Forschungsmethoden und Statistik für die Soziale Arbeit - Mathias Blanz - E-Book

Forschungsmethoden und Statistik für die Soziale Arbeit E-Book

Mathias Blanz

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Beschreibung

Der Band gibt für die Soziale Arbeit einen umfassenden Überblick über die forschungsmethodischen und statistischen Grundlagen erfahrungswissenschaftlichen Arbeitens. Zunächst werden quantitative und qualitative Methoden der Datenerhebung dargestellt. Darauf folgt die Behandlung der deskriptiven und inferenzstatistischen Auswertungsverfahren sowie eine kurze Einführung in SPSS. Einzelne Kapitel befassen sich mit den Themen Fragebogenentwicklung, Evaluationsmethoden sowie Berichterstellung und Publikation von Forschungsergebnissen. Der Band ist als Lehrbuch für Studierende, Lehrende und an Forschung interessierte Praktikerinnen und Praktiker der Sozialen Arbeit und angrenzender Disziplinen konzipiert. Er bietet für die Erstellung einer empirischen Untersuchung im Rahmen einer Bachelor- oder Masterarbeit wertvolle Hilfen.

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Mathias Blanz

Forschungsmethoden und Statistik für die Soziale Arbeit

Grundlagen und Anwendungen

2. Auflage

Verlag W. Kohlhammer

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2. Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-039818-4

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-039819-1

epub:     ISBN 978-3-17-039820-7

mobi:     ISBN 978-3-17-039821-4

Inhalt

 

 

 

Vorwort

I    Forschungsmethoden

1

   

Einleitung

1.1   Bedeutung wissenschaftlicher Forschung für die Soziale Arbeit

1.2   Begriffsbestimmungen

1.3   Der wissenschaftliche Forschungsprozess

1.4   Erstellen eines Exposés

2

   

Forschungsfragen und Untersuchungsplanung

2.1   Hypothesen, Gesetze und Theorien

2.2   Untersuchungsplanung

3

   

Operationalisierung und Datenerhebung

3.1   Messtheoretische Grundlagen

3.2   Datenerhebungsverfahren

3.3   Durchführung der Datenerhebung

4

   

Einführung in SPSS

4.1   Dateneingabe

4.2   Datenverarbeitung

5

   

Berichterstellung

5.1   Abschlussarbeiten in der Sozialen Arbeit

5.2   Publizieren in der Sozialen Arbeit

5.3   Anschlussfähigkeit und Promotion

II   Statistik

6

   

Beschreibende und schlussfolgernde Statistik

6.1   Deskriptive Statistik

6.2   Inferenzstatistik

7

   

Prüfung von Zusammenhangshypothesen

7.1   Korrelationsanalysen

7.2   Regressionsanalysen

8

   

Prüfung von Unterschieds- und Veränderungshypothesen

8.1   Verfahren für Unterschiedshypothesen

8.2   Verfahren für Veränderungshypothesen

9

   

Fragebogen- und Testentwicklung

9.1   Qualitative Voruntersuchung

9.2   Itemanalysen

9.3   Gütekriterien von Testverfahren

10

Evaluationsmethoden

10.1 Allgemeine Aspekte von Evaluationsstudien

10.2 Einzelfallevaluation

10.3 Gruppenexperimentelle Evaluation

11

Fehler und Fallen der Statistik

11.1 Fehler der deskriptiven Statistik

11.2 Fehler der Inferenzstatistik

11.3 Die Regressionsfalle

Literaturverzeichnis

Stichwortverzeichnis

Vorwort

 

 

 

In Deutschland steht derzeit einem vielseitigen Angebot an Publikationen über Handlungsmethoden der Sozialen Arbeit eine vergleichsweise überschaubare Anzahl an fachbezogenen Lehrbüchern über Forschungs- und Evaluationsmethoden gegenüber. Viele dieser Veröffentlichungen beziehen sich zudem schwerpunktmäßig entweder auf Forschungsmethoden oder auf Statistik. Diese Lücke versucht der vorliegende Band zu schließen, indem er sich ausführlich beiden Themenbereichen zuwendet. Das Lehrbuch wendet sich dabei sowohl an Studierende der Sozialen Arbeit und angrenzender Disziplinen, die sich z. B. im Rahmen ihrer Abschlussarbeit mit empirischer Forschung befassen, als auch an Lehrkräfte und PraktikerInnen der Sozialen Arbeit, welche sich für die Anleitung und Rezeption erfahrungswissenschaftlich orientierter Untersuchungen interessieren.

Der Band ist gleichermaßen für Bachelor- wie Masterstudiengänge der Sozialen Arbeit konzipiert. Im ersten Abschnitt erfolgt eine Darstellung quantitativer und qualitativer Forschungsmethoden. Die Themen reichen von der elektronischen Literatursuche über die Entwicklung von Fragestellungen und Hypothesen bis zur Untersuchungsplanung und Datenerhebung (Beobachtung, Befragung, dokumentengestütztes Vorgehen). Zudem widmen sich spezifische Kapitel der Berichterstellung (z. B. für Bachelor- und Masterarbeiten) und der computergestützten Datenanalyse mittels SPSS.

Im zweiten Abschnitt stehen deskriptive und inferenzstatistische Auswertungsverfahren im Mittelpunkt. Für Bachelorstudierende dürften dabei besonders die Abschnitte über uni- und bivariate Verfahren von Interesse sein, die sich z. B. auf die Berechnung deskriptiver Statistiken (Lage- und Streuungsmaße), deren graphische Darstellung (z. B. durch Balken-, Kreis- und Streudiagramme) sowie die Durchführung von Häufigkeits- und Korrelationsanalysen (z. B. Chi2-Test und Pearson-Korrelation) und Gruppevergleiche (t-Test) beziehen. Auf Masterstudierende zielen darüber hinaus Kapitel ab, die sich mit Inferenzstatistik (Zufallsverteilungen, Signifikanztest) und multivariaten Verfahren befassen, von denen die Konfigurationsfrequenzanalyse, die multiple Regression, die multivariate Varianzanalyse und die Faktorenanalyse dargestellt werden (einschließlich ihrer Durchführung in SPSS). Zudem werden die Themen Fragebogenkonstruktion (z. B. Itemanalysen), Evaluationsmethoden (einschließlich Metaanalysen) sowie die Publikation von Untersuchungsbefunden z. B. im Rahmen einer Promotion in der Sozialen Arbeit behandelt.

Mein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Franz J. Schermer von der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt, der mir bei der Erstellung des Lehrbuches eine wertvolle Hilfe war. Ich habe mich im Text stets bemüht, geschlechtergerechte Formulierungen zu verwenden, bitte die Leserinnen und Leser jedoch um Nachsicht, sollte ich einige Stellen übersehen haben.

 

Würzburg, im Frühjahr 2015

Mathias Blanz

Vorwort zur 2. Auflage

Seit der Einführung des Lehrbuchs im Jahre 2015 im Studiengang Soziale Arbeit an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt begegne ich immer wieder folgenden Fragen:

»Ist das Lehrbuch nicht zu anspruchsvoll für Studierende der Sozialen Arbeit, insbesondere seine mathematischen Aspekte?« Meine Erfahrung über die vergangenen fünf Jahre zeigt, dass die Studierenden, wenn sie einmal ihre Scheu vor Forschung und Statistik abgelegt haben, mit den Inhalten des Lehrbuchs sehr gut zurechtkommen, auch mit den mathematischen. Man sollte die Fähigkeit dieser Studierenden, sich auch in komplexe Sachverhalte einzuarbeiten, nicht unterschätzen.

»Ist es überhaupt zielführend, Studierende der Sozialen Arbeit in Forschung und Statistik einzuführen, da sie ja später vorwiegend praktisch arbeiten?« Sowohl von Studierenden als auch von Praktizierenden der Sozialen Arbeit wird erwartet, dass sie sich an den jeweils neusten Forschungsergebnissen in ihrem Bereich orientieren. Wie sollen sie Forschungspublikationen verstehen und umsetzen, wenn sie nicht über gute Kenntnisse in Forschung und Statistik verfügen und diese exemplarisch anwenden können?

»Kann die Wissenschaft Soziale Arbeit, die sich vorrangig für anwendungsorientierte Forschung interessiert, nicht weitgehend ohne vertiefte Statistikkenntnisse auskommen, wie sie nur bei der Grundlagenforschung notwendig erscheinen?« In einem Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit vom Januar 2020 wird festgestellt, dass die Soziale Arbeit auch Grundlagenforschung benötigt, die insbesondere der Prüfung grundlegender Annahmen und Thesen und somit der Entwicklung empirisch fundierter Theorien dient.

Bei Erscheinen der 1. Auflage gab es die Geschlechtskategorie »divers« offiziell noch nicht, weshalb im Buch nur die Kategorien »weiblich« und »männlich« verwendet werden. Diese Stellen sind so zahlreich, dass eine Anpassung in der 2. Auflage leider nicht möglich war. Ich bitte deshalb alle Rezipierenden, die Kategorie »divers« an den entsprechenden Stellen mitzudenken.

 

Würzburg, im Frühjahr 2021

Mathias Blanz

I           Forschungsmethoden

1          Einleitung

 

 

 

1.1       Bedeutung wissenschaftlicher Forschung für die Soziale Arbeit

Absolventinnen und Absolventen des Studiums der Sozialen Arbeit sind in einem heutzutage kaum noch überschaubaren Spektrum unterschiedlichster Beschäftigungs- und Aufgabenbereiche tätig. Nicht selten erfordern diese Aufgaben umsichtiges und zugleich rasches Handeln, um dem Wohl der KlientInnen zu dienen. Diese ausgeprägte Praxisorientierung dokumentiert sich in einer großen Anzahl an Publikationen, die sich mit diversen Handlungsmethoden der Sozialen Arbeit beschäftigen (im deutschsprachigen Bereich z. B. Blanz, Como-Zipfel & Schermer, 2013; Ehrhardt, 2010; Galuske, 2002; Krauß, 2006, 2008; Kreft & Müller, 2010; Michel-Schwartze, 2007; Pauls, 2011; Schermer & Blanz, 2013; Schermer, Weber, Drinkmann & Jungnitsch, 2005; Stimmer, 2012). Angesichts dieser Vielfalt suchen viele PraktikerInnen häufig nach Orientierung und Handlungssicherheit: Bei welcher Klientengruppe und welchem Anliegen ist welches Vorgehen zu empfehlen? Auf welche wissenschaftlichen Grundlagen stützen sich die jeweiligen Methoden? Was ist beim methodischen Handeln notwendig, was fakultativ und was verzichtbar?

