Foucault. Eine Einführung - Peter Sich - E-Book

Foucault. Eine Einführung E-Book

Peter Sich

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Beschreibung

Michel Foucaults Ausführungen über Macht, Diskurs und Sexualität sind auch für heutige Diskussionen grundlegend. Mehr und mehr schält sich dabei die Frage nach der Konstitution des Subjekts als ein Kernproblem des foucaultschen Denkens heraus. Anhand dieses Leitmotivs systematisiert Peter Sich in seinem Einführungsband Foucaults verzweigtes Werk in zeitlicher und thematischer Hinsicht. Neben einem Einführungskapitel runden ein Glossar der foucaultschen Kernbegriffe, eine kommentierte Bibliographie ausgewählter Forschungsliteratur sowie eine ausführliche Zeittafel das Buch ab. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

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Seitenzahl: 203

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Peter Sich

Foucault

Eine Einführung

Reclam

2018 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Coverabbildung: Portrait of Michel Foucault in 1977 © Getty Images / Françoise Viard

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2018

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961351-2

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019520-8

www.reclam.de

Inhalt

Anstelle eines Vorworts, oder: Was dieses Buch nicht istÜberblick: Denken und WerkEinführung: Kritik und GeschichteArchäologie und WissenGenealogie und MachtEthik und SelbstEpilog: Theorie und PraxisLiteraturhinweiseSchlüsselbegriffeZeittafelZum Autor

[7]»Das Wichtigste im Leben und in der Arbeit ist, etwas zu werden, das man am Anfang nicht war.«1

 

Michel Foucault

Anstelle eines Vorworts, oder: Was dieses Buch nicht ist

Der vorliegende Band ist als problemorientierte Einführung in das Denken Michel Foucaults gedacht. Es liegt in der Natur der Sache, dass ein derartiges Vorgehen zu einer Verknappung führt. Deshalb ist es weder das Ziel, Foucaults Werk in seiner Gänze darzustellen, noch es systematisch und vollständig in Hinblick auf nur einen einzigen Aspekt erschöpfend aufzuschlüsseln. Vielmehr soll das Kernproblem des Subjekts als Leitmotiv dienen, um eine Schneise durch das Dickicht des Foucault’schen Denkens zu schlagen, von der aus sich dem Leser / der Leserin immer wieder Möglichkeiten zur Abzweigung ergeben. Dabei konzentriert sich die Darstellung auf die Hauptwerke und nimmt kleinere Texte dort in den Blick, wo sie die in den Hauptwerken entwickelten Methoden und Konzepte erhellen. Eine systematische Darstellung der materialreichen Vorlesungsreihen am Collège de France wird nicht vorgenommen, obgleich durch deren sukzessive Veröffentlichung in den letzten Jahrzehnten neue Konzepte publik und Zugangsweisen eröffnet wurden.

Auf biografische Schilderungen wird in dieser Darstellung ebenso verzichtet wie auf eine theoriegeschichtliche Einordnung. Zwar ist kaum ein Name derart eng mit dem Poststrukturalismus verknüpft wie der Michel Foucaults, [8]und unabhängig davon, wie man gegenüber derartigen Etikettierungen stehen mag (Foucault selbst lehnte sie vehement ab): Ohne den Einfluss des Strukturalismus und – mehr noch – ohne dessen Überwindung ist Foucaults Werk nicht zu denken. Zugleich zeigt sich aber, dass die Bezugnahme auf diesen Deutungsrahmen abseits einer theoriegeschichtlichen Einordnung nicht zwingend notwendig ist, um sich seinem Denken zu nähern. Im Gegenteil: Die Kategorisierung verstellt eher den Blick für dessen Eigenheiten.

Ähnlich verhält es sich mit biografischen Bezugnahmen. Sicherlich lassen sich bestimmte Gedanken stets auf Lebensereignisse zurückführen oder zumindest zu diesen in Bezug setzen. Und insbesondere bei einem politisch engagierten Intellektuellen wie Foucault, der vor allem in den 1970er Jahren an vielen linken bis linksradikalen Aktionen beteiligt war, ist die Frage nach der Verknüpfung von Theorie und Praxis nicht uninteressant. Gerade eine verknappende Darstellung birgt aber immer die Gefahr, in die Falle der Psychologisierung zu tappen und die Theorie als Überschussprodukt der Biografie zu deuten. Wer sich für die (durchaus spannende) Lebensgeschichte Foucaults interessiert, dem seien die entsprechenden Bücher von Didier Eribon oder David Macey empfohlen. Im Anhang dieses Buches findet sich zudem eine biografische Übersicht.

