Fragment - J. L. Litschko - E-Book
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J. L. Litschko

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Beschreibung

Seattle 2066 - eine Stadt am Rande des Zusammenbruchs. Dr. Neele hatte gehofft, die Schatten ihrer Vergangenheit hinter sich zu lassen. Seit vier Jahren arbeitet sie unermüdlich im Forschungslabor des gigantischen Holster Skywards Tower, der alles in Seattle überragt. Doch kurz vor der Fertigstellung einer neuen Entwicklung macht sie einen grausigen Fund, der sie in eine tödliche Verschwörung zieht - eine Verschwörung, die eng mit dem plötzlichen Tod ihres Bruders vor sechzehn Jahren verknüpft ist. Getrieben von wissenschaftlicher Neugier und persönlichem Schmerz, begibt sie sich auf die Spur eines Jahrzehnte alten Geheimnisses, das weit über ihre Vorstellungskraft hinausgeht. Während sie nach Antworten sucht, muss sie sich der schmerzhaften Frage stellen: War der Tod ihres Bruders wirklich ein Zufall? Zur gleichen Zeit werden Simmons und Marsh, zwei routinierte Ermittler, die normalerweise Cold-Cases bearbeiten, plötzlich auf einen brandneuen Fall angesetzt. In den dunklen, von Drogen zerfressenen Straßen im Old Medical Distrikt führt der Mord an einem alten Ehepaar sie in eine düstere Parallelwelt, in der Verbrechen und Tod allgegenwärtig sind. Mit jedem Schritt ihrer Ermittlungen geraten sie tiefer in ein Netz aus Lügen und Gewalt, das die Stadt von innen heraus zu zerstören droht. In einer Stadt, deren Untergang seit Jahrzehnten geplant ist, müssen sich Simmons und Marsh fragen: Ist es ihre Pflicht, für eine sterbende Stadt zu kämpfen, oder riskieren sie, im Versuch, das Unvermeidliche aufzuhalten, selbst Teil des Verfalls zu werden?

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Danksagung:

Ich muss gestehen, als Autor finde es schwieriger eine echte, ernst gemeinte Danksagung zu verfassen, als den ersten erfundenen Satz dieses Buchs, das du in wenigen Sekunden anfangen wirst, zu lesen.

Deshalb erst einmal das allerwichtigste. Danke, dass genau Du es gekauft, geliehen oder auf der Straße gefunden hast. Es ist ein unglaublich gutes Gefühl, dass etwas, das 2018 aus einem kurzen verworrenen Gedanken und einem einzelnen Satz begonnen hat, jetzt 450 Seiten lang in deiner Hand liegt und bereit ist gelesen zu werden.

Außerdem muss ich natürlich meiner Partnerin danken, die es schafft, mich in meinen kreativen Phasen, die sehr, sehr lange gehen können, auszuhalten. Ich weiß, es ist nicht leicht, mit einem kreativen Menschen sein Leben zu teilen. Deshalb, danke Linda, ich liebe dich.

Und jetzt muss ich natürlich auch noch allen anderen danken, die tatkräftigen Input geliefert haben, damit das Buch, zu dem geworden ist, was es jetzt ist.

Danke Davide, für das wirklich tolle und einmalige Titelbild, es ist mir über all die Jahre, die wir uns schon kennen, eine Freude jedes Mal wieder etwas mit dir gemeinsam zu erschaffen.

Danke an die vielen Testleser, und natürlich den „Buchclub“, die wichtigen Input geliefert haben, sei es in Form von Korrekturen, Gedankenspielen oder Kritik.

Danke an meinen Bruder, der mich auf Bücher erst gebracht hat, danke an Marius, Dave, Davide für euren Input.

Danke auch an Alice und ihre Schwester Sarah, dass ihr euch die Zeit genommen habt, die englische Version dieses Buchs zu lesen, zu korrigieren und euren Input dazu gegeben habt.

Und damit wäre es nun auch so weit. Es trennen dich noch fünf Leerseiten (falls du als Leser Notizen machen willst, oder einfach nur drauflos kritzeln möchtest) und zwei Pflichtseiten davon, in die Welt des Jahres 2066 in Seattle einzutauchen. Viel Spaß, und bis zum nächsten Buch.

Inhaltsverzeichnis

Eins. Das Erbe des Vergangenen

Zwei. Fragmente von Gestern

Drei. Verlorene Unschuld

Vier. Am Rande des Abgrunds

Fünf. Flucht ins Ungewisse

Sechs. Gefährliche Verbindungen

Sieben. Amithayus

Acht. Vergessene Gesichter, vergessene Orte

Neun. Die Blume der Nacht

Zehn. Das Echo der Zeit

Elf. Der Weg des Schwertes

Zwölf. Der letzte Funke

Dreizehn. Auf Messers Schneide

Vierzehn. Die letzte Bastion

Fünfzehn. Ein Leben

Sechzehn. Zwischen den Fronten

Siebzehn. Kollaps der Konformität

Achtzehn. Implantate und Intrigen

Neunzehn. Untergrundbewegungen

Zwanzig. Zusammenbruch

Einundzwanzig. Kriegsgebiet

Zweiundzwanzig. Fragmente

Epilog. Verbündete

Glossar

SEATTLE

OLD MEDICAL DISTRICT

EINS.DAS ERBE DES VERGANGENEN

Seattle, 2066, 11:17 Uhr – Old Medical District

Zehn Minuten sind eine gefühlte Ewigkeit, wenn man tot war. Aber in meiner Welt war das mehr Zeit als ich ertragen konnte.

Das Erste aufeinandertreffen mit dem Tod endet immer in roten und schwarzen Farben. Hinter den eigenen Augenlidern, wenn man als Verlierer aus der letzten Situation hervorgeht. Die letzten wahrnehmbaren Farben. Danach gibt es nur noch Abstufungen von Braun. Helle, holzige Brauntöne. Dunkle, bröckelnde braune Erde und ledige, vertrocknete braune Haut. Das alles erinnerte mich stark an ein Gemälde von Anselm Kiefer, das ich vor unzähligen Jahren nur ein einziges Mal gesehen hatte. Und doch blieb es mir in Erinnerung. Und jetzt im Jahr 2066, hing es wahrscheinlich in einem alten Museum alleine an einer Wand, und moderte mit den anderen Gemälden um die Wette.

Wie die meisten Menschen, mit denen ich zu tun hatte.

Seltener Besuch. Maximal zehn Minuten.

Ein flüchtiger Gedanke. Ewiger Schmerz. Er gab mir Frieden. Aber das würde sich, wie schon viele Male zuvor, in wenigen Sekunden ändern.

Ich betrat das Zimmer mit leisem Schritt.

Jemand kann ja noch zu Hause sein.

Ich zog meinen Handschuh aus, und die Fingerspitze meiner linken Hand berührte den Eisernen Türknauf.

Ein Gefühl wie ein alter Freund, den ich lange nicht gesehen hatte. Ein vertrautes Gefühl. Eines, das ich versucht hatte, über viele Jahre auszusperren.

Aber eine Sucht ist immer da, auch wenn sie sich versteckt.

„Ich kann es dir auch in einem anderen Glas bringen, wenn du Angst hast, dich an diesem kleinen Sprung zu verletzen“, die Ironie in meiner Stimme war nicht zu überhören.

„Nein, danke“, gab Martin bewusst trocken zurück. Der Rotwein in seinem Blutkreislauf tat sein übriges, als er versuchte sich vor mir auf den Stuhl zu setzen, während ich die Tür schloss.

Ich ließ den Türknauf los und schloss die Tür hinter mir.

Meine Augen glitten über das gesplitterte Glas auf dem Boden. Daneben zwei angebrochene Flaschen extra trockener, extra günstiger amerikanischer Wein. Eine Plastik-Obstschale mit obligatorischer Wurm. Und ein eBrief, der meine Aufmerksamkeit auf sich zog.

„Sehr geehrter Herr Serpentine, hiermit möchten wir Sie darüber in Kenntnis setzen, dass Ihre Anfrage über ein Darlehen in Höhe von 250.000 neuen Dollar von der Bank of America aufgrund Ihres derzeitigen US-ID-Kreditrahmens bei uns nicht möglich ist. Wir hoffen, Sie bleiben uns weiterhin treu, und wir würden uns über einen persönlichen Termin mit Ihnen ...“

Meine Augen rollten bis zum Anschlag nach hinten. Ich kannte den Rest der Floskeln bereits von meinen eigenen ‚Einladungen’. Schulden waren fast das Einzige, was man heutzutage überall, schnell und unkompliziert bekommen konnte.

Neben einer kleinen Kugel aus Eisen oder Grafit, geliefert mit oder ohne Gewehr, meistens frei Haus.

„Sie waren auf jeden Fall nicht wirklich mit viel Geld gesegnet“, raunte Simmons aus dem nebenan liegenden Raum zu mir herüber. Er hatte sich hinter mir durch die Tür geschoben, war den Gang entlanggegangen und betrachtete nun das Schlafzimmer der Familie Serpentine.

„Nicht viel Geld“, murmelte ich vor mich hin.

Das war etwas, von dem ich mich schon beim Abbiegen von der sechsspurigen Schnellstraße in die Berington Road überzeugt hatte. Der Old Medical District, in dem die Berington Road lag, war schon lange kein Ziel mehr für kaufkräftiges Klientel. In den letzten zehn bis fünfzehn Jahren verschwand die Mittelschicht und mit ihr eine nicht zu unterschätzende Menge an neuen Dollar.

Wer es sich leisten konnte, und asiatischer Abstammung war, bevölkerte das Stadtviertel „Amithayus“.