Damit die in der Praxis tätigen Personen mit diesen und ähnlichen Fragen nicht alleine gelassen werden, gehört es zu den Aufgaben der Wissenschaft der Sozialen Arbeit, die Handlungsmethoden ihrer Profession wissenschaftlich zu untersuchen und zu bewerten. Dazu zählen zum einen Studien, in denen die theoretischen Grundlagen (Vorannahmen, Theorien usw.), auf denen die Handlungsmethoden beruhen, wissenschaftlich überprüft werden. Dies wird bei Geißler & Hege (2007) als »Ausweis der Begründung« (S. 20) bezeichnet. Zum anderen schließt dies die Durchführung von Studien ein, in denen der Erfolg (Wirksamkeit, Effektivität usw.) der Handlungsmethoden in der Praxis untersucht wird. Geißler & Hege (2007) bezeichnen dies als »Ausweis der Rechtfertigung« (S. 20). Denn die professionellen Methoden der Sozialen Arbeit sollten nach Kilb (2009) zugleich »wissenschaftsgestützt und handlungserprobt« (S. 25) sein.

Aber wie sieht die Durchführung solcher Untersuchungen genau aus? Wie ist wissenschaftliche Forschung aufgebaut, aus welchen Teilschritten besteht sie und was bedeuten ihre Ergebnisse für die Praxis? Im deutschsprachigen Bereich beschränken sich derzeit Publikationen, die sich speziell mit dem Thema »Forschung in der Sozialen Arbeit« befassen, zumeist auf eine Darstellung der Forschungsmethoden (mit einem fast ausschließlichen Fokus auf qualitativen Methoden; z. B. Schneider, 2009; Gahleitner, Gerull, Petuya Ituarte, Schambach-Hardtke & Streblow, 2005; eine Sammelrezension zu Steinert & Thiele, 2001; Schaffer, 2002; Otto, Oelerich & Micheel, 2003 und Schweppe, 2003, stammt von Gredig & Wilhelm, 2004), während Methoden der Statistik eher vernachlässigt werden. Eine Ausnahme stellt das Buch von Ostermann & Wolf-Ostermann (2012) »Statistik in Sozialer Arbeit und Pflege« dar, bei dem zwar die statistischen Grundlagen ausführlich dargestellt, die Forschungsmethoden wiederum relativ kurz behandelt werden (ähnlich wie in dem amerikanischen Lehrbuch »Statistics for Social Workers« von Weinbach & Grinnell, 2010). Diese Lücke versucht der vorliegende Band zu schließen, indem er sich gleichermaßen ausführlich mit den Themen Forschungsmethoden und Statistik für die Soziale Arbeit beschäftigt.

Wissenschaft verfolgt das Ziel, aktuelles Wissen durch Forschung zu erweitern. Wissenschaftliche Erkenntnismethoden werden in der Sozialen Arbeit häufig mit den Begriffen Sozialwissenschaftliche Forschungsmethoden oder Empirische Sozialforschung umschrieben. Im Folgenden sollen diese und weitere Begriffe näher definiert werden.

1.2       Begriffsbestimmungen

Empirische Wissenschaften

Im Unterschied zu formal orientierten Wissenschaften (wie z. B. die Mathematik), in denen Aussagen (z. B. Formeln) durch korrekte Herleitungen »bewiesen« werden, überprüfen empirisch orientierte Wissenschaften ihre Aussagen an der Realität. Letztere werden daher auch als »Erfahrungswissenschaften« bezeichnet (gr. empeiria für Erfahrung), da sie zur Erlangung und Absicherung neuen Wissens (z. B. einer Theorie) eine Prüfung an im Feld (in einer realistischen Umgebung) oder im Labor (in einer künstlichen Umgebung) gesammelten Daten (sprachliche und/oder numerische Zeichen) vornehmen.

Sozialwissenschaften

Sozialwissenschaften, zu denen die Soziale Arbeit zu zählen ist, stellt ein Sammelbegriff für wissenschaftliche Disziplinen dar, die Struktur und Funktion sozialer Zusammenhänge, gestützt durch Theorie und Empirie, innerhalb und zwischen Kollektiven (z. B. Gesellschaft, Gruppe) und Individuen (Erleben und Verhalten von Einzelpersonen) untersuchen. Im Gegensatz zu den reinen Geisteswissenschaften (z. B. Philosophie) weisen Sozialwissenschaften eine stärkere Orientierung an erfahrungswissenschaftlichen Erkenntnismethoden auf.

Forschungsmethoden

Unter dem Begriff Methode wird »… ein auf einem Regelsystem aufbauendes Verfahren zur Erlangung von wissenschaftlichen Erkenntnissen oder praktischen Ergebnissen« verstanden (Duden, 2007, S. 877). Daraus ergeben sich zwei zentrale Merkmale von Forschungsmethoden. Zum einen die Regelbasierung: Das Vorgehen ist explizierbar (Transparenz), kommunizierbar (Publikation), rational (Konsensualität), standardisiert (Systematisierung) und wiederholbar (Replizierbarkeit). Zum anderen die Zielorientierung: Das Vorgehen kann z. B. auf die Prüfung einer Theorie (Grundlagenforschung) und/oder auf die Beurteilung praktischer Ergebnisse (Evaluationsforschung) ausgerichtet sein.

Idiographische und nomothetische Wissenschaften

Windelbrand (1894) untergliedert empirische Wissenschaften in idiographisch-orientierte (gr. idios für eigen und graphein für beschreiben), die am individuellen Einzelfall orientiert sind (mit einem Schwerpunkt auf dem »Besonderen«), und nomothetisch-orientierte (gr. nomos für Gesetz und thesis für aufbauen), die auf eine Herausarbeitung von Gesetzmäßigkeiten, die für alle gelten, abzielen (mit einem Schwerpunkt auf dem »Allgemeinen«).

Explorative, deskriptive und explanative Forschung

Explorative (oder erkundende) Forschung ist darauf ausgerichtet, zu einem Thema (z. B. kriminelles Verhalten) erste Informationen zu sammeln, zumeist aus dem Blickpunkt der involvierten Personen (z. B. freie Interviews mit jugendlichen StraftäterInnen). Bei der deskriptiven (oder beschreibenden) Forschung werden Daten erhoben, um den aktuellen Ist-Zustand zu erfassen (z. B. den Mangel an angemessenen Freizeitangeboten in einem Stadtviertel mit erhöhter Jugendkriminalität), während bei der explanativen (oder erklärenden) Forschung die Prüfung eines Bedingungsmodells erfolgt (z. B. ob die Höhe der Kriminalitätsrate durch fehlende Freizeitangebote (mit)verursacht wird). Zur deskriptiven Forschung in der Sozialen Arbeit zählen z. B. die Biographie- (idiographische Ebene) und Demographieforschung (nomothetische Ebene). Beispiele für explanative Forschung wären das Einzelfallexperiment (idiographische Ebene; vgl. hierzu Blanz & Schermer, 2013) und das Laborexperiment (nomothetische Ebene).

Quantitative und qualitative Forschung

Bei der Erhebung qualitativer Daten (lat. qualitas für Beschaffenheit, Zustand) liegt häufig nur ein grober inhaltlicher Leitfaden vor, wobei Ausgestaltung und Reihenfolge der Erhebungfragen flexibel ausfallen und die Antwortmöglichkeiten der Befragten kaum Einschränkungen unterliegen (z. B. »Wie geht es Ihnen mit Ihrem Studium der Sozialen Arbeit?«). Qualitative Methoden sind eher erkundend (explorativ) angelegt, d. h. sie dienen weniger der Prüfung schon bestehender Annahmen, sondern mehr ihrer Entwicklung und Ausarbeitung. Die Bildung von Hypothesen erfolgt bei diesem Vorgehen meist erst während oder nach der Untersuchung, qualitative Methoden sind also eher hypothesengenerierend ausgerichtet.

Viele Studien verwenden beide Forschungsmethoden, d. h. sowohl qualitative (z. B. als Vorstudie) als auch quantitative Elemente (in der Hauptuntersuchung), auch können qualitative Daten nachträglich unter gewissen Voraussetzungen quantifiziert werden (z. B. in Form von Häufigkeiten).

Empirische Sozialforschung

Diese befasst sich mit der Erforschung sozialer Sachverhalte, d. h. mit dem individuellen und kollektiven Erleben und Verhalten von Menschen (z. B. Einstellungen, Wissen, Fühlen, Wollen, Handeln, Interaktionen, Biographien, Gruppen, Organisationen, Gesellschaften usw.), mittels Methoden der Datenerhebung (z. B. Inhaltsanalyse, Beobachtung, Befragung, Experiment) und Datenauswertung (Statistik). Anwendungsgebiete sind z. B. die Armutsforschung (Soziologie), die Gewaltforschung (Psychologie), die Wahlforschung (Politologie), die Marktforschung (Betriebswirtschaftslehre) oder der Mikrozensus (Volkswirtschaftslehre). In Anlehnung an die vier Hauptaufgaben von Wissenschaften, die in Box 1 dargestellt sind, stehen bei der empirischen Sozialforschung folgende Ziele im Vordergrund (vgl. Bördlein, 2013): Die Beschreibung (Deskription) sozialer Sachverhalte (z. B. in Form von Arbeitslosenquoten, Suizidraten, Kriminalitätsentwicklung usw.), die Entwicklung und Überprüfung sozialwissenschaftlicher Theorien (Explanation) auf der Basis empirischer Daten, die Vorhersage (Prognose) sowie die Veränderung (Intervention) der sozialen Gegebenheiten durch erfahrungswissenschaftliche Studien.

Box 1: Die vier Hauptaufgaben von Wissenschaften

1.  Beschreibung (Deskription): Wissenschaften sollen denjenigen Bereich der Realität, auf den sie sich beziehen, genau beschreiben. Für die Soziale Arbeit bedeutet dies, dass sie zum Beispiel ihren Gegenstandsbereich »soziale Probleme« exakt definieren und erfassen kann. Auch die Entwicklung diagnostischer Instrumente zählt zu dieser Aufgabe (z. B. zur Erfassung sozialer Angst).

