Flüchtlinge im sozialen Raum - Felix Leßke - E-Book

Flüchtlinge im sozialen Raum E-Book

Felix Leßke

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Beschreibung

Seit 2015 ist der Diskurs über die Flüchtlingspolitik sowie die Einstellungen gegenüber Flüchtlingen ein zentraler Fluchtpunkt der gesellschaftspolitischen Debatte. Von der »Willkommenskultur« bis zum Aufstieg der AFD lassen sich zahlreiche gesellschaftliche Entwicklungen über die Einstellungen gegenüber Flüchtlingen erklären. Felix Leßke zeigt, dass sich diese Einstellungsmuster nicht zufällig, sondern systematisch zwischen verschiedenen sozialen Gruppen verteilen. Sie lassen sich sozialräumlich verorten, so dass sie durch die sozialen Lagen und ihre Verhältnisse gegenüber den Flüchtlingen und anderen sozialen Akteursklassen erklärt werden können. Soziale Konfliktlinien werden dadurch sichtbar und nachvollziehbar, die sozialen Folgen von politischen Entscheidungen lassen sich besser abschätzen. Das Buch verbindet vor dem Hintergrund der Bourdieuschen Theorie eine innovative Theorie von Migration und Integration mit einer umfassenden empirischen Fundierung und trägt dazu bei, die Entwicklungen der vergangenen Jahre zu verstehen.

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Felix Leßke

Flüchtlinge im sozialen Raum

Eine empirische Studie zu Migration und Integration nach Pierre Bourdieu

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Seit 2015 ist der Diskurs über die Flüchtlingspolitik sowie die Einstellungen gegenüber Flüchtlingen ein zentraler Fluchtpunkt der gesellschaftspolitischen Debatte. Von der »Willkommenskultur« bis zum Aufstieg der AFD lassen sich zahlreiche gesellschaftliche Entwicklungen über die Einstellungen gegenüber Flüchtlingen erklären. Felix Leßke zeigt, dass sich diese Einstellungsmuster nicht zufällig, sondern systematisch zwischen verschiedenen sozialen Gruppen verteilen. Sie lassen sich sozialräumlich verorten, so dass sie durch die sozialen Lagen und ihre Verhältnisse gegenüber den Flüchtlingen und anderen sozialen Akteursklassen erklärt werden können. Soziale Konfliktlinien werden dadurch sichtbar und nachvollziehbar, die sozialen Folgen von politischen Entscheidungen lassen sich besser abschätzen. Das Buch verbindet vor dem Hintergrund der Bourdieuschen Theorie eine innovative Theorie von Migration und Integration mit einer umfassenden empirischen Fundierung und trägt dazu bei, die Entwicklungen der vergangenen Jahre zu verstehen.

Vita

Felix Leßke verfasste die vorliegende Studie als Dissertation am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn.

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Danksagung

Vorwort

1.

Einleitung

2.

Flucht und Migration in der Bundesrepublik Deutschland

2.1

Rechtliche Einordnung der Kategorie »Flüchtling«

2.2

Der Spätsommer 2015 und seine rechtlichen Folgen

2.3

Geschichte der deutschen Integrationspolitik

2.3.1

Flüchtlinge und Vertriebene

2.3.2

Gastarbeiter

2.3.3

(Spät-)Aussiedler

2.3.4

Flüchtlinge aus dem früheren Jugoslawien

2.3.5

Jüdische Familien aus der Sowjetunion

2.3.6

Migranten aus der DDR

3.

Theorie und Forschungsstand

3.1

»Fremdheit« und soziale Distanz

3.2

Die Theorie Ethnischer Bedrohung

3.2.1

Vorurteile in der Theorie ethnischer Bedrohung

3.2.2

Ethnische Bedrohung in der empirischen Forschung

3.3

Abbau von Vorurteilen: Die Kontakthypothese

3.4

Islam und Integration

3.5

Integration und Assimilation

3.6

Die Perspektive der Migranten und Flüchtlinge

3.6.1

Demokratie und Werte

3.6.2

Unterbringung, Arbeit und Sprachvermittlung

3.7

Staatliche, administrative und öffentliche Ebene – Ergebnisse aus den Kölner Flüchtlings-Studien

3.7.1

Asylstatus

3.7.2

Bildung, Sprache und Beruf

3.8

Synopse des Forschungsstandes und Folgerungen für die Analyse

4.

Die Theorie Pierre Bourdieus

4.1

Epistemologie

4.2

Sozialer Raum und Kapital

4.3

Habitus

4.3.1

Habitus und Klasse

4.3.2

Habitus und Macht

4.4

Soziale Felder

4.4.1

Feld und Habitus

4.4.2

Feld und Macht

5.

»Flüchtling« als soziale Kategorie

5.1

Der relationale Migrationsbegriff nach Sayad

5.2

Ankunft und soziale Bewertung der Flüchtlinge

5.2.1

Prozesse der sozialen Einordnung von Migranten

5.2.2

Statuszuteilung und symbolische Herrschaft

5.2.3

Sozialisation und Habitus

5.3

Die Geschichte der Migration in der Bundesrepublik Deutschland

5.4

Die staatliche Zuteilung von Integrationschancen

5.4.1

Die zwei Ebenen der Flüchtlingsintegration – formale und praktische Integration

5.4.2

Asylstatus

5.4.3

Bildung, Sprache und Beruf

5.5

Feld des medialen öffentlichen Diskurses

5.6

Migration und Integration im sozialen Raum – eine neue Perspektive mit Bourdieu

6.

Methode und Daten

6.1

Die relationale Methodologie und die multiple Korrespondenzanalyse

6.2

Daten

7.

Ergebnisse

7.1

Perspektive der Flüchtlinge

7.1.1

Variablen und deskriptive Statistik

7.1.2

Der soziale Raum der Flüchtlinge

7.1.3

Religion und Vorurteile

7.1.4

Fluchtursachen und Statustransformation

7.1.5

Wahrnehmung von Zugangsbeschränkungen und Diskriminierung

7.1.6

Flüchtlinge und Flüchtlingshilfe

7.1.7

Ethnische Community

7.2

Perspektive der autochthonen Bevölkerung

7.2.1

Operationalisierung und Variablen

7.2.2

Der soziale Raum der Einstellungen gegenüber Flüchtlingen

7.2.3

Einstellung zur Integration und Eigenschaften von Flüchtlingen

7.2.4

Differenzierung nach subjektiver und objektiver sozialer Distanz

8.

Synthese und Interpretation

8.1

Sozialräumliche Integration

8.1.1

Integration in relationale Strukturen

8.1.2

Raum der Ethnien

8.2

Zuschreibung des (Flüchtlings-)Status

8.2.1

Religion – die kulturelle Bedrohung

8.2.2

Bildung und Arbeitsmarktintegration

8.2.3

Assimilation und der Raum der Ethnien

8.3

Symbolische Differenzierung von Flüchtlingen nach objektiver und subjektiver sozialer Distanz

8.3.1

Soziale Kontakte zu Flüchtlingen

8.3.2

Distinktion und soziales Engagement

8.4

Hysteresis-Effekt, Deprivation und Anomie

9.

Schlussbetrachtung

Abbildungen

Tabellen

Literatur

Danksagung

Es gibt einige Menschen, ohne die diese Arbeit niemals zustande gekommen wäre und denen ich an dieser Stelle von Herzen Danken möchte. Da ist zunächst meine Frau Anja, die mich über Jahre des Schreibens und Recherchierens unterstützt und so manches Mal aufgebaut hat, wenn die Fertigstellung in weiter Ferne schien. Da sind meine Eltern, mein Bruder und meine Großeltern, ohne deren stete Unterstützung und Förderung ich wahrscheinlich niemals auch nur daran gedacht hätte, jemals eine Dissertation zu verfassen. Gleiches gilt für meine engsten Freunde, die immer für mich da waren, wenn ich sie gebraucht habe.

In der akademischen Welt gibt es drei herausragende Professoren aus verschiedenen Generationen von Wissenschaftlern, die meine bisherige Laufbahn erst ermöglicht haben und deren tiefe Spuren sich in dieser Arbeit an zahlreichen Stellen wiederfinden lassen. Zunächst ist mein Doktorvater Jörg Blasius zu nennen, der mich seit dem ersten Semester im Bachelor durch mein gesamtes Studium begleitet und mit dessen Vertrauen in mich als seine studentische Hilfskraft alles angefangen hat. Ohne ihn hätte ich wohl niemals den Weg in die empirische Sozialforschung oder die akademische Welt gefunden. Zudem Andreas Schmitz, der maßgeblich dazu beigetragen hat, mich für Bourdieu zu begeistern und der mich stets dazu ermunterte, kritisch zu bleiben und die relationale Perspektive konsequent anzuwenden. Seine Magisterarbeit ist zudem ein wichtiger Ausgangspunkt dieser Arbeit. Und da ist der großartige, leider 2019 verstorbene, Jürgen Friedrichs, der mich 2016 in die Kölner Flüchtlings-Studien an die Universität zu Köln holte und mir damit den Weg in die Migrationsforschung ebnete. Allen dreien bin ich zu tiefem Dank verpflichtet, denn Sie haben meine Begeisterung für das wunderbare Fach der Soziologie stets noch weiter angefacht und mir viel mehr beigebracht, als ich an dieser Stelle anführen kann.

Darüber hinaus möchte ich den Mitgliedern meiner Prüfungskommission Professor Clemens Albrecht und Professor Wendelin Strubelt danken. Beide begleiten mich als Kollegen ebenfalls seit vielen Jahren.

