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Er wählte enge, finstere Nebenstraßen, hörte immer wieder das Heulen von Polizeisirenen. Jedes Mal, wenn irgendwo ein zuckendes Rotlicht aufflammte, schlug er einen Haken – oder er versteckte sich hinter Autos, Mülltonnen oder in Hauseinfahrten. Er handelte instinktiv, befand sich in einer Art von Blackout-Zustand, wurde von einer geheimnisvollen Kraft gelenkt, brauchte nicht zu denken, konnte es auch gar nicht. Das Böse führte ihn und ließ ihn reagieren. Angst hatte er nicht, denn ihm konnte nichts passieren. Selbst wenn ihn eine Hundertschaft von Polizisten gestellt hätte, wenn alle Cops der Stadt ihre Waffen auf ihn abgefeuert hätten, wäre er am Leben geblieben. Ihre Kugeln konnten ihm nichts anhaben. Die schwarze Kraft, die von ihm Besitz ergriffen hatte, schützte ihn vor jeder herkömmlichen Munition...
Zum Anlass des 80. Geburtstages des Schriftstellers A. F. Morland (alias Friedrich Tenkrat) veröffentlicht der Apex-Verlag die Sonder-Edition Frankensteins Todeskabinett, die sechs ausgewählte Grusel- und Horror-Romane des Autors als durchgesehene Neuausgaben enthält: Der neue Frankenstein, Die blutige Spur des Werwolfs, Gorra, das Geschöpf des Teufels, Werwolfsfluch, Urwald der Dämonen und Yeti, der Bote des Grauens.
Ergänzt wird diese Auswahl durch ein Vorwort von Christian Dörge.
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A. F. Morland
Frankensteins
Todeskabinett
Sechs Romane in einem Band
Sonder-Edition zum 80. Geburtstag
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
Diese stillen, schrecklichen Nächte
Ein Vorwort von Christian Dörge
1. DER NEUE FRANKENSTEIN
2. DIE BLUTIGE SPUR DES WERWOLFS
3. GORRA, DAS GESCHÖPF DES TODES
4. URWALD DER DÄMONEN
5. WERWOLFSFLUCH
6. YETI, DER BOTE DES GRAUENS
Er wählte enge, finstere Nebenstraßen, hörte immer wieder das Heulen von Polizeisirenen. Jedes Mal, wenn irgendwo ein zuckendes Rotlicht aufflammte, schlug er einen Haken – oder er versteckte sich hinter Autos, Mülltonnen oder in Hauseinfahrten. Er handelte instinktiv, befand sich in einer Art von Blackout-Zustand, wurde von einer geheimnisvollen Kraft gelenkt, brauchte nicht zu denken, konnte es auch gar nicht. Das Böse führte ihn und ließ ihn reagieren. Angst hatte er nicht, denn ihm konnte nichts passieren. Selbst wenn ihn eine Hundertschaft von Polizisten gestellt hätte, wenn alle Cops der Stadt ihre Waffen auf ihn abgefeuert hätten, wäre er am Leben geblieben. Ihre Kugeln konnten ihm nichts anhaben. Die schwarze Kraft, die von ihm Besitz ergriffen hatte, schützte ihn vor jeder herkömmlichen Munition...
Zum Anlass des 80. Geburtstages des Schriftstellers A. F. Morland (alias Friedrich Tenkrat) veröffentlicht der Apex-Verlag die Sonder-Edition Frankensteins Todeskabinett, die sechs ausgewählte Grusel- und Horror-Romane des Autors als durchgesehene Neuausgaben enthält: Der neue Frankenstein, Die blutige Spur des Werwolfs, Gorra, das Geschöpf des Teufels, Werwolfsfluch, Urwald der Dämonen und Yeti, der Bote des Grauens.
Ergänzt wird diese Auswahl durch ein Vorwort von Christian Dörge.
»Die Nacht schien aus dickem, schwarzem Glas zu bestehen, das krachend zersplitterte, als die Blitze einschlugen.«
aus: A. F. Morland - Geburt eines Dämons
A. F. Morland – wie vermutlich jeder weiß: ein Pseudonym des österreichischen Schriftstellers Friedrich Tenkrat (* 18. Dezember 1939 in Wien) – hat im Verlauf seiner 50jährigen Karriere als Schriftsteller (er debütierte 1969 mit dem Kriminal-Roman Ein Sarg für Forrest) über 1.4000 Romane sowie ungezählte Kurzgeschichten, Erzählungen und Kurzromane veröffentlicht, und er war (und ist) ein Fisch in nahezu allen Wassern: Horror-, Krimi-, Liebes-, Arzt- und Heimat-Romane, Mystery... die Liste ließe sich beliebig fortsetzen und verfeinern. Wie könnte man ein solch umfangreiches Werk als Chronist sozusagen auf den Punkt bringen?
Ein solches Ansinnen scheint unmöglich – freilich nur auf den ersten Blick.
Dieser Punkt, auf welchen das Werk A. F. Morlands zu bringen sein könnte, darf nur ein subjektiver sein – eine Frage der Wahrnehmung, wenn man so will, eine Frage der Begleitmusik.
Begleitmusik?
In der Tat: A. F. Morland – resp.: sein Werk - begleitet mich bereits seit... nein, nicht seit einer Ewigkeit, aber dennoch mindestens seit meiner frühesten Jugend, die sich in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts abspielte. Mal waren seine Romane enorm präsent, mal erklangen sie eher wie ein fernes, gleichwohl vertrautes Echo. Es war dies eine Zeit lange vor dem Internet, lange vor der beliebigen und jederzeit abrufbaren Verfügbarkeit von nahezu allem – es war eine Zeit der Abenteuer, erlebt und geradezu fieberhaft erwartet in schrulligen Dorflädchen, Kaufhäusern und Bahnhofsbuchhandlungen. Denn dort (und wirklich: nur dort) konnte man sie finden, jene bunten Heftromane (zum Preis von ca. 1,50 DM) mit Titeln larger than life: Die Legion des Bösen, Die Saat der Hölle, Miss Zombie, Der Blutrichter, Die Puppen mit den Todeskrallen... hinzu kamen Bilder, die das Herz des Jung-Lesers, der ich damals war, fraglos höher schlagen ließen: sinistre Bösewichter, nach dämonischer Weltherrschaft strebend, (meist) blondgelockte Ladys in höchster Not, gräflich gestylte Vampire, Monster und Untote jeglicher colouer. Und das Beste war: Jede Woche gab's Neues aus der Welt der Geister und Dämonen. Es war ein kleines, von Erwachsenen und – sogenannten – Jugendschützern misstrauisch beäugtes Pulp-Paradies; ich ließ mich nur zu gern darauf ein.
Und so erlebte ich Seite an Seite mit den aufrechten Helden, die sich der nicht enden wollenden Flut höllischer Schufte und Schwerenöter entgegenstellten, regelmäßig die unwahrscheinlichsten, aufregendsten und echt bizarren Abenteuer. Die Helden der Stunde (mit jeweils eigenen Heftroman-Serien) waren der bei Scotland Yard in Lohn und Brot stehende John Sinclair, die zum Guten konvertierte Hexe Damona King und (keineswegs zuletzt) der Londoner Privatdetektiv Tony Ballard – an seiner Seite: der unerschrockene Mr. Silver.
Mein erster Ballard war – ich bin mir dessen völlig sicher – der Roman Die Totenuhr, erschienen im Juli 1983 (ich war vierzehn Lenze jung), erworben in der Zeitschriften-Abteilung des Supermarktes Kontra in Frankenberg/Eder. Auf dem Cover: Ein in weißes Tuch gewandetes, übergroßes Skelett, in den knöchernen Klauen ein Ziffernblatt haltend, auf das ein (naturgemäß) wenig begeisterter, blonder Mann gekettet ist. Der Klappentest (neudeutsch: der Teaser, aber das wusste ich damals noch nicht) ließ Großes vermuten:
»Die Luft begann zu flimmern und zu glühen. Milliarden roter Partikelchen wirbelten um eine unsichtbare Achse und bildeten nach und nach einen Kegel, in dem eine grauenerregende Gestalt entstand. Das Wesen, das nicht von dieser Welt war, trug ein braunes Lederwams, hatte granitgraue Haut, spitze Ohren und war hager. Sein Blick war grausam und stechend. Mago, der Schwarzmagier, war gekommen! Er entstieg dem feuerroten Kegel, der hinter ihm wie eine leere Hülle zusammenfiel. Er war nach London gekommen, um sich hier mit einem anderen Vertreter des Höllenheers zu treffen: Rufus, dem Dämon mit den vielen Gesichtern!«
Geschrieben hatte diesen Roman ein gewisser A. F. Morland – ohne Frage ein (zumindest) angelsächsischer Autor, wie ich messerscharf kombinierte, und er reihte sich ein in die Liga so klangvoller Namen wie Jason Dark, Vernon Graves, Mike Shadow und Henry Wolf. Allesamt prima schaurig klingende Namen, und ich war fest davon überzeugt: Die Jungs heißen wirklich so. Wie gesagt: Internet gab's noch nicht, und – was schwerer wog, scheint's – ich lebte auf dem Dorf. Allein: Mit Die Totenuhr hatte mich dieser Mr. Morland sofort gepackt, ich wurde – gar kein Zweifel – Tony-Ballard-Fan.
Künftig fieberte ich alle vierzehn Tage dem neuen Abenteuer des sympathischen Streiters für das Gute entgegen, und mit jedem Roman schien die Serie besser und vertrauter zu werden (wie jeder weiß: das ist das Gesetz der Serie, wenn's optimal läuft). A. F. Morland wurde – neben Michael Moorcock, Frank Herbert, Tanith Lee und John Shirley – mein Lieblings-Autor jener Jahre.