2.  Erklärung (Explanation): Wissenschaften sollen die in ihrem Gegenstandsbereich liegenden Phänomene zudem erklären können. Das bedeutet für die Soziale Arbeit, dass sie beispielsweise allgemeingültige Theorien darüber entwickelt und überprüft, wie soziale Probleme entstehen. Bezogen auf die Entwicklung von Angst erscheinen hier das respondente und operante Konditionieren als Lerntheorien relevant.

3.  Vorhersage (Prognose): Wissenschaften leiten aus den Erklärungen (geprüfte Theorien) Vorhersagen darüber ab, was unter gegebenen Bedingungen geschehen wird. Für die Soziale Arbeit heißt dies, dass sie zum Beispiel Prognosen über die Folgen von sozialer Angst erstellt und überprüft. Diese könnten sich auf die Entwicklung von Vermeidungsverhalten und sozialer Isolation beziehen.

4.  Veränderung (Intervention): Wissenschaften leiten von den Erklärungen (geprüfte Theorien) Maßnahmen ab, durch die Phänomene innerhalb ihres Gegenstandsbereiches verändert werden können. Dies bedeutet für die Soziale Arbeit, dass sie z. B. wirksame Interventionsmethoden entwickelt und überprüft. Bezogen auf soziale Angst kämen dabei respondente Methoden (z. B. Löschung durch schrittweise Annäherung) und operante Methoden (z. B. Einsatz positiver Verstärker) in Frage.

Statistik

Der Begriff Statistik (lat. statisticum für den Staat betreffend) bezog sich zunächst – seit der Einführung von Sterblichkeitstafeln zur Berechnung der Lebenserwartung im 16. Jahrhundert – auf die Lehre von den Daten über den Staat. Daraus entwickelte sich derjenige Zweig der Statistik, der sich mit der Beschreibung (Darstellung, Ordnung) empirischer Daten durch Kennzahlen (Statistiken wie z. B. Mittelwerte), Tabellen und Graphiken (z. B. Kuchendiagramme) beschäftigt. Die Ergebnisse der beschreibendenoderdeskriptiven Statistik sind allerdings auf denjenigen Personenkreis, der an der Erhebung teilgenommen hat (die Stichprobe), beschränkt und damit eher hypothesengenerierend.

Etwas später erfolgte die Entwicklung der Wahrscheinlichkeitsrechnung (Stochastik) durch Blaise Pascal, Pierre-Simon Laplace u. a., durch die man zufällige Ereignisse (wie z. B. das Würfeln) in ihrer Auftretenswahrscheinlichkeit erstmals zu berechnen versuchte. Dies führte zur Entwicklung desjenigen Zweiges der Statistik, der sich mit dem Schlussfolgern (dem »Schließen«) von Daten einer Stichprobe (der untersuchten Teilmenge) auf die Grundgesamtheit (oder Population), also alle betroffenen Personen, befasst. So wird beispielsweise von den Daten aus dem Mikrozensus (der Befragung einer ausgewählten Untergruppe der Bevölkerung) auf die Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik geschlossen. Durch die schlussfolgerndeoderInferenzstatistik werden Hypothesen (und Theorien, von denen sie abgeleitet sind) auf ihre Allgemeingültigkeit geprüft (der Vorgang wird als Hypothesen- oder Signifikanztest bezeichnet), sie ist also eher hypothesentestend ausgerichtet.

1.3       Der wissenschaftliche Forschungsprozess

Abbildung 1 gibt einen Überblick über die idealtypischen Stufen des empirischen Forschungsprozesses nach Friedrichs (1975) (siehe dazu auch Bortz & Schuster, 2010). Der Ablauf wird in drei Phasen unterteilt, den Entdeckungszusammenhang, bei dem es um die Entwicklung einer sinnvollen Fragestellung geht (weißer Bereich), den Begründungszusammenhang, der den gesamten Prozess der empirischen Hypothesenprüfung umfasst (hellgrauer Bereich), und den Verwertungszusammenhang, der sich auf den möglichen Nutzen der Forschungsergebnisse bezieht (dunkelgrauer Bereich).

Abb. 1: Idealtypischer Ablauf empirischer Forschung (nach Friedrichs, 1975)

Entdeckungszusammenhang: Die Entwicklung von Forschungsfragen

Dieser Abschnitt umfasst zunächst die Beweggründe für das Untersuchungsvorhaben, z. B. ein aktuelles soziales Problem (Cybermobbing), die Überprüfung einer Theorie (für eine wissenschaftliche Abschlussarbeit) oder eine Auftrags- bzw. Kooperationsarbeit (aufgrund zur Verfügung gestellter Drittmittel oder in Zusammenarbeit mit einer Praxisstelle). Dies mündet nach und nach in einer konkreten Fragestellung, die deskriptiv (z. B. »Welcher Prozentsatz behinderter Kinder profitiert von einer Integrationsmaßnahme in der Regelschule?«) und/oder explanativ (z. B. »Welche Variablen stehen in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem Integrationserfolg?«) ausgerichtet sein kann ( Kap. 2.1).

Begründungszusammenhang: Die Durchführung und Auswertung der Untersuchung

Zu der entwickelten Fragestellung erfolgt eine ausführliche Rezeption relevanter Literatur, um den aktuellen Stand der Theoriebildung und der empirischen Befundlage zu eruieren. Ziel ist die Ableitung einer empirisch prüfbaren Hypothese (z. B. »Je kleiner die Klasse, desto größer der Integrationserfolg«;  Kap. 2.1). Anschließend wird über die Untersuchungsmethode entschieden ( Kap. 2.2), z. B. qualitativ und/oder quantitativ, mit und ohne Vorstudie, quer- (ein Messzeitpunkt) oder längsschnittlich (mehrere Messzeitpunkte), Feldstudie oder Laborexperiment. Eng in Zusammenhang damit steht die Wahl der Stichprobe, wobei Umfang und Repräsentativität zu beachten sind. Auch müssen Begriffe, die in den Hypothesen verwendet werden (z. B. Integration), definiert und messbar gemacht werden (Operationalisierung;  Kap. 3.1). Dann erfolgt die Datenerhebung ( Kap. 3.2 und 3.3), die z. B. durch Beobachtung (in der Schulklasse), direkte soziale Interaktion (Interview, Fragebogen) oder auf elektronischem Wege (am PC) erfolgen kann.

Für die Datenauswertung steht heute spezielle Statistiksoftware zur Verfügung (z. B. SPSS, ursprünglich für Statistical Package for the Social Sciences;  Kap. 4), durch die eine Prüfung der formulierten Hypothesen erfolgen kann. Die Auswertung kann sowohl deskriptive Elemente umfassen (z. B. die Ermittlung von Häufigkeiten: »Wie viel Prozent deutscher Schüler und Schülerinnen geben an, schon einmal gemobbt worden zu sein?«) als auch inferenzstatistische Elemente enthalten (z. B. ein Hypothesen- oder Signifikanztest: »Finden sich auf der Seite der Bullyingopfer überzufällig mehr Mädchen als Jungen?«;  Kap. 6). Des Weiteren kann sie je nach Fragestellung die Prüfung von Zusammenhangshypothesen (z. B. »Je größer eine Schule, desto häufiger findet sich Bullying«;  Kap. 7), Unterschiedshypothesen (z. B. »Bullying tritt in Deutschland häufiger auf als in Norwegen«;  Kap. 8) und/oder Veränderungshypothesen (z. B. »Je älter Jugendliche werden, desto eher nimmt die Bereitschaft zu körperlichem Bullying ab«; siehe ebenfalls  Kap. 8) betreffen bzw. je nach Untersuchungsanlass auch die Entwicklung diagnostischer Instrumente (Testverfahren wie z. B. die Ausarbeitung eines standardisierten Fragebogens zur Erfassung von Bullying;  Kap. 9) und interventionsbezogener Techniken (z. B. die Entwicklung von Interventionsverfahren zur Reduktion und Prävention von Bullying;  Kap. 10) umfassen. Rückschlüsse auf die In-/Korrektheit der Hypothesen und Schlussfolgerungen auf die Theorie stehen im Abschnitt Interpretation im Vordergrund. Wird eine Theorie widerlegt, kommt es in der Regel zu einer Veränderung ihrer Annahmen (z. B. in Form einer Spezifikation ihres Gültigkeitsbereiches). Legt der Hypothesentest die Bestätigung einer Theorie nahe, dann gilt sie (sofern keine methodischen Fehler bei der Untersuchung nachweisbar sind) als vorläufig bewährt (und sollte weiter geprüft werden).

Verwertungszusammenhang: Der mögliche Nutzen von Forschungsergebnissen

Die Nutzung der Untersuchungsbefunde umfasst zunächst eine Ergebnisdarstellung, z. B. in Form einer Bachelor- oder Masterarbeit oder eines Berichtes für die auftraggebende Instanz, und ggf. später die Publikation (Veröffentlichung) der Untersuchung (z. B. Zeitschriftenartikel, Monographie). Dabei sind oft bestimmte Regeln für die formale (z. B. Umfang) und inhaltliche (z. B. Kapitelanordnung) Ausgestaltung zu beachten, die von Hochschulen, Verlagen usw. vorgegeben werden ( Kap. 5). Implizieren die Forschungsbefunde relevante Konsequenzen für die Praxis, kann in einem letzten Abschnitt eine Umsetzung der Ergebnisse in Form einer Intervention (Einflussnahme) erfolgen (Bierhoff & Petermann, 2014), z. B. in politischen (Sozialplanung), öffentlichen (Pressemitteilungen) oder praxisbezogenen Bereichen (neue Interventionen).

Wie ersichtlich, ist wissenschaftliche Forschung mit einem beträchtlichen Aufwand verbunden. Dies erscheint gerechtfertigt angesichts der vielen potentiellen »Fehlerquellen«, denen das Alltagsurteil im Vergleich zum wissenschaftlichen Urteil ausgesetzt ist (vgl. Schermer, 2011; Schröder, 1976). Denn Alltagserfahrungen beruhen meist auf unsystematischen Beobachtungen (z. B. wissen wir häufig mehr über Straftaten, die Ausländer in unserem Land verüben, als über Straftaten, die unsere Landsleute im Ausland begehen), sie vernachlässigen den Einfluss des Zufalls (z. B. stärkt eine Alkoholfahrt, die ohne Folgen blieb, die Überzeugung, dass Alkohol am Steuer unbedenklich ist) und sie sollen zur eigenen »Lebenswelt« passen (sind z. B. die Personen in einer Liebesbeziehung sehr unähnlich zueinander, dann belegt dies, dass »sich Gegensätze anziehen«; sind sie hingegen sehr ähnlich, dann heißt es »Gleich und Gleich gesellt sich gern«).