Der Aufbau des vorliegenden Bandes folgt der Chronologie, die im nächsten Kapitel erläutert wird. Diesem schließt sich ein systematisch orientiertes Kapitel an, das die grundlegenden Charakteristika des Denkens Foucaults entwickelt und einen ersten Überblick über die Stellung des Subjekts im Werk gibt. Der anschließende Teil [9]orientiert sich in seinem Aufbau an einem gängigen Schema, gemäß dem sich Foucaults Schaffen in drei Abschnitte einteilen lässt. In jeder dieser Phasen verfolgt Foucault ein spezielles Forschungsinteresse. Auf diese Weise ergibt sich aus der historischen Abfolge auf natürliche Weise eine systematische Gliederung. Dabei eröffnen die Kapitel jeweils mit einer Darstellung der innerhalb der jeweiligen Werkphase dominierenden Methode, bevor sich eine themenorientierte Darstellung der Inhalte anschließt.

 

Mein Dank gilt David Sich und Beatrix Sich für die Durchsicht der Erstfassung des Textes, für die Begutachtung Dieter Birnbacher und Simone Dietz, ihr insbesondere auch dafür, dieses Buchprojekt in die Wege geleitet zu haben, für die Unterstützung dabei Ludger Schwarte; Reinhold Görling für die Aufnahme an sein Institut und die Möglichkeit, Foucault gemeinsam mit Studierenden weiter auszuloten, sowie Silvia Bahl für die Unterstützung dabei; Eva Mackensen für ihre hilfreichen Anmerkungen zum Exposé; für die kritische Durchsicht des Manuskripts Stavros Patoussis, Lukas Wilhelmi, Johannes Sich und insbesondere Felix Weiler – sowie ganz grundsätzlich Lena.

[10]Überblick: Denken und Werk

Als Michel Foucault 1984 im Alter von 57 Jahren starb, hinterließ er ein alles andere als einheitliches Werk. Sein rastloses Schaffen ist durchzogen von Brüchen, Revisionen, strategischen und methodischen Kehrtwendungen. Dabei lassen sich aber gewisse einander ablösende Grundströmungen ausmachen, die über bestimmte Zeiträume mehr oder weniger deutlich präsent bleiben und gemäß derer Foucaults Werk sich dann doch halbwegs schlüssig systematisieren lässt. Ein gängiges Modell ist dabei die Einteilung in drei große Phasen.1

Die Zeit bis 1970 lässt sich als ›archäologische Phase‹ bezeichnen. Mit der sogenannten »Archäologie« führt Foucault in den 1960er Jahren eine Methode ein, die sich durch die radikale Ablehnung von Kategorien wie Urheber- und Autorschaft auszeichnet. Mit dem Begriff bezeichnet Foucault ein diskursanalytisches Verfahren, das die Grundlagen der Wissenssysteme einer Epoche zum Vorschein bringen soll. Hierbei wird die Geschichte des Wissens nicht mehr an Wissensstifter gebunden, sondern allein der Regulierung von Diskursen durch vorbewusste Ordnungssysteme unterworfen. Bereits in dieser Zeit hat die in ironisierender bis zynischer Geste vorgetragene Unterminierung der neuzeitlichen Subjektphilosophie Foucault den Ruf eingebracht, das menschliche Subjekt als Gegebenheit radikal zu leugnen.