Mit der sogenannten Höllenschwert-Trilogie – Trilogien waren damals im Horror-Heftroman etwas verlässlich Besonderes – erreichte die Serie Tony Ballard 1984 schließlich einen ersten veritablen Höhepunkt, dem zwei Jahre später mit dem vierteiligen Loxagon-Zyklus ein weiterer von noch epischeren Ausmaßen folgen sollte. Bis dahin hatte ich ungezählte Horror-Heftromane gelesen (ach was: verschlungen!) –, und A. F. Morland blieb mein ungekrönter Held. Hätte ich geahnt, dass der Autor neben Tony Ballard u. a. auch Jerry-Cotton-Romane schrieb, so hätte ich diese unzweifelhaft ebenso eifrig zerlesen.
1986 indes war für mich ein Jahr des Umbruchs – meine Begeisterung für das Medium Heftroman endete ebenso schlagartig wie es drei Jahre zuvor begonnen hatte. Schuld daran war vermutlich Michael Moorcock, dessen Jerry-Cornelius-Romane meine Wahrnehmung von (beispielsweise) Science Fiction buchstäblich auf den Kopf stellten – und John Shirley hatte mit seinem Roman Kinder der Hölle klargestellt, dass Horror mehr sein konnte als die vielgeliebte Geisterjagd im Londoner Nebel.
Die Dinge verändern sich, das Leben verändert sich, das Lesen verändert sich.
Aus dem Leser Christian Dörge wurde 1986 der Autor Christian Dörge – der sich 1988 schließlich nahezu vollständig von der Phantastik verabschiedete, sich dem Theater und der surrealistischen Literatur zuwandte und ab 1992 zusätzlich eine Karriere als Sänger und Musiker verfolgte.
In Vergessenheit gerieten die Dorflädchen, die Bahnhofsbuchhandlungen, die bunten, angenehm gruseligen Abenteuer der Helden der Jugend.
In Vergessenheit?
Nein, nicht wirklich. Es blieben angenehme Erinnerungen an schönste Lesestunden der Jugend, die wesentlich geprägt wurden von A. F. Morlands Einfallsreichtum, von seinem Gefühl für Spannung, Grusel, für makellose Unterhaltung. Klar, inzwischen wusste man auch auf dem Dorf, dass sich hinter diesem Namen der Schriftsteller Friedrich Tenkrat verbarg, doch dies tat – entgegen dem, was man in mancher Verlagsstube zu wissen glaubte – der Begeisterung keinerlei Abbruch; eher das Gegenteil war der Fall. So fiel mir auch in jenen Jahren nach 1986 von Zeit zu Zeit immer wieder einmal ein echter Morland-Roman in die Hände, wie ein alter Freund, dem man auf Reisen begegnet und über den man sich tatsächlich freut – und der stets jede Menge sense of wonder mit sich führt.
In diesen Tagen nun feiert der große Friedrich Tenkrat seinen 80. Geburtstag. Seine wohl berühmteste Schöpfung Tony Ballard kämpft noch immer unerschrocken gegen die Mächte der Finsternis – und ich habe die Ehre und das Vergnügen, in meinem Verlag die klassischen Abenteuer meines Helden wiederveröffentlichen zu dürfen, unterstützt von Jörg Munsonius (Edition Bärenklau) und Alfred Bekker (CassiopeiaPress), ohne die ein solches Projekt nicht zu verwirklichen wäre.
Zum Anlass dieses Ehrentages habe ich diesen vorliegenden Sonder-Band zusammengestellt: Sechs ausgewählte Grusel-Romane aus der Feder von A. F. Morland, weniger ein Denkmal als vielmehr eine Hommage an einen der ganz großen Unterhaltungsschriftsteller, den der deutsche Sprachraum bis dato hervorgebracht hat – und dem ich als Leser und als Autor vieles (Sichtbares wie Unsichtbares) zu verdanken habe.
Christian Dörge
- München, im Dezember 2019
Eine unheimliche Entdeckung
Oliver drehte sich um und schaute Monika an. Im gleißenden Sonnenschein sah ihr blondes Haar aus, als bestünde es aus schulterlangen Goldfäden. Sie ist das schönste Mädchen, das ich kenne, dachte er. Und ganz besonders schätze ich an ihr, dass man mit ihr Pferde stehlen kann.
»Ist alles in Ordnung, Moni?«, erkundigte er sich.
Monika trug, wie er, Jeans und ein rot-weiß kariertes Hemd. Sie sahen aus wie Geschwister. Aber Oliver war froh, dass Monika Staller nicht seine Schwester war, weil er sonst für sie nicht das hätte empfinden dürfen, was er für sie empfand.
Sie ließ argwöhnisch ihren Blick schweifen, schien sich unbehaglich zu fühlen. »Ich weiß nicht.«
Die beiden hatten soeben den Wald hinter sich gelassen - einen ziemlich dichten, düsteren Mischwald, in dem es bisweilen unheimlich knackte, ächzte und knarrte.
»Was hast du denn?«, erkundigte sich Oliver mir sehr viel Wärme in der Stimme. Er war wahnsinnig gern mit Monika zusammen. Lieber als mit seinen Freunden. Doch das hätte er niemals zugegeben.
Monika hob die Schultern und sah aus, als würde sie frösteln. »Ich fühle mich irgendwie nicht wohl hier.«
»Und woran liegt das?«, wollte Oliver wissen.
Er war vor zwei Monaten 16 geworden. Die Familie hatte sich mit netten Präsenten eingestellt, und über Onkel Josefs Geschenk - eine digitale Videokamera - hatte er sich am meisten gefreut. Die Kamera war zwar nicht mehr neu, aber Onkel Josef - Vaters jüngerer Bruder - hatte sie nur zwei Jahre besessen und in dieser Zeit lediglich viermal benutzt: Zweimal im Sommerurlaub und zweimal zu Weihnachten. Die restliche Zeit hatte sie, beinahe originalverpackt, im Schrank gelegen. Demzufolge war die Kamera so gut wie neu.
Monika nagte an ihrer Unterlippe. »Ich sage es dir nur, wenn du versprichst, mich nicht auszulachen.«
»Ich würde dich niemals auslachen. Dafür mag ich dich viel zu sehr.« Oliver presste die Lippen zusammen. Das hätte er besser nicht gesagt. Er merkte, wie seine Wangen warm wurden - und höchstwahrscheinlich auch rot -, und das war ihm sehr unangenehm. Er räusperte sich verlegen, scharrte mit dem rechten Fuß, pulte einen Stein aus dem erdigen Boden und kickte ihn zwischen die saftigen Farne.
»Mir ist, als würde uns jemand beobachten«, vertraute Monika ihm an.
Er lachte nicht. »Das bildest du dir bestimmt nur ein.«
Sie seufzte. »Das versuche ich mir schon die ganze Zeit einzureden, aber es ändert sich nichts an diesem unangenehmen Gefühl, das mir den Rücken rauf und runter krabbelt.«
Oliver blies seinen Brustkorb auf. Er war muskulös, trainierte viel mit Hanteln und Expander, fuhr fast täglich mit dem Rad - einem Mountainbike mit 21 Gängen -, spielte Fußball und kletterte am Berg wie eine Gämse. »Keine Angst, Moni. Dir kann nichts passieren. Du hast einen starken Beschützer.«
Sie nickte. Aber ihre Augen sagten: »Und es befindet sich doch jemand in unserer Nähe.«
Oliver legte die Hände trichterförmig um den Mund und rief, wohl um ihr seinen Mut und seine Selbstsicherheit zu beweisen: »He! Ist da jemand?«
Monika, die nur ein paar Tage jünger war als er, tippte sich an die Stirn. »Na klar. Er wird auch ganz bestimmt antworten.«
»Wieso glaubst du, dass es ein ER ist?«
»Weil Frauen niemandem hinterher schleichen. So etwas Bescheuertes tun nur Männer.«
Oliver ließ seinen Blick so aufmerksam wie möglich schweifen. Nichts. Nur Bäume. Dazwischen hin und wieder ein schütterer Busch, der nicht genug Licht bekam. Weit und breit niemand, vor dem man sich zu fürchten brauchte. Oliver hob die Videokamera, die an einem Trageriemen hing, richtete sie auf Monika und schaltete sie ein.
»Lass das!« Sie hob - was er überhaupt nicht verstehen konnte - abwehrend die Hände vor ihr hübsches Gesicht.
Er lachte und filmte weiter. »Du bist ein tolles Motiv.«
»Ich möchte nicht gefilmt werden.«
»Warum nicht?«, fragte er. »Wer so aussieht wie du, gehört vor eine Kamera.«
Ein morscher Ast brach. Nicht sehr weit von ihnen entfernt. Es hörte sich wie ein Schuss an.
Monika fuhr herum. »Hast du das gehört?« Furcht flackerte in ihren Augen.
Oliver nickte. Er schaltete die Kamera ab. Jetzt war auch ihm nicht mehr ganz geheuer, aber das versuchte er vor Monika zu verbergen.
»Glaubst du noch immer, dass ich fantasiere?«, fragte sie mit belegter Stimme.
Am Rand des Weges lag ein knorriger Stock. Oliver hob ihn entschlossen auf.
Monika sah ihn nervös an. »Was hast du vor?«, fragte sie.
»Ich seh mal kurz nach dem Rechten.«
Sie riss entgeistert die Augen auf. »Bi-bist du noch zu retten?«, stammelte sie, als wäre soeben ihr Sprachfenster zugefallen. »Du - du kannst mich doch jetzt nicht allein lassen.«
»Bin gleich wieder bei dir.«
Monika verdrehte die Augen. »Wenn ich doch bloß nicht mit dir gegangen wäre. Warum habe ich mich überreden lassen?« Sie sah ihn streng an. »Du bleibst hier, Oliver Hartmann! Hier bei mir! Oder ich spreche nie wieder ein Wort mit dir.«
Er blieb. Es hätte ihm ohnedies keinen Spaß gemacht, den Helden zu spielen. Sicherheitshalber behielt er den Stock in der Hand. Mit argwöhnisch zusammengekniffenen Augen versuchte er die Düsternis des Waldes zu durchdringen.