1.4       Erstellen eines Exposés

Der gesamte Prozess von der Entwicklung der Fragestellung, der Formulierung der Hypothesen, der Untersuchungsplanung sowie der Operationalisierung bis zur Planung der Datenerhebung und -auswertung wird auch als Konzeptualisierung einer empirischen Studie bezeichnet. In einer möglichst frühen Phase des Forschungsprozesses (bei Abschlussarbeiten eventuell sogar vor der Anmeldung der geplanten Arbeit) empfiehlt es sich, zur Verbesserung des Zeitmanagements einen konkreten Gesamtplan zur inhaltlichen und terminlichen Strukturierung der kommenden Aufgaben zu erstellen. Ein solches Exposé sollte nach Bortz & Döring (2006) u. a. folgende Fragen beantworten: »An welcher Stichprobe kann ich am besten meine Hypothesen testen?« (Auswahl einer geeigneten Stichprobe); »Welchen Umfang soll die Stichprobe aufweisen?« (Festlegung der Stichprobengröße); »Wie gewinne ich die UntersuchungsteilnehmerInnen am besten?« (Auswahlverfahren der Stichprobe); »Welche Informationen gebe ich den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Untersuchung, welche nicht?« (sog. Cover Story); »Welche Versuchsbedingungen möchte ich herstellen?« (Manipulation der Ursachenvariablen); »Welche Erhebungsmethoden will ich einsetzen?« (Messung der Wirkvariablen); »Wie soll die Datenerhebungssituation aussehen?« (Plan für die Datenerhebung, d. h. Zeit, Ort, Ablauf etc.) und »Mit welchen Verfahren möchte ich die Daten analysieren bzw. die Hypothesen prüfen?« (Planung der statistischen Datenauswertung). Box 2 enthält ein Beispiel für ein Exposé, das sich auf die Erstellung einer empirischen Bachelorarbeit (über einen Zeitraum von 6 Monaten) in der Sozialen Arbeit bezieht. Für Masterarbeiten können Fragestellung, Hypothesenformulierung, Stichprobenumfang, Datenerhebung und -analyse entsprechend komplexer bzw. umfangreicher ausfallen, grundsätzlich dürfte die Strukturierung jedoch ähnlich sein (für weitere Exposés z. B. für Feldstudien und Untersuchungsserien bei Dissertationen siehe Sonnentag, 2006). Nähere Details zur formalen und inhaltlichen Gestaltung solcher Abschlussarbeit werden in Kapitel 5 ausgeführt.

Box 2: Beispiel eines Exposés für eine empirische Bachelorarbeit in der Sozialen Arbeit

15. März: Anmeldung der Bachelorarbeit; erste Formulierung der Fragestellung; zum Beispiel: »Welche Faktoren wirken sich förderlich bzw. hemmend auf den Integrationserfolg von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland aus?«; Kontakt zu einem kommunalen Zentrum für Menschen mit Migrationshintergrund besteht bereits (bzw. wird hergestellt).

15. März bis 15. April: Literatursammlung und Literaturstudium; Auswahl geeigneter Theorien und vorliegender empirischer Studien zum Thema; evtl. Durchführung einer qualitativen Vorbefragung an zwei (oder mehr) Personen des Zentrums (z. B. einer mit hohem und einer mit niedrigem Integrationserfolg); Präzisierung der Untersuchungshypothesen auf der Basis des aktuellen Forschungsstandes und den Ergebnissen der Vorbefragung; zum Beispiel: »Der Integrationserfolg ist umso höher, je stärker die Herkunftskultur der MigrantInnen von den Deutschen akzeptiert wird«.

15. April bis 31. Mai: Auswahl der Untersuchungsart (z. B. querschnittliche Fragebogenstudie); Operationalisierung der beteiligten Variablen; zum Beispiel: Der Integrationserfolg soll durch Maße für das gesundheitliche Wohlbefinden der Migranten und Migrantinnen sowie dem Ausmaß ihrer sozialen Kontakte zu Deutschen quantifiziert werden; Erstellen einer ersten Version des Fragebogens (evtl. in unterschiedlichen Sprachen); Festlegung der Stichprobe (z. B. Heraussuchen von Adressen ähnlicher Zentren in Deutschland) und der Auswahlstrategie (z. B. Zufallsverfahren); evtl. Überprüfung der Verständlichkeit des Fragebogens an einer kleinen Stichprobe des kommunalen Zentrums; Erstellen der Abschlussversion des Fragebogens.

Juni: Vervielfältigung und Versand der Fragebögen an die ausgewählten Institutionen (alternativ: Anschreiben an die Institutionen mit der Bitte um Teilnahme an einer Online-Befragung); schriftliche Ausarbeitung des Theorie- und Literaturteils der Arbeit ( Kap. 5).

Juli: Anfertigen des Methodenteils der Bachelorarbeit; Beendigung der Datenerhebung und Eingabe der Daten in ein statistisches Analyseprogramm (z. B. SPSS;  Kap. 4); statistische Auswertung der Daten; Erstellen geeigneter Ergebnisdarstellungen (z. B. Tabellen, Diagramme); Interpretation der Befunde (insbesondere in Hinblick auf die formulierten Hypothesen).

August: Schriftliche Ausarbeitung des Ergebnis- und Diskussionsteils der Arbeit; Zusammenstellung der einzelnen Teile der Arbeit zu einem Gesamtmanuskript; Korrektur lesen (lassen) der Arbeit.

1. September bis 15. September: Vornehmen letzter Ergänzungen und Verbesserungen der Arbeit; Endausdruck der Arbeit; Anfertigen von Kopien.

15. September: Abgabe der Arbeit.

2          Forschungsfragen und Untersuchungsplanung

 

 

 

2.1       Hypothesen, Gesetze und Theorien

Formulierung von Forschungsfragen

Wie kommen Forschende zur Entwicklung einer Fragestellung? Neben den bereits erwähnten Anlässen – ein soziales Problem, die Überprüfung einer Theorie, eine Auftrags- oder Kooperationsarbeit – kommen weitere Gründe in Frage wie z. B. auffallende Beobachtungen (»Warum reagieren einige Kinder auf Lob und Tadel weniger als andere?«), wissenschaftliche Kontroversen (»Gibt es so etwas wie soziale oder emotionale Intelligenz?«) oder praktische Fragestellungen (»Wie sollte man Lernprozesse während einer sozialpädagogischen Beratung gestalten, damit sich die Lernfortschritte auf den Alltag des Klienten ausweiten?«). Im Laufe des Entscheidungsprozesses sollte man sich u. a. mit folgenden Fragen auseinandersetzen: Weist die Fragestellung über das persönliche Interesse hinaus Relevanz für die Profession auf? Bin ich in der Lage, die Fragestellung mit den mir zur Verfügung stehenden Mitteln (zeitlich, finanziell, personell usw.) angemessen zu bearbeiten? Lässt sich die Fragestellung überhaupt empirisch untersuchen? Verfolge ich mit meiner Fragestellung lediglich das Ziel, meine persönlichen Vorurteile zu bestätigen? Kann meine Forschung zu dem bestehenden Wissen etwas Gewinnbringendes beitragen? Wie stark wird die Fragestellung von bestimmten Interessensgruppen beeinflusst (Institutionen, Auftraggebern)? Demzufolge kann man eine »gute« Forschungsfrage charakterisieren durch eine hohe Relevanz ihres Themas, ihre prinzipielle Beantwortbarkeit durch empirische Mittel, ihre Umsetzbarkeit auf hohem wissenschaftlichem Niveau, ihre Vernetzbarkeit mit anderen Forschungsbefunden und ihre Robustheit gegenüber Vorurteilen und einseitigen Einflüssen Dritter (Objektivität).

Im Laufe des Forschungsprozesses ( Abb. 1) wird aus einer zunächst eher vagen Forschungsfrage (z. B. »Wie gehen Personen mit einem Migrationshintergrund mit der dauerhaften Veränderung ihrer Umwelt um?«) nach und nach eine konkrete empirisch prüfbare Behauptung (Aussage oder Hypothese) entwickelt (z. B. »Je stärker MigrantInnen ihre Kultur in der neuen sozialen Umwelt akzeptiert sehen, desto höher ist ihr Wohlbefinden«; vgl. Florack & Quadflieg, 2002). Die Aufgabe für die Forschenden besteht an diesem Punkt darin, eine Verbindung zwischen der Forschungsfrage und aktuellen Theorien, die sich auf die Forschungsfrage beziehen (lassen), herzustellen (z. B. die Akkulturationstheorie von Berry, 1997). Dazu ist eine ausgedehnte Suche nach Literatur (Büchern, Artikeln in Fachzeitschriften usw.), die für die Forschungsfrage einschlägig ist, unerlässlich (s. Box 3). Dies umfasst auch Theorien, die für den speziellen Kontext der Fragestellung bislang noch keine direkte Anwendung erfahren haben bzw. Befunde, die in Bezug auf ähnliche Personengruppen oder verwandte Merkmale vorliegen. Aufgrund der zunehmenden Internationalisierung des Wissenschaftsprozesses ist es dabei häufig unumgänglich, sich auch mit fremdsprachigen Publikationen zu befassen (z. B. in Englisch). Auch die Kommunikation mit den Forschenden oder Forschergruppen (z. B. per E-Mail) kann dabei sehr nützlich sein. Dieser Such- und Rezeptionsprozess kann sich über eine längere Zeitspanne erstrecken und sollte nicht über Gebühr abgekürzt werden (»Ich kann dazu keine Literatur finden«, ohne dass wirklich alle Quellen sorgfältig geprüft wurden), sonst besteht die Gefahr, die eigene Forschung für »neu« zu halten, obwohl sie das nicht ist – ein Fehler, der später kaum mehr gutzumachen ist.