Ein mit einer gigantischen Mauer abgetrennter Bezirk inmitten von Seattle. Amithayus. Meines kläglichen Wortschatzes der asiatischen Sprachen nach beutetet es etwas wie ‚das unermessliche Leben’.

Unermesslich voll war es dort, mit rund 24.600 Einwohnern je Quadratkilometer, und unermesslich schwierig war es auch, die Distrikt Grenze nach Amithayus zu überschreiten, wenn man nicht asiatischer Abstammung oder im Regierungsauftrag mit überzeugenden Argumenten unterwegs war. Koffer randvoll mit neuen Dollar oder aber mit dem abgetrennten Kopf eines der hiesigen verfeindeten Clans war eine gern gesehen Währung.

Freier Handel. Im Einigen Amerika. Für die „Amis“ galt das nicht. Es erregte ihn ihnen etwa dasselbe Gefühl wie das der römisch-katholischen Kirche, kurz nachdem bekannt wurde, dass der 2030 gewählte neue Papst eigentlich weder männlich noch weiblich war.

Ein Sakrileg. Blasphemie.

Ab mit dem Kopf.

Im Old Medical District hingegen regierte nun das schlichte anarchische Chaos, da es weder Grenz-Kontrollen noch bewaffnete Sicherheitspatrouillen gab.

Zumindest jetzt nicht mehr.

Dementsprechend heruntergekommen wirkten auch die Krankenhäuser und medizinischen Bio-Fakultäten, die hier vor Jahrzehnten angesiedelt wurden. Sie erlebten nur einen kurzen Zustrom von Patienten, die gewillt waren, sich für bares Geld oder elektronischem Cash einer Verbesserung ihrer natürlichen Fähigkeiten zu unterziehen.

Rund sieben oder acht Jahre nach der Eröffnung des Old Medical Districts kam und ging der letzte Patient, der etwas für seine Behandlung bezahlen konnte oder wollte.

So genau weiß man das nicht mehr.

Mit der Zeit wurden die Krankenhäuser zu Sammelstellen und Auffangplätzen für Drogensüchtige und anderen verlorenen Seelen der modernen Gesellschaft. Die meisten der einst für viel Geld renovierten Wohnungen aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert verkamen innerhalb weniger Jahre zu Transitstationen für Drogen- und Frauenhandel. Meistens aus dem mittleren und südlichen Teilen des Landes, Salt Lake City und dem neuen

Las Vegas. Glücksspiel und holografische Videokabinen rundeten das Bild ab.

„Das ist einfach kein Ort für ein Pärchen, das versucht, sich in diesem Loch ein bisschen Normalität zu bewahren. Die Serpentines hatten es einfach nicht rechtzeitig geschafft, sich von ihrer Vergangenheit zu lösen.

Egal, wie es war, sie hatten nun keine Probleme mehr mit irgendwelchen Geldeintreibern.

„Das war mindestens eine Kaliber neun, wenn nicht gar eine Kaliber zehn aus kürzester Entfernung, vielleicht ein Meter, vielleicht auch nur ein halber“, riss mich Simmons aus meinen Gedanken. „Auf jeden Fall kam das sehr überraschend für die beiden, sie waren bis jetzt nicht wirklich lange zu Hause, vielleicht eine Stunde, maximal zwei?“ Simmons sah sich weiter um im Schlafzimmer um.

„Also, wenn du mich fragst, war das eindeutig ein Versehen. Rein, Geld gesucht, nichts gefunden und dann überraschend auf das Ehepaar gestoßen. Vermutlich wurden sie einfach aus Frust heraus erschossen, da sie nichts Wertvolles hatten. Menschen werden täglich wegen Kleinigkeiten verstümmelt, erschlagen oder eben erschossen. Mal geht es, um etwas zu essen, als Nächstes den neuen Dollar, und ganz unten heißt es ständig nur:

’He Mister, haste mal eine Ampulle voll Synth-Krokodil?‘“, sagte Simmons leicht resigniert, während er sich einen Handschuh überzog, um keine Spuren beim Durchsuchen der Wohnung zu vernichten.

„Synth-Krokodil“, überlegte ich. Eine der widerlichsten gepanschten Drogen, die ihren Ursprung im frühen 21. Jahrhundert in Russland nahm und gegen Ende der neuen 20er-Jahre auch nach Amerika schwappte.

Es ist billiger und knallt mehr.

Man sah schon nach der einmaligen Benutzung an der Einstichstelle eine grünliche Veränderung der Hautpartien und eine Verlederung der Oberflächenstruktur. Es war einfach nur widerlich anzusehen, und meistens war die Überlebenszeit eines Krok-Abhängigen nicht länger als ein halbes Jahr.

Es ist billiger. Und knallt mehr!

„Was sollen wir jetzt mit den beiden machen?“, fragte mich Simmons wieder in seiner betont rauen Art. „Sollen wir die Jungs vom Dezernat herkommen lassen oder gleich die Plastinaten anrufen, dass sie zum Verschweißen vorbeikommen?“

Er nahm sich eine Synthetische Zigarette aus einer der vielen Schachteln in seiner Hosentasche. Er zündete sie an. Dann wartete er auf meine Antwort, obwohl er sie schon kannte.

„Ein Versehen, hast du gesagt“, ich ließ mir diese zwei Worte für den Bruchteil einer Sekunde durch den Kopf gehen, während ich ins Schlafzimmer lief.

Ich blieb vor Frau Serpentine stehen. Nachdem ich meinen Handschuh ausgezogen hatte, berührte ich sie mit den Fingerspitzen meiner linken Hand an ihrer Schulter. Der Schmerz durchzog meine Schulter und intensivierte sich in meinem Kopf. Kalter Schweiß bildete sich auf meiner Stirn.

Von jetzt an hatte ich zehn Minuten Zeit. Eine gefühlte Ewigkeit.

Du hast doch mit George geredet, so wie du es gesagt hast? Du weißt ja, dass er sich komisch benimmt, seit seine Partnerin ausgezogen ist. Er ist immerhin dein Bruder und nicht eine unbekannte Person ...“

„Er ist irgendwer!“ Martin katapultierte sich aus seinem Sitz. Das halb volle Glas Rotwein zerschmetterte vor mir auf dem Boden.

„Ein Niemand ist er! Und nenn ihn nicht immer meinen Bruder! Nur, weil wir denselben Vater haben. Seine Gesichtsfarbe glich sich immer mehr dem Weinfleck an, der sich auf dem hellen Teppich ausbreitete.

Er brüllte mich nun direkt an. Ich war mir sicher, dass er mich meinte, da ich die einzige andere Person mit ihm in unserer Wohnung war.

„Er hat es einfach nicht anders verdient, dieser verdammte Hurensohn. Dieser Kinderficker! Und was diese Hure Jenn angeht, die war mir schon von Anfang an suspekt.“ Ich sah Martin mitleidig an.

Er tat mir leid. Die letzten Augenblicke eines Lebens sollten niemals im Streit enden. Aber nur wenige hielten sich daran.

Wieso hatte ich auch seinen Bruder erwähnt, ich wusste doch, wie sehr ihn das Thema mitnahm.

Wusste ich das wirklich?

„Was will so ein reiche junge Schlampe auch mit so einem Arschloch wie George?“ Es war eine rein rhetorische Frage, und ich war mir sicher, er wollte sich die Antwort darauf selbst geben.

Das wusste ich!

„Die scheiß Familie ist so stinkreich. Die kann sich jeden Tag mit einem anderen Kerl vergnügen, und gibt mir, ihrem Schwager nicht einmal ein kleines Darlehen, obwohl wir es gerade jetzt so dringend nötig ...“

Ich sah zu, wie Martin mitten im Satz aufhörte zu sprechen und auch das Gestikulieren einstellte. Sein Blick hatte sich während des letzten Satzes in Richtung der Tür gedreht. Sein Gesichtsausdruck hatte immer noch einen leichten Ausdruck von Wut, der aber langsam einem Erstaunen wich. Sah ich da einen Anflug von Verwirrung in seinen Augen?

Oder war das eher eine Erkenntnis?

Ich war außer Übung. Aber ich wollte unbedingt wissen, was los war, also versuchte ich meinen Kopf ebenfalls zu drehen.

In diesem Augenblick spürte ich einen reißenden Schmerz an meiner linken Gesichtshälfte, der die Richtung meines Kopfes schlagartig ins Gegenteil drehte. Der Schmerz durchzog meinen ganzen Körper, und ich benötigte einen Bruchteil einer Sekunde, mich wieder auf das Geräusch der splitternden Holztür direkt hinter mir zu konzentrieren.

Ich hörte den Schrei von Martin, der in einem fließenden Übergang zwischen Jaulen und Gluckern vor mir in sich zusammensackte.

Der Schmerz in meiner linken Gesichtshälfte übermannte mich, und ich verlor die Kraft, einen klaren Gedanken zu fassen. Fünf Jahre war es her, seit ich es das letzte Mal zugelassen hatte.

In der Zwischenzeit hatte ich vergessen, dass es eben nicht nur Bilder, Töne und Geräusche waren.

Verdammte Gefühle.

Freude und Mitgefühl. Lachen und Weinen. Glück und Zufriedenheit. Und Schmerz.

Unendlich viel Schmerz. Mein alter Freund.

Ich hatte dich erneut freiwillig eingeladen, und aus einem bestimmten Grund war es, als wärst du niemals ganz weg gewesen.

Im Fallen schaffte ich es, meinen Oberkörper in Martins Richtung zu drehen. Ich konzentrierte mich unter höllischen Schmerzen darauf, zu erkennen, was da noch neben dem ganzen Rest der Tür und des Tisches an mir vorbei und nebenbei auch in mich hinein flog.