Zudem haben zahlreiche weitere Personen maßgeblichen Anteil an dieser Arbeit. Durch eine Vielzahl an Diskussionen und Kommentierungen haben sie dazu beigetragen, den Fokus der Arbeit zu schärfen und Unklarheiten auszuräumen. Da wären meine Kolleg*innen aus Bonn: Alice Barth, Miriam Trübner, Yvonne Scheit, Andreas Mühlichen und Anno Esser, von denen ich wichtige Kommentare und Anmerkungen erhalten habe, sowie Susanne Bell, die die Arbeit akribisch korrekturgelesen hat. Ferner ist meinen Kolleg*innen aus Köln zu danken: Vera Schwarzenberg, Kim Elaine Singfield und Malte Grönemann, mit denen ich einen wunderbare Zeit in den Kölner Flüchtlings-Studien hatte, sowie Simon Micken, mit dem ich stets in die Untiefen der theoretischen und empirischen Soziologie abtauchen konnte. Ferner danke ich Frédéric Lebaron für wichtige Anmerkungen und Literaturhinweise.

Die Liste lässt sich an dieser Stelle noch lange fortführen, denn auch den großen Vordenkern der Soziologie bin ich zum Dank verpflichtet. Insbesondere Durkheim, Bourdieu, Simmel, Elias und Schütz haben mein soziologisches Denken tiefgreifend geprägt. Zudem würde es diese Arbeit ohne die großartige Musik von Beethoven, Corelli, Pachelbel, Bach, Buxtehude, Haydn, Händel, BAP, Nirvana, Foo Fighters, Queen, Metallica, Red Hot Chili Peppers, Pascow, Bob Dylan, The Offspring, Sum 41, Oxo86, Johnny Cash, Bad Religion, Konstantin Wecker, Funny van Dannen und vielen anderen nicht geben, denn diese gab mir immer wieder die nötige Energie, um mich täglich aufs Neue an die Arbeit zu setzen.

Vorwort

Die vorliegende Studie ist im Rahmen der Projektarbeit der Kölner Flüchtlings-Studien entstanden. Diese untersuchten unter der Leitung von Professor Dr. Jürgen Friedrichs an der Universität zu Köln im Zeitraum vom Frühjahr 2016 bis März 2020 die Integration von Flüchtlingen. Die Idee für das Projekt war entstanden, nachdem Anwohner einer Flüchtlingsunterkunft im Hamburger Stadtteil Harvestehude gegen die Einrichtung einer Flüchtlingsunterkunft in einem ehemaligen Kreiswehrersatzamt in ihrem Wohngebiet geklagt hatten. Es war insbesondere der gehobene Status des Wohngebietes, der das Forschungsinteresse weckte. Neben Hamburg Harvestehude sollten in der Folge noch der Hamburger Stadtteil Bergedorf, die Kölner Stadtteile Ostheim und Rondorf sowie Saarn und die Stadtmitte von Mülheim als Untersuchungsgebiete ausgewählt werden. Gefördert wurde das Projekt von der Fritz Thyssen Stiftung, der Körber-Stiftung und dem Forschungsinstitut für gesellschaftliche Weiterentwicklung (FGW). Das Projektteam bestand aus Jürgen Friedrichs, Vera Schwarzenberg und Felix Leßke. Unterstützt wurden sie durch die studentischen Hilfskräfte Kim Elaine Singfield und Malte Grönemann. In Hamburg wurde die Feldarbeit von Dr. Pamela Kerschke-Risch geleitet.

1.Einleitung

Nur wenige Tatbestände offenbaren die Mechanismen des Sozialen in einer derartigen Schärfe wie Migration und Integration. Beide Phänomene befinden sich an Schnittpunkten der großen Fragen »Was ist Gesellschaft?«, »Gibt es gesellschaftliche Identität und Solidarität?«, »Wer sind wir, wer die Anderen?« und »Wann gehört man eigentlich zu einer Gesellschaft dazu?«.

In Zeiten der Globalisierung sind nahezu alle Gesellschaften durch Migration geprägt. Die sozialen Auswirkungen können sich deutlich unterscheiden, je nachdem, ob die Gesellschaften eher von Zuwanderung, Abwanderung oder gar von beiden Migrationsbewegungen betroffen sind. Zugleich ist es sozial bedeutsam, welche Gruppen migrieren. Die Emigration einer hochgebildeten jungen Subpopulation hat ganz andere Auswirkungen auf das gesellschaftliche Gefüge als die Emigration oder Immigration geringqualifizierter Gruppen, die sich durch die Migration Arbeit und ein höheres Einkommen versprechen.

Aufgrund der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung von Migration und Integration ist ein breites Forschungsfeld entstanden, welches die sozialen, politischen, psychischen und wirtschaftlichen Folgen von Migration zum Gegenstand hat. Zahlreiche Studien beleuchten das Phänomen aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven und beschäftigen sich z.B. mit den Ursachen von Migration (für einen Überblick siehe: Aigner 2017), den unterschiedlichen Stufen oder Phasen des Integrations- oder Assimilationsprozesses (Berry 1980, 1997; Esser 1980, 2000, 2009), der gesellschaftlichen Bedeutung von Vorurteilen (Allport 1954), der Wirkung interethnischer Kontakte auf Vorurteile (Allport 1954; Pettigrew 1998; Pettigrew und Tropp 2006), oder der Wahrnehmung von Bedrohung durch die Migranten1 (Blalock 1967, 1982; Stephan und Stephan 1985, 2000). Die unterschiedlichen theoretischen Ansätze tragen jeweils einzelne Mosaikstücke zum Verständnis der unterschiedlichen sozialen Mechanismen bei, die durch Migration und Integration in Gang gesetzt werden. In einer Vielzahl von empirische Analysen haben sich diese Theorien bewährt und gehören heute zum Basiswissen der (empirischen) Migrationsforschung.

Die Forschung zu Migrationsprozessen blickt in der Soziologie auf eine lange Tradition zurück. Schon Georg Simmel, einer der Gründerväter der modernen Soziologie, stellte sich der Frage nach dem Fremden, in dem er jemanden sah, der »heute kommt und morgen bleibt« (Simmel 1992a [1908], S. 764) und durch ein besonderes Verhältnis von Nähe und Distanz charakterisiert werden kann. Nach Alfred Schütz ist der Fremde zudem in der Lage, die Gewissheiten und die Ordnung eines gesamten sozialen Gefüges in Frage zu stellen (Schütz 1944, S. 502).

Beide Ansätze offenbaren zwei wichtige Elemente der Forschung zu Migration und Integration. Zum einen begeben sich Migranten in ein bestehendes Gefüge sozialer Beziehungen. Die physische Nähe zu den Fremden korrespondiert mit einem Gefühl der Ferne: sie sind da, obwohl sie (noch) nicht wirklich dazugehören. Zum anderen verändern Migration und Integration das bestehende Gesellschaftsgefüge und damit auch die Wahrnehmung der sozialen Wirklichkeit. Dies kann Konflikte hervorrufen, da soziale Tatbestände in Frage gestellt werden, die vorher als Gewissheiten galten. Identitäten geraten ins Wanken und werden im Rahmen sozialer Aushandlungsprozesse neu geschaffen. Dies gilt sowohl für die Gesamtgesellschaft als auch für einzelne Gruppen und Akteure.

Einen weiteren Zugang, der die gesamtgesellschaftlichen Veränderungen durch Migration ebenso berücksichtigt wie die Veränderungen auf der Akteursebene, findet sich in den Ausarbeitungen zur Migration zwischen Algerien und Frankreich Abdelmalek Sayads (2004b). Seine Darlegungen berufen sich zudem auf die umfassende Gesellschaftstheorie Pierre Bourdieus und sind somit in eine »Grand Theory« der Gesellschaft eingebettet. Dabei werden vor allem die Auswirkungen der Emigration auf die Ursprungsgesellschaft, die Historie zwischen Algerien und Frankreich, die Veränderungen des sozialen Raumes durch die Migration und die Abwertung der Migranten in der französischen Gesellschaft in den Fokus gerückt. Vor diesem theoretischen Hintergrund unterliegen die Migranten zahlreichen Zuschreibungen, die mit ihrer Herkunft verbunden sind und Einfluss auf ihre Integrationschancen haben.

Die Ansätze von Bourdieu und Simmel haben gemein, dass sie auf einem relationalen Gesellschaftsverständnis beruhen, nach dem sich die sozialen Gegebenheiten vor allem durch die Beziehungen der einzelnen Elemente untereinander begreifen lassen. Bezogen auf den bisherigen Forschungsstand in der empirischen Migrations- und Integrationsforschung ergeben sich daraus interessante Ansätze, die in dieser Arbeit weiterverfolgt werden sollen. Zum einen ermöglicht das Denken in Relationen, die bisherigen Theorien zu integrieren und ggf. zu modifizieren. Darüber hinaus lassen sich die machttheoretischen Erwägungen Bourdieus, in denen Hierarchien zwischen Nationen und Gruppen beschrieben werden, auf die Themenbereiche Migration und Integration übertragen. Nach diesem Ansatz verfügen nicht alle Migranten(-gruppen) über die gleichen Integrationschancen, sondern sind mit unterschiedlichen »sozialen Handicaps« ihrer Herkunft belastet (Bourdieu 2010 [1997], S. 275 f.). Diese wirken bereits, bevor sie überhaupt migriert sind.

