick zu. Ihr Zorn während des Frühstücks schien verflogen.
Anton lächelte zurück, wurde aber von hellen Kinderstimmen abgelenkt. Er sah hinter sich in den Garten, wo sich hier und da Erwachsene und Kinder an die Arbeit gemacht hatten. Sie jäteten und ernteten. Der Überfluss an Früchten und Gemüse, die friedliche Schwanenfamilie im Brunnen, das satte, fast urwaldartige Grün einerseits und die schöne Ordnung der Anlage andererseits gefielen Anton sehr gut. Die hohe Mauer umschloss das Gelände wie schützende Arme und grenzte es von der Außenwelt ab. Niemand konnte hineinschauen. Und der Dom selbst ragte wie ein altes Raumschiff empor, das sich hier irgendwann vor Urzeiten niedergelassen hatte.
Leon und Yussuf riefen und winkten Anton und Milena zu sich. Milena ließ das Huhn frei. Die beiden Jungs hatten die Kaninchenställe ausgemistet und die Tiere gefüttert.
»Jetzt noch der große Stall«, sagte Leon.
»Welche Tiere habt ihr denn noch?«, fragte Anton.
»Eine Kuh, einen Esel, zwei Schweine, vier Schafe und Ziegen«, zählte Yussuf auf.
»Ein richtiger Bauernhof!«, staunte Anton, als sie Heu und Stroh in die Boxen warfen.
»Bauernhof«, sagte Milena mit gespielter Verachtung. »Wenn das Meister Schäfer hören würde! Das ist unser Paradiesgarten!«
»Voll ökologisch«, sagte Yussuf.
»Voll holistisch«, sagte Leon.
»Marke Selbstversorger«, fügte Milena hinzu.
Die Schweine kommentierten das Gespräch mit Grunzen und Quieken. Milena, Yussuf und Leon mussten lachen. Anton atmete tief aus, zum ersten Mal an diesem Tag. Er hatte sogar das Gefühl, erst jetzt mit dem Atmen zu beginnen.
Ineinander verknotet, Augen geschlossen. Antons Eltern lagen auf einem der beiden Sofas ihrer neuen Wohnung im dritten Stock des Südturms und hatten die Ohren mit Kopfhörern verstöpselt. Umzugskisten überall. Es würde noch Wochen dauern, bis seine Eltern alles ein- und ausgeräumt hatten, wenn sie es überhaupt jemals täten. Auf einem Haufen in der Ecke die Kletterausrüstung. Anton machte erst gar nicht den Versuch, die beiden anzusprechen. Über den Tag verteilt brauchten sie regelmäßig ihre Ruhe und durften von niemandem gestört werden.
Anton war die Wendeltreppe in den dritten Stock hinaufgestiegen, 386 Stufen. Atemlos ließ er sich auf sein Bett fallen. Über ihm das Deckengewölbe, das die Wohnung wie ein Netz überspannte. Holzwände teilten den Turmraum in unterschiedlich große Einheiten. Nach oben hin waren die Zimmer alle offen. Im Zickzack stieg mittendrin die Eisentreppe hoch zur Aussichtsplattform. Ein kühles Licht drang ringsum durch die hohen, spitz zulaufenden Milchglasfenster. Anton wäre am liebsten liegen geblieben. Er schaute auf die Uhr. Viertel vor acht. Eigentlich hätte er sofort seine Schulsachen nehmen und sich auf den Weg machen müssen. In fünfzehn Minuten fing der Unterricht an. Er hatte sich vorhin richtig erschrocken, als Milena sie während der Stallarbeit an die Schule erinnert hatte. Die Bande!, war es ihm durch den Kopf geschossen. Sicherlich würde sie ihm wieder auflauern, wenn er den Dom verließ und nach draußen ging! Er bräuchte dringend Hilfe, wenn er heil zur Schule kommen wollte, oder er durfte erst gar nicht zur Schule gehen, was aber auch nicht möglich war, jedenfalls nicht am ersten Schultag. Irgendwas in ihm hatte sich dagegen gewehrt, Leon, Yussuf und Milena von den Angriffen zu erzählen. Sie sollten schon einmal vorgehen, hatte er ihnen gesagt. Er müsse noch einmal nach oben.