„Eine exotische Kugel“, presste ich aus meinem Mundwinkel zu Simmons hinüber, während ich ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Er hob nur seine rechte Augenbraue und zog ein weiteres Mal an seiner Zigarette. Etwas mit einer geriffelten Ausziehrille.“ Kugeln, die nur zu einem Zweck hergestellt wurden. Präzises schießen, mit tödlichem Ausgang, schon mit dem ersten Einsatz. „Die bekommt man nur noch selten, zu sehen.“

Und noch viel seltener zu spüren!

„Ganz besonders nicht an Tatorten, an denen alles nur aus Zufall passiert.“ Den kleinen Seitenhieb hatte er vernommen und quittierte ihn mit einem Schnauben. Das war der eigentliche Vorteil an ballistischen Tötungsmethoden. Es war viel günstiger und fast überall in viel größeren Mengen käuflich zu erwerben.“

Aber hier galt, wozu benötigt man schon Masse, wenn man das Ganze auch mit Präzision ausgleichen konnte.

Ich erfuhr es am Leib, als ich unter Schreien und dem Verlust meiner Motorik in allen Gliedmaßen mit dem Kopf voran erst an die Bettkante knallte und dann mit einem knackenden Geräusch auf dem Boden aufschlug.

Der zweite Schuss hatte mein Rückenmark durch schlagen.

Ich spürte, wie mir nicht nur das Leben entwich, sondern auch wie das Blut, das ich nun sah, nicht mehr nur von Martin stammen konnte.

Ich wusste nicht, dass in so einer kleinen Frau so viel Blut sein konnte.

Ich muss atmen. Langsam. Noch. Auch wenn jeder Zug zu einer Belastung wird. Ein und aus.

Ich erkannte die einkehrende Ruhe, die sich über mich legte. Bis zum Erbrechen oft hatte ich es schon erlebt.

Und obwohl es mir beim ersten Mal mehr Angst als alles andere auf der Welt gemacht hatte, war es das Schönste, das mir jemals von einem anderen Menschen gegeben wurde.

Er teilte seinen letzten Moment mit mir!

Weiter atmen. Ich spüre Kälte. Links und rechts.

Ich kann meine Arme nicht bewegen.

Ich atme. Mein Sichtfeld verengt sich, die Geräusche um mich herum werden dumpf.

Das Leben ist immer rot und schwarz, wenn man die Augen zum letzten Mal schließt.

Ich atme.

Sie war das schönste Mädchen, das ich je gesehen hatte. „Es wird alles gut werden, und du wirst wieder aufwachen, mein kleiner Engel. Sei einfach so stark wie damals, als du das erste Mal hingefallen bist und dir das Knie aufgeschürft hast. Vergiss nicht, wir werden dich immer lieben, Mona! Vergiss das nicht.“

Nein, wie könnte ich das jemals vergessen.

Ein dumpfes, ploppendes Geräusch rechts neben dem Ohr.

Unser letzter gemeinsamer Gedanke.

Ein weiteres Fragment einer Erinnerung.

Simmons schaute mich weiterhin mit dem gleichen gelangweilten Blick an. Währenddessen atmete ich tief aus. Schloss meine Augen, und griff nach meinem Schwarz oxidierte Messer. Dann krempelte ich meinen Ärmel nach oben, bis kurz hinter den Ellenbogen.

„Oh, du machst das also immer noch“, hörte ich Simmons leicht verwundert sagen.

„Wieder“, antwortete ich ihm und fügte mir einen langen Schnitt kurz unterhalb des Ellenbogens zu.

Ich steckte das Messer zurück in seine Scheide und spürte, wie mein Arm das Ganze mit einem kurzen, intensiven Gefühl von Schmerz quittierte.

Ich war wieder hier.

Und mit mir nun also die Erinnerung an Mona.

Die siebte Narbe auf meinem Arm.

BEACON HILL

ZWEI.FRAGMENTE VON GESTERN

Beacon Hill Seattle, 2066 08:12 Uhr – Holster Skyward Tower

Neele schnalzte mit der Zunge, als sich die Aufzugtüren um sie herum schlossen. Sie hasste es, seit zwei Jahren jeden Morgen dasselbe aufgesetzte Lächeln zur Schau zu tragen, wenn sie das Gebäude ihres Arbeitgebers in Downtown Beacon Hill betrat. Das Gebäude war vor Prunk und Protz nicht zu übersehen, wenn man die South Orcas Street vom Meer herkommend entlangfuhr.

Dort, wo in den frühen 20er-Jahren noch Einfamilienhäuser mit glücklichen Bilderbuch-Menschen, grillend meilenweit zu riechen waren, gab es nach dem Aufkauf der Columbia City durch die Holster Skyway Inc. unter Führung des damals noch unter den Lebenden weilenden Thornej A. Holster Sr., Gott sei seiner Seele gnädig, nichts mehr von einer Familienidylle.

Fünf Jahre nach Baubeginn bestand das Leben nur noch aus Beton und stählernem Gerippe, getaucht in das spärliche Leuchten von Bauscheinwerfern und Bildschirmen, die eine verheißungsvolle Zukunft versprachen.

Zehn Jahre nach Baubeginn des riesigen Komplexes wurden die ersten Champagnerflaschen geköpft und die Hände aus zwei unterschiedlichen Gründen geschüttelt. Die meisten Gebäude waren bezugsfertig und konnten von den staunenden Mengen betrachtet werden, die Presse war zu jeder der 104 Eröffnungen anwesend und übertraf sich mit Superlativen beim Preisen des technologischen Wahns, der schier unendlichen Möglichkeiten und des Lebens in so einer großartigen, zukunftsgewandten Stadt wie Seattle.

Ein kleiner, aber nicht minder einflussreicher Teil der Bevölkerung erhob ihre mit Gold beschichteten Gläser auf den Tod des Denkers und Lenkers, der nur ein paar Wochen nach der Eröffnung des letzten Komplexes, wie die Presse es uns in vielen Spezial- und Breaking-News-Sendungen verständlich machen sollte, auf natürlichem Weg friedlich von uns gegangen war.

Am selben Abend im Jahr 2052, wie das bei Familienkonglomeraten nun mal so üblich war, übernahm Thornej A. Holster, Jr. die Geschicke der weltweit agierenden Firma und unternahm als erste Amtshandlung die Streichung des Jr. aus seinem Namen. Unter seinem Zutun wuchs und vermehrte sich das Unternehmen und festigte seine Position als Marktführer nicht nur im Biotechnologiesektor, sondern schaffte es auch in weiteren Schlüsselindustrien eine weltweit führende Position einzunehmen, darunter die Halbleiterindustrie, Kinetik und Robotik und, wie wäre es anders möglich bei einem Konglomerat, natürlich nicht ganz so öffentlich wie alles andere, dem Waffengeschäft.

Des Weiteren übernahm er die direkt auf der anderen Straßenseite liegende Luft- sowie Raumfahrtindustrie der Boeing Corporation. Es wäre eine Untertreibung, den Begriff Global Player in den Raum zu werfen. Talente, egal aus welcher Branche wurden regelrecht eingesogen und im nun fertiggestellten Skyward Tower zusammengepfercht. Ein Pool voller Kreativer und Intellektueller, die sich ein Imperium aus Fleisch und Metall erbauten, alles im Glanz der neuesten wissenschaftlichen Errungenschaften vereint.

Aber wie man weiß, wirft Glanz nicht nur Licht, sondern auch Schatten an die gegenüberliegende Wand.

Das alles war Neele nicht bewusst, als sie dem Fahrstuhl entglitt, welcher seit Jahren dieselben vier Takte in rhythmischem Einklang mit Bongos und Ukulelen vor sich hin trällerte. Sie hatte es so satt. Das ständige nagende Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben, wenn sie wieder einen Durchbruch in einem wissenschaftlichen Fachgebiet vor dem Vorstand präsentieren musste, welches ein revolutionäres neues Zeitalter in diesem und jenem Gebiet einläuten würde.

Es ging immer nur um Geld und Ansehen. Sie hatte sich vor vier Jahren, als sie bei Holster Skyway Labs anfing, das Ganze anders ausgemalt, wahrscheinlich wie jeder Mensch, das ideale Bild seines Arbeitgebers romantisiert. Das piepende Geräusch riss sie aus ihren Gedanken, und sie nahm ihren Finger vom Türöffner, der ihr den Weg zum Umkleideraum öffnete. Sie entkleidete sich bis auf die Unterwäsche und stülpte sich in den schwarz-hellgrau schimmernden HELPS Mark IV (Hazardous Environment Laboratory Protection Suit) Anzug. Es war einer der ersten Prototypen einer KI in einem Schutzanzug, der alle Daten um den Benutzer herum verarbeiten und kombinieren konnte. Sie hatte ihn vor zwei Jahren mit ihrer damaligen Mentorin zusammen erdacht und gebaut. Und nun war er kurz davor, in Serienreife von Holster Skyway produziert zu werden. Wieder etwas, das ihr genommen wurde, dachte sie sich, nachdem sie die letzte der sechs Sicherheitsklappen gedreht, geklickt und verschlossen hatte. HELPS meldete sich mit einer sanften männlichen Stimme einsatzbereit:

„Hallo, Dr. Neele, es ist schön, Sie wiederzusehen. Haben Sie einen sehr sicheren Tag.“

„Danke, HELPS, den werde ich bestimmt haben.“

Neele öffnete beim Gang Richtung Druckschleuse ihren Kalender und überflog die wichtigsten Dinge, die sie heute zu tun hatte, begrüßte zwei ihrer langjährigen Kollegen und witzelte kurz mit Dr. Caldwell, einem brillanten Wissenschaftler, der seit über einem Jahrzehnt schon bei Holster Skyway angestellt war. Seine Expertise im Bereich fortschrittlicher Quantenverschränkungen und biomechanischen Implantaten waren unverzichtbar für das Unternehmen, und er war gleichzeitig ihr Boss.