Migration kann aber nicht nur anhand der Migranten beschrieben werden. Auch die Ursprungsgesellschaft wird durch die Migration beeinflusst und trägt zur Klassifizierung der Migranten bei. Bourdieu beschreibt Gesellschaften über eine mehrdimensionale gesellschaftliche Hierarchie, die er als sozialen Raum bezeichnet. Der soziale Raum stellt dabei die gesellschaftliche Struktur dar, die sich aus der für eine Gesellschaft relevanten Kapitalzusammensetzung ergibt. In westlichen Gegenwartsgesellschaften kann dieser vorrangig über das ökonomische und das kulturelle Kapital beschrieben werden. Der soziale Raum stellt dabei nicht nur eine Hierarchie anhand des Besitzes dar. Vielmehr unterscheiden sich je nach sozialräumlicher Position die Lebenslagen der Akteure und Akteursklassen. Dies hat tiefgreifende Auswirkungen auf die Art zu leben und zu denken, so dass sich Personengruppen über ihre sozialräumliche(n) Lage(n) beschreiben lassen.

Im Rahmen der Bourdieuschen Theorie kann davon ausgegangen werden, dass Einstellungen zu Migranten und Migration zwischen den unterschiedlichen Positionen des sozialen Raumes variieren. Zudem wird die Legitimitätshierarchie unterschiedlicher Migrantengruppen gesellschaftlich verhandelt und diskursiv hervorgebracht. Die sozialräumlichen Lagen strukturieren diesen Diskurs und die mit ihnen verbundenen unterschiedlichen (unbewussten) Interessen. So könnte es z.B. sein, dass sich Personen der oberen Mittelschicht für eine liberale Migrationspolitik einsetzen, wobei die Gruppe der Spitzenverdiener konservativere Ansichten vertritt. Die Theorie des sozialen Raumes ermöglicht es, die Eigenheiten von spezifischen Gruppen bei der Analyse zu berücksichtigen und dabei Zusammenhänge von sehr unterschiedlicher Gestalt sowie die Dialektik zwischen unterschiedlichen Merkmalen abzubilden.

Neben diesen theoretischen Erwägungen fußen die Arbeiten Pierre Bourdieus auf einem umfassenden empirischen Methodenkonzept. Im Rahmen des von ihm postulierten Methodenpluralismus lassen sich zahlreiche methodische Zugänge aufzeigen, die in der Lage sind, das relationale Gesellschaftsgefüge und die Beziehungen zwischen den unterschiedlichen sozialen Entitäten empirisch zu erfassen und zu beschreiben. Eine herausgestellte Bedeutung kommt dabei der (multiplen) Korrespondenzanalyse zu, die nach Bourdieus Auffassung die soziale Realität in besonderem Maße widerzugeben vermag (Bourdieu und Wacquant 2006 [1992], S. 125 f.; siehe auch: Bourdieu und Krais 1991, S. 277). Sie ermöglicht es, analytisch einen sozialen Raum zu konstruieren und die Beziehungen unterschiedlicher Variablen(-ausprägungen) oder von Akteuren und Akteursklassen sozialräumlich darzustellen. Das Verfahren trägt damit dem Grundgedanken der Relationalität in besonderer Weise Rechnung.

Diese kurzen Überlegungen offenbaren, dass die Theorie des sozialen Raumes nach Pierre Bourdieu sowohl theoretisch als auch methodisch einen fruchtbaren Beitrag zur Analyse von Migrations- und Integrationsmechanismen leisten kann. Umso bemerkenswerter erscheint es, dass bisher kaum systematische, quantitativ-empirische Umsetzungen des relationalen Konzepts in diesem Themenfeld vorliegen. Eine der wenigen quantitativen Studien auf Grundlage des relationalen Theoriekonzeptes und der Bourdieuschen Epistemologie findet sich in der bislang unveröffentlichten Magisterarbeit »Modellierung sozialer Distanz« von Schmitz (2006), der das Konzept sozialer Distanz nach Simmel in die Habitus-Feld-Theorie Bourdieus integriert und empirisch anhand von ethnischen Kategorien und Relationen validiert. Zudem wendet die Studie von Lesske et al. (2018) die relationale Theorie im Rahmen einer multiplen Korrespondenzanalyse auf dem Gebiet der Flüchtlingsintegration an. Neben diesen Ansätzen sollen in der folgenden Arbeit weitere Perspektiven einer relationalen Migrations- und Integrationssoziologie erarbeitet und empirisch geprüft werden.

Ziel dieser Studie ist es daher, das theoretische und methodische Instrumentarium Bourdieus auf dem Feld von Integration und Migration anzuwenden. Dabei wird vor allem der Frage nachgegangen, welche sozialen Mechanismen Migrations- und Integrationsprozesse kennzeichnen. Da Integrationsprozesse stets von Wechselwirkungen zwischen Migranten und Ursprungsbevölkerung geprägt sind, ist es ein besonderes Anliegen dieser Studie, keine einseitige Betrachtung vorzunehmen. Aus diesem Grund werden sowohl Befragungsdaten von Migranten als auch der Ursprungsbevölkerung in die Analyse miteingehen. Die empirische Betrachtung erfolgt anhand der Entwicklungen im Anschluss an die steigende Fluchtmigration um den Spätsommer 2015, als mehr als eine Millionen Flüchtlinge, vor allem aus dem Nahen und Mittleren Osten (insb. Syrien) und Nordafrika, nach Deutschland kamen2. Aus einer analytischen Sicht bietet sich die Betrachtung der Gruppe der Geflüchteten gleichsam an. Zunächst handelt es sich um einen sehr aktuellen Fall von Migration, so dass auch frühe Phasen des Integrationsprozesses gut beschrieben werden können. Zudem kamen die Flüchtlinge zahlreich, so dass eine Analyse einen Zugriff auf gruppeninterne Differenzierungsmechanismen ermöglicht. Aufgrund der aktuellen Datenlage setzt die Analyse dabei einen Fokus auf den Integrationsprozess und seine Ausgangsbedingungen.

Für die Analyse der autochthonen Bevölkerung werden Daten aus den Kölner Flüchtlings-Studien verwendet, die unter der Leitung von Prof. Dr. Jürgen Friedrichs zwischen 2016 und 2020 die sozialräumliche Integration von Flüchtlingen in Hamburg, Köln und Mülheim an der Ruhr untersuchten. Dabei kam ein dreigliedriges Studiendesign zur Anwendung. Im ersten Modul wurden im Rahmen von qualitativen Experteninterviews die kommunalen Integrationsstrukturen und -voraussetzungen untersucht. Im zweiten Modul erfolgte ein Befragung von Flüchtlingen anhand eines halb-standardisierten Befragungsdesigns. Das Dritte Modul war auf die Perspektive der autochthonen Bevölkerung gerichtet. Hierzu wurde in sechs ausgewählten Stadtteilen (Hamburg-Harvestehude, Hamburg-Bergedorf, Köln-Ostheim, Köln-Rondorf, Mülheim-Saarn und Mülheim-Mitte), in denen mindestens eine Flüchtlingsunterkunft eingerichtet worden war, eine Befragung unter den Anwohnern mittels standardisierter quantitativer Interviews durchgeführt. Die Erhebung erfolgte in zwei Wellen.

Da die Befragung der Flüchtlinge in den Kölner-Flüchtlingsstudien vorwiegend qualitativ erfolgte und die Daten daher für die quantitative Analyse nicht verwendet werden können, wird die Perspektive der Flüchtlinge in dieser Arbeit über die Daten der Geflüchtetenbefragung abgebildet, die durch eine Kooperation des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) im Rahmen des Sozioökonomischen Panels (SOEP) seit 2016 erhoben werden (Kroh et al. 2016).

Bei der Fluchtmigration handelt es sich um einen Sonderfall der Migration. Hervorzuheben ist die besondere völkerrechtlichen Legitimierung, die der Fluchtmigration durch die Genfer Flüchtlingskonvention zugestanden wird. Zudem sind die Migrationsursachen zumeist akute Krisen oder Kriege, während andere Migrationsbewegungen verschiedene, vor allem wirtschaftliche, Gründe haben. Dieser Sonderstatus der Flüchtlinge drückt sich in den verwendeten Begrifflichkeiten aus. In der folgenden Studie wird der Begriff »Migranten« als übergeordnete Kategorie verwendet, die Flüchtlinge mit einschließt. Die Bezeichnung »Flüchtlinge« steht hingegen explizit für die Gruppe der Flüchtlinge. Zudem ist von Ingroup oder auch Majorität die Rede, wenn die Ursprungsbevölkerung gemeint ist. Demgegenüber beschreiben die Begriffe Minorität oder Outgroup die Gruppe der Migranten, die in der Analyse betrachtet wird.

Die Bedingungen von Migranten, Migration und Integration lassen sich nur für einen spezifischen Fall und zu einem gegebenen Zeitpunkt bestimmen. Dies schließt jedoch nicht aus, dass sich durch die Betrachtung spezifischer Fälle grundlegende oder verallgemeinerbare Mechanismen von Migration und Integration ausmachen lassen. Sayad geht bspw. in seinem Aufsatz »An Exemplary Immigration« (Sayad 2004 [1985/1986]) auf die Einzigartigkeit der Immigration von Algeriern nach Frankreich ein und betont, dass es gerade die Spezifika sind, die diesen Fall für die Analyse interessant erscheinen lassen.

»Because it is extraordinary, this immigration seems to contain the truth of all other immigrations and of immigration in general, and it appears to display, as clearly as possible and with the highest degree of ›exemplariness‹, attributes that we find dispersed and diffused in other emigrations« (Sayad 2004 [1985/1986], S. 63).