Box 3: Elektronische Literaturrecherche

Heute können zur Literaturrecherche elektronische Suchmaschinen verwendet werden, die man in vielen Hochschulbibliotheken vorfindet (häufig über DBIS, dem Datenbank-Infosystem). Nach dem Erwerb einer Zugangsberechtigung (Login, Passwort) kann man dort spezielle Datenbanken auswählen, die für die jeweilige Fragestellung relevant erscheinen – wie z. B. WISO für wirtschaftliche, soziale und technische Studiengänge, von wo man auch zu SoLIT, der Datenbank des Deutschen Zentralinstituts für Soziale Fragen (DZI), gelangt, oder PSYNDEX für psychologische Fragestellungen oder Datenbanken für statistische und rechtliche Informationen. Auch eine gezielte Suche in ausgewählten Fachzeitschriften kann durchgeführt werden (z. B. durch die Elektronische Zeitschriftenbibliothek, EZB). Insbesondere für englischsprachige Fachzeitschriften der Sozialen Arbeit bieten sich zudem die wissenschaftlichen Netzwerke academia.edu und researchgate.net an. Ein »umgekehrtes« Vorgehen ergibt sich bei der Verwendung des Social Science Citation Index (SSCI), bei dem man für eine zuvor ausgewählte Publikation prüfen kann, ob auf diese in neueren Veröffentlichungen Bezug genommen (zitiert) wird.

Nach Aufruf der jeweiligen Datenbank sind in einer Suchmaske die Auswahlkriterien festzulegen. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Eingabe von Schlüsselwörtern (keywords) zur Kurzkennzeichnung der gesuchten Inhalte (z. B. Akkulturation). Darüber hinaus können weitere Kriterien berücksichtigt werden wie z. B. Veröffentlichungszeiträume (z. B. nicht vor 1990), die Angabe bestimmter AutorInnen (z. B. John W. Berry) oder Kombinationen davon. Sind die Schlüsselwörter dabei zu weit formuliert, erhält man mitunter Tausende von Treffern, sind sie zu eng, nur wenige oder gar keine, weshalb der Suchprozess ständig anzupassen ist (ähnlich wie bei GOOGLE), bis man eine überschaubare Anzahl einschlägiger Veröffentlichungen zum Thema erhält. Häufig enthalten die Angaben neben der Nennung der Publizierenden Titel und Quelle der Veröffentlichung sowie eine Kurzzusammenfassung (Abstract oder Summary) des jeweiligen Beitrages, anhand dessen man die Passung zum gewünschten Thema überprüfen kann. Des Weiteren erhält man Angaben dazu, wo die Printfassung des Artikels zu finden ist (bei entfernten Standorten ist eine Fernleihe zu empfehlen). Viele Bibliotheken bieten zudem für einige Quellen einen Volltextzugriff (z. B. im PDF- oder HTML-Format).

Häufig führt die Rezeption der aktuellen Theorie- und Befundlage zu einer Veränderung der anfänglichen Fragestellung, manchmal zu ihrer grundsätzlichen Neuformulierung, manchmal zu einer teilweise Umformulierung, aber immer in Richtung einer Konkretisierung, bis die Fragestellung schließlich in der Aufstellung einer Hypothese (oder mehreren) mündet, die einen deskriptiven (z. B. »MigrantInnen in der Bundesrepublik sind mit ihrer Situation unzufrieden«) und/oder explanativen Charakter (z. B. »Je mehr MigrantInnen in Deutschland an ihrer bisherigen Kultur festhalten können, desto zufriedener sind sie«) aufweisen kann. Da die Begriffe »Hypothesen« und »Theorien« in dieser Phase des Forschungsprozesses von zentraler Bedeutung sind, soll im Folgenden näher auf sie eingegangen werden.

Formulierung von Hypothesen

Während Forschungsfragen in der Regel in einer Frageform vorliegen (»Wie aggressiv geht es an deutschen Schulen zu?«), weisen Hypothesen eine Aussageform auf, d. h. sie beinhalten stets eine Behauptung. Ein Beispiel: »Bullying ist das Ergebnis eines ungünstigen Verhältnisses zwischen der Anzahl der Lehrkräfte und der Anzahl der Schüler und SchülerInnen«. Im Idealfall weist eine wissenschaftliche Hypothese folgende Eigenschaften auf:

•  Die Hypothese sollte erfahrungswissenschaftlich überprüft werden können: Die Behauptung, die in der Hypothese ausgedrückt wird, sollte anhand beobachtbarer Daten dahingehend untersucht werden können, ob sie zutrifft oder nicht. Dazu ist es unerlässlich, dass die Begriffe, die eine Hypothese enthält (im Beispiel: das Auftreten von »Bullying« und das »Betreuungsverhältnis«), messbar gemacht werden können. Dies kann z. B. umgesetzt werden durch eine Erhebung der Häufigkeit von Bullying (etwa auf der Grundlage von Opferangaben) und der Berechnung des Betreuungsverhältnisses mittels der zählbaren Menge an Lehrkräften und Lernenden (einer Klasse, Schule etc.). Eine Hypothese, die diese Bedingung erfüllt, wird auch als empirische Aussage bezeichnet. Verletzt hingegen eine Hypothese diese Bedingung, beispielsweise weil sie metaphysische Begriffe verwendet (z. B. »Bullying ist das Ergebnis unsozialer Wesenszüge von Kindern und Jugendlichen«), die nicht gemessen werden können (»unsoziales Wesen«), kann sie durch sozialwissenschaftliche Forschungsmethoden nicht geprüft werden.

•  Die Hypothese sollte in Form einesAllsatzesformuliert sein: Des Weiteren sollte sich die Behauptung, die eine Hypothese enthält, ohne Einschränkung auf alle Personen bzw. Institutionen (im Beispiel sind das die Schulen) beziehen lassen und nicht nur z. B. auf eine einzelne Schule (das wäre eine räumliche Einschränkung) und/oder auf das laufende Schuljahr (das wäre eine zeitliche Beschränkung). Eine Hypothese sollte also nach Möglichkeit eine Regelhaftigkeit ausdrücken, für die der Anspruch allgemeiner Gültigkeit ohne raum-zeitliche Einschränkungen erhoben wird. Eine Hypothese, die diese Bedingung erfüllt, wird auch als Allaussage bezeichnet.

Empirische Allaussagen sind für die sozialwissenschaftliche Forschung von besonderem Interesse, weil sie prüfbar sind und den Charakter einer allgemeinen Regelhaftigkeit aufweisen. Solche Hypothesen lassen sich in eine Gesetzesformulierung überführen, deren einfachste Formen die »Wenn-dann«-Aussage und die »Je-desto«-Aussage sind. Die Hypothese »Bullying ist das Ergebnis eines ungünstigen Verhältnisses zwischen der Anzahl der Lehrkräfte und der Anzahl der SchülerInnen« lässt sich in eine Wenn-dann-Aussage umwandeln (»Wenn das Betreuungsverhältnis niedrig ist – d. h. wenige Lehrkräfte, viele SchülerInnen –, dann tritt Bullying auf«) und in eine Je-desto-Aussage (»Je niedriger das Betreuungsverhältnis ausfällt, desto häufiger tritt Bullying auf«) umformen. Eine Hypothese, die alle drei Anforderungen erfüllt, 1. die empirische Prüfbarkeit, 2. die allgemeingültige Formulierung und 3. die Wenn-dann- bzw. Je-desto-Form, werden als gesetzesartige Aussagen bezeichnet. Solche gesetzesartigen Aussagen werden dann zu Gesetzen, wenn sie noch ein weiteres, viertes Kriterium erfüllen: Sie müssen sich in empirischen Untersuchungen bewährt haben, d. h. mit den erfahrungswissenschaftlich gewonnenen Daten in Übereinstimmung stehen (vgl. Opp, 2005). Ein Beispiel stellen die berühmten Untersuchungen von Bandura (z. B. Bandura, Ross & Ross, 1961, 1963) im Kindergarten dar: Zunächst wurde die Hypothese aufgestellt, dass neue aggressive Verhaltensweisen einer Modellperson (es wurde z. B. mit einem Hammer auf eine lebensgroße Puppe eingeschlagen und sie mit Wortneuschöpfungen beleidigt), die von den Kindern beobachtet wurden, von ihnen anschließend nachgemacht werden. Nachdem sich diese Hypothese über Jahrzehnte in sozialwissenschaftlichen Studien gut bewährt hat, gilt sie heute als Gesetzmäßigkeit (das sogenannte Lernen am Modell).

Aber was bedeutet »empirisch gut bewährt«? Auf den Philosophen Sir Karl Popper (1902–1994) geht die Einsicht zurück, dass Gesetze niemals vollständig bewiesen (verifiziert) werden können. Dazu müsste z. B. Bandura alle Kinder, die zu allen Zeiten lebten, wissenschaftlich untersuchen, um auszuschließen zu können, dass es nicht vielleicht doch Kinder gab/gibt, für die das Gesetz nicht gilt – ein Unterfangen, das offensichtlich unmöglich ist. Man kann, mit anderen Worten, eine Gesetzeshypothese niemals abschließend danach prüfen, ob sie »wahr« ist. Allerdings kann man, so weiter die Position Poppers (2005), Gesetzesaussagen grundsätzlich widerlegen (falsifizieren): Fände man auch nur ein einziges Kind, das der Gesetzmäßigkeit widerspricht, wäre die Hypothese zu verwerfen. Popper (2005) plädiert deshalb dafür, dass empirische Wissenschaften – und damit auch die sozialwissenschaftliche Forschung – nicht danach streben sollten, Gesetzeshypothesen zu bestätigen (also das Suchen nach Beobachtungen, die in Übereinstimmung mit den behaupteten Hypothesen stehen), sondern vielmehr danach, sie zu widerlegen (d. h. die Suche nach Beobachtungen, die den behaupteten Hypothesen widersprechen). Auf diese Weise sollte eine allmähliche Elimination (Aussortierung) solcher Hypothesen erfolgen, die an den empirischen Tatsachen scheitern, und gleichzeitig im Laufe der Wissenschaftsentwicklung solche übrig bleiben, die wiederholte Widerlegungsversuche überstehen. Regelhaftigkeiten, die sich gegenüber Falsifikationsversuchen als robust erweisen, sind damit nicht als »wahr« anzusehen, sondern nur als »vorläufig bewährt«. Die zentrale Forderung des Kritischen Rationalismus, wie die Wissenschaftstheorie von Popper genannt wird, ist es, dass aufgestellte Hypothesen prinzipiell falsifizierbar sein müssen. Dies wird auch als Falsifikationsprinzip (oder Falsifikationismus) bezeichnet.