Also, nett sein, lächeln und schnell weitergehen in Richtung Druckschleuse, welche direkt ins Zentrum des Labors führte. Dort angekommen, betrachtete sie die emsigen Bienchen, die alle fleißig in ihren kleinen Zellen und um ihre Apparate herumflitzten.

Ein Tanz der Arbeitsdrohnen, schoss es Neele durch den Kopf, als sie auf ihre eigene Zelle zuging. Ein langer weißer Korridor erstreckte sich vor ihr, an dem immer wieder kleine Räume nach links und rechts, abgetrennt durch Drucktüren, auf seine fleißigen Arbeiter warteten. Jede Minute, jeden Tag. Immer dasselbe.

Aber heute war etwas anders. Die Drucktür zu ihrem eigenen kleinen Reich schloss sich hinter ihr, und Neele bemerkte, dass sich in ihrem Labor etwas geändert hatte. Sie war kurz verwirrt. So hatte sie ihr Labor nicht zurückgelassen, als sie gestern Abend wieder, fast als Letzte aus dem Labor gegangen war. Sie hatte sich danach noch mit zwei alten Freunden getroffen, die gute alte Zeit für ein paar Stunden auferstehen lassen, mit allem, was dazugehörte und vielleicht auch ein wenig zu viel davon. Aber sie war sich sicher, dass das, was sie hier nun gerade sah, gestern noch vollkommen anders war.

Sie hatte sich an ihrem ersten Arbeitstag ein in Thermoflex eingepacktes Bild und noch ein paar andere Dinge mitgebracht, um sich in der kargen weißen Umgebung des Laborkomplexes etwas mehr wie zu Hause zu fühlen.

Diese standen normalerweise in einem der vielen weißen Schränke, die in ihrem Abschnitt der Zelle aufgestellt wurden, zusammen mit den ganzen Phiolen und anderen wichtigen Forschungsdingen, die man eben so benötigt. Doch davon war nun nichts mehr zu sehen.

Um es etwas weniger wissenschaftlich auszudrücken: Der Raum war komplett leer. Alle Instrumente, Geräte, Maschinen, Messstationen, Schränke, Stühle, Tische, Ablagen und Materialien waren verschwunden. Alles, woran und womit sie in den vergangenen zwei Jahren zusammen mit ihren Kollegen gearbeitet hatte, war einfach nicht mehr da.

„HELPS, was ist hier verdammt noch mal los?“ hörte sie sich selbst sagen, während sie ihren Blick ungläubig durch das Labor schweifen ließ.

„Es ist Dienstag, der 24. August 2066, 08:12 Uhr. Sie sind etwas früher dran als üblich, Dr. Neele. Haben Sie einen sehr sicheren Tag.“

„Das meinte ich nicht.“ Sie verdrehte die Augen, als sie ein paar Schritte nach vom machte, wobei sie dachte, wieso früher dran, ich bin eher 15 Minuten zu spät. „Ich meinte damit, was ist mit meinem verdammten Labor und mit meinen Forschungen passiert, HELPS?“

Sie war fast so weit gewesen, ihr Projekt war endlich stabil in der Metaphase angekommen, und sie hatten es geschafft, die Teilung der Zellen stabil zu halten.

Sie und ihr Team konnten nun bestimmen, welche Art von Zellen sich in welcher Form wie oft reproduzieren ließen. Sie waren bereit gewesen, das alles in die Anaphase übergehen zu lassen. Es war ein weiterer medizinischer Durchbruch, und dieses Mal vielleicht sogar wirklich eine kleine Revolution der Biogenetik, so kurz vor dem finalen Schritt, vielleicht noch ein bis zwei Monate, dann wären sie so weit gewesen, alles zu kombinieren und den ersten Prototypen zu beauftragen. Und jetzt war alles weg.

Alles, bis auf ein weißes, etwa zwei Meter langes, mit Kacheln bedecktes Behältnis, das inmitten des Raumes in den Boden eingelassen war. Wie konnte sie das nur übersehen haben? War das beim Betreten des Labors schon da gewesen? Oder gestern Abend? Oder schon immer? Was ist das?

„Ihre Forschungen befinden sich wie immer in Ihrem Labor, Dr. Neele. Haben Sie einen sehr sicheren Tag.“

„Was soll das heißen, HELPS?“ Hier ist doch nichts mehr, dachte sie sich, als sie sich auf das Behältnis zubewegte.

Es war von oben bis unten mit einer fünfeckigen weißen Kachelform bedeckt, welche sich am Boden entlang in einem Halbkreis ungefähr ein bis eineinhalb Meter weiterzog. Als sie den Halbkreis betrat, spürte Neele ein seltsames Gefühl von Leichtigkeit, das sich vom Boden entlang durch ihren Anzug bewegte.

Vom Kasten ging ein leichtes Brummen aus, als Neele ihre Hand auf ihn legte. Sie spürte einen emittierenden Puls, der sich von ihren Fingerspitzen aus durch ihren Körper bewegte und an ihrem Rückgrat endete. Es klang wie das Fauchen einer Wildkatze in ihrem Kopf, und mit ebendiesem Geräusch schob sich der

Deckel des Behältnisses an der Stelle auseinander, an der sich gerade noch Neeles Hand befunden hatte. Sie stolperte mehrere Schritte zurück, und es dauerte ein paar Sekunden, bis sie sich im Klaren war, was eben vorgefallen war.

Der ihr unbekannte Kasten hatte sich auf ihre Berührung hin geöffnet und gab nun den Blick auf seinen Inhalt frei.

War der Kasten extra nur für sie dort abgestellt worden? Konnte das jeder öffnen? Oder nur sie?

Wer hatte ihn dort abgestellt?

Und warum?

So viele Fragen, auf die sie keine Antworten hatte. Was sollte das alles? Sie ging näher heran, um ins Innere zu schauen, und erstarrte sofort, als die Synapsen in ihrem Gehirn erkannten, was sie da gerade sah. „Was zur Hölle ...“

„Ihr Puls ist gerade rasant angestiegen, Dr. Neele. Bitte haben Sie einen sehr sicheren Tag.“

... hörte sie HELPS sagen, doch sie konnte sich auf nichts anderes konzentrieren als auf das, was sie da vor sich hatte. Sie starrte in die Gesichtszüge eines kleinen Kindes, welches sie mit einem eisigen Blick anstarrte.

Das Adrenalin schoss durch Neeles Venen und brachte ihre Gedanken zum Rasen. Das kann doch gar nicht sein. Das ist unmöglich. Neele taumelte vom Kasten zurück und spürte, wie sich die Leichtigkeit, die sie gerade noch gespürt hatte, mit einer ruckartigen Bewegung ins Gegenteil drehte. Ihr wurde übel. Es Avar, als hätte ihr jemand einen Schlag zwischen die Rippen versetzt.

Mit dem letzten klaren Gedanken, den sie noch fassen konnte, befahl sie ihrer Hand, den Knopf zu drücken, der die Druckkammer und damit den Weg aus dem Labor öffnete. Ihre linke Hand gehorchte ihr nur noch mit Mühe, und sie entglitt dem Labor mehr kriechend als stehend.

Es begrüßte sie die lange, weiße Leere des Flures.

Doch ihr Verstand drehte sich nur um diese eine Sache.

Sie war sich absolut sicher. Das Gesicht, das sie aus dem weißen Kasten angestarrt hatte, hatte sie auf den Tag genau vor 16 Jahren zum letzten Mal gesehen.

Sie konnte es niemals vergessen. Es war das Gesicht ihres kleinen Bruders. Und dieser Tag, vor 16 Jahren, war der schlimmste Tag ihres bisherigen Lebens.

Carpenteria, Seattle 2066 16:21 Uhr – ECLE Revier

Unterbewusst hoffte ich darauf, dass es nur ein Zufall war. Dass wirklich nur ein zufälliger Junkie in die Wohnung der Serpentines gestolpert war und dort auf ein bisschen neue Dollar oder etwas Brauchbares zum Verkaufen für seinen nächsten Rausch gehofft hatte.

Aber es sah nicht so aus, als Martin vor mir auf den Boden knallte, und es fühlte sich auch nicht danach an, als die Kugel mich im Gesicht traf.

Ich schaute von meinem Computer auf, in den ich den vorläufigen Bericht tippte, und griff nach dem Becher voll kaltem Kaffee.

Es waren nun sechs Stunden vergangen, seit Simmons und ich am Haus der Serpentines waren, und normalerweise hätte ich das Erlebte bereits wieder aus meinem Bewusstsein verdrängt, aber dieses Mal wollte es einfach nicht verschwinden.

Etwas beunruhigte mich an der ganzen Situation. Hätte ich doch nur geschafft, meinen Kopf noch etwas mehr zu drehen, dann hätte ich vielleicht den Schützen sehen ...

Ich spuckte den Kaffee aus. Einen ganzen Mundvoll, direkt über meinen komplett unaufgeräumten Schreibtisch und die ganzen alten Fallakten.

„Bahhh, war das widerlich.“ Ich hatte gar kein Problem mit kaltem Kaffee, das war sogar sehr angenehm bei der brütenden Hitze draußen, die gefühlt seit Jahren einfach nicht mehr aufhörte. Ich hatte mich auch an den Geschmack von Hafermilch, dann Sojamilch und schlussendlich an Palmfaser-Milch gewöhnt. Aber das Zeug, das Simmons mir mit einem verschmitzten Lächeln nach unserer Ankunft in den Kaffee geschüttet hatte, war einfach nur widerlich.