Und auch Bourdieu verweist in Anlehnung an Husserl darauf, man solle sich im besonderen Fall versenken, um in ihm das Invariante zu entdecken (Bourdieu und Krais 1991, S. 278).

Der empirische Gegenstand dieser Studie, die Fluchtmigration aus dem Nahen und Mittleren Osten und Nordafrika um das Jahr 2015, muss vor diesem Hintergrund ebenfalls als spezifischer Fall von Migration betrachtet werden. Die Flüchtlingsgruppen hatten eine hohe innere Diversität, so dass die zahlreichen kulturellen, ökonomischen und sozialen Konstellationen der Flüchtlinge sowohl untereinander als auch in Relation zur deutschen Ursprungsbevölkerung betrachtet werden können. Dennoch kann angenommen werden, dass eine Analyse dieser Migrationskonstellation dazu beitragen kann, grundlegende Mechanismen zu beschreiben, die sich von dem spezifischen Fall auf eine allgemeine Ebene abstrahieren lassen. In diesem Sinne plädieren auch Kogan und Kalter (2020) dafür, die Flüchtlingsmigration, trotz ihres Status als Sonderfall der Migration, mit den gleichen theoretischen und analytischen Werkzeugen zu betrachten, wie sie für andere Formen von Migration und Integration zum fachlichen Standard gehören.

Im Rahmen der vorliegenden Arbeit soll eine Bourdieusche Migrations- und Integrationstheorie entwickelt und empirisch geprüft werden. Die Studie beginnt mit einer Darlegung der Bedeutung von Flucht und Migration für die Bundesrepublik Deutschland. Dazu werden zunächst die Entwicklungen der Flüchtlingsmigration seit dem Spätsommer 2015 aufgearbeitet. Zudem erfolgt eine Darlegung der zentralen (rechtlichen) Begriffe der (Flucht-)Migration. Durch ihren Sonderstatus greifen für Flüchtlinge z.T. andere rechtliche Kategorien, als es für andere Migrantengruppen der Fall ist. Diese übersetzen sich in die Integrationschancen und die soziale Klassifizierung von Flüchtlingen, weshalb die rechtlichen Besonderheiten und Unterscheidungen der Flüchtlingsgruppe (Abschnitt 2.1), sowie die rechtlichen und politischen Veränderungen, die sich im Nachgang des Spätsommers 2015 ergeben haben (Abschnitt 2.2), nachgezeichnet werden. Die gesetzlichen Bestimmungen sind dabei auch ein Ausdruck der Migrationshistorie in Deutschland. Soziale Zuschreibungen und Klassifikationen sind das Ergebnis einer historischen Genese, die ebenfalls in die Analyse miteingeht. Daher erfolgt in Abschnitt 2.3 eine Aufarbeitung der unterschiedlichen Phasen der Migration, wie sie sich für die Bundesrepublik Deutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges abgezeichnet haben. Daraufhin werden Theorie und Forschungsstand referiert (Kapitel 3). Aufgrund des schieren Umfangs der Literatur- und Studienlage zu Migration und Integration konzentriert sich diese Arbeit auf theoretische Erwägungen zur sozialen Distanz, die Theorie der Ethnischen Bedrohung bzw. die Intergrated Threat Theory, die Kontakthypothese, sowie Ansätze der Integrations- und Assimilationstheorie. Damit legt die Arbeit einen besonderen Fokus auf die integrationstheoretische Perspektive von (Flucht-)Migration. Zudem werden die Ergebnisse der qualitativen Expertenbefragungen der Kölner Flüchtlings-Studien, insbesondere aus der Publikation »Fremde Nachbarn« (Friedrichs et al. 2019), für eine weiterführende Interpretation referiert (Abschnitt 3.7). Das Kapitel schließt mit einer Synopse und Reflektion des Forschungsstandes (Abschnitt 3.8).

Im Anschluss an die Aufarbeitung des Forschungsstandes erfolgt eine theoretische Einführung in die Arbeit Pierre Bourdieus (Kapitel 4). Dabei werden zunächst die zentralen Begriffe geklärt und losgelöst vom empirischen Gegenstand vorgestellt. Eine Ausarbeitung eines theoretischen Rahmens für Migration und Integration aus einer Bourdieuschen Perspektive erfolgt in Kapitel 5. Dabei sollen auch die Geschichte der Migration in der Bundesrepublik (Abschnitt 5.3) und die Ergebnisse der Expertenbefragungen aus den Kölner Flüchtlings-Studien (Abschnitt 5.4) erneut aufgegriffen und vor dem Hintergrund der Theorie Bourdieus interpretiert werden. Zudem wird der mediale öffentliche Diskurs aufgearbeitet (Abschnitt 5.5), da sich hier unterschiedliche Meinungsdispositionen gegenüberstehen und maßgeblich daran beteiligt sind, jene Zuschreibungen hervorzubringen, welche die Flüchtlinge in der öffentlichen Wahrnehmung charakterisieren und klassifizieren. In Kapitel 6 werden die Methode der multiplen Korrespondenzanalyse und die verwendeten Daten vorgestellt. Die Darlegung der Ergebnisse folgt in Kapitel 7. Zunächst werden die Analysen aus der Perspektive der Flüchtlinge referiert (Abschnitt 7.1), dann die Ergebnisse aus der Ursprungsbevölkerung (Abschnitt 7.2). Im Anschluss erfolgt in Kapitel 8 eine gemeinsame Betrachtung der Analysen und ihre Interpretation im Kontext der Theorie Bourdieus. Zudem soll dargestellt werden, welcher zusätzliche Beitrag durch die Theorie des sozialen Raumes gegenüber den klassischen Theorien der Migrations- und Integrationsforschung geleistet werden kann.

2.Flucht und Migration in der Bundesrepublik Deutschland

Ausgangspunkt der Studie ist die gesteigerte Einreise von Flüchtlingen nach Deutschland in der Mitte der 2010er Jahre, die besonders um den Spätsommer 2015 kulminierte3. Schon vor 2015 zeichnete sich ab, dass es zu einem Anstieg der Flüchtlingszahlen kommen würde. Seit 2008 ist ein stetiger Anstieg der Asylantragszahlen in Deutschland zu beobachten (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2020, S. 5). Dennoch waren der Anstieg der Flüchtlingszahlen und die aufkommende Flüchtlingsproblematik in Deutschland lange Zeit innen- wie außenpolitisch kein bedeutsames Thema. Durch die Regelungen des Dublin-II- und Dublin-III-Abkommens, welche die Zuständigkeit für Migranten und Flüchtlinge den Ländern zuweisen, in dem sie die EU betreten, waren anfangs vor allem Griechenland und Italien von einer verstärkten Zuwanderung von Flüchtlingen betroffen, die ihren Weg über das Mittelmeer in die EU suchten. Zunehmend nahmen Flüchtlinge aber auch lange Reisen über Umwege in die EU auf sich. Dabei gab es verschiedene Fluchtrouten, die bspw. über Slowenien und Ungarn führten. Je nach aktueller Frequentierung verschoben sich die humanitären Brennpunkte entlang dieser Fluchtrouten (Lehmann 2015). Besonders durch die Grenzschließung der serbisch-ungarischen Grenze im August 2015 wurde die Flüchtlingsmigration für die Bundesrepublik Deutschland zu einem virulenten Thema. Zahlreiche Flüchtlinge strandeten damals vor den Toren Ungarns, worauf sich Deutschland und Österreich bereiterklärten, diese Flüchtlinge aufzunehmen. Am 31. August 2015 sprach die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel in einem Sommerpressekonferenz jene ikonischen Worte, die den humanitären Anspruch der Flüchtlingshilfe in der Folgezeit für Deutschland unterstreichen sollten: »Wir schaffen das!« (Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland 2020b).

Die große Anzahl an Flüchtlingen, die 2015 Deutschland erreichte, war somit absehbar. Die Anzahl der Asylanträge stieg ab 2008 (28.018 Asylanträge) stetig und erreichte 2015 (476.649 Asylanträge) und 2016 (745.545 Asylanträge) ihren Höhepunkt. In der Zeit nach 2015 wurden Maßnahmen ergriffen, die den weiteren Zustrom an Flüchtlingen in die EU verringern sollten. Danach nahm die Zahl der Asylanträge wieder ab, lag 2019 mit 165.938 Asylanträgen aber immer noch auf einem deutlich höheren Niveau als 2008 (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2020, S. 5). Im gleichen Zeitraum stieg die Anzahl der von der UNHCR im weitesten Sinne als Flüchtlinge gezählten Personen weltweit (auch innerhalb ihres Heimatlandes) von etwa 34 Millionen auf knapp 82 Millionen (UNHCR 2020). Nur ein Bruchteil dieser Flüchtlinge machte sich auf den Weg nach Europa bzw. Deutschland.

Der Anstieg der weltweiten Flüchtlingszahlen um 2015 hängt maßgeblich mit dem Krieg in Syrien und den Destabilisierungen der syrischen Nachbarstaaten zusammen (Lehmann 2015). So machten Syrer auch den größten Anteil der Flüchtlinge aus, die zwischen 2015 und 2020 in Deutschland einen Antrag auf Asyl gestellt haben. Sie bilden zudem seither jährlich die größte Flüchtlingsgruppe, wobei die Zahlen seit 2016 rückläufig sind. 2015 stellten insgesamt 158.657 Syrer einen Asylantrag in Deutschland, 2016 waren es 266.250. 2019 haben indes nur noch 39.270 Syrer einen Antrag auf Asyl in Deutschland gestellt. Weitere große Flüchtlingsgruppen kamen seit 2015 zudem aus Afghanistan, Irak, Eritrea und Iran (Bundeszentrale für politische Bildung 2018). In den Jahren 2015 und 2016 stellten, neben den Flüchtlingen aus dem Nahen und Mittleren Osten und Nordafrika, zudem zahlreiche Migranten aus den Balkanstaaten einen Antrag auf Asyl in Deutschland. Seit der Deklarierung von Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und Serbien im Jahr 2014 und Albanien, Montenegro und Kosovo im Oktober 2015 als »sichere Herkunftsstaaten« haben Antragsteller aus diesen Ländern jedoch kaum noch eine Chance auf die Gewährung von Asyl. Dies führte dazu, dass die Antragszahlen aus den Ländern des Balkans deutlich zurückgingen.