Hinter welchem Baum hast du dich versteckt?, ging es ihm durch den Sinn. Warum verfolgst du uns? Was willst du von uns? Bist du scharf auf meine Kamera? Oder bist du einer von denen, die gerne heimlich zusehen, wenn sich ein Mädchen und ein Junge küssen? Da muss ich dich enttäuschen, mein Bester. So weit sind wir noch nicht. Und vielleicht wird es auch nie dazu kommen, weil nämlich Erwin Taschner zurzeit bei Moni die besseren Karten hat. Das kann ich zwar nicht verstehen - weil Erwin in meinen Augen eine ziemlich linke Bazille ist -, es ist aber leider so.
Monika zupfte an seinem Ärmel. »Ich möchte nach Hause, Oliver«, sagte sie gepresst.
»Gut«, gab er nach. »Kehren wir um.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich möchte nicht wieder durch den Wald gehen.«
»Der andere Weg ist aber viel weiter«, gab Oliver zu bedenken.
»Das macht mir nichts aus.«
»Okay.«
Sie marschierten los. Zu ihrer Linken türmte sich, zum Teil recht bizarr, ein breites Bergmassiv aus Kalkstein - umsäumt von hellgrauen Geröllflanken - auf, das sich mit schroffen Felsspitzen in das makellose Blau des Himmels bohrte. Rechts fiel das Gelände an manchen Stellen recht steil ins Tal ab. Der Ort, in dem Monika und Oliver wohnten, schmiegte sich - mit einer kleinen Kirche im Zentrum - an den Fuß des Hangs. Eine breite Umfahrungsstraße führte den ungeliebten Fernverkehr daran vorbei und gab dem Ort den Frieden aus vergangenen Tagen zurück. Und über all dem thronte Schloss Herrenfels. Ein düsterer alter, geheimnisumwitterter Kasten mit kahlen Mauern, in dem - so hieß es - niemand willkommen war, und dessen Besitzer ein Eigenbrötler-Dasein allerersten Ranges führte.
Während des Heimwegs warf Monika x-mal einen furchtsamen Blick über die Schulter zurück. Als sie aufgebrochen waren, war die Laune des Mädchens unbeschwert und fröhlich gewesen. Es hatte munter drauflosgeplappert und eine Menge zu erzählen gewusst. Doch nun war Monika ernst, angespannt, besorgt und wortkarg geworden.
Die Stimmung schwimmt mit dem Bauch nach oben - wie ein toter Fisch, dachte Oliver bedauernd. Schade. Wenn ich bloß wüsste, wer sie uns verdorben hat.
»Vielleicht war es ein unheimlicher Waldschrat«, meldete sich in ihm plötzlich eine Stimme.
»Es gibt keine unheimlichen Waldschrats«, widersprach er im Geist. »Oder heißt es Waldschrate? Ich glaube, es heißt Waldschrate. Was ist das überhaupt genau - ein Waldschrat?«
»Ein Waldgeist«, antwortete die Stimme.
»Oliver. He, Oliver!« Monikas Worte rissen ihn aus seinen Gedanken.
Er sah sie an, blinzelte. »Hm? Ja?«
»Ich hab dich was gefragt«, sagte Monika.
Er versuchte ein um Vergebung heischendes Lächeln. »Entschuldige, Moni. Ich hab’s nicht gehört, war mit meinen Gedanken kurz woanders. Was wolltest du wissen?«
»Ob du schon mal von Waldschraten gehört hast.«
Er musterte sie überrascht. »Komisch.«
»Was ist an meiner Frage komisch?«
»Nichts.« Er schüttelte den Kopf. »An deiner Frage ist nichts komisch. Es wundert mich nur, dass du plötzlich Waldschrate erwähnst. Ich habe nämlich auch gerade an sie gedacht.«
»Ich habe kürzlich über sie gelesen«, erzählte Monika. »Angeblich sind sie Mischwesen mit Katzen- und Vogelmerkmalen.«
Oliver feixte. »Hört sich irgendwie überdreht an. Findest du nicht?«
»Es gibt auch Beschreibungen, die sie als Drachen- oder Schlangenwesen darstellen«, erklärte Monika. »Sie sollen aus einem Hahnen-Ei oder aus einer Mandragora-Wurzel entstehen und können gut oder böse sein. Der bekannteste Schrat ist der Rübezahl des Riesengebirges.«
»Das wusste ich nicht.«
»Jetzt weißt du es«, sagte Monika. Sie deutete mit dem Daumen über ihre Schulter zurück. »War das im Wald ein Schrat? Was meinst du?«
Oliver furchte die Stirn. »Ich glaube nicht, dass es wirklich Waldgeister gibt.«
»Wenn doch... War er gut oder böse?«
»Er war gut«, sagte Oliver so überzeugt wie möglich. »Er war bestimmt gut. Er wollte uns ganz sicher nichts Böses. Die Neugier hat ihn hinter uns hergetrieben. Wahrscheinlich wollte er herauskriegen, warum ich so viele Videoaufnahmen gemacht habe - von der Martins-Quelle, vom Barbara-Kreuz, vom Bernhards-Felsen, vom Mühlwasser, von der Bank am Weiher...«
Er blieb stehen, schaltete die Videokamera ein, »zielte« damit auf das Schattjoch, »schoss« ein paar bewegte Bilder davon und schwenkte dann zur Sonnenalm hinüber. Es hatte einen ganz bestimmten Grund, weshalb er heute wieder - wie schon an den Tagen zuvor - mit der Kamera ausgerückt war: Pater Antonius’ Versetzung stand kurz bevor.
Der allseits beliebte Seelsorger sollte demnächst eine Gemeinde an der bayrischen Grenze betreuen, und Oliver wollte ihm zum Abschied ein Video mitgeben, das all die Plätze zeigte, die der Priester an seinem bisherigen Wirkungsort immer wieder besucht, an denen er gerne verweilt hatte und die ihm, was jeder wusste, ans Herz gewachsen waren.
Oliver trug täglich neues Videomaterial zusammen, und er war sicher, dass dem Pfarrer die DVD, wenn sie fertig war, sehr, sehr gut gefallen würde.
Vor dem Jungen und dem Mädchen tauchten die ersten Häuser auf. Die beiden gingen darauf zu. Oliver filmte Hanna Wagners windschiefes »Knusperhäuschen«, das - mit einer riesigen Trauerweide vorne dran - an einem munter plätschernden Bach stand. Pater Antonius hatte die fromme Witwe oft besucht. Ob das sein Nachfolger auch tun würde, stand vorläufig noch in den Sternen. Oliver hackte hier ab und zu Holz - wenn es seine Zeit erlaubte und sein Gewissen ihn zu einer guten Tat drängte -, damit die alte, gebrechliche Frau im Winter nicht frieren musste.
Er »lieferte« Monika daheim ab. Vor ihrem Elternhaus stand ein großer, frisch gewaschener, blitzsauberer, noch ziemlich neuer, fast 14 Meter langer Komfort-Reisebus, ausgestattet mit Air-Condition, CD-Wechsler, DVD-Player, Video-Player, elektrisch klappbaren Flachbildschirmen, Navigationssystem, Bordküche und noch so manchem Extra mehr, damit sich die Fahrgäste so wohl wie möglich fühlten. Der Bus gehörte, neben vier weiteren, nicht mehr ganz so neuen und schmucken »Kutschen«, Monikas Vater. Da er ihn selbst fuhr, war er viel unterwegs - Österreich, Deutschland, Schweiz, West-, Süd- und Osteuropa - und selten zuhause.
»Bereust du es noch, mitgekommen zu sein?«, fragte Oliver, als er sich von Monika verabschiedete. Er hoffte, dass sie Nein sagte.
Sie lächelte und schüttelte den Kopf. »Nicht mehr.« Sie senkte den Kopf. »Tut mir Leid, dass ich das gesagt habe. Aber in diesen Wald gehe ich nicht so bald wieder.«
»Sobald ich die DVD fertig habe, bekommst du eine - wenn du möchtest.«
»Ich würde mich darüber freuen«, sagte Monika und betrat das Haus, in dem sie wohnte.
Oliver ging allein weiter. Er holte sein Handy aus der Hosentasche und rief Hartmut an.
»Lechner«, meldete sich Olivers bester Freund.
»Ich bin’s«, sagte Oliver. »Hast du Zeit?«
»Klar.«
»Ich hab das restliche Filmmaterial beisammen.«
»Soll ich zu dir rüberkommen?«, fragte Hartmut.
»Ich bin noch nicht daheim.«
»Wann soll ich...?«
»In zehn Minuten«, sagte Oliver.
»Passt.«
Oliver klappte das Mobiltelefon wieder zu und steckte es ein. Er ging an der Post vorbei, bog nach der Filiale einer großen Textildiskont-Kette, vor der bunte Klamotten zu Schleuderpreisen an fahrbaren Ständern hingen, rechts ab und war kurz darauf zuhause. Im Haus herrschte absolute Stille. Es war niemand da. Olivers Eltern arbeiteten in einem nahen Gips-Karton-Werk und würden erst am Abend heimkommen.
Der Junge zog sich sogleich auf sein Zimmer zurück. Er schaltete den Rechner ein, holte ein Verbindungskabel aus der Lade, steckte es zuerst an die Videokamera und dann an den Videoeingang des Computers und rief anschließend das Video-Bearbeitungsprogramm auf, das ihm Onkel Josef mit der Kamera geschenkt hatte, und mit dem er sich schon bestens auskannte.
Unten fuhr ein Moped knatternd vor.
Hartmut, dachte Oliver und strich sich eine widerspenstige Locke seines dichten schwarzen Haares aus der Stirn. Eigentlich hätte er braune Augen haben müssen, wie die meisten Schwarzhaarigen, doch seine waren so hellblau wie die eines sibirischen Huskys. Das Knattern verstummte. Oliver machte sich nicht die Mühe, aufzustehen, hinunterzugehen und Hartmut einzulassen. Der Freund fand von selbst den Weg nach oben.
Da klopfte es auch schon.
»Japp!«, rief Oliver.
Die Tür öffnete sich und Hartmut - ein Riesenbaby mit Dackelfalten auf der Stirn - trat ein.
»Hab ich dich von was Wichtigem fortgeholt?«, erkundigte sich Oliver.