„Und, ist richtig gut, oder? Schmeckt fast wie echte synthetische Milch, aber ist aus einer Unterart der Horchata gekreuzt, so ein wenig wie mit Rote Bete gemacht. Das Zeug ist der Wahnsinn“, er schaute erwartungsvoll hinter seinem Monitor hervor.

„Ja, Wahnsinn trifft es ziemlich genau“, murmelte ich und wischte hektisch den verschütteten Rote-Bete-Kaffee von meinem Computer. Das alte Taschentuch machte die Sache kaum besser.

„Sag mal, Simmons, kommt dir das nicht auch komisch vor?“, ich blickte ihn über den Rand meines Bildschirms hinweg an.

„Wir rollen ständig nur alte Fälle wieder auf, manche sind über 40 Jahre alt.

Seit zwei Jahren machen wir das ununterbrochen. Und, offen gesagt, unsere Erfolgsquote ist... bescheiden.“

„Ja und?“, murmelte Simmons leicht gekränkt hinter seinem Schreibtisch hervor. „Ich bin auch nicht mehr der Allerjüngste“, hörte ich ihn sagen und vernahm dann nur noch weiteres Tastaturgeklimper.

„Was ist daran jetzt so seltsam?“, hörte ich ihn flüstern.

„Dazu komme ich ja jetzt: Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, aus welchem Grund jemand gerade diese beiden Menschen in ihren 40ern töten sollte.

Sie waren nicht reich, sie waren nicht berühmt, und sie waren nach dem, was ich gespürt hatte, immer noch ineinander verliebt. Es war also kein Mord aus dem Affekt heraus, und eine Beziehungstat schließe ich somit vorläufig auch aus. Aber weißt du, was mir nicht mehr aus dem Kopf geht, Simmons?“ „Nee, weiß ich nicht, aber das sagst mir bestimmt jetzt“, brummte es immer noch leicht eingeschnappt von vorn.

„Martin Serpentine hat das Wort Kinderficker im Zusammenhang mit seinem Bruder erwähnt, während er sich aufgeregt hatte. Es geht mir nicht aus dem Kopf, ob es da einen Zusammenhang gibt zwischen dem Mord, seinem Bruder oder ...“ Simmons schoss hinter seinem Monitor hervor.

„Oder der super seltenen Munition, die man nicht einfach so an jeder Ecke, ganz besonders nicht im Old Medical District bekommt, das alles könnte schon einen Zusammenhang haben“, beendete Simmons meinen Satz.

Das war einer der Gründe, warum ich so gerne mit ihm zusammenarbeitete. Er mochte noch so desinteressiert und abwesend wirken, im Grunde war er aber hellwach und sein Hirn wurde nur noch von seinem Mundwerk überholt.

Ich sprang auf, mit der linken Hand griff ich nach einem weiteren Taschentuch, während ich mit der rechten Hand meine vor kaltem Rote-Bete-Kaffee nur so triefende Jacke, die man wohl eher als Trenchcoat bezeichnen konnte, vom Tisch riss und mich fast gleich mit.

Ich versuchte im Laufen so gut es ging, die Flecken zu beseitigen, und gleichzeitig alles Wichtige, das ich mitnehmen wollte, in meine Hosentaschen zu packen. Meine mittlerweile doch schon etwas ältere Beretta Quantum-Dienstwaffe, meine synthetischen

Nanoflex-Polymer-Handschuhe, die mich von der Fähigkeit des Fragmentewahmehmens abschirmten.

„Was ist das, was du mit deiner linken Hand da tust?“ wurde ich schon so oft im Laufe meines Lebens gefragt.

Komplizierter ausgedrückt und mit vielen wissenschaftlichen Fachwörtern gespickt, wird es auch CTRS oder Chrono-TactileRecollection-Syndrom genannt, aber als ich als kleiner Junge das erste Mal damit in Berührung kam, fand ich das Wort Fragmente beschreibender, und das verstehen die meisten Menschen eher, wenn man es ihnen versucht zu erklären.

Ich nahm mein schwarz oxidiertes Messer, das ich immer bei mir trug, in die Hand. Ich hatte es bereits vor ein paar Jahren als Spezialanfertigung beim Schneidermeister meines Vertrauens in meinen Trenchcoat-Mantel-Hybrid mit einer sehr praktischen Halterung einnähen lassen.

Und ja, Schneidermeister kann man hier sehr gerne auch zweideutig sehen.

Dann meinen ECLE-ID Badge (Emerald-City-Law-Enforcement), ein paar neue amerikanische Dollar als wahrscheinlich bestes Uberzeugungsargument aller Zeiten in der Geschichte der Polizeiarbeit. Dann noch ein paar extra neue Dollar für den nächsten Snackautomaten. Und zu guter Letzt noch für den direkten kleinen Hunger auf dem Weg zum Snackautomaten ein paar Minz Bonbons von Sergeant Mitchells Tisch, welche seine Frau Nancy selbst zu Hause, per Hand, ohne automatisierten Kochroboter, mit nur 80 Prozent synthetischen Zutaten hergestellt hatte. Es waren die besten Minz-Bonbons diesseits des Duwamish Rivers.

„Oh“, fuhr es aus mir heraus, als ich mitten auf dem Gang stehen blieb. Ich hatte die Schlüssel für unser Dienst-Fahrzeug vergessen. Gerade wollte ich mich umdrehen, als ich ein leises Klingeln vom Ende des Ganges her hörte.

Es war Simmons, der mir mit der einen Hand die Tür zum Fahrstuhl aufhielt und mit der anderen Hand leise mit den Fahrzeugschlüsseln klimperte.

„Willst du noch lange mit dir selbst sprechen? Ich steh’ hier jetzt schon fast zwei Minuten und warte, dass wir endlich loslegen.“ Sagte er ungeduldig.

„Hab sogar schon meinen Kontakt im Old Medical District angehauen, dass er sich bei den hiesigen Waffendealern umhören soll, zwecks der seltenen-Munition, die du erwähnt hast. Und ich hab’ ihn auch noch nach einem Kinderficker gefragt, aber ich glaube, das hat er mehr oder weniger falsch ageschnappt.“

Als sich die Tür zum Fahrstuhl schloss, rief ich mir noch mal kurz ins Gedächtnis, warum ich zum Trotz aller anderen Kollegen auf dem Emerald City Revier darauf bestanden hatte, ausdrücklich und in Zukunft nur mit Simmons zusammenzuarbeiten. Ich hatte seine Akten gelesen. Jede einzelne Zeile darin. Und manche davon mehr als nur einmal.

Nicht jeder kann die richtige Entscheidung zur richtigen Zeit, am richtigen Ort treffen. Aber er versucht es zumindest.

SNOQUALMIE RIDGE

DREI.VERLORENE UNSCHULD

Seattle, 26. August 2050, 06:55 Uhr – Snoqualmie Ridge

Neele liebte es, sich am Wochenende morgens direkt nach dem Aufstehen, wenn die Sonne noch schön im goldenen Licht erstrahlte, erst mal draußen auf dem kleinen Berg hinter dem elterlichen Haus gemütlich zu machen.

Richtung Wald zu schauen und dem Geschrei und dem Gerede der Natur zuzuhören, waren eine ihrer morgendlichen Lieblingsbeschäftigungen. Schulferien waren die besten Ferien, dachte sie, während sie an ihrem Kakao schlürfte und von ihrem

Blaubeermuffin Fetzen abriss, und sie den Singvögeln hinwarf, die sich schon morgens um sieben einen Wettstreit um die komplexeste Melodie und die besten Stücke des Muffins lieferten.

Neele verschwand ganz in ihren Gedanken und der Vorfreude auf den heutigen Tag. Während sie so nachdachte, pfiff sie das Lied, das sie von ihrem kleinen Bruder Peet vor ein Tagen beigebracht bekommen hatte.

Ein komisches Kinderlied. Aber der Rhythmus war schön, dachte sie sich. Genauso schön, wie der Tag, der heute bevorstand.

Es war schon seit Monaten geplant gewesen, dass sie heute endlich in den neuen Freizeitpark am Rande des Boeing-Geländes in Seattle fahren würden.

Popcorn, Bratäpfel und all die tollen und unbekannten Süßigkeiten waren der Haupt-Antriebsgrund für Peet gewesen, monatelang ihre Eltern mit immer wieder denselben Sätzen zu bearbeiten:

„Ist der Freizeitpark schon nächste Woche geöffnet? Wann ist nächste Woche? Können wir jetzt schon hinfahren? Und was ist mit jetzt?“

Neele hingegen war weniger an den kleinen Snacks, sondern vielmehr an den großen Dingen dieser Welt interessiert. Sie wollte sehen, wie Boeing es geschafft hatte, Natur und Technik durch Menschenhand zu einem großen, nie enden wollenden Fiebertraum aus Fantasie und Adrenalin zu verbinden. Sie freute sich am meisten auf die Ausstellungen zum Thema 150 Jahre Boeing, die unter dem Motto „150 Jahre Innovation, abheben in die Zukunft“ stand. Mensch und Natur in perfekter Harmonie verbunden durch Metall und Wissenschaft.

Fliegen und fallen. Und dann wieder aufsteigen.

Die Fahrgeschäfte waren das, was für sie am nächsten an das Gefühl des Fliegens, das sie zum ersten Mal mit sechs Jahren erlebt hatte, herankamen. Und sie hatte es vom ersten Mal an geliebt.

„Ey, Neele“, hörte sie ihren Vater aus der Verandatür rufen. „Wir wollen so in fünf bis zehn Minuten losfahren. Kommst du dann bitte gleich rein und holst noch deinen Rucksack, und den von deinem Bruder aus seinem Zimmer auch noch, falls er da oben ist? Er ist so aufgeregt, dass er ihn ständig an einem anderen Ort liegen lässt. Wir packen schon mal alles andere ins Autooo“, hörte sie ihn rufen, als er direkt wieder ins Haus verschwand.