Die maßgeblichen Werke dieser Zeit sind Folie et déraison (Wahnsinn und Gesellschaft, 1961, im Folgenden zit. als: WG), Foucaults Dissertationsschrift, und Les mots et les choses (Die Ordnung der Dinge, 1966, zit. als: OD). [11]Hinzu kommen einige kleinere Schriften und historiografisch-philosophische Monografien wie Naissance de la clinique: Une archéologie du regard médical (Die Geburt der Klinik, 1963, zit. als: GK). Den systematischen Höhepunkt dieser Phase bildet L’archéologie du savoir (Die Archäologie des Wissens, 1969, zit. als: AW), Foucaults Discours de la méthode2, sein einziges Buch, das tatsächlich und ausschließlich eine Methodenreflexion darstellt.3 Den markanten Abschluss dieser Periode stellt die unter dem Titel L’ordre du discours (Die Ordnung des Diskurses, publiziert 1971, gehalten 1970, zit. als: ODis) veröffentlichte Antrittsvorlesung am Collège de France dar, die zugleich die zweite, die ›genealogische Phase‹ einleitet.

Diese mittlere Phase dürfte die bedeutendste im Gesamtwerk sein. Mit den beiden Büchern Surveiller et punir (Überwachen und Strafen, 1975, zit. als: ÜS) und La volonté de savoir (Der Wille zum Wissen, 1976, zugleich der erste Band der Reihe Sexualität und Wahrheit4, zit. als: SW I) veröffentlicht Foucault in diesen Jahren zwei seiner wichtigsten Arbeiten. In diesen befasst er sich mit der Entwicklung des modernen Strafsystems sowie der Sexualität in der Neuzeit. Die Methode, die diesen Betrachtungen zugrunde liegt, bezeichnet er mit dem bei Nietzsche entlehnten Begriff der »Genealogie«: Deren Ziel ist es, durch das Nachzeichnen der historischen Entwicklung scheinbar naturgegebener Phänomene (wie z. B. der Sexualität) deren geschichtliche Verfasstheit aufzuzeigen. Dabei wird im Denken Foucaults Macht zum zentralen Konzept. Zu dieser Zeit wird für ihn auch die Frage nach dem Subjekt drängender, wobei dieses stets in Abhängigkeit und als Produkt von Machtbeziehung gedacht wird. Entsprechend [12]konstatiert Foucault einige Jahre später, dass die Analyse der Macht aufs Engste mit der Frage nach den Konstitutionsbedingungen des Subjekts verknüpft sei.5

Da zwischen Der Wille zum Wissen und den letzten beiden zu Foucaults Lebzeiten publizierten Büchern (L’usage des plaisirs, dt.: Der Gebrauch der Lüste und Le souci de soi, dt.: Die Sorge um sich; beide Bände sind zugleich: Sexualität und Wahrheit II und III, beide 1984, zit. als: SW II und SW III) acht Jahre ohne größere Veröffentlichung liegen, fällt eine genaue Abgrenzung zur dritten, der ›ethischen Phase‹ schwer. Eine solche lässt sich jedoch anhand der in diesen Jahren gehaltenen Vorlesungen rekonstruieren. Als einschneidend werden gelegentlich Foucaults Erfahrungen während der iranischen Revolution von 1978 verstanden, die er für die italienische Tageszeitung Corriere della serra journalistisch begleitete. Überhaupt werden zu dieser Zeit Textformen, die abseits der gängigen akademischen Publikationsformen liegen, immer wichtiger. Insbesondere Interviews, die Foucault gegeben hat, haben einen bedeutenden Stellenwert eingenommen.

In dieser Phase wendet Foucault sich antiken Konzeptionen von Ethik zu. Diesen liegt laut Foucault die Idee einer Sorge um sich zugrunde, ein Konzept, anhand dessen er den ethischen Selbstbezug und die Selbstkonstituierung des Subjekts untersucht. Das Aufkommen dieser Selbstbezüglichkeit war der maßgebliche Grund dafür, dass nach der Toderklärung des Subjekts in Foucaults archäologischer Phase nun in der Rezeption die Rede von einer Wende zum Subjekt umherging.6

