15,99 €
Wissenschaftlicher Aufsatz aus dem Jahr 2016 im Fachbereich Didaktik für das Fach Deutsch - Literatur, Werke, , Sprache: Deutsch, Abstract: Der Text beginnt mit der Aussage "Wir haben einen neuen Advokaten, [...]." Das sprechende Subjekt "wir" ist der Narrator, der in dem den inneren Monolog einleitenden Hauptsatz zwar in der 1. Person Singular Präsens sprechen sollte, die Ich-Aussage des Erzählers aber umgeht und statt "ich" zunächst "wir" sagt. Der Plural "wir" des Personalpronomens zeigt, dass die namen-lose Erzählinstanz denjenigen angehört, die das "Barreau" bilden, also einer Gruppe von Advokaten, die in einem "Bureau" zusammenarbeiten und jetzt einen neuen Mitarbeiter haben. Dessen Name lautet "Dr. Bucephalus". Der Bucephalus war vor seiner Verwandlung in einen Juristen in grauen Vorzeit das "Streitroß Alexanders von Mazedonien". Dieses Halbwesen aus Pferd und Mensch beobachtet der Ich-Erzähler nun und macht sich so seine Gedanken. Den echten Bucephalus hat der große Alexander auf seinem Asienfeldzug geritten, das "Königsschwert" in der Hand mit Zielrichtung auf "Indiens Tore". Da es in der heutigen Gesellschaftsordnung, d.h. der Gegenwart des Ich-Erzählers, Indien aber nicht mehr zu erobern gilt, bleibt dem Bucephalus nichts anderes übrig, als sich "in die Gesetzbücher zu versenken". Der Narrator monologisiert in "Der neue Advokat" nur eingangs über den Dr. Bucephalus, der das alte Streitross auch in seiner transformierten Gestalt als Anwalt nicht verleugnen kann. Der Zwiespalt zwischen menschlicher und tierischer Identität dient dem Erzähler jedoch lediglich als Auslöser einer Reflexion über die Richtungslosigkeit der modernen Zeit. Das erzählende Ich räsoniert über die von ihm erlebte "Gesellschaftsordnung". Bei der Beurteilung seiner heutigen Zeit hat das Ich den Buce-phalus als agierendes Subjekt an den Rand gedrängt. Im Mittelpunkt seiner Gesellschaftskritik steht die Klage des Ich-Erzählers, heute gebe es keinen großen Alexander mehr und "niemand, niemand kann nach Indien führen." Hinter dem Räsonnement des Narrators steht nach meiner Deutung Kafkas Diagnose seiner Zeit. Aufgrund dieser Diagnose einer fundamentalen Orientierungslosigkeit,, die man auch ontologische Bodenlosigkeit nennen könnte, verbinden sich in "Der neue Advokat" Kafkas Kritik an der Neuzeit und sein messianischer Anspruch. Wenn sich das Ich am Textende, wie der Buce-phalus, in die stille Stube zurückzieht, wird der Ich-Erzähler zu einer Figur des Scheiternden. Abgesehen von den minimalen narrativen Zügen am Anfang besteht der Text also im Wesentlichen aus einer "aporetischen Selbstdiagnose" (Binder).
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Impressum:
Copyright (c) 2015 GRIN Verlag / Open Publishing GmbH, alle Inhalte urheberrechtlich geschützt. Kopieren und verbreiten nur mit Genehmigung des Verlags.
Bei GRIN macht sich Ihr Wissen bezahlt! Wir veröffentlichen kostenlos Ihre Haus-, Bachelor- und Masterarbeiten.
Jetzt bei www.grin.com
Inhaltsverzeichnis
1. Einordnung des Textes Der neue Advokat in Kafkas Gesamtwerk
2. Ich-Erzählform und personales Erzählverhalten
3. formale und inhaltliche Analyse des Textes Der neue Advokat
3.1 1. Absatz
3.2 2. Absatz
3.3 3. Absatz
4. (m)eine hermeneutische Deutung
5. Deutungen anderer Interpreten
Literaturverzeichnis
Ich zitiere Der neue Advokat nach dem von Max Brod in den Erzählungen heraus-gegebenen Text.[1] Der ist identisch mit der von Paul Raabe besorgten Taschenbuch-ausgabe der Sämtlichen Erzählungen.[2] Beide Texte unterscheiden sich lediglich in zwei Rechtschreibungen, Brod: Mazedonien und Barreau vs. Raabe: Macedonien und Bureau.