Bei seiner Argumentation bezieht sich Popper (2005) offensichtlich auf sogenannte deterministische Aussagen (von lat. determinare für vorherbestimmbar), das sind Allaussagen, bei denen beim Vorliegen der Wenn-Komponente immer die Dann-Komponente auftritt (z. B. »Wenn eine Frustration vorliegt, dann folgt eine Aggression«). Die meisten Aussagen in den Sozialwissenschaften sind jedoch nichtdeterministisch, d. h. die Dann-Komponente muss lediglich in den meisten Fällen, jedoch nicht immer auftreten (z. B. »Wenn eine Frustration vorliegt, dann folgt meistens eine Aggression«). Solche Hypothesen beruhen auf Wahrscheinlichkeiten und werden deshalb als probabilistische Aussagen (lat. probabilis für wahrscheinlich) bezeichnet (z. B. »Wenn eine Frustration vorliegt, dann steigt die Wahrscheinlichkeit einer Aggression«). Allerdings gilt das Falsifikationsprinzip auch für Wahrscheinlichkeitsaussagen: Auch probabilistische Gesetze müssen grundsätzlich falsifizierbar sein (z. B. wenn die Ergebnisse zeigen, dass bei Vorliegen von Frustration mit großer Wahrscheinlichkeit keine Aggression folgt).

Problematisch sind in diesem Zusammenhang solche Aussagen, bei denen keine Falsifizierbarkeit gegeben ist. Ein Beispiel dafür sind Aussagen, die Teil und Gegenteil in sich vereinen (z. B. »Wenn Frustration vorliegt, dann folgt Aggression oder eine andere Reaktion«), da dabei jedes beliebige Ereignis (Beobachtung) als eine Bestätigung (Verifikation) interpretiert werden kann (d. h. es gibt keine Beobachtung, die der Aussage widerspricht). Weitere Beispiele für nichtfalsifizierbare Aussagen finden sich in Box 4. Des Weiteren sind auch solche Aussagen problematisch, die immer falsch sind (sogenannte Kontradiktionen). Ein Beispiel dafür wäre die Behauptung »Männer zeigen häufiger sexuelles Verhalten als Frauen« (was für heterosexuelle Kontakte nicht möglich ist). Eine solche widersprüchliche (kontradiktorische) Hypothese wäre zwar grundsätzlich empirisch prüf- und widerlegbar, allerdings beinhaltet sie bereits von vornherein einen logischen Widerspruch, was den Prüfprozess unsinnig macht. Wir können festhalten: Nichtfalsifizierbare und widersprüchliche Aussagen sind für die sozialwissenschaftliche Forschung ungeeignet.

Box 4: Beispiele für nichtfalsifizierbare Aussagen

Das Falsifikationsprinzip nach Popper (2005) fordert, dass wissenschaftliche Aussagen grundsätzlich widerlegbar (falsifizierbar) sein müssen. Im Folgenden finden sich einige Beispiele von Aussagen, die dieses Prinzip verletzen.

•  Aussagen, die immer wahr sind (Tautologien): z. B. »Aggressive Menschen neigen zu aggressivem Verhalten«. Diese Aussage beruht auf einem Zirkelschluss, da wir Menschen, die zu aggressivem Verhalten neigen, als »aggressiv« bezeichnen, wodurch das Gefolgerte (»… neigen zu aggressivem Verhalten«) bereits in der Bezeichnung enthalten ist.

•  Aussagen, dieTeil und Gegenteilin sich vereinigen: z. B. »Frustration löst Aggression oder ein anderes Verhalten aus«. Solche Aussagen können nicht widerlegt (falsifiziert) werden, da alle Ereignisse, die auftreten können, als Bestätigung (Verifikation) interpretiert werden können.

•  Aussagen, die eine »Es gibt«- oder »Es kann«-Form aufweisen: z. B. »Es gibt Kinder, die niemals weinen«. Eine solche Aussage (eine sog. Existenzaussage) könnte man nur falsifizieren, indem man alle Kinder untersucht und dabei kein einziges findet, das niemals weint. Dasselbe gilt für Kann-Aussagen wie z. B. »Zigarettenkonsum kann einen Herzinfarkt auslösen«.

•  Aussagen, bei denen diebegriffliche Präzisionfehlt: z. B. »Alle Menschen sind von Natur aus gut«. Auch diese Aussage ist kaum widerlegbar, da die Bezeichnungen »Natur« und »gut« so ungenau sind, dass widersprechende Beobachtungen nur schwer zu definieren sind.

•  Aussagen, diemetaphysische Begriffeverwenden: z. B. »Menschen, die sündigen, kommen in die Hölle«. Da der Begriff »Hölle« keinen empirischen Bezug aufweist, also weder beobachtbar noch messbar ist, sind auch solche Aussagen prinzipiell nicht falsifizierbar.

(vgl. Bortz & Döring, 2006)

Differenzierung von Hypothesenarten

Man kann Hypothesen u. a. nach folgenden Gesichtspunkten differenzieren: dem Genauigkeitsgrad (oder Präzisierungsgrad), in dem eine Hypothese formuliert ist (von der Forschungshypothese zur statistischen Hypothese), dem angenommenen Kausalitätsmodell der Hypothese (»Was ist Ursache, was ist Folge?«), der vermuteten Richtung des Zusammenhanges zwischen den Variablen (»Wird ein positiver oder ein negativer Zusammenhang vermutet?«) und dem angenommenen Verhältnis, in dem die Variablen nach der Hypothese zueinander stehen (»Wird ein Zusammenhang, ein Unterschied oder eine Veränderung in Bezug auf die Variablen postuliert?«). Diese Möglichkeiten werden im Folgenden näher erläutert.

Mit welchem Genauigkeitsgrad ist eine Hypothese formuliert?

Bezüglich des Präzisierungsgrades einer Hypothese kann unterschieden werden zwischen einer Forschungshypothese, die eine Aussage über die Beziehung zwischen (mindestens) zwei Variablen darstellt (z. B. »Es besteht ein Zusammenhang zwischen dem Interesse von Studierenden an den Inhalten einer Lehrveranstaltung und der Bewertung der Lehrveranstaltung«; siehe Blanz, 2008, 2014) und einer operationalen Hypothese, bei der die (eher allgemeine) Forschungshypothese (Zusammenhang zwischen Fachinteresse und Lehrbewertung) umformuliert wird in eine spezifische Aussage, die sich auf die jeweiligen UntersuchungsteilnehmerInnen (z. B. Studierende der Sozialen Arbeit) sowie die Methoden zur Messung (Operationalisierung) der beteiligten Variablen bezieht (z. B. könnte das Interesse der Studierenden durch die Anzahl der Sitzungen, an denen sie die Veranstaltung besuchen, operationalisiert werden und die Bewertung des Unterrichts durch die Vergabe eine Note von 1 bis 6). Dies mündet schließlich in einer statistischen Hypothese, bei der die operationale Hypothese in eine statistische Aussage umgewandelt wird. Bei einer statistischen Hypothese wird die operationale Hypothese »Für die Studierenden des Studienganges Soziale Arbeit der Hochschule für angewandte Wissenschaften (HAW) Würzburg besteht ein Zusammenhang zwischen der Besuchshäufigkeit und der Benotung einer Lehrveranstaltung« einer konkurrierenden Hypothese gegenüber gestellt, die das Gegenteil behauptet: »Für die Studierenden des Studienganges Soziale Arbeit der HAW Würzburg besteht kein Zusammenhang zwischen der Besuchshäufigkeit und der Benotung einer Lehrveranstaltung«. Dabei wird diejenige statistische Hypothese, die einen Zusammenhang (oder eine Wirkung) behauptet (»… besteht ein Zusammenhang …«), als Alternativhypothese (oder H1 für Hypothese 1) bezeichnet und die statistische Hypothese, die einen Zusammenhang (oder Effekt) verneint (»… besteht kein Zusammenhang …«), als Nullhypothese (oder H0 für Hypothese 0). Es ist unmittelbar einsichtig, dass nur eine der beiden statistischen Hypothesen zutreffen kann, und es ist Aufgabe empirischer Untersuchungen, eine begründete (rationale) Entscheidung darüber zu treffen, welche der beiden Hypothesen »angenommen« (akzeptiert) wird und welche »verworfen« (abgelehnt) wird. H1 und H0 aus dem Beispiel lauten in statistischer Form folgendermaßen:

•  H1(Alternativhypothese): »Der Zusammenhang (wird auch als Korrelation bezeichnet;  Kap. 7.1) zwischen der Besuchshäufigkeit und der Benotung einer Lehrveranstaltung für Studierende des Studienganges Soziale Arbeit der HAW Würzburg ist ungleich Null.«

•  H0(Nullhypothese): »Der Zusammenhang (die Korrelation) zwischen der Besuchshäufigkeit und der Benotung einer Lehrveranstaltung für Studierende des Studienganges Soziale Arbeit der HAW Würzburg ist gleich Null.«

Statistische Hypothesen lassen sich nicht nur sprachlich (verbal) sondern auch durch Formeln (mathematisch) ausdrücken. Dies sieht für das Beispiel so aus:

Welches Kausalitätsmodell wird in der Hypothese angenommen?

Ein zweiter Aspekt, nach dem sich Hypothesenarten voneinander differenzieren lassen, bezieht sich auf das angenommene Kausalitätsmodell der beteiligten Variablen. Dabei wird unterschieden zwischen sog. ungerichteten und gerichteten Hypothesen. Bei ungerichteten Hypothesen (wie in dem Beispiel »Es besteht ein Zusammenhang zwischen der Besuchshäufigkeit und der Benotung einer Lehrveranstaltung«) wird nichts darüber ausgesagt, welche der beiden Variablen als Ursachevariable (unabhängige Variable) und welche als Wirk- oder Folgevariable (abhängige Variable) angesehen wird. Dies ist anders bei gerichteten Hypothesen, die eine Aussage über die erwartete Kausalrichtung der beteiligten Variablen enthalten (z. B. »Die Besuchshäufigkeit wirkt sich auf die Benotung aus« oder »Die Benotung wirkt sich auf die Besuchshäufigkeit aus«).

In welche Richtung wirkt sich die eine Variable auf die andere aus?