„Jampf, Papa, mampf ich gleich.“ Neele sprang auf, und stopfte die letzten Reste des Blaubeermuffin in ihren Mund und spülte sie mit dem Rest des Kakaos herunter. Sie schaute auf ihre Comuhr und sah, dass es jetzt gerade 06:55 Uhr war. Sie wusste, dass Papa gestern noch sagte, dass sie so gegen 07:00 Uhr loswollten. Er war immer sehr pünktlich, wenn es darum ging, irgendwo hinzufahren, und vor den ganzen Menschenmengen da zu sein. Wahrscheinlich waren sie deswegen auch kurz nach Neeles Geburt nach Snoqualmie Ridge gezogen.

Hier war es deutlich ruhiger und nicht so voll wie in Seattle. Neele war gerade im Begriff, sich den Hügel herunterzustürzen, als sie innehielt. „Was war das Gerade für ein Geräusch?“, fragte sie sich lautstark, als sie sich in Richtung des Waldes drehte. Das klang aber gar nicht wie Singvögel, schoss es ihr durch den Kopf.

Sie bewegte sich ein paar Schritte weg vom Haus, über den Hügel auf den Wald zu, der ungefähr 15 Meter vor ihr lag. Dicht bewachsene Bäume, die schon seit mindestens hundert Jahren dort standen, und den ganzen Tag nichts zu tun hatten, außer alles zu beobachten, dachte sie.

„Also fast wie ich“, sagte sie und fing an zu kichern.

Mitten in diesem Gedanken erstarrte sie.

Da war es wieder. Dieses Mal hatte sie es wirklich gehört.

Es klang wie ein dumpfes, metallisches Klirren, gefolgt von einem leisen Summen. Sie ging ein paar Schritte weiter auf den Wald zu, der vor ihr immer größer zu werden schien. Sie öffnete die kleine Klappe im Metallzaun, der ihr Grundstück vom Wald abtrennte, und trat hindurch.

Je weiter sie sich vom Haus entfernte, umso genauer konnte sie das Geräusch hören. Es klang fast rhythmisch, ein metallenes Klirren, wie wenn etwas im Takt aufeinandertraf, unterbrochen von einem gelegentlichen Zischen, und dann ein leises Summen. Oder Wimmern?

Sie war sich nicht ganz sicher. Da, schon wieder.

Es war eindeutig ein Wimmern. Wie von einem verletzten Tier.

Aber es klang tiefer. Menschlicher. War da jemand?

„Hallo, ist da jemand?“, rief Neele leise und eher an sich selbst gerichtet. Keine Antwort. Das Klirren und Zischen wurde immer lauter, aber sie konnte nichts erkennen, und jede Faser ihres Körpers riet ihr davon ab, sich den Geräuschen zu nähern.

Und doch ging sie noch ein paar Schritte weiter in Richtung des Waldes, bis fast an den Anfang der Lichtung. Sie war nun knapp 30 Meter von ihrem Haus entfernt.

Da, schon wieder. Metallisches Klirren, dann ein lautes Zischen. Und dann ein deutliches, sehr lautes menschliches Wimmern, gefolgt von einem Brechen von lauter kleinen Asten und einem dumpfen Aufschlag, gefolgt von einem gedämpften Schmerzensschrei.

„Hallo, ist da jemand? Brauchen Sie Hilfe?“, fragte Neele in die

Tiefe des Waldes hinein, aus der in derselben Sekunde eine unerwartete Antwort kam:

„Es tut mir leid, aber du bist die Person, die Hilfe benötigt.“

In dieser Sekunde brach um Neele herum die Hölle los. Zuerst hörte sie ein tiefes, bedrohliches Grollen, das aus der Tiefe der Erde zu kommen schien. Sekunden später explodierte die Welt um sie herum in einem blendenden Lichtblitz. Es fühlte sich an, als würde die Zeit für einen Moment stillstehen, bevor die brutale Realität sie mit voller Wucht traf. Sie wurde von ihren Füßen gerissen und mit dem linken Arm voran, bestimmt drei Meter weiter, hart auf den Boden geschleudert. Um sie herum drehte sich alles, und ihr ganzer Körper zuckte und krümmte sich vor Schmerzen.

Sie hörte die Stimme noch sagen „schließ deine Augen“ und vor lauter Schmerzen konnte sie gar nicht anders.

Die Welt um sie herum wurde milchig und trüb.

Doch alles, was sie erkennen konnte, war, wie die friedliche Morgenidylle in einem gleißenden Blitz zerfetzt wurde. Aste brachen mit einem lauten Knacken und flogen wie Geschosse durch die Luft, Vögel, die eben noch friedlich miteinander gewetteifert hatten, zerplatzten vor ihren Augen in ihre kleinen gefiederten Einzelteile.

Überall um sie herum spritzten Steine und Dreck auf, und sie hörte, wie in der Entfernung Fensterscheiben zerbrachen, als eine Druckwelle sich quer durch ihr Haus und dann durch die ganze Umgebung pflügte. Mehrere Dächer hoben sich rhythmisch und majestätisch von allein für einen kurzen Moment in den Himmel, bevor sie dann krachend und mit einem lauten Donnern wieder zusammenfielen und in einer immer größer werdenden Staubwolke vergingen. Das Ganze dauerte nicht länger als zwanzig Sekunden, aber als Neele wieder zu sich kam, waren fast 30 Minuten vergangen. Ein beißender Geruch nach Rauch und verbranntem Holz breitete sich aus, mischte sich mit der frischen Morgenluft und brannte in Neeles Nase. Sie lag unter einer Art von Metallplatte, die von vom bis hinten mit Schutt, Dreck und Asche bedeckt war. Die Hitze der Explosion war so intensiv, dass sie selbst aus der Entfernung hinter dem Hügel spüren konnte, dass etwas Schreckliches passiert sein musste.

Neele fühlte sich wie gelähmt.

Sie versuchte, sich aufzurichten, aber als sie sich auf ihren linken Arm stützen wollte, durchschoss sie ein gewaltiger Schmerz. Sie schrie auf und sackte wieder in sich zusammen.

Der linke Arm war, medizinisch ausgedrückt, komplett im Arsch. Sie krümmte sich unter den Schmerzen und versuchte, ihren rechten Arm zu bewegen.

Er tat weh, aber sie konnte ihn noch bewegen, und nach einer weiteren Minute versuchte sie es noch einmal. Sie drehte sich auf den rechten Arm, und unter Aufbringung all ihrer Kraft schaffte sie es, sich aufzurichten und die Metallplatte knallte scheppernd vor ihr auf den Boden. Sie kniete nun und schaute in die Richtung, in der vor ein paar Minuten noch ein Hügel gestanden hatte. „Was ist hier los?“, hörte sie sich sagen, als ihr Blick langsam umherschweifte.

Ihr Herz schlug wie ein Vorschlaghammer, ihre Hände zitterten.

Sie spürte den kalten, harten Boden unter ihren Knien, und warmes Blut tropfte an ihrer Stirn herunter.

In ihrem Kopf herrschte ein chaotisches Durcheinander aus Angst, Verwirrung und dem dringenden Bedürfnis, ihre Familie zu finden.

Ihre Familie. „Oh mein Gott. Mama, Papa, Peeti. Wo seid ihr?“, schrie Neele aus vollem Leib, als sie sich in die Richtung schleppte, in der eigentlich ihr Haus sein sollte. Doch alles, was sie sehen konnte, war eine Mischung aus zerborstenem und geschmolzenem Metall, zersplittertem Glas und Holz, die sich mit anderen Trümmerteilen in der Gegend vermischt hatten. Die Couch, auf der sie so gerne abends noch gelesen hatte, lag zerschmettert am anderen Ende von dem, was vor wenigen Minuten noch der Garten war.

»Mama! Papa! Wo seid ihr?“, rief Neele, doch es kam keine Antwort. Unter Schmerzen kämpfte sie sich durch die Trümmer und rief immer wieder nach ihrer Familie, doch alles, was sie in diesem Moment hörte, war das Knistern von brennendem Holz, das gelegentliche Einstürzen von Trümmerteilen und ein ständiges, dumpfes Summen in ihrem Ohr.

Ihre Eltern waren nirgendwo zu sehen. Es dauerte noch Minuten, bis sie sich durch die Reste ihres Hauses gekämpft hatte. Sie erinnerte sich daran, dass Papa gesagt hatte, dass sie sich beim Auto treffen sollten. Doch das Auto war nicht dort, wo es sonst immer gestanden hatte, sondern mehrere Meter weiter die Straße runter. Es lag auf der Seite, und an sich war es nur noch eine groteske Verzerrung seiner einstigen Form.

Die Karosserie war von der Wucht der Explosion zerknittert worden und sah aus wie ein weggeworfenes Stück Papier. Die einst glänzende graue Lackierung war jetzt Ruß geschwärzt und von tiefen Kratzern und Dellen übersät. Rauch stieg aus dem Motorraum auf, ein beißender Geruch von verbranntem Gummi und geschmolzenem Metall hing in der Luft, aus verschiedenen Wunden tropften kleine verschiedenfarbige Pfützen auf den schwarzen Asphalt.

Durch die zerbrochene Heckscheibe konnte sie leicht ins Innere des Autos sehen, das ebenso verwüstet war.

Und da erkannte sie etwas im Inneren. Es war klein und gelb, komplett aus Stoff gefertigt. Sie bewegte sich so schnell sie konnte auf das Auto zu und sah in den Innenraum. Da war er. Der kleine gelbe Rucksack, prall gefüllt mit Spielsachen, neben einem kleinen regungslosen Körper, der zur Hälfte von Ruß und Blut bedeckt war, eine Hand am Rucksack, die andere an den Körper angelehnt. Der Körper war noch immer im Inneren des Autos angeschnallt.