Insgesamt lässt sich schwerlich von »den Flüchtlingen« sprechen, da es sich um eine sehr heterogene Gruppe handelt. Sie unterscheiden sich deutlich in Bildung, sozialer Herkunft und Alphabetisierungsgrad. So konnte bspw. die IAB-BAMF-SOEP Befragung von Geflüchteten für die Befragungswelle 2016 zeigen, dass gerade einmal 61 Prozent der Flüchtlinge über einen Schulabschluss verfügten, während 17 Prozent gar keine Schule besucht hatten. Die Heterogenität besteht insbesondere auch zwischen den Bildungsquoten der Flüchtlinge nach Herkunftsstaaten. Während von den syrischen Flüchtlingen 8 Prozent keinen Schulabschluss hatten, waren es aus Afghanistan 34 Prozent. Die Akademikerquote lag für syrische Flüchtlinge bei 17 Prozent, für Afghanen bei 4 Prozent (Brücker et al. 2018, S. 31). Insgesamt gab fast ein Drittel der volljährigen Asylantragsteller aus dem Jahr 2017 an, keinen formalen Schulabschluss oder nur die Grundschule abgeschlossen4 zu haben, was einer Beschulung von maximal vier Jahren entspricht (Schmidt 2018, S. 6). Die Gruppe der Flüchtlinge lässt sich zudem hinsichtlich der Integrationsaspirationen und -bemühungen differenzieren. Entscheidend ist dafür nicht nur die Herkunft, sondern z.B. der Urbanisierungsgrad oder die Flucht- /Migrationsursache (Friedrichs et al. 2019, S. 155).

Im Anschluss an die Aufnahme der Flüchtlinge entbrannte eine breite Debatte zwischen Befürwortern und Gegnern der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung. Als einzige größere Partei, die sich offensiv gegen die Flüchtlingspolitik stellte, erstarkte in diesem Zuge die rechts-konservative Partei »Alternative für Deutschland« (AfD) (Decker 2017, S. 102). Andererseits zeigte sich ein breites zivilgesellschaftliches Engagement. Fast zehn Prozent der gesamtdeutschen Bevölkerung engagierte sich in der Zeit von November 2015 bis April 2017 aktiv für die Flüchtlinge (Ahrens 2017, S. 19; Jacobsen et al. 2017). Diese polarisierte Stimmungslage zeigte sich auch in den Umfragen zur Flüchtlingspolitik. Nach dem ARD-Deutschlandtrend vom September 2015 sprachen sich ca. 37 Prozent der Befragten für eine gleichbleibende Aufnahme von Flüchtlingen aus, 33 Prozent forderten, dass weniger, und 22 Prozent, dass mehr Flüchtlinge aufgenommen werden sollten (Tagesschau.de 2020). Auch fünf Jahre spätere spaltete diese Frage die Gesellschaft. Aus dem ARD-Deutschlandtrend von Januar 2020 geht hervor, dass 42 Prozent für eine gleichbleibende Aufnahme von Flüchtlingen plädierten. 40 Prozent gaben hingegen an, dass fortan weniger Flüchtlinge aufgenommen werden sollten. Und nur noch 11 Prozent forderten, dass Deutschland mehr Flüchtlinge aufnehmen solle (Tagesschau.de 2020).

Trotz der stark polarisierten Debatte um die Aufnahme von Flüchtlingen im Anschluss an den Spätsommer 2015 können Schmidt und Weick (2017) für den Zeitraum von 2006 bis 2016 zeigen, dass die Einstellungen gegenüber Asylsuchenden insgesamt positiver geworden sind. Während 2006 noch 16% der Befragten in Ostdeutschland und 14% der Befragten in Westdeutschland den Zuzug von Asylsuchenden völlig unterbinden wollten, waren dies 2016 nur noch 8% in Ostdeutschland und 7% in Westdeutschland (Schmidt und Weick 2017, S. 3). Somit hat sich trotz (oder möglicherweise gerade wegen) der Aufnahme von Flüchtlingen in großer Anzahl, sowie dem breiten gesellschaftlichen Diskurs, der damit verbunden war, die allgemeine Einstellung zur Aufnahme von Flüchtlingen verbessert.

2.1Rechtliche Einordnung der Kategorie »Flüchtling«

Fluchtmigration ist rechtlich gesehen eine Sonderform der Migration. Gegenüber anderen Migrationsformen genießt das Recht auf Asyl Verfassungsrang. Es findet seinen Niederschlag im deutschen Asylrecht, welches sich aus dem internationalen Völkerrecht, genauer gesagt der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951, ableitet. Die Genfer Flüchtlingskonvention stellt ein internationales Abkommen für den Umgang mit Flüchtlingen dar. Nach den Erfahrungen des zweiten Weltkrieges und dem Leid, welches durch die Flucht von mehreren Millionen Menschen hervorgerufen wurde, sollte mit der Genfer Flüchtlingskonvention ein international gültiges Regelwerk geschaffen werden, mit dem der humanitäre Umgang mit Flüchtlingen institutionalisiert und das »Recht auf Flucht« in den Rang eines Menschenrechts erhoben wird. Die Konvention definiert einen Flüchtling als Person, die

»aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt […]« (UNHCR 2004 [1951/1967]).

Das Recht auf Asyl steht somit jedem zu, der nach den Kriterien der Konvention Schutz sucht und es gilt weltweit in den 149 Unterzeichnerstaaten.

Über Artikel 16a des Grundgesetzes findet die Genfer Flüchtlingskonvention ihren verfassungsrechtlichen Ausdruck im deutschen Recht. Nach Absatz 1 heißt es dort: »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht« (Bundesministerium der Justiz und Verbraucherschutz 2020a, Artikel 1). Eine Einschränkung dieses Rechts wurde in Absatz 2 mit dem Asylkompromiss von SPD und CDU aus dem Jahre 1992 eingeführt (Herbert 2001, S. 299). Personen, die aus Mitgliedsstaaten der Europäischen Union oder einem anderen Drittstaat einreisen, in dem die Wahrung der Genfer Flüchtlingskonvention sichergestellt ist, werden demnach von dem Asylrecht ausgeschlossen. Absatz 3 ermöglicht zudem die Deklarierung von sogenannten »sicheren Herkunftsländern«. Auch für Personen aus diesen Ländern ist die Möglichkeit auf Asyl weitgehend eingeschränkt, da dort »weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet« (Bundesministerium der Justiz und Verbraucherschutz 2020a, Artikel 3).

Die Verteilung von Flüchtlingen im Raum der Europäischen Union ist ebenfalls rechtlich geregelt. Die »Dublin-III-Verordnung«, die in ihrer aktuellen Fassung im Juni 2013 verabschiedet wurde, benennt die »Asylpolitik einschließlich eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) [als] wesentliche[n] Bestandteil des Ziels der Europäischen Union« (Europäische Union, Artikel 2). Nach der Dublin-III-Verordnung haben sich Flüchtlinge in dem Land zu registrieren, in dem sie zum ersten Mal die EU betreten. Diesem Land obliegt zudem die Verantwortung für den Flüchtling und seinen Asylantrag. In Kapitel 3, Artikel 13, Absatz 1 heißt es zudem:

»Wird auf der Grundlage von Beweismitteln oder Indizien gemäß den beiden in Artikel 22 Absatz 3 dieser Verordnung genannten Verzeichnissen, einschließlich der Daten nach der Verordnung (EU) Nr. 603/2013 festgestellt, dass ein Antragsteller aus einem Drittstaat kommend die Land-, See- oder Luftgrenze eines Mitgliedstaats illegal überschritten hat, so ist dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig. Die Zuständigkeit endet zwölf Monate nach dem Tag des illegalen Grenzübertritts« (Europäische Union, S. 10).

Dies bedeutet für die Anrainerstaaten des Mittelmeers eine besondere Belastung, da ihnen in den meisten Fällen die rechtliche Verantwortung für die eingereisten Flüchtlinge zufällt. In den vergangenen Jahren waren im Raum der EU besonders Italien und Griechenland von der verstärkten Flüchtlingsmigration betroffen.

Im öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs wird der Flüchtlingsbegriff zumeist weitergefasst, als die Definition der Genfer Flüchtlingskonvention nahelegt (Düvell 2011). Die Genfer Konvention umfasst nur Personen, die aufgrund ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Gruppenzugehörigkeit oder ihrer politischen Überzeugung verfolgt werden. Kriegsflüchtlinge zählen bspw. nicht zu dieser Gruppe, werden in der Regel aber als Flüchtlinge angesehen. Die Zuteilung des Status »Flüchtling« bzw. die Anerkennung als »legitimer Flüchtling« innerhalb der Gesellschaft ist also nicht nur vom rechtlichen Status im internationalen Völkerrecht abhängig. Vielmehr sind es die gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse, welche die Kategorie »Flüchtling« mit Inhalten füllen und in die Praxis übersetzen (Scherr 2015).