Ein dritter Aspekt zur Differenzierung von Hypothesen betrifft die Frage, ob ein positiver Zusammenhang zwischen den Variablen vermutet wird (z. B. »Die Besuchshäufigkeit verbessert die Benotung einer Lehrveranstaltung«) oder ein negativer Zusammenhang (»Die Besuchshäufigkeit verschlechtert die Benotung einer Lehrveranstaltung«). Zusammen mit der angenommenen Kausalrichtung ergeben sich in Bezug auf das Beispiel somit vier Möglichkeiten, die zunächst ungerichtete Forschungshypothese (»Besuchshäufigkeit und Benotung einer Lehrveranstaltung hängen miteinander zusammen«) in eine gerichtete operationale Hypothese umzuwandeln:

•  »Hohe Besuchshäufigkeit verbessert die Benotung einer Lehrveranstaltung.«

•  »Hohe Besuchshäufigkeit verschlechtert die Benotung einer Lehrveranstaltung.«

•  »Gute Benotung einer Lehrveranstaltung erhöht die Besuchshäufigkeit der Studierenden.«

•  »Gute Benotung einer Lehrveranstaltung verringert die Besuchshäufigkeit der Studierenden.«

Alle drei bisher dargestellten Aspekte zur Differenzierung von Hypothesen – ihr Genauigkeitsgrad, ihr angenommenes Kausalmodell und ihre vermutete Richtung des Zusammenhanges zwischen den Variablen – wirken sich auf den Informationsgehalt von Hypothesen und damit auf ihre Falsifizierbarkeit aus: Je eher eine Hypothese 1. in statistischer Form vorliegt, 2. eine Kausalitätsrichtung angibt und 3. die Zusammenhangsrichtung zwischen den Variablen spezifiziert, desto höher ist ihr Informationsgehalt und damit ihre Qualität einzuschätzen.

Behauptet die Hypothese einen Zusammenhang, einen Unterschied oder eine Veränderung bezüglich der Variablen?

Es gibt schließlich noch einen vierten Aspekt, nach dem man Hypothesen voneinander unterscheiden kann. Dieser bezieht sich auf das sog. Variablenverhältnis, d. h. darauf, ob hinsichtlich der beteiligten Variablen ein Zusammenhang, ein Unterschied oder eine Veränderung vorhergesagt wird. Während bei einer Zusammenhangshypothese eine Beziehung zwischen ein oder mehreren Merkmalen angenommen wird (z. B. »Es besteht ein Zusammenhang zwischen Stress am Arbeitsplatz und Fehlzeiten«), formuliert eine Unterschiedshypothese eine Ungleichheit zwischen zwei (oder mehreren) Populationsgruppen bezüglich einer (oder mehreren) Variablen (z. B. »Studierende der Sozial- und Naturwissenschaften unterscheiden sich bezüglich ihres politischen Engagements«) und eine Veränderungshypothese einen Wandel in den Ausprägungen einer (oder mehreren) Variablen im Laufe der Zeit (z. B. »Wiederholte Werbung für ein Produkt erhöht die Bereitschaft, es zu kaufen«). Zur Prüfung von Zusammenhangs-, Unterschieds- und Veränderungshypothesen können unterschiedliche Forschungsdesigns (oder Untersuchungspläne) gewählt werden, auf die in Kapitel 2.2 näher eingegangen wird.

Von der Hypothese zur Gesetzmäßigkeit

Eine der Hauptaufgaben sozialwissenschaftlicher Forschung ist die Formulierung und empirische Überprüfung von Hypothesen mit dem Ziel, allgemeine Gesetzmäßigkeiten herauszufiltern. D. h. es sind solche Hypothesen zu identifizieren, die mehrmalige Widerlegungsversuche überstehen. Ein Beispiel ist der sogenannte Bystander-Effekt (im Deutschen auch als Zuschauer- oder Anzahl-Effekt bezeichnet): »Je mehr Menschen ZeugInnen der Notlage einer Person werden (z. B. bei einem Unfall oder Überfall), desto weniger helfen sie.« Die Geschichte dieses Effektes begann mit dem Fall einer jungen New Yorkerin, die nachts auf ihrem Nachhauseweg überfallen und nach wiederholten Messerattacken, die sich über fast eine halbe Stunde erstreckten und während denen sie laut um Hilfe rief, nach heftiger Gegenwehr starb: Obwohl mehr als 30 Personen Zeugen der Angriffe geworden waren, war niemand bereit, einzugreifen. Dies veranlasste Forschende dazu, eine ähnliche Situation im Labor nachzustellen. In der Studie von Darley & Latané (1968) hörten die VersuchsteilnehmerInnen über eine Sprechanlage, wie eine andere Person (angeblich) einen epileptischen Anfall erlitt. Während die Hilferate bei 80 % lag, wenn die TeilnehmerInnen glaubten, alleine Zeuge des Anfalls zu sein, sank sie auf 30 %, wenn sie dachten, dass noch vier weitere Personen den Anfall mitbekommen haben. Es gibt mittlerweile eine große Anzahl an Replikationen (Wiederholungen) dieses Effektes, auch in deutschen Untersuchungen; eine anschauliche Feldstudie des Deutschen Kinderschutzbundes dazu findet sich in Box 5.

Box 5: Unterlassene Hilfeleistung – Eine Feldstudie

Der Deutsche Kinderschutzbund führte am 31. August 1983 in Hamburg folgenden Versuch durch: Aus der Wohnung eines Mehrfamilienhauses, das sich in der Nähe einer belebten U-Bahn-Station befand, wurden von einem Tonband aus dem Erdgeschoss bei geöffnetem Fenster das Gebrüll eines wütenden Mannes, klatschende Geräusche von Schlägen und laute Schreie eines Kindes abgespielt. Innerhalb einer Stunde gingen 989 Personen daran vorbei und mussten die Schreie gehört haben. Angesprochen fühlten sich lediglich vier, was einer Hilfequote von knapp 0,4 % entspricht. Drei davon gingen weiter, als sich auf das Klingeln niemand meldete, lediglich eine Person verständigte die Polizei.

(nach Schwind, 2005)

Deduktion und Induktion als Erklärungen

Aufgrund seiner vielfachen Replikation auch unter variierenden Randbedingungen (z. B. Levy, Lundgren, Ansel, Fell, Fink & McGrath, 1972) kann der Bystander-Effekt heute als eine gut bewährte Gesetzmäßigkeit angesehen werden. Gesetze bilden die Basis für erfahrungswissenschaftliche Erklärungen. Wie in Box 1 ausgeführt, stellt die Ausarbeitung von Erklärungen (Explanation) für Phänomene ihres Gegenstandsbereiches eine der Hauptaufgaben jeder Wissenschaft dar. Bezogen auf das Beispiel in Box 4 bedeutet dies: Sehen wir eine Person, die in einer Gruppe von PassantInnen an einer Wohnung, aus der die Hilfeschreie eines Kindes kommen, vorbeiläuft ohne einzuschreiten, dann kann dies durch den Bystander-Effekt erklärt werden. Dabei stellen:

•  der Bystander Effekt das Gesetz dar: »Wenn A (hier: viele Zeugen einer Notlage), dann B (hier: geringe Hilfsbereitschaft)«,

•  die große Anzahl an PassantInnen die Wenn-Komponente (»viele Zeugen einer Notlage«) und

•  die unterlassene Hilfsleistung die Dann-Komponente (»geringe Hilfsbereitschaft«).

»Erklären« bedeutet hierbei, dass das Besondere (das Nicht-Helfen in einer gegebenen Situation) dem Allgemeinen (dem Bystander-Effekt) untergeordnet wird. Schlussfolgerungen, die eine solche Form aufweisen (vom Allgemeinen wird auf das Besondere geschlossen), werden als Deduktion (lat. deductio für Ableitung) bezeichnet. Deduktionen weisen in der Logik folgende allgemeine Form auf ( Tab. 1):

a)  erste Voraussetzung (oder Prämisse 1): Beschreibung einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit;

b)  zweite Voraussetzung (oder Prämisse 2): Es wird die Wenn-Bedingung festgestellt (diese wird auch als Antezedenz bezeichnet; von lat. antecedens für das Vorausgehende);

c)  Schlussfolgerung: Es wird auf die Dann-Bedingung gefolgert (wird auch als Konsequenz oder Konklusion bezeichnet; lat. conclusio für Schlussfolgerung).

Während die Prämissen 1 und 2 (von lat. praemissa für das Vorausgeschickte) das bezeichnen, was die Schlussfolgerung begründet, also das Erklärende (oder Explanans), kennzeichnet die Schlussfolgerung das zu Erklärende (oder Explanandum). Eine solche Erklärungsstruktur wird auch als deduktiv-nomologisches Schema oder als HO-Schema (nach Hempel & Oppenheim, 1948) bezeichnet. Die angemessene Verwendung des HO-Schemas im Rahmen einer wissenschaftlichen Erklärung setzt eine Reihe von Vorannahmen voraus (sog. Adäquatheitsbedingungen), zu denen die folgenden zählen: Das Explanandum muss inhaltlich (logisch) mit dem Explanans verbunden sein (d. h. der Bystander-Effekt ist keine Erklärung dafür, dass die PassantInnen Schuhe tragen), das Explanans muss mindestens ein allgemeines Gesetz enthalten (und nicht zwei Feststellungen wie »hohe Anzahl an ZeugInnen« und »es war Dienstag«) und das Gesetz muss widerlegbar sein (Falsifikationsprinzip) und sich in empirischen Studien bewährt haben.

Tab. 1: Das HO-Schema zur deduktiven Erklärung von Ereignissen

Explanans (Das, was erklärt.)Explanandum (Das, was erklärt werden soll.)

Das HO-Schema kann darüber hinaus zur Erstellung von Vorhersagen verwendet werden. Die Formulierung von Vorhersagen (Prognosen) stellt eine weitere Hauptaufgabe von Wissenschaften dar (vgl. Box 1). Eine Prognose aufzustellen, kann unter den beiden folgenden Umständen sinnvoll sein:

•  Die Wenn-Komponenteist noch nicht eingetreten: Man möchte beispielsweise vor der Implementierung einer sozialpädagogischen Intervention (z. B. ein Gruppentraining in der Schulsozialarbeit) oder zum Zwecke der Sozialplanung (z. B. vor der Neueinrichtung einer Institution) etwas darüber wissen, wie die Wenn-Komponente gestaltet werden sollte (Wie sollte die Intervention inhaltlich aufgebaut sein?; Wie sollte die neue Institution strukturell und organisatorisch gestaltet werden?), damit die erwünschte Dann-Komponente auftritt (Die SchülerInnen und Schüler profitieren von der Intervention; Die neue Einrichtung wird von den KlientInnen angenommen).