„Peet, Peet! Nein, bitte nicht!“, Neele zog vorsichtig an seinem Arm. Sein Körper war kalt und leblos, und als sie noch ein zweites Mal an seinem Arm zog, fiel der Rucksack aus seiner Hand und krachte auf den Boden.

Der Inhalt ergoss sich darüber, Süßigkeiten und ein paar seiner Lieblingsspielsachen, darunter mehrere kleine Metallautos, ein Nachbau eines alten Boeing-Flugzeugs, ein paar Stifte sowie ein Bild, das er gemalt hatte.

Neele erkannte das Bild sofort. Peet hatte vor ein paar Tagen angefangen, es extra für sie zu malen.

Eigentlich war es als Überraschung für Neele geplant gewesen, eine selbst gemalte Eintrittskarte für den Park. Aber Peet vergaß es immer seine Dinge aufzuräumen, also hatte Neele es vorzeitig entdeckt. Auf die Eintrittskarte hatte er zwei Menschen gemalt, beide trugen Helme und Umhänge, und sie standen vor einem großen Turm.

Um sie herum waren lauter kleine Gebäude und Menschen zu sehen. Jetzt konnte Neele die Tränen nicht mehr aufhalten, und sie fing an, hemmungslos zu weinen.

»Peeti, bitte wach auf. Bitte ... du darfst nicht gehen.“ Ihre Tränen mischen sich mit dem Blut aus ihrer Wunde an der Stirn und strömen über ihr Gesicht, als sie ihren kleinen Bruder fest mit ihrem funktionierenden Arm an sich drückte.

Sie verharrte mehrere Minuten regungslos, unfähig zu begreifen, was gerade geschehen war. Die Welt um sie herum verschwamm, und der Schmerz und die Verzweiflung drohte, sie zu überwältigen.

Nach einer unsäglich langen Zeit hört sie in der Ferne leise die Sirenen der Feuerwehr und der Notdienste näher kommen. Es vergingen weitere zehn Minuten, bis Neele sich das Bild endlich in die Hosentasche steckte.

Tränen strömen über ihr Gesicht, als sie ihren kleinen Bruder ein letztes Mal fest an sich zog. Dann stand sie auf und lief langsam in Richtung der Sirenen am Horizont.

Die Realität der Situation traf sie mit voller Wucht.

Ihre Familie war tot, und sie war zum ersten Mal ganz alleine.

OLD MEDICAL DESTRICT

VIER.AM RANDE DES ABGRUNDS

Seattle, 20:39 Uhr – Irgendwo auf einem Highway – Old Medical District

Im Jahr 2045, als der Chevrolet Glide auf den Markt kam, war er noch für seine Effizienz, sein luxuriöses Inneres und für seine

Geschwindigkeit bekannt, aber jetzt, knapp 20 Jahre später und nach vielen Dienstjahren, in denen er Kugeln, andere Stoßstangen und auch so manche Kilometer gefressen hatte, war der

Glide eher so ein moderner Klassiker.

Manche würden es auch als einen nostalgischen Charme beschreiben, Simmons und ich eher so als unzuverlässige Dreckskarre mit extra Solarpaneelen auf dem Dach, die nur zu 10 Prozent der Zeit funktionierten.

Simmons und ich fuhren durch die engen Straßen des Old Medical Districts. Die Verlassenheit und der Verfall der Gegend standen in starkem Kontrast zu den glitzernden Hochhäusern im Zentrum des Pacific Commonwealth, das sich im Jahr 2066 aus den ehemaligen Bundesstaaten Washington, Oregon und Teilen Kaliforniens gebildet hatte.

Die politischen Umbrüche der letzten Jahrzehnte hatten die Notwendigkeit einer neuen föderalen Struktur hervorgebracht, und der Pacific Commonwealth war die Antwort auf diese Herausforderungen. Und Seattle, das kapitalistische Zentrum der Macht, in dem der Industriegigant Holster Skyway Inc seine Tentakel auf die gesamte Freie Handelszone einiges Amerika ausdehnte.

Unser Treffpunkt war die Main Street Pharmacy, ein heruntergekommener Laden, der perfekt war, um sich unauffällig mit einem Informanten zu treffen.

Die Gegend war bekannt für Gewalt, Drogen und andere illegale Aktivitäten, was unseren Besuch nicht weniger riskant machte.

»Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, wann es das letzte Mal angenehm war, in dieses Drecksloch zu fahren“, murmelte ich zu Simmons, als wir vom Highway abbogen und die modernen LED-Straßenlaternen dem flackernden Licht der alten Natriumdampflampen wichen.

„Nein, ich auch nicht“, antwortete Simmons und zündete sich seine vierte synthetische Zigarette an, seit wir losgefahren waren.

„Keine Ahnung, warum wir so dumm sind und uns gleich zweimal an einem Tag hier blicken lassen.“

„Etwas an diesem Fall lässt mich nicht los. Die Art, wie die Serpentines ermordet wurden, passt einfach nicht zu einem einfachen Einbruch. Da steckt mehr dahinter“, sagte ich und dachte über die präzisen Schüsse nach, die ich erlebt hatte.

„Und mittlerweile glaube ich auch nicht, dass das ein ‚Krokodil-Drogen-induziertes Satan hat mir Stimmen in den Kopf gesetzt und gesagt, ich soll sie töten Ding’ war. Dafür lief alles zu glatt über die Bühne.“

Simmons blickte kurz auf, als die Asche seiner Zigarette in den Hinterraum des Chevrolet Glide flog.

„Denkste, es hat vielleicht etwas mit den ganzen Experimenten zu tun, die damals im Old Medical durchgeführt wurden? Der ganze Distrikt war voller illegaler Bio-Implantate und verbotener Forschung.“

Ich dachte wirklich kurz darüber nach. Es war eine Möglichkeit. Ich hatte bei meiner letzten Berührung mit Mrs. Serpentine keine Informationen über ihre berufliche Laufbahn bekommen, außer dass Martin Serpentine Schulden machen wollte, um etwas Dringendes zu erledigen.

„Wir sollten auf keinen Fall die Schwägerin von Martin

Serpentine außer Acht lassen. Laut seiner Aussagen hatte sie auf jeden Fall eine Art von krimineller Energie, die sie gerne auslebte. Frag mal beim Dezernat nach und schau, ob du herausfinden kannst, wer sie ist, wie sie heißt und wo sie sich gerade aufhält.“

„Alles klar, Boss, ich setz’ mich dran“, sagte Simmons und begann wild auf den Bildschirm seines Kommunikators einzuhämmern. Die bunten Bildschirme, die er in rasender Geschwindigkeit abarbeitete, blinkten in hübschen Farben auf und reflektierten sich in der Frontscheibe.

Wenigstens mal etwas Farbe in dieser tristen Gegend.

„Glaubste vielleicht, die Serpentines haben etwas gesehen oder wussten etwas, das sie nicht hätten wissen sollen? Oder vielleicht waren sie nur zur falschen Zeit am richtigen Ort und deswegen hat sie jemand besucht?“ fragte Simmons, als er kurz für fünf Sekunden aufhörte, den Bildschirm als Aggressionsbewältigungsapparat zu missbrauchen.

„Also, ich mein ja nur, weil der Kommunikator hier sagt, dass Martin Serpentine bis zu seinem Todeszeitpunkt vor ein paar Stunden noch Mitarbeiter des Monats bei der Holster Biotech Research Facility war, und seine Frau Mona war Archivassistentin bei Holster Skyway Inc., dem Hauptunternehmen des riesigen Imperiums, das Thornej A. Holster in den vergangenen zehn Jahren aus dem Erdboden gestampft hat, seit sein Vater, Gott habe ihn selig, seinen Namen an ihn abgetreten hatte.“

„Vielleicht ist das jetzt genau der richtige Augenblick, während wir durch die Kraft der Elektrizität durch die heruntergekommenen Straßen Seattles fahren, mal das Firmenkonglomerat der Holster Skyway Inc. etwas genauer aufzudröseln“, sagte Simmons und begann, sich auf seinem Kommunikator die Informationen nach und nach einzuverleiben.

„Also, wir hätten da einmal die schon genannte Holster Skyway Inc., die Muttergesellschaft, die zahlreiche Tochterunternehmen und Beteiligungen in verschiedenen Industrien kontrolliert, und die man getrost als alles verschlingendes Monster benennen könnte, wenn man ihnen etwas Böses zutraute.

Dann gibt es die Holster-Biotech-Research-Facility, welche innerhalb weniger Jahrzehnte die Biotechnologie revolutionierte, mit ihren fortschrittlichen Implantaten und gentechnischen Durchbrüchen.

Dann gibt es die Skyward-Tower-Industries, welche den lieben langen Tag nichts anderes tun, als Wolkenkratzer zu bauen, die die Skyline von Seattle und darüber hinaus prägen und im wahrsten Sinne des Wortes mehr Schatten als Licht spenden. Dann gibt es die Holster Kinetics and Robotics welche vor ein paar Jahren intern mit der Rüstungsabteilung zusammengelegt wurde und nun unter dem Namen Holster-Defense-Systems operiert.