Die Chance, einen Flüchtlingsstatus zu erhalten und damit als »legitimer Flüchtling« in Deutschland bleiben zu dürfen ist eng verbunden mit diesen gesellschaftlichen Zuschreibungsprozessen. Sie schlagen sich in der Rechtsordnung und im politischen Diskurs nieder und beeinflussen so die Anerkennungspraxis. Für die Bleibeperspektive entscheidend ist dabei vor allem der Rechtsstatus, der im Asylverfahren zuerkannt wird.

Insgesamt ist das deutsche Asylrecht sehr komplex und es gibt zahlreiche Faktoren, die bei der Anerkennung des Flüchtlingsstatus eine Rolle spielen. Diese reichen von der Herkunftsregion, über die Anerkennungspraxis im jeweiligen Bundesland oder den Kommunen bis hin zu den Sachbearbeitern, die sich mit dem jeweiligen Asylantrag beschäftigen. Für die Zuteilung des Schutzstatus ist das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zuständig. Dieses unterscheidet zunächst nach drei Personengruppen: 1. Asylsuchende sind Personen, die bisher noch keinen Asylantrag gestellt haben, dies aber beabsichtigen. Es ist der erste Status, den Flüchtlinge nach der Einreise in die Bundesrepublik zugewiesen bekommen. Nachdem der Antrag auf Asyl beim BAMF eingereicht ist, handelt es sich 2. um Asylantragstellende. Zu diesem Zeitpunkt ist der Asylantrag eingereicht, das Asylverfahren läuft, ist jedoch noch nicht entschieden. Nachdem das Asylverfahren abgeschlossen und positiv beschieden ist, handelt es sich um 3. Schutzberechtigte sowie Bleibeberechtigte (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2019a).

Der Aufenthaltsstatus von Personen, denen ein Bleiberecht in Deutschland eingeräumt wird, kann vier verschiedene Formen annehmen. Auf Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention kann der Flüchtlingsschutz als humanitäre Flüchtlingshilfe zugeteilt werden. In Paragraph 3 des Asylgesetzes (AsylG) heißt es:

»Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich 1. aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe; 2. außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, a) dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder b) in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will« (Bundesministerium der Justiz und Verbraucherschutz 2020b, §3).

Die Verfolgung im Heimatland kann durch staatliche oder nicht-staatliche Akteure erfolgen. Darunter fallen bspw. politische Verfolgung oder die Bedrohung durch physische, psychische oder sexuelle Gewalt. Mit dem Flüchtlingsschutz wird eine Aufenthaltserlaubnis für drei Jahre erteilt. Zudem besteht ein unbeschränkter Zugang zum Arbeitsmarkt und die Möglichkeit des privilegierten Familiennachzugs (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2019d).

Der Flüchtlingsschutz wird weiter ausgelegt als der Status der Asylberechtigung, der ebenfalls auf der Genfer Flüchtlingskonvention basiert. Eine Asylberechtigung wird nur vergeben, sofern eine Verfolgung aus politischen Gründen erfolgt und bei Rückkehr in das Heimatland schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen drohen. Zudem darf keine Fluchtalternative im Herkunftsland oder anderweitiger Schutz bestehen (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2019c). Durch seine Niederschrift in Artikel 16a (Bundesministerium der Justiz und Verbraucherschutz 2020a) des Grundgesetzes hat die Asylberechtigung zwar Verfassungsrang, sie gilt jedoch ausschließlich bei Verfolgung durch staatliche Akteure, so dass andere humanitäre Notlagen nicht darunterfallen. Rechtlich haben also Flüchtlinge, die aus Gründen wie Krieg, Armut oder Naturkatastrophen nach Deutschland kommen, keinen verfassungsmäßigen Anspruch auf Asyl. In solchen Fällen kommt allenfalls ein humanitärer Flüchtlingsschutz in Betracht. Wie beim Flüchtlingsschutz haben Asylberechtigte in der Regel zunächst eine Aufenthaltserlaubnis für drei Jahre. Zudem besteht auch hier ein unbeschränkter Zugang zum Arbeitsmarkt, sowie die Möglichkeit des privilegierten Familiennachzugs (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2019c). Als dritter Schutzstatus kann nach Paragraph 4 des Asylgesetzes der Asylantrag auch mit einem subsidiären Schutz beschieden werden. Hier heißt es:

»1) Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt: 1. die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, 2. Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder 3. eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts« (Bundesministerium der Justiz und Verbraucherschutz 2020b, 4).

Der subsidiäre Schutz wird folglich vergeben, wenn im Herkunftsland ein »ernsthafter Schaden« droht, das Recht auf Flüchtlingsschutz oder Asylberechtigung jedoch nicht greifen. Die Bedrohung kann dabei durch staatliche und nicht-staatliche Akteure gegeben sein. Im Falle der Flüchtlinge aus Syrien kann somit auch die Bedrohung durch den Islamischen Staat im Zuge des Syrienkonfliktes als eine solche Bedrohung angesehen werden. Beim subsidiären Schutzstatus besteht zunächst eine Aufenthaltserlaubnis von einem Jahr, die um jeweils zwei weitere Jahre verlängert werden kann. Subsidiär Geschützte haben zwar einen unbeschränkten Arbeitsmarktzugang, jedoch keinen Anspruch auf privilegierten Familiennachzug (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2019e).

Der vierte Status des nationalen Abschiebungsverbotes kann zur Anwendung kommen, wenn weder die Kriterien des Flüchtlingsschutzes oder der Asylberechtigung noch des subsidiären Schutzes erfüllt sind. Voraussetzung hierfür ist, dass eine Abschiebung gegen die europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten verstoßen würde (Bundesministerium der Justiz und Verbraucherschutz 2020c, 60, V) und eine »konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht« (Bundesministerium der Justiz und Verbraucherschutz 2020c, 60, VII). Bei Zuweisung eines nationalen Abschiebungsverbotes besteht zunächst eine Aufenthaltserlaubnis von einem Jahr, die wiederholt verlängert werden kann. Für die Aufnahme einer regulären Beschäftigung ist die Genehmigung durch die Ausländerbehörde erforderlich (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2019b).

Bei ausreisepflichtigen Personen kann die Ausländerbehörde zudem eine Duldung aussprechen, wodurch die Abschiebung vorübergehend ausgesetzt wird. Dabei handelt es sich nicht um einen Aufenthaltstitel, sondern sie legalisiert den Aufenthalt in Deutschland. Die Ausreisepflicht besteht fort und die Duldung erlischt, sobald Deutschland verlassen wird. Ferner besteht für geduldete Personen in den ersten drei Monaten und auf Anordnung Residenzpflicht, was bedeutet, dass sie sich nur innerhalb des zuständigen Bundeslandes aufhalten dürfen. Beschäftigungen bedürfen einer Arbeitserlaubnis (Informationsverbund Asyl & Migration 2020). Wird keine der genannten Aufenthaltstitel oder eine Duldung ausgesprochen, so droht mit der Ausreisepflicht den eingereisten Migranten die Abschiebung. Faktisch bleiben jedoch geduldete und z. T. auch ausreisepflichtige Migranten häufig viele Jahre in Deutschland (Statista 2021a).

Wie lange die Asylverfahren dauern, ist zumeist abhängig von der Herkunft der Asylantragsteller und der bearbeitenden Kommune. Besonders ab 2015 zog sich die Dauer der hochbürokratischen Asylverfahren häufig in die Länge. Nach einem Artikel von Zeit-Online warteten Ende 2016 insgesamt 60.000 Antragsteller länger als 18 Monate auf ihren Asylbescheid (Zeit Online 2019). 2017 lag die durchschnittliche Dauer zwischen Antragstellung und Asylbescheid bei etwa 10,7 Monaten, wobei die Dauer je nach Herkunftsländern der Antragsteller stark variierte (Deutscher Bundestag 2019). Mit sinkendem Aufkommen an Asylanträgen sank auch die Bearbeitungszeit, so dass 2019 die durchschnittliche Bearbeitungszeit nur noch etwa ein halbes Jahr betrug (Zeit Online 2019).

Trotz der umfassenden Rechtsordnung im Asylrecht kommt es in der sozialen Praxis häufig zu unterschiedlichen Rechtsauslegungen. Dies zeigt sich beispielsweise in der föderalen Struktur der Bundesrepublik anhand der unterschiedlichen Schutzquoten von Afghanen zwischen den Bundesländern. Während 2017 in Bremen 65,2 Prozent der Afghanen einen Schutzstatus zuerkannt bekamen, waren es in Brandenburg gerade einmal 32,4 Prozent. Bundesweit lag die Schutzquote von Afghanen im Durchschnitt bei 47,4 Prozent (Kastner 2018; Deutscher Bundestag 2018, S. 13; Riedel und Schneider 2017). Diese Schwankungen lassen sich nicht anhand von Kompositions- oder Auswahleffekten erklären, da die Verteilung der Flüchtlinge auf die Bundesländer gleichmäßig über den Königsteiner-Schlüssel erfolgt, so dass sich die Flüchtlinge zwischen den Bundesländern höchstens marginal anhand asylrelevanter Merkmale unterscheiden sollten. Vielmehr zeigt sich, dass die staatliche Ordnung durch verschiedene Umsetzungen oder Übersetzungen (Mautz 2015) der geltenden Rechtslage zu unterschiedlichen Ergebnissen führt. Die divergierenden Schutzquoten müssen auf unterschiedliche Anwendung der gleichen Gesetze zurückgeführt werden, die nicht zuletzt auch über unterschiedliche politische Mehrheiten und Programme in den jeweiligen Bundesländern zustande kommen.