•  Die Dann-Komponenteist noch nicht eingetreten: Impliziert das Gesetz einen zeitlich hinreichend großen Abstand zwischen Wenn- und Dann-Komponente, kann die Prognose auch dann sinnvoll gestellt werden, wenn die Wenn-Komponente bereits gegeben ist. Dies kann in der Sozialen Arbeit beispielsweise dann der Fall sein, wenn nach einer stattgefundenen Intervention (z. B. zur Reduktion des Tabakkonsums) oder nach der Eröffnung einer neuen Institution (z. B. eine Beratungsstelle zur Rückfallprophylaxe von Straftätern und Straftäterinnen) Aussagen über die Dann-Komponente formuliert werden (Die TeilnehmerInnen rauchen weniger; Die Rückfallquote der StraftäterInnen sinkt).

Prognosen haben in diesen Fällen den Status begründeter Hypothesen, die an dem tatsächlichen zukünftigen Ergebnis zu messen sind. Prognosen werden unsicherer, wenn die Wenn-Komponente in der Realität komplexer (vielschichtiger) ausfällt als vom Gesetz angenommen. Dies ist jedoch leider häufig der Fall, da in der Wirklichkeit auch mit zufälligen Einflüssen zu rechnen ist. Insofern stellt die empirische Überprüfung von Prognosen ein besonderer »Härtetest« für jede Theorie dar: Sie ist »ein wesentlicher Beitrag zu einer erfolgreichen Wissenschaft, die auf eine empirische Rückkopplung angewiesen ist« (Bierhoff & Petermann, 2014, S. 16).

Das Gegenteil der Deduktion ist die sogenannte Induktion, bei der vom Besonderen auf das Allgemeine geschlossen wird (vom lat. inductio für Hinführung). Liest man beispielsweise in der Zeitung von einem Überfall durch eine »ausländische Person«, etwas später von einem weiteren Fall usw., kann man zu dem Schluss gelangen, alle AusländerInnen wären kriminell. Solche induktiven Schlussfolgerungen finden sich insbesondere im Alltag, wenn Menschen ihre Umwelt zu »erklären« versuchen. Induktive Schlüsse sind jedoch nicht wirklich zwingend (d. h. logisch), da immer die Möglichkeit besteht, dass ein Gegenbeispiel auftritt (allerdings berichten Zeitungen es nicht, wenn AusländerInnen keinen Überfall begehen). Auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bedienen sich mitunter der induktiven Methode, z. B. wenn sie aufgrund gehäufter Beobachtungen eine allgemeine Gesetzmäßigkeiten vermuten. Diese Vermutung weist jedoch vorerst lediglich den Status einer Hypothese auf, die anschließend empirisch überprüft werden muss (und sich dabei auch als falsch erweisen kann).

Theorien als Erklärungen

Ein Gesetz stellt noch keine Theorie dar. Gesetze beschreiben lediglich den regelhaften Zusammenhang zwischen (mindestens zwei) Größen (beim Bystander-Effekt sind das die Anzahl der ZeugInnen und das Hilfeverhalten). Solche Erklärungen werden auch als Erklärungen erster Ordnung (Laucken, Schick & Höge, 1996) bezeichnet, da ihr Fokus auf die beobachtbaren Aspekte einer Wenn-dann-Beziehung begrenzt ist. Eine Theorie jedoch befasst sich darüber hinaus mit der Frage, warum dieser Zusammenhang besteht. Wie kann man erklären, dass das Hilfeverhalten bei einer zunehmenden Anzahl von ZeugInnen absinkt und nicht, was ebenso denkbar wäre, zunimmt? Theorien liefern eine Erklärung zweiter Ordnung, da ihr Blickpunkt über die Wenn-dann-Frage hinaus auf die Warum-Frage ausgeweitet wird.

Bis heute liegen nicht nur viele Studien vor, die den Bystander-Effekt in unterschiedlichsten Situationen belegen (Erklärung erster Ordnung), sondern auch eine große Reihe an Untersuchungen, die der Warum-Frage nachgehen und die Erklärungen zweiter Ordnung für den Effekt überprüfen. Eine dieser Erklärungen zweiter Ordnung bezieht sich auf die sogenannte Verantwortungsdiffusion, die besagt, dass Bystander (Personen einer Zeugengruppe, die nicht helfen) die Verantwortung dafür, der in Not befindlichen Person zu helfen, auf die anderen ZeugInnen »aufteilen« (diffundieren). Ist zum Beispiel neben der eigenen Person noch eine weitere Person anwesend, dann wird die Verantwortung für die Hilfeleistung auf diese beiden Personen verteilt, so dass die Verantwortung der eigenen Person dadurch »halbiert« wird (z. B. Schwartz & Gottlieb, 1976). Das Beispiel verdeutlicht, dass Theorien mehr beinhalten, als die durch das Gesetz formulierten Wenn-dann- oder Je-desto-Komponenten: Es kommen Aspekte hinzu, wie im Beispiel die Verantwortungsdiffusion, die im Gesetz nicht enthalten sind. Was diesen »Mehrwert« von Theorien genau ausmacht, wird im Folgenden näher ausgeführt.

Zunächst muss an dieser Stelle die Bezeichnung Variable eingeführt werden. Eine Variable (von lat. varius für verschieden) kennzeichnet eine veränderliche (variierende) Größe, für die mehrere Ausprägungsgrade vorliegen. Zum Beispiel können beim Bystander-Effekt die beiden Größen »Anzahl der ZeugInnen« und »Dauer bis zum Eintritt der Hilfeleistung (gemessen in Sekunden)« sehr unterschiedliche (variable) Ausprägungen annehmen: Beide Variablen können bei eins beginnen und immer weiter ansteigen (2 Personen, 3 Personen usw.; 2 Sekunden, 3 Sekunden etc.). Bei Gesetzesformulierungen werden (mindestens) zwei Variablen berücksichtigt: Die »Wenn-Komponente« stellt die sogenannte Bedingungsvariable dar, die »Dann-Komponente« die Folgevariable. Synonym werden für eine Bedingungsvariable auch der Begriff »unabhängige Variable« und für eine Folgevariable die Bezeichnung »abhängige Variable« verwendet. Bezogen auf den Bystander-Effekt stellt also die »Anzahl der ZeugInnen« die unabhängige Variable dar (da sie nicht von der anderen Variable, der »Hilfeleistung«, abhängt) und die »Hilfeleistung« die abhängige Variable (weil sie von der anderen Variable, der »Anzahl der ZeugInnen«, abhängig ist).

Um die Warum-Frage zu beantworten beziehen sich Theorien nicht nur auf die (beobachtbaren) unabhängigen und abhängigen Variablen, sondern darüber hinaus auch auf solche Variablen, die nicht direkt beobachtbar sind, sondern i. d. R. erschlossen werden. Im Beispiel ist das die Verantwortungsdiffusion: Diese ist nicht Teil des äußerlich sichtbaren Verhaltens der Personen, sondern ein Aspekt ihres inneren Erlebens (genauer ihrer kognitiven Aktivität). Solche theoretischen Begriffe werden als »hypothetische Konstrukte« bezeichnet, da sie nur angenommen und nicht direkt zugänglich sind. Eine synonyme Bezeichnung dafür ist der Begriff intervenierende Variable (oder vermittelnde Variable), da sie zwischen der unabhängigen und der abhängigen Variable vermittelt, wobei in der Theorie die angenommenen Zuordnungsregeln zwischen den drei Variablen expliziert werden muss: »Wenn die Anzahl an ZeugInnen hoch ist, dann sinkt die persönliche Verantwortung« und »Wenn die persönliche Verantwortung niedrig ist, dann sinkt die Hilfeleistung«.

Theorien (von gr. theorein für Zuschauen; bei Aristoteles wird theoria als Erforschung der Wahrheit ohne Nutzenerwägung und praktischen Zwängen verstanden) stellen somit komplexe Systeme von (relativ) allgemeinen, miteinander verbundenen Gesetzesaussagen dar, die einen bestimmten Ausschnitt der Realität widerspruchsfrei erklären sollen. Häufig werden die Begriffe »Erklärungsansatz«, »Kausalmodell« oder »Netzwerk« gleichbedeutend mit »Theorie« verwendet, wobei eine Theorie jedoch keine einfache Anhäufung ungeprüfter Behauptungen darstellt. Vielmehr ist eine Theorie eine »Vernetzung von gut bewährten Hypothesen bzw. anerkannten empirischen ›Gesetzmäßigkeiten‹«, die »für einen bestimmten Zeitraum für ein begrenztes Untersuchungsfeld … den aktuellen Forschungsstand am besten integriert« (Bortz & Döring, 2006, S. 15). Die Kriterien für die Güte (oder Qualität, Gültigkeit) einer Theorie umfassen folgende Aspekte (nach Hussy & Jain, 2002):

•  Klarheit der Begriffe: Die in einer Theorie verwendeten Begriffe sollen möglichst genau, unmissverständlich und nachvollziehbar definiert werden. Die Verwendung einer ungenauen Begrifflichkeit (z. B. »Das Ausmaß des Selbstbewusstseins einer Person wirkt sich auf ihr Sozialverhalten aus«) verhindert, dass durch die Theorie konkretes Verhalten erklärt oder vorhergesagt werden kann (Was ist »Selbstbewusstsein«? Was ist »Sozialverhalten«?).

•  Logische Konsistenz der Aussagen: Die Aussagen einer Theorie dürfen nicht in Widerspruch zueinander stehen. So wären z. B. die Aussagen »Personen mit geringem Selbstbewusstsein zeigen in Konfliktsituationen aggressives Verhalten« und »Personen mit geringem Selbstbewusstsein zeigen in Konfliktsituationen Rückzugs- und Fluchtverhalten« nicht miteinander vereinbar.

•  Sparsamkeit der Annahmen: Eine »gute« Theorie ist in der Lage, möglichst viele Beobachtungen durch möglichst wenig Annahmen erklären zu können. Die operante Lerntheorie kann z. B. Angriffs- versus Fluchtverhalten von Personen in Konfliktsituationen durch die Annahme einer einzigen intervenierenden Variable erklären, der sog. »Verstärkung« (Skinner, 1938, 1953): Während Angriffsverhalten durch eine positive Verstärkung (sich im Konflikt erfolgreich durchsetzen) aufrechterhalten wird, kommt es bei Fluchtverhalten zu einer Aufrechterhaltung durch negative Verstärkung (Verringerung des Angsterlebens). Würde man alternativ das Konstrukt »Selbstbewusstsein« zur Erklärung verwenden, wäre dies nicht ohne Zusatzannahmen möglich, da diese Theorie nicht ohne weiteres begründen kann, ob ein hohes oder ein niedriges Selbstbewusstsein jeweils zu Angriffs- oder Fluchtverhalten führt.

•  Empirische Bewährung der Theorie