„Welch ein Glück wir doch haben“, sagte Simmons, „dass es so tolle interne Synergien bei Holster gibt. Da treffen sich zwei frisch Verliebte, und Zack, neun Monate später gibt es ein neues Baby, das die Welt an sich reißen kann, wenn es denn mal groß genug ist. Und falls es Komplikationen bei der Geburt gibt, hilft einem Holster-Pharmaceuticals mit einer Ladung Pillen direkt nach der Geburt weiter. Was haben wir nur für ein Glück, dass wir in der Freien Handelszone einiges Amerika geboren sind! Und da wir gerade davon reden, da vorn musst du rechts abbiegen, dann sind wir da.“

Der Glide rollte langsam auf den Parkplatz der Main Street Pharmacy, und ich konnte bereits den Informanten von Simmons sehen, der in einer der dunkleren Ecken des schlecht beleuchteten Parkplatzes stand und nervös um sich blickte.

Ich überlegte kurz und blinzelte angestrengt vor mich hin.

„Vielleicht sind die Serpentines über etwas gestolpert, das sie nicht hätten finden sollen. Vielleicht hatten sie Informationen, die jemanden nervös gemacht haben.

Wir sollten definitiv tiefer graben“, sagte ich, als ich das Auto abstellte und die Lichter sich automatisch ausschalteten.

„Ja, klingt gut“, sagte Simmons. „Aber lass mich mit ihm reden, vielleicht bekomme ich etwas mehr aus ihm raus, und mich kennt er. Und vielleicht kann ich ihm dann auch die Sache mit dem Kinderficker erklären.“

„Lass uns das hier so schnell wie möglich über die Bühne bringen, die Gegend hier gefällt mir nicht“, sagte ich, während ich meine Dienstwaffe berührte, um noch einmal zu überprüfen, ob ich sie eingepackt hatte.

Ich war bereit, endlich ein paar Antworten zu bekommen.

Egal mit welchen Mitteln.

BEACON HILL

FÜNF.FLUCHT INS UNGEWISSE

Beacon Hill Seattle, 2066 08:35 Uhr – Holster Skyward Tower

Die kalten Neonlichter des Labors flackerten, als Neele vor lauter Panik aus dem Labor stürzte und sich gerade so noch auf den Beinen hielt. Ihre schnellen Schritte hallten in einem ungleichmäßigen Rhythmus auf den metallischen Dielen wider, und ihr Herz hämmerte im selben rhythmischen Takt, mit dem sie auch auf den Aufzugsknopf einschlug.

„Komm schon, komm schon“, befahl sie der Tür, während sie sich immer wieder panisch umdrehte. Die Sekunden fühlten sich wie Minuten an, bis das erlösende „Ping“ ertönte und die Aufzugtür aufsprang. Neele hechtete hinein und drückte so schnell und so oft sie nur konnte abwechselnd auf den Knopf für das unterste Stockwerk und den Türschließmechanismus.

Der Aufzug setzte sich langsam in Bewegung, und Neele drängte sich ein paar Zentimeter mehr in die Ecke des Aufzugs, ohne dabei die Stockwerkanzeige auf dem Bildschirm außer Acht zu lassen. 103, 102, 101 ... es dauerte noch mindestens 50 Sekunden, bis sie unten war, dann erneut 30 Sekunden vorbei an der Security, 13,5 Sekunden durch den Korridor, fünf durch die Sicherheitstür und dann war sie draußen. „Und was dann?“, sagte Neele laut, während sie mit dem Kopf schon zwei Schritte weiter war. Nicht umsonst war sie eine angesehene Forscherin mit einer schnellen Auffassungsgabe und überdies mit einem HELPS-Anzug ausgerüstet. Trotzdem konnte sie die aufkommende Panik nicht unterdrücken.

HELPS hatte ihr in der Zwischenzeit zum dritten Mal geraten, ihre Atmung zu kontrollieren, um ihr Herzrasen unter Kontrolle zu bekommen, aber sie konnte sich schwer von dem Gedanken an Peets Gesicht in dieser Art von metallischem Sarkophag trennen. Neele spürte den kalten Schweiß auf ihrer Stirn und wie er ihr im Inneren des HELPS-Anzugs langsam den Rücken hinunterwanderte. Sie drückte das Glasvisier des Helms an die Wand, schaute noch einmal auf die Stockwerkanzeige, die jetzt auf 76 gesprungen war, und senkte leicht den Kopf, um ihre Schultern zu entlasten.

Tief ein- und ausatmen. Ein- und ausatmen. Neele schloss für ein paar Sekunden die Augen. „Denk nach“, hörte sie sich selbst sagen. „Es ergibt keinen Sinn, dass da oben dein vor 16 Jahren getöteter kleiner Bruder mit offenen Augen liegt und dich angestarrt hat.“

Tote Menschen, egal, wie sehr du sie vermisst, tauchen nicht einfach wieder auf. Ganz besonders nicht, wenn du ihren verbrannten Körper für zehn Minuten in deinem eigenen Arm gehalten hast. „Also, denk nach.“

Wenn das nicht dein Bruder war, wer oder was könnte das gewesen sein. Neele öffnete die Augen, und direkt vor ihr, auf dem Display des HELPS-Anzugs, spiegelte sich das Gesicht ihres Bruders Peet. Neele erschrak und wusste nicht, wie sie reagieren sollte.

Dann öffnete er seine Augen. Panik ergriff sie, als sie ebenfalls ihre Augen aufriss und auf den Halteknopf hämmerte.

Der Aufzug blieb ruckartig stehen und brachte Neele aus dem Gleichgewicht. Über dem Display erschien die Zahl 42.

Die Tür öffnete sich mit einem dumpfen Geräusch, während Neele in einen Teil der Holster Skyway Central Research Facility stolperte, den sie noch nie betreten hatte. Der Raum, soweit sie sehen konnte, war ungefähr 30 Meter lang und hatte sehr hohe Decken, mindestens vier Meter hoch. Der Raum hatte kein wirkliches Fenster oder eine Öffnung nach draußen, soweit sie das sehen konnte; alles war komplett von Dunkelheit durchzogen.

Es gab nur spärliches Notlicht an den Seiten, diese Notbeleuchtung wurde teilweise verdeckt von großen schwarzen

Maschinen, die stark an alte Server erinnerten. Diese Maschinen spielten alle rhythmisch im Takt dasselbe Muster immer und immer wieder ab, und es fühlte sich an, als ob es sie tiefer in den Raum ziehen sollte.

„HELPS, wo sind wir hier?“, sagte Neele leise in ihren

Anzug hinein, während sie den dunklen Korridor entlangging und die Maschinen beobachtete.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis sich HELPS meldete.

„Entschuldigung, Dr. Neele, meine Verbindung zum HELPS-Netzwerk ist in diesem Raum gestört. Wir sind im 42. Stockwerk des HSCRF. Das 42. Stockwerk wurde vor gut acht Jahren nach einem Unfall mit darauffolgendem Brand geschlossen und anschließend, nach gründlicher Überprüfung durch Ingenieure, Statiker und andere Inspektoren, für nicht mehr benutzbar erklärt und somit für den Zutritt von Personal geschlossen. Eigentlich dürften wir gar nicht hier sein. Haben Sie einen sicheren Tag.“

Neele wusste nicht, was sie dazu sagen sollte.

Ein Brand in dem Gebäude, in dem sie seit vier Jahren arbeitete, und das hatte ihr bisher niemand erzählt?

Nicht einmal ihre Labomachbarin Ann, die ständig in der Mittagspause alles wissen wollte und einem ungefragt alles erzählte. „Na, das wird ein spannendes Thema für den nächsten Mittagsklatsch, wenn ich hier wieder herauskomme“, dachte sich Neele und ging einfach weiter in die Richtung, in der sie vermutete, das Ende des Raumes zu finden. Je mehr sie sich von der Aufzugtür entfernte, umso lauter erschien es ihr im Raum zu werden. Mit jedem Schritt, den sie machte, erhöhte sich der Lärmpegel im Raum von einem sanften Rauschen an der Aufzugtür bis zu ohrenbetäubendem chaotischem Lärm, der sich immer mehr über ihre Gedanken ausbreitete und ihr das Nachdenken schwer machte. Sie war vielleicht noch zehn Meter vom Ende des Raumes entfernt, als der Lärmpegel ihr fast den Verstand raubte. „HELPS, hilf mir, ich kann meine eigenen Gedanken nicht mehr verstehen. Kannst du die Töne, die um mich herum passieren, deaktivieren?“

„Entschuldigung, Dr. Neele, aber das kann ich leider nicht tun. Ich weiß nicht, woher sie kommen oder was sie emittiert.“

„Verdammt“, glaubte Neele zu denken, aber da war sie sich nicht mehr sicher.

„Aber ich kann den HELPS Mark IV so konfigurieren, dass Sie keine Geräusche von außen im Inneren mehr wahrnehmen können. Soll ich das für Sie tun?“

„Ja, verdammt, mach das HELPS. „Na los, beeil dich“, schrie sie gegen ihre eigenen Gedanken an, die nur noch aus Chaos und lautem Wirrwarr bestanden.

„Erledigt, Dr. Neele. Haben Sie einen sicheren Tag.“

Stille. Neele kniete mit einem Bein am Boden und hatte beide Hände über die am HELPS-Anzug nicht vorhandenen Ohren gelegt. Es hatte nichts gebracht, aber jetzt war es still. Also, wirklich. Sehr still. Neele stand auf. Ihr eigener Körper, ebenso wie ihr Anzug, der zwar recht bequem war, aber gerne das ein oder andere Quietschen und Knirschen von sich gab, war einfach nur still. Interessant, hörte sie sich endlich wieder selbst denken. „Jetzt stehe ich in einem Raum, der nicht nur komplett dunkel ist, sondern jetzt höre ich auch nichts mehr.“ Der Raum hatte ihre beiden wichtigsten Sinne geraubt, das Sehen und Hören, und der HELPS-Anzug selbst die restlichen drei, die man als Mensch noch so übrig hatte. Kein Riechen, kein Schmecken und kein Tasten.