Deutschland verfügt bis heute nicht über ein umfassendes Zuwanderungsgesetz, so dass die Kriterien der Zuwanderung, trotz des Bedarfs an Facharbeitern, nur unzureichend geregelt sind. Grundsätzlich stellt die Anerkennung als Flüchtling heute einen der wenigen Wege der Migration nach Deutschland dar. Eine reguläre Zuwanderung steht vorrangig hochqualifizierten Migranten zu, die über ein überdurchschnittliches Einkommen verfügen (Hamann und Karakayali 2016, S. 73). So liegt es nahe, dass auch Personen einen Antrag auf Asyl stellen, welche die Kriterien für einen Schutzstatus nur unzureichend erfüllen, da sie sich auf diesem Wege eine Zukunft in Deutschland versprechen.

2.2Der Spätsommer 2015 und seine rechtlichen Folgen

Da die Strukturen der Bundesrepublik für die Integration von Flüchtlingen nicht auf eine so große Anzahl an Asylsuchenden ausgelegt war, geriet die Bundesregierung in der Folge des Spätsommers 2015 unter Handlungsdruck. Sie regierte mit dem Integrationsgesetz vom 31. Juli 2016 (Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland 2016). Dies unterliegt dem Leitgedanken des »Fördern und Forderns« und soll durch gezielte Anreize die Integrationsbemühungen der Flüchtlinge verstärken (Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland 2020a). Maßnahmen hierzu sind die Ausweitung des Bleiberechts auf die gesamte Zeit einer Ausbildung und der anschließenden Beschäftigung, mehr Kapazitäten bei den Integrationskursen, die Einführung einer Wohnsitzauflage und ein Verzicht für drei Jahre auf die bis dahin gültige Vorrangprüfung, nach der bei der Vermittlung von Arbeit durch die Bundesagentur für Arbeit deutsche Staatsbürger bevorzugt werden (Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland 2020a).

Zudem wurden mit dem im Oktober 2015 verabschiedeten Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz (Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland 2015) Regelungen geschaffen, nach der Asylsuchende, die aus einem Land mit sog. »guter Bleibeperspektive« kommen, schneller integriert werden sollen. Ländern wird dieser Status zuerkannt, sofern mehr als 50% der Asylanträge von Personen aus diesen Ländern positiv beschieden werden5. Asylsuchende mit guter Bleibeperspektive genießen z.B. Privilegien bei der Aufnahme einer Arbeit und bekommen früher die Möglichkeit, an einem Integrationskurs teilzunehmen. Diejenigen Gruppen, die nicht aus einem dieser Länder stammen, müssen dagegen länger auf ihre Integrations- und Sprachkurse warten (Aumüller 2018, S. 178).

Insgesamt lässt sich das Integrationsgesetz und auch weitere Maßnahmen, die im Nachgang des Spätsommers 2015 getroffen wurden, als Verschärfung des Asylrechts lesen. Flüchtlinge haben bspw. zwar kein Anrecht auf einen Integrationskurs, können jedoch zu der Teilnahme daran verpflichtet werden. Sollten sie dieser Verpflichtungen nicht nachkommen, drohen Kürzungen der staatlichen Leistungen (Deutscher Gewerkschaftsbund 2016, S. 3 f.). Für Geduldete wird das Bleiberecht bei einer Ausbildung und anschließenden Beschäftigung prinzipiell ausgeweitet, so dass eine Aufenthaltserlaubnis für die Zeit der Berufsausbildung und zwei Jahre im Anschluss besteht, sofern eine (Weiter-)Beschäftigung nachgewiesen werden kann. Falls die Ausbildung jedoch vorzeitig beendet wird, ist dies durch den Arbeitgeber zu melden. Arbeitgebern droht bei Nichtbeachten dieser Vorgabe eine Strafe von bis zu 30.000 Euro. Die Geduldeten können nach dem Abbruch der Ausbildung einmalig eine Verlängerung der Duldung um 6 Monate beantragen, ansonsten erlischt die Duldung durch den Abbruch der Ausbildung (Deutscher Gewerkschaftsbund 2016, S. 5; Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland 2016, S. 1944 f.). Ferner können Flüchtlinge zu Arbeitsgelegenheiten verpflichtet werden. Kommen sie dieser Verpflichtung nicht nach, droht die Streichung der Grundleistungen (Deutscher Gewerkschaftsbund 2016, S. 8).

Neben diesen Verschärfungen der geltenden Rechtsordnung wurden die bestehenden Gesetze zur Aufnahme von Flüchtlingen zeitweise strenger ausgelegt. So lässt sich beobachten, dass ab dem Spätsommer 2015 häufiger nur ein subsidiärer Schutzstatus an die Flüchtlinge vergeben wurde. Während 2015 nur bei 0,6% der Asylanträge der subsidiäre Schutzstatus vergeben und 48,5% als Flüchtlinge anerkannt wurden, stieg der Anteil des subsidiären Schutzstatus 2016 auf 22,1%, wohingegen nur noch 36,8% einen regulären Flüchtlingsstatus zugestanden bekamen. In den folgenden Jahren sank die Quote des subsidiären Schutzstatus wieder und lag 2019 bei 10,1% (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2020, S. 11).

Ein subsidiärer Schutz ist gegenüber dem regulären Asylstatus mit einigen Nachteilen für die Flüchtlinge verbunden. So wird die Aufenthaltserlaubnis zunächst nur für ein Jahr (gegenüber 3 Jahren) gewährt und kann danach jeweils um zwei Jahre verlängert werden Dies führt nicht nur zu einer geminderten Motivation, sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren, die Sprache zu lernen und Kontakte aufzubauen. Es ist auch ein Hindernis bei der Integration auf dem Arbeitsmarkt, da für Arbeitgeber weniger Planungssicherheit herrscht. Ein eingestellter Flüchtling muss womöglich nach einem Jahr das Land wieder verlassen. Es lohnt sich dementsprechend weniger für das Unternehmen, in seine Ausbildung zu investieren. Zudem war bereits vor dem Integrationsgesetz mit einer Übergangsregelung des § 104 Abs. 13 AufenthG am 17. März 2016 der Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte für zwei Jahre ausgesetzt worden (Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages, S. 3). Aufgrund dieser Unsicherheiten über die eigene Zukunft und die der eigenen Familie werden die Integrationsperspektiven und -bemühungen der Flüchtlinge weiter eingeschränkt (Friedrichs et al. 2019, S. 266). Seit August 2018 ist der Familiennachzug für die engsten Familienangehörigen von subsidiär Schutzberechtigten wieder möglich, allerdings ist eine Obergrenze von 1.000 Personen pro Monat festgelegt. Auch die Wohnsitzauflage hat sich als problematisch erwiesen. Diese schreibt für die Dauer von drei Jahren oder bis zu der Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung von mindestens 15 Stunden pro Woche vor, dass anerkannte Flüchtlinge im zugewiesenen Bundesland ihres Asylverfahrens wohnhaft sein müssen. Wird dies nicht beachtet drohen gravierende Kürzungen der Sozialleistungen. Das Grundrecht auf Freizügigkeit ist für Flüchtlinge somit weitgehend eingeschränkt (Deutscher Gewerkschaftsbund 2016, S. 10 f.).

2.3Geschichte der deutschen Integrationspolitik

Die Geschichte von Migration und Integration der Bundesrepublik ist durch sehr unterschiedliche Migrantengruppen geprägt, die je ihre eigene Geschichte und Spezifika aufwiesen. Nach dem Krieg waren es zunächst die Kriegsvertriebenen Deutschen, die in ihrem eigenen Land integriert werden mussten. Ab den 1950er Jahren folgte die Anwerbung von Gastarbeitern. Weitere Gruppen waren die (Spät-)Aussiedler, die jüdischen Kontingentflüchtlinge und Flüchtlinge aus dem früheren Jugoslawien. Und auch die innerdeutsche Grenze zwischen DDR und BRD brachte vor und nach der Wiedervereinigung Migrationsbewegungen in der Bundesrepublik hervor.

All diese Gruppen und Migrationsbewegungen haben die Migrations- und Asylpolitik sowie die juristische Auslegung der Rechtsordnung geprägt. Von der Nachkriegszeit über das Wirtschaftswunder und die Wiedervereinigung bis heute haben sich die Vorstellungen von Migranten und die ihnen zugeschriebenen Eigenschaften stets mit den zeitlichen und kulturellen Kontextfaktoren gewandelt. Die Flüchtlingsmigration der vergangenen Jahre reiht sich ein in diese Entwicklungen, welche die Wahrnehmung und die Integrationschancen von Migranten prägen. Die Geschichte der großen Migrationsbewegungen in der Bundesrepublik soll daher im Folgenden kurz aufgearbeitet werden6.

2.3.1Flüchtlinge und Vertriebene

Die erste große Migrationsphase fällt direkt mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges zusammen. In Folge des Potsdamer Abkommens, welches die Alliierten 1945 getroffen hatten, kam es zu Flucht und Vertreibung aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, Ungarn und der Tschechoslowakei. Diese Phase der Migration fand unter dem Vorzeichen großer wirtschaftlicher Not und zerstörter Städte statt. Als Kriegsverlierer spielte Deutschland international keine bedeutende Rolle und hatte sich den Entscheidungen der Alliierten zu fügen. Darüber hinaus entwickelte sich mit der Deutschen Demokratischen Republik ein zweiter deutscher Staat, der weitere Gebietsverluste für die Bundesrepublik zur Folge hatte.