Hartmut schupfte die Schultern hoch und ließ sie wieder fallen. »Ich war bloß mit meiner Playstation beschäftigt.«
»Hast du schon wieder ein neues Spiel?«, fragte Oliver grinsend. »‚Barbie in der Rumpelkammer’?«
Hartmut schüttelte den Kopf. »Ein Werwolfspiel. Ich sag dir, das ist der Hammer. Echt cool. Geile Effekte. So richtig schön gruselig. Und eine grafische Auflösung zum Niederknien.«
»Setz dich neben mich!«, verlangte Oliver.
Hartmut holte den weißen Klappstuhl, der neben dem Schrank lehnte, ließ ihn aufschnappen und nahm neben seinem Freund Platz. Oliver erzählte ihm, wo er mit Monika gewesen war.
Hartmut grinste. »Sie hat dich begleitet? Das wird Erwin aber gar nicht schmecken.«
Oliver schürzte die Lippen und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Was kümmert mich der.«
»Du würdest viel besser zu Moni passen als er.«
»Wenn ich Glück habe, kommt irgendwann der Tag, an dem sie das genauso sieht.« Oliver erwähnte den Zwischenfall mit dem »Waldschrat«. »Moni hat es mit der Angst zu tun gekriegt«, berichtete er. »Sie wollte nur noch nach Hause.«
»Mädchen sind nun mal ängstlich.«
Oliver räusperte sich. »Wenn ich ehrlich bin, ein bisschen hat sie mich mit ihrer Angst angesteckt.«
Hartmut lachte belustigt. »Mit andern Worten, du hattest ebenfalls die Hosen voll.«
»Das nicht. Aber ganz geheuer war mir nicht.«
»Es gibt keine Waldgeister.«
»Auf jeden Fall war irgendjemand in unserer Nähe.«
Hartmut nickte. »Ein harmloser Pilzesammler. Oder ein ungefährlicher Beerensucher. Oder... vielleicht... ein Werwolf? Ach, nein. Die treiben ja nur in düsteren Vollmondnächten ihr schreckliches Unwesen.« Er deutete auf den 19-Zoll-Flachbildschirm und sagte: »Lass sehen, was für stimmungsvolle Heimatbilder du eingefangen hast. Kennst du eigentlich den Grund, weshalb man Pater Antonius versetzt?«
»Die Gemeinde, die er übernehmen soll, hat ihren Pfarrer verloren.«
»Wodurch?«
»Er ist gestorben«, sagte Oliver.
»War er alt?«
»Erst 51.«
»Woran ist er...?«
»Herzinfarkt«, sagte Oliver. »Er war zu dick.«
»Wieso lässt man Antonius nicht hier und schickt einen anderen Priester an die bayrische Grenze?«, fragte Hartmut verständnislos. »Er verlässt uns doch bestimmt nicht gern.«
»Diese Dinge werden etwas weiter oben entschieden. Darauf haben weder die Gläubigen noch die Priester einen Einfluss. Pater Antonius muss sich fügen.«
»Das ist die falsche Politik, wenn du mich fragst.«
»Jene, die zu entscheiden haben, haben sich bestimmt etwas dabei gedacht, darauf kannst du dich verlassen.« Oliver ließ die Videokamera laufen und überspielte sämtliche Aufnahmen auf die Festplatte.
»Mann, wir wohnen echt in einer traumhaften Gegend«, sagte Hartmut beeindruckt. »Das ist einem - ich fang mich gleich an zu schämen - die meiste Zeit überhaupt nicht bewusst. Weil man diese herrliche Landschaft ständig vor der Nase hat.«
Schloss Herrenfels erschien. Wuchtig, bedrohlich, unheimlich.
Hartmut rümpfte die Nase. »Also dieses abschreckende Bauwerk hätte ich nicht aufgenommen.«
»Ich finde, Herrenfels gehört ebenso dazu wie der Dachsgraben, die stolze Föhre oder die Sprungschanze am Klausenberg.«
Hartmut machte ein Gesicht, als hätte er Essig getrunken. »Die alte Trutzburg ist ein Schandfleck«, behauptete er. »Eine Beleidigung für das Auge. Wenn ich was zu sagen hätte, wäre sie schon längst nicht mehr da.«
Eine der nächsten Szenen war die Aufnahme, die Oliver von Monika gemacht hatte, nachdem sie den Wald hinter sich gelassen hatten. Es folgten das Schattjoch und die Sonnenalm. Dann schaltete Oliver die Kamera ab und zog das Übertragungskabel ab.
»Wirst du das Ganze mit Musik unterlegen?«, fragte Hartmut.
»Versteht sich von selbst«, antwortete Oliver.
»Was schwebt dir vor?«, wollte Hartmut wissen.
»Filmmusik. Von Ennio Morricone.«
Hartmut strahlte. »Genial. Zeig noch einmal die Aufnahme von Moni«, verlangte er.
»Die kommt nicht auf Pater Antonius’ DVD.«
Hartmut nickte. »Schon klar. Ich möchte sie trotzdem noch mal sehen.«
Oliver klickte die Sequenz an.
»Vollbild, bitte«, sagte Hartmut.
Klick. Die Szene begann zu laufen.
Monika hob die Hände vor ihr Gesicht. »Lass das!«, kam es aus den Lautsprechern. - Oliver: »Du bist ein tolles Motiv.« - Monika: »Ich möchte nicht gefilmt werden.« - Oliver: »Warum nicht? Wer so aussieht wie du, gehört vor eine Kamera.« - Ein morscher Ast brach. Monika fuhr herum. »Hast du das gehört?« - Ende der Aufnahme.
»Zeig’s noch mal«, sagte Hartmut.
»Warum?«
»Ich glaube, mir ist etwas aufgefallen.« Hartmut zog den Handrücken unter seiner Nase durch. »Ich bin nicht ganz sicher, ob ich tatsächlich etwas gesehen habe, oder, besser gesagt: jemanden. Im Hintergrund.«
»Mir ist nichts aufgefallen.« Oliver startete die Szene erneut. Gespannt schaute er auf den TFT-Bildschirm.
»Da!«, rief Hartmut plötzlich laut und zeigte auf einen Fleck im düsteren Wald. »Neben dem Baum.«
Oliver stoppte die Aufnahme und ließ sie ein kleines Stück zurücklaufen. Dann - Vorlauf. Noch mal zurück. Wieder vorwärts. Vier-, fünfmal. Dann klickte er auf den Einzelbild-Button.
»Was ist das?«, fragte Hartmut heiser. Es war eine rhetorische Frage, auf die er eigentlich keine Antwort erwartete.
»Ich habe keine Ahnung«, sagte Oliver trotzdem.
»Zoom!«, verlangte Hartmut. »Hol das Ding näher heran.«
»Dadurch wird es aber noch unschärfer.«
»Macht nichts.«
Oliver zoomte.
»Druck es aus!«, sagte Hartmut.
Klick. Klick. Klick. Der Drucker begann zu arbeiten. Die Tintenpatronen tanzten eine Weile Tango. Schließlich spuckte der Drucker das fertige Foto auf Olivers Hand. Er schob das Keyboard von sich und legte das Blatt auf den Schreibtisch. Die Freunde beugten sich darüber.
»Gib mal die Lupe«, sagte Hartmut.
Oliver öffnete eine der Schreibtischladen und griff nach dem Vergrößerungsglas. Sie betrachteten gemeinsam den dunklen Hintergrund der Aufnahme sehr konzentriert.
Hartmut stieß die Luft hörbar aus. »Wenn du mich fragst... Es wäre mir lieber, ich würde mich irren... Aber ich täusche mich nicht. Da steht ein Kerl neben dem Baum. Er blickt in eure Richtung. Von seinem Gesicht ist zwar nicht viel zu erkennen, aber ich habe genug Fantasie, um die Details, die fehlen, ergänzen zu können, und ich muss dir sagen, dass mir das, was ich dann sehe, überhaupt nicht gefällt.« Er schluckte trocken. »Oliver, das ist die Grauen erregendste Fratze, die ich je gesehen habe. Heiliger Bimbam, vor dem Burschen hätte ich mich auch gefürchtet.«
Ein seltsamer Vorfall
Tags darauf betrat Oliver das Café Kammblick. Im Hintergrund spielten Erwin, Andreas und Linus Poolbillard. Hartmut saß gleich rechts neben der Tür allein am Stammtisch der Clique. Lotte, die etwas füllige Serviererin - sie war immer gut aufgelegt, Oliver hatte sie noch nie ernst oder griesgrämig erlebt -, begrüßte ihn lächelnd und fragte: »Wie immer?«
Er nickte und setzte sich zu Hartmut.
Lotte brachte ihm ein Cola light.
»Danke, Lotte.«
»Gern geschehen, mein Hübscher«, sagte die Serviererin und zwinkerte ihm kokett zu.
»Die hat ein Auge auf dich«, behauptete Hartmut, sobald sie außer Hörweite war. Er hatte ein Glas Most vor sich stehen.
»Du spinnst ja«, sagte Oliver.
»Wenn ich es dir sage.«
»Die ist doch viel zu alt für mich.«
»Sie ist 30«, sagte Hartmut.
»Eben. Und außerdem hat sie einen Freund.«
»Nicht mehr«, erwiderte Hartmut. »Du bist nicht auf dem Laufenden, mein Lieber.« Er legte grinsend seinen Arm um Olivers Schultern. »Schlecht informiert bist du gut, was?«
Oliver staunte. »Lotte und Georg sind nicht mehr zusammen? Sie wollten doch in zwei Monaten heiraten.«
»Wie es aussieht, wird Georg nun eine andere heiraten.«
»Wen?«
»Eine aus Salzburg.«
»Woher hast du das?«
»Das pfeifen doch schon die Spatzen von den Dächern. Man muss ihnen nur zuhören.«
Oliver trank einen Schluck. »Pfeifen die Spatzen sonst noch was von den Dächern?«
Hartmut nickte.
»Was denn?«, wollte Oliver wissen.
»Weißt du, was eine Petition ist?«, fragte Hartmut.
