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Im Körper von Johannes Schneider regiert der Krebs. Auch wenn seine Familie sich rührend kümmert, es besteht wenig Hoffnung. Er fürchtet sich vor dem, was kommt, und davor, daß nichts bleibt von ihm und seinem Leben. Im Schreiben geht er gegen die Angst und das Vergessen an und träumt sich zurück in seine Kindheit im Rheinischen, an einen geradezu mythischen Ort - ins Wiesenhaus. Hier blüht das Leben wie die Landschaft. Doch bringt der Blick zurück auch Verdrängtes ans Licht, unerwartet bekommt das Familienidyll erste Risse. Langsam, aber sicher schreibt Schneider sich voran, hin zur Wahrheit darüber, was damals wirklich geschah und wie er zu dem wurde, der er heute ist. Mit großer Empathie erzählt Christoph Schmitz von einem Mann, der sich erinnert, um eine Zukunft zu haben.
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Seitenzahl: 188
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012
© Suhrkamp Verlag Berlin 2012
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Gekröse aus Wachs in meiner Hand. In der kirschhölzernen Anrichte habe ich es entdeckt. Ich suchte die Fotografie des Wiesenhauses, jahrelang hatte sie obenauf gestanden, wo ich sie plötzlich vermißte. Unter wogenden Apfelbaumkronen duckt sich das Haus vor Ausbruch eines Sommergewitters. Der Himmel ist bleiern, ein einzelner Sonnenstrahl erleuchtet Gebäude und Garten. Am Schreibtisch sitzend, hatte ich das Licht draußen gesehen, mit dem Fotoapparat war ich hinausgelaufen, um es einzufangen. Ein Licht, das auch auf die Großmutter fiel, die Mittagsschlaf hielt, und das ihrem uralten Gesicht ein Antlitz verlieh, als hätte sie ihr Leben noch vor sich. Dabei lag sie dort wie wenige Jahre später auf dem Totenbett, rücklings, die Hände über dem Bauch gefaltet, nur daß sie im Wiesenhaus noch ihr Gebiß trug und die Lippen sich ebenmäßig über die falschen Zähne schlossen, während ihr toter Mund einfallen sollte wie ein Mauseloch.
Bevor ich das Wiesenhausfoto fand in der Anrichte, stieß ich auf die vor Zeiten dort verstaute Kristallschale, in der ein verstaubtes Filzbüschel lag und ebenjenes unförmige Ding aus kardinalrotem Paraffin. Das Filzbüschel hatte ich Anfang der Neunziger aus einer Beuys-Installation gezupft, heimlich, ver