Dieses Phasenmodell ist freilich äußerst schematisch. Zwar bietet es ein brauchbares heuristisches Instrument, [13]um eine grobe Beschreibung der inhaltlichen und methodischen Verschiebungen zu liefern und sich somit über diese zu verständigen, es ist aber weder so, dass nach einer der Neuausrichtungen die vorherigen Ergebnisse vollständig aufgegeben worden wären, noch dass die einzelnen Phasen in sich vollständig homogen wären. Im Gegenteil: Die hier vorgeschlagene Systematisierung bedeutet nicht, dass innerhalb dieser Schaffensphasen eine tatsächliche Einheitlichkeit der Methodik oder der Thematik vorherrscht. Foucaults theoretisches Fundament blieb zeit seines Lebens ein work in progress, so dass nahezu jedes Buch trotz gewisser Konstanten in den Grundkonzeptionen einer im Detail spezifischen Methodik folgt, die in Konfrontation mit dem jeweiligen Thema immer erst erarbeitet wird. Zudem unterschlägt dieses Phasenmodell u. a. Foucaults frühe Veröffentlichungen, wie Maladie mentale et personnalité (später erneut herausgegeben als Maladie mentale et psychologie, dt.: Psychologie und Geisteskrankheit) und die Einleitung zur französischen Übersetzung von Traum und Existenz des Schweizer Psychoanalytikers Ludwig Binswanger (beide 1954), die sich mit einer Positionierung zwischen Fundamentalontologie und Psychoanalyse jeder Einordnung in das Schema entzieht.

Neben den Monografien nimmt für die Rezeption Foucaults ein Fundus kleinerer Texte (Vorträge, Aufsätze, Interviews, Zeitungsartikel usw.) einen bedeutenden Stellenwert ein. In diesen finden sich neben eigenständigen Theoriekonzepten vielfach Klarstellung, Präzisierungen und Positionsbestimmungen, die ein erhellendes Licht auf Foucaults Hauptwerk und seine Denkbewegungen werfen. Die Texte wurden erst 1994 auf Französisch in den [14]vierbändigen Dits et écrits gesammelt veröffentlicht, noch deutlich später, nämlich 2001–2005, folgte die deutsche Ausgabe unter dem Titel Schriften (zit. als: DE 1–4). Diese Publikationen haben der Foucault-Forschung neue Impulse gegeben, ebenso wie die Vorlesungsreihen, die Foucault ab 1970 am Collège de France hielt. Die Vorlesungen waren (wie am Collège de France üblich) öffentlich und hatten enormen Zulauf. Die Texte wurden anhand der Tonbandaufnahmen von Zuhörern transkribiert. Diese sehr materialreichen historischen Untersuchungen lassen sich teilweise als Ausführungen oder Vorbereitungen zu den im zeitlichen Umfeld entstandenen Büchern lesen, teils entwickelt Foucault in ihnen aber auch gänzlich neue Konzepte, die nur am Rande in seinen Büchern anklingen. Dies hatte und hat bezüglich einiger Aspekte des Foucault’schen Werks (etwa des Konzepts der »Gouvernementalität«) eine verzögerte Rezeption zur Folge.

[15]Einführung: Kritik und Geschichte

Trotz der methodischen und theoretischen Revisionen, die Foucaults Werk durchziehen, lassen sich bestimmte Grundmotive und Hintergrundannahmen seines Denkens skizzieren, die nahezu das gesamte Werk durchziehen. Ein paradigmatischer Begriff, der Foucaults Grundhaltung zu illustrieren vermag, ist der des Wahrheitsspiels. Foucault selbst führt diese Wortschöpfung, die eine Ähnlichkeit zu Wittgensteins Begriff des Sprachspiels nicht verhehlen kann,1 erst relativ spät ein, nämlich in den frühen 1980er Jahren.2

Um diesen Begriff einordnen zu können, mag es hilfreich sein, sich kurz zu vergegenwärtigen, was ein Spiel als solches ausmacht. Entsprechend der klassischen Definition von Johan Huizinga sind zwei Momente für ein Spiel maßgeblich: Zum einen sein freier, eben spielerischer, Charakter, zum anderen (und vielleicht wichtiger) seine Regelhaftigkeit und die unbedingte Geltung dieser Regeln an einem bestimmten Ort und über eine begrenzte Dauer.3

Wenn Foucault den Begriff der Wahrheit mit dem des Spiels in Verbindung setzt, geht es ihm also nicht darum, dass die Wahrheit zum Objekt einer Art »Herumspielens« und dadurch beliebig wird. Vielmehr beinhaltet der Begriff des Wahrheitsspiels die inhaltliche Bestimmung, dass Wahrheit das Produkt bestimmter regelhafter Prozesse ist. Das spricht ihr zwar die Letztgültigkeit ab, bedeutet aber eben nicht, dass es überhaupt keine Wahrheit gibt, sondern dass deren Hervorbringung bestimmten (historischen) Regeln unterliegt.4