»Eine Bittschrift. Eine Eingabe. Ein Gesuch. Führst du hier eine private PISA-Studie durch, oder was?«
»So etwas überlegen sich zurzeit ein paar Leute im Ort.«
»Eine private PISA-Studie?«, fragte Oliver.
»Blödmann. Eine Petition. Sie soll den Bischof veranlassen, von Pater Antonius’ Versetzung abzusehen.«
Oliver schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass das was nutzen wird.«
»Man meint, es wäre einen Versuch wert.«
Oliver nickte. »Das auf jeden Fall. Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Petition auch nur ein einziger nicht unterschreiben wird.«
»Ich schon.«
»Wer?«, fragte Oliver.
Hartmut zeigte durch das Fenster auf Schloss Herrenfels. »Der komische Kauz dort oben.«
»Ach der.« Oliver zog die Mundwinkel abschätzig nach unten. »Ich glaube nicht, dass Albert Herrenfels schon mal eine Kirche von innen gesehen hat.«
Hartmut nickte zustimmend. »Der meidet Gotteshäuser bestimmt wie der Teufel das Weihwasser. Ich halte ihn für einen durch und durch schlechten, charakterlosen Menschen ohne Herz und Gewissen. Es würde mich nicht wundern, wenn er in seinem Schloss den Fürsten der Finsternis anbeten würde.«
»Jetzt übertreibst du aber.«
»Bist du sicher?«
Nun, sicher war Oliver nicht. Deshalb schwieg er mit finsterer Miene. Hartmut wechselte das Thema. Er kam auf das vermeintliche Monster zu sprechen, das Oliver zufällig aufgenommen hatte.
»Ich habe über diesen Furcht erregenden Burschen nachgedacht«, sagte er.
»Und?«
Hartmut trank von seinem Most und wischte sich anschließend mit der Hand über die feuchten Lippen. »Vielleicht sollten wir zur Polizei gehen.«
»Was sollen wir da?«
»Den Beamten den Film zeigen. Oder wenigstens den Ausdruck.«
»Es ist ja kaum was zu erkennen«, sagte Oliver. »Das Monster ist im Grunde genommen lediglich ein Produkt unserer Fantasie. Die Kamera war auf ‚Autofocus’ gestellt. Dadurch ist alles, was sich hinter Monika befindet, unscharf. Vielleicht würdest du ebenso fürchterlich aussehen, wenn du dort oben neben dem Baum gestanden hättest.«
»Wieso ich?«
Oliver zuckte mit den Achseln. »Oder ich.«
»Du meinst also, wir sollten nichts unternehmen.«
»Wenn wir mit diesem dürftigen Beweismaterial zur Polizei gehen, schickt man uns bestimmt wieder nach Hause.«
Hartmut war zwar nicht Olivers Meinung, aber er setzte die Diskussion nicht fort. Er hatte sowieso - wenn sein Gewissen auch rein war - nicht gern mit der Polizei zu tun.
Erwin wurde auf Oliver aufmerksam. Er legte den Billardstock weg und kam mit einem arroganten Zug um den Mund an den Stammtisch. Sein braunes Haar glänzte fettig. Seine Lippen wurden schmal. Es roch nach Ärger.
»Du hast Moni gestern zu einer Wanderung überredet«, sagte er unfreundlich.
»Ich habe sie gefragt, ob sie mitkommt«, gab Oliver zurück. Er sah keinen Grund, weshalb er das nicht hätte tun sollen.
»He, Erwin, sei friedlich«, warf Hartmut dämpfend ein.
»Du hältst dich da besser raus!«, schnauzte Erwin ihn an. Sein Blick hätte Hartmut beinahe erdolcht. Jetzt richtete er ihn wieder auf Oliver. Sein Finger stach in dessen Richtung. »Du hältst dich von nun an von Moni fern, verstanden?«
Oliver reckte trotzig sein Kinn vor. Er hatte keine Angst vor Erwin. »Und wenn nicht?«
Erwin kniff die Augen zusammen. »Hast du schon mal so furchtbare Prügel bezogen, dass man dich ins Krankenhaus bringen musste?«
Oliver schüttelte den Kopf. »Noch nie.«
»Dazu könnte es kommen, wenn du dich über meine Weisung hinwegsetzt.« Er zeigte noch einmal in Olivers Richtung. »Hände weg von Monika. Sie gehört mir.«
Oliver kochte innerlich, aber nach außen hin wirkte er völlig ruhig und gelassen. »Kein Mensch gehört einem andern«, belehrte er den Rivalen.
Lotte roch die dicke Luft. Sie eilte herbei und fragte: »Haben die Herren ein Problem?«
»Ich nicht«, knurrte Erwin. Sein Zeigefinger wies zum dritten Mal auf Oliver. »Er. Er hat ein Problem, wenn er nicht tut, was ich sage.« Damit drehte er sich um und stolzierte zum Billardtisch zurück.
Lotte nickte zufrieden, ging hinter den Tresen und bediente die Kaffeemaschine.
»Idiot«, brummte Hartmut, ohne zum Billardtisch hinüberzusehen. »Nimm dich vor ihm in Acht, Oliver. Er ist gefährlich.«
»Ich fürchte mich nicht vor ihm.«
»Ich habe gesehen, wie er Lukas verdroschen hat. Er hat einen ganz fiesen Kampfstil, und er hört selbst dann nicht auf, wenn sein Gegner bereits wehrlos auf dem Boden liegt, sondern tritt auch noch wie von Sinnen auf ihn ein. Ich kenne keinen, der so gemein und brutal ist wie Erwin Taschner.«
*
Als sie eine Stunde später aus dem Café Kammblick traten, kam ihnen Hanna Wagner entgegen. Die alte, ärmlich gekleidete Frau stützte sich - sehr langsam gehend - auf einen schwarzen Ebenholzstock. Ihr Rücken war gekrümmt, und auf keiner Landkarte befanden sich so viele Linien wie in ihrem liebenswürdigen Gesicht. Sie hatte nicht immer allein gelebt, hatte mal eine Familie gehabt - einen Mann und einen Sohn.
Beide waren bei einem Grubenunglück - in einem Bergwerk, in dem Talk gefördert wurde - ums Leben gekommen, und wenn sie nicht so fromm gewesen wäre, wäre sie wohl an diesem schweren Schicksalsschlag zerbrochen.
Ihr fester Glaube hatte ihr geholfen, nach langen, schweren Trauerjahren darüber hinwegzukommen und in gottgefälliger Demut weiterzuleben.
Oliver und Hartmut grüßten sie freundlich.
»Schickt sich gut, dass ich dich hier treffe, Oliver«, sagte Hanna Wagner.
»Kann ich irgendetwas für Sie tun, Frau Wagner?«, erkundigte er sich hilfsbereit.
Die alte Frau winkte mit leicht zitternder Hand ab. »Hast du schon. Das hast du doch schon, und ich möchte mich ganz herzlich dafür bedanken.«
Oliver sah sie erstaunt an. »Wofür?«
»Na, fürs Holzhacken.«
»Dafür haben Sie sich doch schon bedankt, Frau Wagner.«
»Wann?«
»Vergangenen Monat.«
»Ich spreche nicht vom vergangenen Monat. Ich spreche von gestern. Du hast gestern besonders viel Holz gehackt. Und alles fein säuberlich aufgeschichtet. Der Himmel möge es dir vergelten. Bist ein braver Junge.«
Oliver schüttelte den Kopf. »Ich habe gestern nicht...«
Hanna Wagner fiel ihm ins Wort: »Aber so spät am Abend hättest du es nicht tun sollen. Es war schon ziemlich dunkel. Du hättest dich verletzen können.«
Sie ging weiter. Oliver schaute ihr perplex nach. »Ich habe gestern Abend nicht ihr Holz gehackt«, sagte er zu seinem Freund.
Hartmut schmunzelte. »Vielleicht waren es die Heinzelmännchen. Oder...« Er wippte mit den Augenbrauen. »Oder der Waldschrat.«
Oliver warf ihm einen scharfen Blick zu. »Jetzt hör aber auf!«
*
Hanna Wagner lebte in bescheidensten Verhältnissen. Sie war sehr genügsam, besaß keinen Fernsehapparat, kein Radio und kein Telefon. Und ihr Abendessen war jeden Tag dasselbe: Sie bröckelte in einen Teller mit warmer Milch eine Semmel, streute ein wenig Kristallzucker darüber und aß das Ganze mit einem Löffel. Auch heute machte sie keine Ausnahme. Das hatte nichts mit Faulheit oder Einfallslosigkeit zu tun. Nein, sie aß das immer wieder gern, freute sich jedes Mal aufs Neue auf ihr weiches, warmes, leicht verdauliches Mahl. Nachdem sie satt war, spülte sie das Geschirr, trocknete es ab und stellte es in den Schrank zurück.
Eine tiefe Dunkelheit umschloss ihr Haus wie eine schwarze Faust. Irgendwo bellte ein Hund. Das Tier schien sich über etwas - oder jemanden - sehr zu ärgern. Sein Gebell klang zornig, wild und aggressiv.
Vielleicht ging jemand an dem Grundstück vorbei, den der Hund nicht mochte. Es dauerte eine Weile, bis das Tier sich beruhigte und verstummte.
Bevor Hanna Wagner zu Bett ging, kniete sie sich auf einen Gebetsschemel - es lag ein fünf Zentimeter dicker, mit unterschiedlich gemusterten Stoffresten überzogener Schaumgummipolster darauf -, der vor einer zum Altar umfunktionierten Kommode stand, faltete die knöchernen Hände und sprach zu ihrem Schöpfer, zur Muttergottes und zu mehreren Heiligen.
Sie betete lange und ohne Hast - für ihren Sohn, für ihren Mann und für sich selbst. Schließlich stemmte sie ihre alten Knochen hoch. Sie ächzte, weil ihre Gelenke schmerzten. Es ist nicht nur ein Segen, alt zu werden, dachte sie. Es ist auch eine Last. Sie zog sich aus. Im Bett nahm sie dann den Rosenkranz zur Hand und flüsterte das Apostolische Glaubensbekenntnis, gefolgt von Ehre sei dem Vater, dem Vaterunser und drei Ave Maria. Ein Ritual, das sie jeden Abend wiederholte. Sie hätte nicht einschlafen können, wenn sie darauf verzichtet hätte.