Die Schätzungen über die Vertriebenen, die in Folge des Zweiten Weltkrieges in das Gebiet der heutigen Bundesrepublik migrierten, gehen zum Teil weit auseinander und reichen von etwa 11 Millionen Vertriebenen bis hin zu ca. 18 Millionen. So sollen ca. 10,6 Millionen Menschen in die drei westlichen Zonen, zunächst vor allem Bayern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein gekommen sein. Etwa 3,5 Mio. gingen in die sowjetisch besetzte Zone, aus der später die Deutsche Demokratische Republik hervorgehen sollte (Plato 2005, S. 26 f.). Die Volkszählung von 1950 weist hingegen eine geringere Zahl von knapp 8 Mio. Vertriebenen aus (Reichling 1989, S. 14). Die Vertreibungen waren zumeist mit großem persönliches Leid verbunden und von massiver Gewalt geprägt. Nach Schätzungen verloren etwa 2 Millionen Menschen durch die Vertreibungen ihr Leben (Plato 2005, S. 26).

Die Rahmenbedingungen für die Integration waren ausgesprochen gut. Es handelte sich um Deutsche, die, abgesehen von regionalen Dialekten und kulturellen Eigenheiten, in ihr eigenes Heimatland integriert werden mussten. Doch auch die Vertriebenen waren in vielen Fällen von Ausgrenzung und Diskriminierung betroffen. Sie wurden z.B. als »Pollacken« oder »Rucksackdeutsche« bezeichnet (Kift 2005, S. 45). Außerdem waren sie nahezu besitzlos und hatten ihre Vermögen, Ländereien und Immobilien verloren. Durch die Wohnungsnot in der Nachkriegszeit wurden die Vertriebenen in zahlreichen Fällen in bestehenden Haushalten einquartiert. Dies führte häufig zu Spannungen, da die Unterbringungen nicht freiwillig erfolgten und die Menschen ihre Wohnungen und Häuser fortan mit fremden Vertriebenen teilen mussten (Turner 2020). Die Eingliederung der Vertriebenen in den Arbeitsmarkt des zerstörten Deutschlands mit einer am Boden liegenden Wirtschaft war zumeist mit Statusabstiegen und Einkommenseinbußen verbunden. Viele konnten nicht mehr in dem von ihnen gelernten Beruf tätig sein. In einer Zeit, in der ein Großteil der Deutschen im Status abgestiegen war, waren es die Vertriebenen, die wohl die stärksten Statustransformationen durchmachen mussten.

Mit dem deutschen Wirtschaftswunder in den 1950er Jahren kam auch für zahlreiche Vertriebene ein wirtschaftlicher Aufschwung. Im wissenschaftlichen Diskurs sehen daher einige Beiträge die Integration der Vertriebenen bereits in den 1950er Jahren als erfolgreich an (vgl. die Beiträge in Lemberg und Eding 1959). Andere Studien hingegen deuten auf eine längere Phase der Integration hin (vgl. exemplarisch: Gerhardt 2009).

2.3.2Gastarbeiter

Der Wirtschaftsaufschwung brachte nicht nur wirtschaftliche Prosperität und Vollbeschäftigung mit sich, er führte gar zu einem zunehmenden Mangel an (Fach-)Arbeitern, so dass die Bundesregierung beschloss, ausländische Gastarbeiter anzuwerben (Oltmer et al. 2012). Diese zweite Migrationsphase der Bundesrepublik begann mit den ersten Anwerbeverträgen mit Italien ab 1955. Eine rechtliche Grundlage für den Aufenthalt von Ausländern in Deutschland folgte jedoch erst 1965 mit dem Ausländergesetz.

Die Anwerbeverträge und die Aufnahme von Gastarbeitern wurden ursprünglich als temporäre Arbeitsmigration geplant. Die Anwerbung sollte für einen begrenzten Zeitraum die fehlende Arbeitskraft in der Bundesrepublik ausgleichen. Nach Beendigung ihrer Tätigkeiten sollten die Arbeiter wieder in ihre Heimatländer zurückkehren, weshalb auch nur wenig (bis gar nicht) in die Integration dieser Gruppe investiert wurde. Mit dem Anwerbestopp von 1973 wurde den Gastarbeitern jedoch ermöglicht, ihre Familien nach Deutschland zu holen, wodurch zahlreiche Gastarbeiterfamilien dauerhaft nach Deutschland migrierten. Hierzu trug wohl auch bei, dass die Bundesregierung ab 1975 das Kindergeld für im Ausland lebende Kinder reduzierte. Für die Gastarbeiter war dies ein weiterer Anreiz, ihre Familien nach Deutschland zu holen, anstatt in ihre Heimatländer, in denen große Arbeitslosigkeit herrschte, zurückzugehen (Höhne et al. 2014, S. 7). Von den ca. 14 Millionen Gastarbeitern, die durch die Anwerbeabkommen nach Deutschland gekommen waren, blieben etwa 2 Millionen dauerhaft in der Bundesrepublik (Richter 2015). Dennoch wurden die Gastarbeiter lange Zeit als temporäre Migranten angesehen, obwohl der wissenschaftliche Diskurs nahelegte, dass sie in Deutschland bleiben würden (Heckmann 2013). Die fehlende Anerkennung als dauerhafte Einwanderer führte dazu, dass von staatlicher Seite keine Integrationsmaßnahmen ausgearbeitet wurden, die sich an den Bedürfnissen dieser Zielgruppe orientierten. Zwar gab es die ersten Sprachkurse bereits in den 1960er Jahren, der Großteil der Gastarbeiter nahm diese aber nicht wahr (Richter 2015).

Die Integration der Gastarbeiter und ihrer Nachkommen wurde in zahlreichen Studien untersucht (Bundesanstalt für Arbeit 1973; König et al. 1986; Mehrländer et al. 1981; Höhne et al. 2014; Die Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration 2011). Ob und wie die Integration gelang, hing demnach von einer Vielzahl von Faktoren ab, darunter die Nationalität und der schulische Erfolg (Kristen und Granato 2007; Strobel und Seuring 2016). Alba et al. (1994) konnten bspw. zeigen, dass griechische Schüler erfolgreicher waren als türkische. Die Gastarbeiter aus Spanien und Griechenland kamen zudem mit einer im Durchschnitt höheren Schulbildung nach Deutschland als Italiener und Türken. Dies hing auch mit den unterschiedlichen Gruppen zusammen, die in den jeweiligen Ländern angeworben wurden (Richter 2015). Es herrschte somit auch unter den Gastarbeitergruppen eine hierarchische Differenzierung, die die Integrationschancen der Migranten beeinflusste. Diese Differenzierung schreibt sich bis heute fort, so dass die Integration und die Diskriminierung von der zweiten oder dritten Nachfolgegeneration der Gastarbeiter immer noch nach Nationalitäten variiert (Babka von Gostomski 2007; Kalter et al. 2007). Zudem sind die Gastarbeiter und ihre Nachfahren gegenüber der Ursprungsbevölkerung weiterhin sozial schlechter gestellt. Sie beziehen im Vergleich zu Deutschen niedrigere Renten (Höhne et al. 2014, S. 14 ff.), müssen aber im Schnitt höhere Mieten zahlen (Winke 2016; Höhne et al. 2014, S. 18 ff.).

2.3.3(Spät-)Aussiedler

Ab 1973 begann die Migrationsphase der (Spät-)Aussiedler. Die rechtliche Grundlage für diese Kategorisierung bilden das Bundesvertriebenengesetz von 1953 (Bundesministerium der Justiz 2023a) und § 116 des Grundgesetzes (Bundesministerium der Justiz 2023b). Hierin werden die Begriffe »deutsche Volkszugehörigkeit« und »Vertriebener« geregelt, die für die Aufnahme der (Spät-)Aussiedler maßgeblich sind (Panagiotidis 2021). Vertriebener ist nach Absatz 3 demnach auch:

»wer als deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger […] nach Abschluss der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen vor dem 1. Juli 1990 oder danach im Wege des Aufnahmeverfahrens vor dem 1. Januar 1993 die ehemals unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebiete, Danzig, Estland, Lettland, Litauen, die ehemalige Sowjetunion, Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Jugoslawien, Albanien oder China verlassen hat oder verlässt, es sei denn, dass er, ohne aus diesen Gebieten vertrieben und bis zum 31. März 1952 dorthin zurückgekehrt zu sein, nach dem 8. Mai 1945 einen Wohnsitz in diesen Gebieten begründet hat (Aussiedler)« (Bundesministerium der Justiz 2023a).

Formal handelte es sich bei dieser Personengruppe folglich um Deutsche, weshalb sie als »Aussiedler«, oder ab 1993 auch als »Spätaussiedler« bezeichnet wurden. Dazu gehörten bspw. Migranten aus Rumänien und Polen, die bis Ende der 1980er Jahre die größten Gruppen der Aussiedler darstellten. Nach dem Niedergang der Sowjetunion erreichte der Zuzug der (Spät-)Aussiedler zwischen 1990 und 1999 ihren Höhepunkt. In dieser Zeit wanderten mehr als 2 Millionen Menschen als (Spät-)Aussiedler nach Deutschland ein, mehr als 1,6 Millionen kamen davon aus den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion. Die Gesamtzahl der (Spät-)Aussiedler, die zwischen 1950 und 2020 kamen, liegt bei etwa 4,5 Millionen Menschen (Bundeszentrale für politische Bildung 2022a).