Foucault geht es nun bei der Analyse von Wahrheitsspielen um die Erforschung, wie sich solche Regeln [16]historisch konstituieren. Damit ist allerdings »nicht die Entdeckung der wahren Dinge gemeint; vielmehr liegt den Regeln, nach denen ein Subjekt über bestimmte Dinge sprechen kann, die Frage nach der Wahrheit und Falschheit zugrunde«.5 Die »Entdeckung der wahren Dinge« ist mit Foucault schlechterdings unmöglich. Denn die Suche nach dem und das Verständnis dessen, was wahr ist, unterliegt stets schon den Regeln der Kultur und der Epoche, der der Suchende entstammt. Diese vorgängigen Regeln strukturieren das Denken und Sprechen. Sie bestimmen den Raum dessen, was als wahr gelten kann, ohne dass es dem Einzelnen möglich wäre, auf eine dahinterliegende, überzeitliche Wahrheit zu blicken oder selbst ahistorische Gültigkeitsbedingungen oder Rationalitätsmaßstäbe für Wahrheit anzubringen.6 Denn auch dieser Blick unterliegt den je schon vorhandenen Regeln, auch wenn er dem Einzelnen erweitert erscheinen mag. Der Althistoriker Paul Veyne, ein enger Freund Foucaults, illustriert dies mit einem schönen Bild:

»So sind in jeder Epoche die Zeitgenossen […] wie in vermeintlich transparente Fischgläser eingeschlossen, sie wissen nicht, um welche Fischgläser es sich handelt, und sind sich nicht einmal darüber im Klaren, dass ein solches Glas existiert«.7

Foucault hatte nun, so könnte man grob zusammenfassen, die Absicht, seinen Zeitgenossen die Existenz des eigenen Fischglases durch die Rekonstruktion der Geschichte der Fischgläser bewusst zu machen.8

Mit den im vorangehenden Kapitel skizzierten [17]methodischen Verschiebungen in Foucaults Werk ändern sich auch die Phänomene, die Foucault als ursächlich für die Entwicklung der Wahrheitsregeln ansieht. In der Archäologie unterliegen diese noch autonomen Diskursen, die durch vorgängige Ordnungen strukturiert werden. Mit der Genealogie rücken nicht-diskursive Praktiken und die Wirkungen der Macht in den Vordergrund, die dann ihrerseits auf die Regulation des Wissens wirken. Denn die gemäß den Regeln der Wahrheitsspiele hervorgebrachten Sätze und Aussagen verbinden sich zu Satzsystemen, zu Wissenssystemen, zu diskursiven Formationen. Durch diese werden wiederum das Wissen und die Wissenschaften einer Epoche konstituiert. Die Arten und Weisen, wie über Dinge gesprochen, gedacht, geforscht wird, stehen dabei im Wechselspiel mit der Hervorbringung ihrer Gegenstände.9 In seinen Analysen geht es Foucault also u. a. darum,

»zu bestimmen, unter welchen Bedingungen etwas zum Objekt eines möglichen Wissens werden kann, wie es als ein zu erkennendes Objekt problematisiert und welchen Verfahren der Unterscheidung es unterworfen werden konnte sowie welcher Teil davon als zutreffend angesehen wurde. Es soll also die Objektivierungsweise bestimmt werden, die sich, je nach der Art des Wissenstypus, um den es sich handelt, unterscheidet«.10

Laut Foucault unterliegen diese Wissenstypen und die daraus resultierenden Objektivierungsweisen – also jene Arten, wie etwas zum Gegenstand des Wissens wird – historischen Veränderungen. Da diese Prozesse konstitutiv für die faktische Verfasstheit der Phänomene sind, folgt [18]daraus, dass auch deren konkrete Erscheinungsformen nicht notwendig, sondern immer historisch und damit zwar regelhaft, aber letzten Endes kontingent, also nicht-notwendig sind. Foucault hat dabei anhand unterschiedlicher Sujets analysiert, wie über solche Prozesse verschiedene, vermeintlich naturgegebene Phänomene (etwa der Wahnsinn, die Sexualität, das Subjekt) konstituiert werden.