Doch an diesem Abend wurde ihre Andacht gestört.
Schritte. Draußen. Schwer, tappend und schleifend...
Jetzt verharrten sie.
Stille.
Hanna Wagner setzte sich auf. Vor einem Einbrecher brauchte sie sich nicht zu fürchten. Bei ihr gab es nichts zu holen, das war allgemein bekannt.
Und sie war auch schon lange nicht mehr so jung und schön, als dass sich ein Mann für sie interessiert hätte. Oliver fiel ihr ein. War er wiedergekommen, um weiteres Holz zu hacken?
»So spät möchte ich das nicht«, kam es leise über ihre Lippen. »Das ist mir gar nicht Recht, Junge. Am Tag bist du mir jederzeit willkommen. Aber in der Nacht...«
Draußen ging es mit dem Hacken los.
»Mein Gott, Oliver, ich hab dir doch gesagt...«
Sie schlug die Bettdecke zurück.
Die Holzscheite wurden mit wuchtigen Axthieben gespalten.
»Heute schlägt er besonders kräftig zu«, stellte Hanna Wagner murmelnd fest. »Und er arbeitet viel schneller. Als würde er an einem Holzhacker-Wettbewerb teilnehmen. Was soll denn das, Oliver Hartmann?«
Es dauerte eine Weile, bis sie das Bett verlassen hatte. Umständlich zog sie den Schlafrock an, der mindestens vierzig Jahre alt und schon x-mal von ihr geflickt worden war. Sie konnte sich davon nicht trennen, weil sie ihn von ihrem Mann zum Hochzeitstag geschenkt bekommen hatte. Er war damals - für ihre Begriffe - sehr teuer gewesen.
Draußen ging es fortwährend: Tack! Klack! Tack! Klack! Tack! Klack! Tack! Klack! Tack! Klack! Tack! Klack!
Hanna Wagner schüttelte den Kopf. »Er arbeitet wie eine Maschine. Als wollte er sich abreagieren. Ich werde ihn trotzdem bitten, aufzuhören und nach Hause zu gehen. Du kannst morgen gerne wiederkommen, Junge. Aber am Tag. Wenn es hell ist.«
Sie schob ihre nackten Füße in weiche Filzpantoffel und schlurfte zum Fenster. Da sie keinen Stock hatte, stützte sie sich auf alles, was sich dafür eignete.
Und dann schaute sie durch das Fenster dorthin, wo der Hackstock stand. Das Mondlicht übergoss die zügig arbeitende Gestalt mit einer matt glänzenden Silberglasur.
Es war nicht Oliver. Der Junge war nicht so groß und kräftig. Und er hatte auch nicht so breite Schultern. Wer der Mann war, wusste Hanna Wagner nicht.
Sie kannte niemanden, der von hinten so aussah. Aber ein Wildfremder kam doch nicht zu ihr und hackte ihr Holz. Er musste aus dem Ort sein.
Tack! Klack! Tack! Klack! Immer wieder schlug der Mann zu, und die Scheite klapperten links und rechts vom Hackstock zu Boden. Tack! Klack! Tack! Klack!
Jetzt hörte der Mann auf damit. Er legte die Axt weg, sammelte das gehackte Holz auf und legte es auf jenes, welches gestern - vielleicht auch von ihm? - gehackt worden war.
Weiß er, dass ich ihn beobachte?, fragte sich Hanna Wagner. Ich würde zu gern wissen, warum er das tut. Warum hackt er mein Holz? Will er irgendwann Geld dafür? Er wird enttäuscht sein. Ich bin arm wie eine Kirchenmaus.
Jetzt drehte er sich um, und die alte Frau sah zum ersten Mal sein Gesicht. Sie fasste sich entsetzt ans Herz, und ihr stockte der Atem.
Das war kein Gesicht, sondern eine grässliche Fratze - bleich, von roten, wulstigen Narben entstellt, mit einer unvollständigen Oberlippe, die die kräftigen, weiß schimmernden Zähne nicht bedeckte. Dadurch war das grauenvoll verzerrte Horror-Antlitz dazu verdammt, ewig zu grinsen, und die schwarzen Augen funkelten wie große, kalte Kohlenstücke.
Mit dieser Furcht erregenden Visage hätte der Mann auf Rummelplätzen in den besten Gruselschlössern arbeiten können. Er wäre da der absolute Hit gewesen.
Hanna Wagner taumelte, sich immer wieder in panischer Furcht bekreuzigend, zurück. »Oh, mein Gott... Oh, mein Gott... Oh, Gott, steh mir bei...!«, flehte sie. »Da draußen ist der Leibhaftige... Der Versucher... Der Beelzebub... Der Widersacher... Der Teufel... Der Gottseibeiuns... Der Antichrist... Luzifer...« Sie schwankte, drohte zu stürzen. «Der - der - der Satan hat mein Holz gehackt!«, stotterte sie, verrückt vor Angst.
Der erste Besucher
Der mysteriöse Holzhacker bemerkte die alte Frau nicht. Er rieb seine Hände längere Zeit an seinem Gesäß - als wären sie bei der Arbeit sehr schmutzig geworden und er wollte sie so gründlich wie möglich säubern -, nahm dann die Axt, legte sie auf den Holzstapel und entfernte sich mit ungelenken Schritten.
Er ging so, als wäre es ihm nur sehr schwer möglich, seine Bewegungen richtig zu koordinieren. Steif. Eckig. Torkelnd. Unrund. Und das rechte Bein zog er etwas hinter sich her. Zombies gingen so - in Horror-Filmen.
Je weiter sich der Unbekannte von Hanna Wagners Haus entfernte, desto mehr umhüllte ihn die Nacht mit ihrem schwarzen Mantel. Und schließlich verschwand er vollends in der Dunkelheit, war weg, als hätte es ihn nie gegeben.
Als hätte er sich in der Finsternis komplett aufgelöst. Nur seine schleifenden, tappenden Schritte durchdrangen noch die Stille. Gespenstisch hörte sich das an.
Sobald der Mann im Wald war, blieb er stehen. Er lehnte sich an einen Baum, hob die Hände vor seine Augen und betrachtete sie, als wären sie ihm völlig fremd. Als würde er sie jetzt zum ersten Mal sehen.
»Gut«, gurgelte er mit einem ganz dicken Frosch im Hals. »Gut.« Er legte die Hände auf sein entstelltes Gesicht und befingerte seine wulstigen Narben. »Hansss«, sagte er zischend, weil ihm ein Teil der Oberlippe fehlte. »Hansss... gut.« Er ließ die Hände langsam von seinem hässlichen Antlitz gleiten, löste sich vom Baumstamm und setzte seinen Weg fort. »Hansss... heim«, murmelte er. »Hansss muss heim.«
Das Sprechen schien ihm genauso schwer zu fallen wie - zeitweise - das Gehen. Er war offenbar eine bedauernswerte Kreatur mit dem Intellekt eines geistig behinderten Kindes.
Scheinbar orientierungslos stakste er durch den Wald, ohne sich um den Weg zu kümmern. Er ging einfach, wie es ihm gerade in den Sinn kam - mal in Schlangenlinien, mal im Zickzack, dann wieder ein Stück geradeaus.
Was wäre wohl passiert, wenn ihm jemand - was in der Nacht kaum zu befürchten war - begegnet wäre? Wie hätte er reagiert? Wie hätte er sich in diesem Fall verhalten? Das wusste wohl niemand. Und am allerwenigsten Hansss selbst.
Dass er ein Ziel hatte, war nicht zu erkennen. Dennoch hatte er eins...
*
Heino Fechter - Dr. Heino Fechter - warf einen Blick auf das Armaturenbrett. Der Tank war noch halb voll. Trotzdem steuerte er die Tankstelle an, die kurz vor der Ortseinfahrt in Sicht kam. Es gehörte zu seinen tief verwurzelten, in Fleisch und Blut übergegangenen Gewohnheiten, den Tank immer dann aufzufüllen, wenn der Zeiger auf »Halb« stand.
So kam er nie in die missliche Lage, mal irgendwo - womöglich in einer gottverlassenen Gegend - mit leergefahrenem Tank hängenzubleiben.
Während der Treibstoff in den Tank blubberte, reinigte Dr. Fechter die Windschutzscheibe seines silbergrauen Mercedes SLR 722 Edition.
Heino Fechter war eine elegante Erscheinung. Er trug teure sportliche Kleidung und eine Baseballmütze mit der Aufschrift »I Love New York« - das »Love« war durch ein rotes Herz ersetzt - auf dem Kopf.
Als er zahlen ging, sagte der Tankwart beeindruckt: »Schmuckes Wägelchen, das Sie da fahren. Wie sind Sie damit zufrieden?«
»Sehr«, antwortete Heino Fechter.
»V8-Maschine. In 3,6 Sekunden von 0 auf 100. Rear Wheel Drive. Spitzengeschwindigkeit 337 km/h.”
Fechter lachte. »Sie wissen gut Bescheid.«
»Von diesem Auto träume ich, seit es auf dem Markt ist. Leider kann ich es mir nicht leisten. Mir fehlt das nötige Kleingeld. Vielleicht überfalle ich mal eine Bank.«
»Oder eine Tankstelle«, sagte Dr. Fechter schmunzelnd.
»Also das zahlt sich nicht aus. Darf ich fragen, was Sie beruflich machen?«
»Ich bin Schönheitschirurg.«
Der Tankwart hob die Hände und drehte die Handflächen grinsend nach vorn. »Alles klar.«
»Ist die Auffahrt nach Schloss Herrenfels gut beschildert?«, erkundigte sich Fechter.
Der Tankwart staunte. »Wollen Sie da etwa hinauf?«
Heino Fechter nickte. »Das ist meine Absicht.«
Der Tankwart rümpfte die Nase, als hätte er soeben einen unangenehmen Geruch wahrgenommen und kratzte sich am Hinterkopf.