Daraus folgt aber nicht, dass Foucault das tatsächliche Vorhandensein der konstituierten Phänomene oder von Wahrheit überhaupt leugnet: Dass sie und die Form ihres Auftauchens von spezifischen Aussageregeln abhängen, bedeutet nicht, dass sie irreal sind. Trotz der Kontingenz der Konfigurationen, in denen sie sich präsentieren, bilden sie konkrete Realitäten. Und diese sind alles, auf was wir zugreifen können, eben weil es so etwas wie eine eigentliche Natur der Dinge gemäß Foucault nicht gibt.11 Das Hinterfragen solcher scheinbar naturgegebener Phänomene und die Offenlegung ihres historisch-kontingenten Charakters ist das Ziel nahezu aller seiner Arbeiten, und hierin liegt der durchaus politische Anspruch der Philosophie Foucaults:

»Ich habe mir vorgenommen – dieser Ausdruck ist gewiss allzu pathetisch –, den Menschen zu zeigen, dass sie weit freier sind, als sie meinen; dass sie Dinge als wahr und evident akzeptieren, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte hervorgebracht worden sind, und dass man diese so genannten Evidenzen kritisieren und zerstören kann. Etwas in den Köpfen der Menschen zu verändern – das ist die Aufgabe des Intellektuellen«12.

[19]In dieser Bestimmung der Philosophie als zeitdiagnostisch-kritische und emanzipierende Methode stellt sich Foucault an verschiedenen Stellen in die Tradition Kants.13 In einigen Texten, allen voran den Vorträgen Was ist Kritik (1978) und zwei namensgleichen mit dem Titel Was ist Aufklärung (1983/1984)14, aber auch im programmatischen Aufsatz Das Subjekt und die Macht (1982), setzt sich Foucault dezidiert mit Kants Begriffen der Aufklärung und der Kritik auseinander. Dabei bestimmt er den Begriff der Kritik weniger als Umschreibung des transzendentalphilosophischen Programms, als vielmehr in seiner zeitdiagnostischen Dimension.

Zentraler Bezugspunkt ist für ihn Kants Text Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung. Denn darin habe zum ersten Mal ein Philosoph die Analyse eines »geschichtliche[n], noch junge[n], ja aktuelle[n] Ereignis[ses]«, dort nämlich der Aufklärung, zum Gegenstand einer philosophischen Analyse gemacht.15 Und damit sei Kant der Erste gewesen, der den Status der eigenen Subjektivität im Hinblick auf seine historische Verfasstheit untersucht habe: »Wer bin ich – ›ich‹ ist für Descartes jeder, überall und zu jeder Zeit. Kant hingegen fragt etwas anderes: Wer sind wir in diesem präzisen Moment der Geschichte? Kants Frage zielt analytisch zugleich auf uns und unsere Gegenwart«16. Damit geht die Philosophie dazu über, die Zeitdiagnostik als einen Teil ihres Geschäftes zu verstehen, ohne vollständig darin aufzugehen.

Foucault sieht das kantische Verständnis der Aufklärung (die da verstanden wird als Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit) in enger Nähe zu seinem eigenen Begriff der Kritik. Kritik, deren »[20]Entstehungsherd […] im wesentlichen das Bündel der Beziehungen zwischen der Macht, der Wahrheit und dem Subjekt ist«17, hat für Foucault eine emanzipierende Funktion. Sie zielt auf die gegenwärtige Verfasstheit des Subjekts, um seine Bedingtheit und die Verstrickungen in die Wahrheitsspiele offenzulegen und es von diesen zu befreien. Dabei ist er der Meinung, sein Verständnis von Kritik sei »nicht weit entfernt […] von jener Definition, die Kant gegeben hat: allerdings nicht von der Kritik, sondern von der Aufklärung«18.