Dr. Fechter lachte. »Das scheint Ihnen nicht zu gefallen.«
»Na ja.« Der Tankwart überlegte, ob er den Mund halten oder weitersprechen sollte. Er entschied sich für Letzteres. »Ich hab - irgendwie - ein gestörtes Verhältnis zum Schloss. Das haben eigentlich alle im Ort.«
»Weshalb?«, fragte Dr. Fechter.
Der Tankwart zog die Augenbrauen zusammen. »Es liegt an dem Mann, der im Schloss wohnt.«
»An Albert Herrenfels.«
»Genau.«
»Dann hat er sich wohl nicht geändert.«
»Sie kennen ihn?«, fragte der Tankwart überrascht.
»Ich habe mit ihm studiert«, erklärte Dr. Fechter. »Er war schon früher ein recht komischer Kauz. Hatte stets die abstrusesten Ideen. Wir haben ihn nie ernst genommen. Haben ihn oft ausgelacht. Aber er hat fest an seine Verrücktheiten geglaubt und war felsenfest davon überzeugt, sie irgendwann einmal realisieren zu können. Oder zumindest einige davon.«
»Die Auffahrt zum Schloss ist gut beschildert«, sagte der Tankwart. »Ich weiß eigentlich nicht, wozu. Albert Herrenfels will ja doch niemanden sehen.«
»Mich hat er eingeladen.«
»Dann wünsche ich Ihnen einen angenehmen Aufenthalt auf Schloss Herrenfels.« Seltsamerweise hörte sich das, was der Tankwart sagte, so an, als würde er dem Kunden viel Glück wünschen, weil er wusste, dass er es brauchen würde.
*
Das Erlebnis mit dem »Waldschrat« ging Oliver nicht aus dem Sinn. Er sah sich immer wieder die Videoaufnahme an und versuchte am Computer alles, um von dem geheimnisvollen Beobachter im Wald ein schärferes Bild zu bekommen. Es gelang ihm nicht. Er trat ans Fenster und blickte zum Wald hinüber. Wer bist du?, ging es ihm durch den Sinn. Was suchst du in diesem Wald? Woher kommst du? Was wolltest du von Moni und mir? Waren wir in Gefahr? Hattest du die Absicht, uns etwas anzutun?
Hartmut hatte vorgeschlagen, zur Polizei zu gehen, doch davon hielt Oliver noch immer nichts. Wohl aber davon, der mysteriösen Sache selbst auf den Grund zu gehen.
Es drängte ihn immer stärker zu diesem Wagnis. Er wollte das Geheimnis des Unbekannten unbedingt lüften. Das wurde bei ihm innerhalb kürzester Zeit zu einer wahren Obsession. Sein Blick wanderte nach oben, zum Schattjoch hinauf, und noch ein Stück höher. Dunkelgraue Wolken hingen über dem schroffen Massiv. Schwer. Wie schmutzige Watte.
Es sah nach Regen aus. Doch das war für Oliver kein Grund, zuhause zu bleiben. Es gibt kein schlechtes Wetter. Es gibt nur schlechte Kleidung. Das war Olivers Meinung.
Er holte die Regenjacke aus dem Schrank, zog sie an und steckte zwei Schokoriegel ein - Proviant für ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang.
Olivers Handy klingelte. Er holte es aus der Hosentasche. Hartmut war der Anrufer. Er, der allzeit gut Informierte, hatte mal wieder eine große Neuigkeit für seinen Freund.
»Jemand hat Hanna Wagner in der vergangenen Nacht zu Tode erschreckt«, erzählte er.
»Wer?«
»Die arme Frau glaubt ganz fest, den Teufel gesehen zu haben«, berichtete Hartmut. »Sie war noch in der Nacht bei Pater Antonius, hat ihn aus dem Bett geholt und ihn zitternd und weinend um Schutz gebeten.«
»Was ist genau passiert?«, fragte Oliver gespannt.
»Es war wieder jemand bei Hanna Wagner und hat für sie Holz gehackt«, sagte Hartmut. »Diesmal hat sie den hilfsbereiten Zeitgenossen gesehen, und das hätte sie beinahe das Leben gekostet. Der Schock raubte ihr das Bewusstsein. Sie wurde kurz ohnmächtig. Als sie zu sich kam, war der schreckliche Spuk zwar vorbei, aber Hanna Wagner brauchte danach unbedingt priesterlichen Beistand, deshalb eilte sie, so schnell ihre alten Beine sie trugen, zu Pater Antonius. Sie blieb die ganze Nacht im Pfarrhaus. Erst heute Morgen wagte sie sich wieder nach Hause, und sie erzählte auf dem Heimweg jedem, dem sie begegnete, von ihrem entsetzlichen Erlebnis - dass ihr der Leibhaftige erschienen sei.«
»Hat sie den geheimnisvollen Holzhacker beschrieben?«, wollte Oliver wissen. Sein Herz schlug schneller. Er nagte an der Unterlippe, konnte nicht ruhig stehen, lief in seinem Zimmer aufgeregt hin und her.
»Das hat sie«, antwortete Hartmut.
»Wie sah er aus?«
»Es war der Waldschrat, Oliver«, sagte Hartmut sehr ernst. »Der Kerl, den du zufällig gefilmt hast, der Monika und dich im Wald heimlich beobachtet hat. Bist du immer noch der Meinung, wir sollten nicht zur Polizei gehen?«
»Ja.«
»Der Streuner beschränkt seine Umtriebe nicht bloß auf den Wald, er kommt auch in unseren Ort, und das macht mir Sorgen, Oliver. Vielleicht steht er schon morgen Nacht in deinem Zimmer. Oder in meinem - und das muss ich nun überhaupt nicht haben.«
»Lass mir noch etwas Zeit, Hartmut.«
»Auf was willst du warten?« Stille am andern Ende. Dann Hartmut, ziemlich argwöhnisch: »Oliver, hast du irgendetwas vor, wovon ich nichts weiß?«
Oliver behauptete, nichts vorzuhaben. Es war eine Notlüge, weil er nicht wollte, dass ihn sein Freund von seinem Vorhaben - das möglicherweise nicht ganz ungefährlich war - abzubringen versuchte. Hartmut konnte das nämlich sehr gut und mit irre vielen Worten, zwischen denen er kein einziges Mal Luft holte, wenn er etwas unbedingt erreichen wollte.
*
Die Straße war steil und nicht asphaltiert. Schmal und kurvenreich schlängelte sie sich durch den dichten Mischwald. Dr. Fechters Mercedes ratterte über eine alte Holzbrücke, unter der das Wasser eines Baches gurgelte, sprudelte und schäumte. Schloss Herrenfels war im Moment nicht zu sehen. Der Schönheitschirurg zog seinen Wagen in die nächste enge Kurve - und dann gähnte plötzlich, direkt vor ihm, ein tiefes Schlagloch.
Er riss das Fahrzeug nach links, um nicht in die - für das Fahrwerk - gefährliche Vertiefung zu rumpeln, und touchierte dadurch mit einem mannshohen Felsen, der an dieser Stelle die Straße begrenzte. Das Blech machte sich mit einem hässlich kreischenden Geräusch bemerkbar.
»Mist!«, zischte Heino Fechter und bremste scharf ab.
Am Schlagloch war er zwar ganz knapp vorbeigekommen, nicht aber an dem verflixten Stein. Heino Fechter stieg aus, um sich den Schaden anzusehen.
Das Blech war vor und nach dem linken Vorderrad zerkratzt und deformiert. Aber zum Glück nicht so sehr, dass der Wagen fahruntüchtig gewesen wäre. Dr. Fechter schloss die Augen und atmete mehrmals tief durch, um sich zu beruhigen.
»Komm runter«, sagte er leise. »Reg dich nicht auf. Es ist ja nur ein Auto. Und es ist vollkaskoversichert. Ohne Selbstbehalt. Die Versicherungsgesellschaft wird die Reparatur anstandslos bezahlen, und der Mercedes wird wieder wie neu aussehen. Sei froh, dass dir nichts passiert ist.« Aber er kam nicht so schnell darüber hinweg. Immerhin besaß er den Wagen noch nicht lange - noch nicht einmal ein halbes Jahr. »Es stimmt«, murmelte er. »The first cut is the deepest. Der erste Kratzer tut wahrlich am meisten weh...«
Ein Geräusch ließ ihn jäh verstummen.
Er fuhr herum. »Ist da jemand?«
Stille. Frieden. Waldesruh.
Heino Fechter kniff dennoch misstrauisch die Augen zusammen. Er fühlte sich beobachtet, und er war sicher, dass er sich das nicht bloß einbildete.
»He!«, rief er. »Wer ist da?«
Er hörte das Schleifen und Wischen von Blättern, und im Unterholz bewegten sich verräterisch Zweige. Ihm war mit einem Mal, als hörte er ein unheimliches Raunen und Wispern durch den Wald wehen, und er bekam davon eine Gänsehaut. Es ließ sich nicht verhindern. Er stieg rasch in seinen Wagen und setzte die Fahrt fort. Nach vier weiteren Kehren tauchte vor ihm Schloss Herrenfels auf, ein gewaltiges, düsteres, spürbar »unfreundliches« Bauwerk, das sich schon seit Menschengedenken im Besitz derer von Herrenfels befand und das nun Albert Herrenfels - dem letzten Spross der Dynastie - gehörte. Das große, eisenbeschlagene Tor war geschlossen.
Dr. Fechter ließ den Mercedes davor ausrollen, hupte und wartete. Es dauerte nicht lange, da öffnete sich das Tor wie von Geisterhand bewegt.
Niemand war zu sehen. Fechter fuhr in den Innenhof des Schlosses und stieg aus. Hinter ihm schlossen die »Geister« das Tor wieder. Ein dumpfer Knall hallte von den umliegenden Fassaden wider.
»Willkommen auf Schloss Herrenfels«, sprach jemand den Schönheitschirurgen mit hohler Stimme an.
Fechter zuckte unwillkürlich zusammen. Er drehte sich um und erblickte einen steinalten Mann mit schlohweißem Haar in einem taubengrauen Anzug.