Das ist eine bemerkenswerte Denkbewegung: Foucault stellt sich in die kritische Tradition Kants, meint an dieser Stelle aber »Aufklärung«, wenn er »Kritik« schreibt.19,20 Konkret führt er aus:

»Kritik [ist] die Bewegung, in welcher sich das Subjekt das Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu befragen und die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse hin. Dann ist die Kritik die Kunst der freiwilligen Unknechtschaft, der reflektierten Unfügsamkeit. In dem Spiel, das man die Politik der Wahrheit nennen könnte, hätte die Kritik die Funktion der Entunterwerfung«.21

Oder kürzer: Kritik ist »die Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden«22. Nicht dermaßen regiert zu werden bedeutet aber wiederum nicht, nicht regiert zu werden. Die Befreiung, auf die Foucault abzielt, kann sich gleichsam ihrerseits nur im Gesamtkontext der Wahrheitsspiele und Machtverhältnisse vollziehen und auf eine Überschreitung bzw. Transgression und Transformation abzielen.

[21]In diesen Formulierungen der emanzipatorischen Wirkung, die der Kritik durch das Hinterfragen der Bedingungen von Wahrheit beikommt, klingt bereits an, dass es das Subjekt ist, das es zu befreien gilt. Tatsächlich postuliert Foucault 1982 in dem zentralen Text Das Subjekt und die Macht23: »Nicht die Macht, sondern das Subjekt ist […] das allgemeine Thema meiner Forschung«24. Der Text ist mit äußerster Vorsicht zu betrachten, handelt es sich doch um eine späte Interpretation des eigenen Werkes, weshalb nicht auszuschließen ist, dass es sich hierbei um den Versuch handelt, der eigenen Rezeption einen bestimmten perspektivischen Drall zu geben. Mit einigem Recht lässt sich »diese Selbstinterpretation« deshalb »für allzu kreativ halten«, wie Martin Saar anmerkt.25 Nimmt man sie aber als Lese- und Interpretationsfolie ernst, hat sie durchaus Sinn. Tatsächlich stellt es einen brauchbaren heuristischen Schlüssel dar, das Werk Foucaults in Hinblick auf die Thematisierung des Subjekts zu interpretieren. Dabei stellt sich aber schnell heraus, dass sowohl der Begriff als auch die Stellung des Subjekts im Werk deutlichen Variationen unterliegen.

Durchgehend gilt, dass Foucault unter Subjekt »im Gegensatz zu einer ganzen philosophischen Tradition nichts Substantielles, Überhistorisches und Letztverbürgtes« versteht26, so Saar. Für Foucault ist das Subjekt weder etwas, was von vornherein gegeben wäre, noch lassen sich allgemeine ahistorische Bestimmungsmerkmale finden, die konstitutiv für dieses wären. Vielmehr werden das Subjekt, seine Verfasstheit und seine Stellung im System des Wissens wie der Macht immer im Prozess hervorgebracht. Das Subjekt »ist keine Substanz, sondern eine Form, die in unterschiedlichen Bezügen anders ist«27.

[22]Trotz aller Varianzen ist Foucaults Subjektbegriff durchgängig anti-essenzialistisch und streng historistisch. Seinen Überlegungen liegt dabei die Ablehnung der Idee eines grundlegenden, vorgängigen Subjekts zugrunde, das die Basis für bestimmte Formen von Erkenntnis und entsprechende erkenntnistheoretische Fragestellungen bildet. Laut Foucault bedarf es der Zurückweisung dieser a-priori-Theorie des Subjekts, wie er sie etwa dem Existentialismus und der Phänomenologie unterstellt, um den Weg frei zu machen für die Analyse der Konstituierung des Subjekts.28

Die Formulierung dieser »radikalen Kritik des menschlichen Subjekts durch die Geschichte«29 hat Foucault verschiedentlich den Vorwurf eingebracht, er propagiere eine »Philosophie der Subjektlosigkeit«30, so Ruoff, mit dem Ziel einer, so Habermas, »radikal historistischen Auslöschung des Subjekts«31. Diese Kritik verkennt jedoch einen der Kerngedanken Foucaults: Die historistische Dezentrierung des Subjekts zugunsten einer Untersuchung seiner Konstitutionsbedingungen bedeutet eben nicht dessen Auslöschung. Denn indem diejenigen Prozesse untersucht werden, die das Subjekt hervorbringen, wird es zwar seiner autonomen Stellung enthoben, dabei aber stets als historisch konkret Gegebenes anerkannt.

Dennoch lässt sich feststellen, dass Foucault die traditionell starke Stellung des Subjekts in der Neuzeit untergräbt. So lehnt er die Idee eines souveränen Subjekts sowohl auf der erkenntnisstiftenden als auch auf der soziologischen Ebene ab. Damit untergräbt er gleichermaßen den Status eines kantischen oder cartesianischen Erkenntnissubjekts (was für ihn ohnehin dasselbe sei, wie er einmal polemisch [23]einfließen lässt)32 wie auch den eines autonomen Handlungsträgers.

An dieser Stelle zeigt sich eins der Probleme, die im Versuch einer komprimierten Darstellung der Philosophie Foucaults sichtbar werden: Die Terminologie ist inkonsistent. Fast könnte man meinen, die historische Variabilität, die Foucault in Bezug auf historische Phänomene konstatiert, gelte auch für seine eigene Begriffswahl. So kommt es immer wieder vor, dass Foucault Begriffe nicht ausreichend oder bloß provisorisch definiert und sich die Freiheit herausnimmt, den Bedeutungsgehalt en passant zu variieren.

Im Zusammenhang mit dem Begriff des Subjekts lassen sich mindestens drei verschiedene Bedeutungsebenen voneinander unterscheiden, die Foucault zum Teil parallel verwendet und manchmal miteinander vermengt (was wiederum daran liegt, dass sie in engem Bezug zueinander stehen und sich gegenseitig beeinflussen). So spricht er an verschiedenen Stellen von drei Achsen der Subjektivität, gemäß derer diese sich untersuchen lasse:

»Erstens eine historische Ontologie unserer selbst im Verhältnis zur Wahrheit, durch das wir uns als Subjekte des Wissens konstituieren. Zweitens eine historische Ontologie unserer selbst im Verhältnis zu einem Machtfeld, durch das wir uns als Subjekte konstituieren, die auf andere einwirken; drittens eine historische Ontologie im Verhältnis zur Ethik, durch das wir uns selbst als moralisch Handelnde konstituieren«.33

Diese drei Achsen bzw. Dimensionen sind dabei weitgehend deckungsgleich mit den erwähnten jeweiligen [24]Schwerpunkten der Werkphasen Foucaults, nämlich Wissen, Macht und Ethik/Selbsttechniken.34

Zunächst lässt sich das Subjekt in seiner erkenntnistheoretischen Funktion begreifen. Als solches ist es Bedingung für jede Erkenntnis und deckt sich zunächst mit dem neuzeitlichen Erkenntnissubjekt. Mit der starken Bedeutung, die diesem in der Neuzeit seit Descartes und später dann durch Kant zukommt, korrespondiert die Herausbildung der Idee eines empirisch gegebenen Subjekts, das als Knotenpunkt der Erkenntnis und als souveräner Handlungsträger dient. Diesem kommt unter anderem in der Kunst, aber auch in den Wissenschaften durch die Figur des Autorsubjekts ein besonderer Stellenwert zu. Erkenntnisse werden stark an ihren Entdecker gebunden und Geschichte ist in dieser subjektzentrierten Sichtweise vor allem die Geschichte handelnder Akteure. Foucault kritisiert diese Vorstellungen aufs Schärfste:

»Wenn es aber einen Weg gibt, den ich ablehne, dann ist es der […], der dem beobachtenden Subjekt absolute Priorität einräumt, der einem Handeln eine grundlegende Rolle zuschreibt, der seinen eigenen Standpunkt an den Ursprung aller Historizität setzt – kurz, der zu einem transzendentalen Bewußtsein führt«35.

Schon die Idee eines erkenntnisfundierenden Subjekts ist laut Foucault weniger eine Entdeckung als vielmehr ein historisch konstituiertes Phänomen, denn »auch das Erkenntnissubjekt hat eine Geschichte«36.

Schließlich schält sich auf dieser ersten Achse des Wissens eine weitere Bedeutung des Subjekts heraus. Das [25]Zutagetreten des subjektzentrierten Denkens schlägt nämlich auf das Subjekt zurück. Es ist nicht mehr bloß Stifter und Knotenpunkt der Erkenntnis, sondern wird selbst zu deren Objekt.

Diese Dimension des Subjekts als Erkenntnissubjekt ist in der archäologischen Phase noch deutlich präsenter. In der Genealogie treten diese Bestimmungen hinter einen praxisorientierten, empirisch-soziologischen Subjektbegriff zurück.37