Sein Rücken war gekrümmt. Er konnte sich nicht mehr gerade halten. Er hatte lange, knotige Finger und unzählige braune Altersflecken auf den Händen.
Sein Gesicht war so teigig, als würde er normalerweise das Tageslicht - wie ein Vampir aus transsylvanischen Gefilden - unbedingt meiden.
»Ich bin Bernard«, sagte der Alte. »Herrn Herrenfels’ Diener.«
»Guten Tag, Bernhard.«
Der Diener schüttelte den Kopf. »Nicht Bernhard. Bernard. Ohne ‚h’.«
»Bernard.«
Der Diener nickte zufrieden. »Ja.« Er machte eine einladende Geste. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen. Um Ihr Gepäck kümmere ich mich später.«
»Ich kann meine Reisetasche selbst tragen.«
»Lassen Sie nur«, wehrte Bernard ab. »Ich bin nicht so schwach, wie ich aussehe.«
Der Diener führte den Gast in eine Halle, deren Ausmaße so manche Kleinstadt-Bahnhofshalle nicht erreichte. An den Wänden hingen Albert Herrenfels’ Ahnen.
In Öl. Von prunkvollen Goldrahmen umgeben. Sie blickten den Betrachter alle, ohne Ausnahme, sehr ernst an - als hätten sie in ihrem ganzen Leben nie etwas zu lachen gehabt.
Der Humor, der für gewöhnlich das Herz der Menschen erfreut und Balsam für die Seele ist, schien in diesem Haus von Anfang an unerwünscht gewesen zu sein.
»Ziemlich düster hier drinnen«, stellte Dr. Fechter fest.
Bernard nickte. »Auf Herrn Herrenfels’ ausdrücklichen Wunsch.«
»Hat er was mit den Augen?«
»Nein.«
»Irgendein Leiden?«
Bernard schüttelte den Kopf. »Kein Leiden.«
»Wieso ist er dann so lichtscheu? Das war er doch früher nicht.«
Bernard zuckte mit den Achseln. »Er fühlt sich einfach wohler, wenn es nicht so hell ist. Sie werden sich daran gewöhnen.« Der Diener bat Heino Fechter, sich einen Moment zu gedulden, er wolle seinem Brötchengeber melden, dass er eingetroffen sei. Der Schönheitschirurg sah sich inzwischen in der Halle um.
Hier könnte man einen Gruselfilm drehen, dachte er. Regie: Wes Craven. Oder John Carpenter. Eventuell auch Brian de Palma. Oder Sam Raimi.
»Heino.«
Fechter zog die Luft scharf ein und fuhr herum. Zwei Armlängen von ihm entfernt stand Albert Herrenfels. So steif, als hätte man ihn an eine Haushaltsleiter gebunden. Er trug einen schwarzen Anzug. Dazu ein weißes Hemd und eine schwarze Krawatte. Als wäre er in Trauer.
»Liebe Güte, hast du mich erschreckt«, stieß Heino Fechter gepresst hervor.
»Das tut mir Leid«, sagte Albert Herrenfels, aber es hörte sich nicht so an, als wäre es wahr.
»Ich habe dich nicht kommen gehört«, sagte der Schönheitschirurg verwundert. »Bist du geschwebt?«
Herrenfels lachte. »Ich bin doch kein Engel.«
Nein, dachte Dr. Fechter. Das bist du nicht. Warst du auch nie. Hast während unserer gemeinsamen Studienzeit Menschen und Tiere psychisch und physisch gequält und mit deinen kruden Ideen manchmal sogar Gott gelästert.
Herrenfels trat näher und streckte Fechter die Hand entgegen. »Freut mich, dass du meine Einladung angenommen hast.«
Dr. Fechter ergriff die Hand und hatte das Gefühl, einen toten Fisch zu schütteln. »Ich muss gestehen, du hast meine Neugier geweckt. Hast du wirklich einen Meilenstein gesetzt, der die Welt aufhorchen lassen wird?«
Albert Herrenfels nickte. Es lag ein wenig Arroganz in dieser vagen Kopfbewegung. »Das ist mir in der Tat gelungen.«
»Was hast du getan?«
»Es ist noch zu früh, darüber zu sprechen.«
»Komm schon«, bedrängte Fechter den Schlossherren wissbegierig, »mach wenigstens eine Andeutung.«
»Du wirst vom Ergebnis meiner sensationellen Forschung erfahren, sobald wir vollzählig sind.«
Fechter horchte auf. »Vollzählig? Hast du etwa außer mir noch jemanden eingeladen?«
Herrenfels nickte abermals. »Das habe ich.«
»Wen?«
»Thomas Raich und Axel Schild«, antwortete Herrenfels. »Sobald sie hier sind, ist das Kleeblatt, das wir mal gebildet haben, wieder komplett.« Er musterte sein Gegenüber mit einem kalten Blick. »Du siehst gut aus.«
»Vielen Dank.«
»Hast dich kaum verändert«, stellte Herrenfels fest.
»Du auch nicht«, gab Fechter zurück. »Nur etwas blasser bist du geworden.« Er lachte. »Früher mal war nur der Pöbel braun gebrannt. Die Bauern. Das arbeitende Volk. Die feinen hochwohlgeborenen Damen und Herren hingegen warteten mit vornehmer Blässe auf.« Er deutete auf das Gesicht des Schlossherrn. »So wie du.« Seine Miene wurde nachdenklich. »Thomas Raich und Axel Schild. Mein Gott, ist das lange her. Wir waren nicht immer sehr nett zu dir. Manchmal haben wir dich sogar ziemlich garstig behandelt.«
Herrenfels winkte ab. »Das ist Schnee von gestern.«
»Ich bin froh, dass du nicht nachtragend bist. Wir haben dich ausgelacht und verspottet. Heute tut mir das Leid. Aber deine verworrenen, absonderlichen, bisweilen unfassbaren Ideen waren ja auch wirklich kaum zu verdauen.« Er machte eine kurze Pause. Dann fragte er: »Darf ich ehrlich sein, Albert?«
»Natürlich.«
»Ich habe dich hin und wieder wirklich für verrückt gehalten. Für den geistig total degenerierten Nachkommen eines inzestuösen Geschlechts, in dem in früheren Generationen zu viel durcheinander geheiratet worden war. Ich hoffe, du nimmst mir das nicht übel.«
Herrenfels schüttelte den Kopf. »Tu ich nicht.«
»Im Ort spricht man nicht besonders gut über dich.«
»Ich weiß.«
»Stört dich das nicht?«
Herrenfels’ Blick verfinsterte sich. »Soll ich mich vielleicht ins Wirtshaus setzen und mich mit diesen primitiven, schulterklopfenden Holzköpfen verbrüdern?«
Freund, mit deiner arroganten Art stehst du ziemlich allein da, dachte Dr. Fechter. Wieso glaubst du, das Recht zu haben, so überheblich sein zu dürfen? Weil du reich bist? Weil du in einem Schloss wohnst? Weil du ein Spross derer von Herrenfels bist? Hältst du dich wirklich für so viel besser als die rechtschaffenen Menschen, die dort unten leben? Mann, ich hoffe, es war kein Fehler, hierher zu kommen. Du hast dich offenbar kein bisschen geändert. Deine negativen Eigenschaften scheinen sich in den Jahren, die wir einander nicht gesehen haben, sogar noch verstärkt zu haben. Wenn du nicht auch Thomas und Axel eingeladen hättest, könnte ich glatt in Erwägung ziehen, noch heute wieder abzureisen.
Er fing einen Blick von Herrenfels auf, der ihm auf eine ganz merkwürdige Weise unter die Haut ging. Hatte Albert seine Gedanken gelesen?
Das wäre ihm höchst unangenehm gewesen.
Und: Wieso hatte er das Gefühl, Alberts Augen würden sagen: »Mach dir keine Hoffnungen. Hier kommst du nicht mehr weg.«?
Der geheimnisvolle Dieb
Oliver stieg auf sein Mountainbike und radelte los. Monika stand vor der Kirche. Sie unterhielt sich mit dem Pfarrer. Oliver winkte ihr, aber sie sah es nicht. Deshalb winkte sie auch nicht zurück. Ihm fiel unwillkürlich Erwin ein. Der eingebildete Affe hält Moni doch glatt für seinen Besitz, ging es ihm durch den Kopf. Pah. Dass ich nicht lache. Ich unternehme etwas mit ihr, wann immer sie damit einverstanden ist, Kotzbrocken. Das lasse ich mir von dir nicht verbieten.
Er verließ den Ort, bog am Sägewerk links ab und blickte kurz zum Himmel hinauf. Die dunkelgrauen Wolken über dem Schattjoch, die ihn veranlasst hatten, die Regenjacke anzuziehen, hatten sich verzogen. Der Himmel war jetzt strahlend blau, und die Sonne meinte es so gut, dass Oliver anhielt und die Jacke auszog, bevor er anfing zu schwitzen.
Er rollte den Regenschutz sorgfältig zusammen und schob ihn unter die Gummibänder des Gepäckträgers. Dann stieg er wieder aufs Rad und fuhr weiter. Der Weg gabelte sich. Links ging es zu einer kleinen Kapelle, rechts in den Wald.
»Wenn du rechts fährst, beschwörst du möglicherweise eine Gefahr herauf, deren Ausmaße du noch nicht einmal ansatzweise kennst«, raunte eine Stimme in ihm. »Fahr links.«
»Was soll ich da?«, gab er im Geist zurück. »Ich will nicht zur Kapelle.«
»Dann kehr um. Fahr auf keinen Fall in den Wald.«
»Aber genau deshalb bin ich losgefahren.«
»Du wirst es bereuen.«
Oliver bremste kurz. Dann trat er das Pedal trotzig durch. Er hatte sich etwas vorgenommen, und davor wollte er jetzt nicht kneifen. Ich zieh mein Ding wie geplant durch, dachte er starrsinnig und lenkte sein Mountainbike entschlossen in den Wald hinein, der ihm heute besonders düster vorkam.