In seinem Nachwort gibt Brod den bibliographischen Hinweis, Der neue Advokat sei erstmals „zusammen mit Ein altes Blatt und Ein Brudermord“ in der von Theodor Tagger herausgegebenen Zweimonatsschrift Marsyas im Juni/ August 1917 und zwei Jahre später in dem von Kurt Wolff 1919 edierten Sammelband Ein Landarzt. Kleine Erzählungen erschienen.[3]
Raabe liefert mehr Informationen als Brod zur Entstehung des Landarzt-Bandes. Der sei nach Betrachtung (1913) der „zweite Erzählungsband“[4], Kafka habe dem Verleger Kurt Wolff im Sommer 1917 15 Prosastücke zugeschickt, den genauen Titel Ein Landarzt und den Untertitel Kleine Erzählungen vorgeschlagen sowie die im Inhaltsverzeichnis festgelegte Reihenfolge der Texte. Einzig den Kübelreiter habe Kafka später zurückgezogen.[5] Max Brod hat den Kübelreiter dann als eine von Kafka nicht in Bücher aufgenommene Erzählung in der Beschreibung eines Kampfes veröf-fentlicht.[6]
Schreibt Raabe noch im Nachwort zu Sämtliche Erzählungen von einer „Nieder-schrift im ersten Oktavheft (H 59), also im Februar 1917“[7], bezeichnet die Forschung die Fundstelle des neuen Advokaten heute anders. Claudine Raboin informiert: „Zwi-schen dem 30. Oktober 1916 und dem 6. April 1917 schreibt Kafka nichts mehr in sein Tagebuch, sondern benutzt die ersten drei <Blauen Oktavhefte>, das heißt die Hefte A (vormals <Das siebte Oktavheft>), B (<Das erste Oktavheft>) und C (<Das sechste Oktavheft>). […] In diese kleinen Hefte begann Kafka zu schreiben, als er ab Ende 1916 in dem Häuschen in der Alchemistengasse arbeitete, das ihm seine Schwester Ottla zur Verfügung gestellt hatte.“[8]
Oliver Jahraus vertritt in seinem Kafka-Buch zwar die Meinung: „Es ist keineswegs der Fall, dass derjenige, der Kafkas Leben kennt, seine Werke besser interpretieren könnte. Er wird sie nur anders interpretieren.“[9]
Dennoch will ich zum besseren Verständnis von Der neue Advokat kurz auf den biographischen Hintergrund eingehen. Über Kafkas „Arbeit im Alchimistengässchen“ schreibt Gerhard Neumann: „Die starke Schaffensphase, in die Kafka nach beinahe zweijährigem Stocken der Produktion während der Wintermonate 1916/17 gerät, re-sultiert aus vier miteinander verflochtenen Erfahrungszusammenhängen: dem ersten Versuch einer räumlichen Trennung von der Familie (beginnend mit dem Auszug aus der elterlichen Wohnung im August 1914); den zunehmenden Komplikationen des Verhältnisses zur Berliner Verlobten Felice Bauer, die schließlich im Abbruch des Briefkontaktes im Dezember 1916 gipfeln; der Bedrohung sozialer Ordnungen durch den Krieg und den Tod Kaiser Franz Josephs am 21. November 1916; dem Unter-nehmen schließlich, das eigene künstlerische Schaffen zu reflektieren, dem Schei-tern der großangelegten epischen Versuche (Der Verschollene, Der Prozeß) kleine, in sich gerundete Textformen entgegenzusetzen.“[10]
Klaus Wagenbach erklärt das „neue[n] Arbeitsdomizil“[11] so: „Er [i.e. Kafka] nimmt das Angebot seiner Schwester Ottla an, abends und nachts in ihrem kleinen Haus in der Alchimistengasse auf dem Hradschin zu arbeiten, das sie für sich gemietet hatte. Es war eines der winzigen Häuser (eigentlich nur aus einem Zimmer bestehend), die im Spätmittelalter in die Bogen der Burgmauer eingebaut wurden und ursprünglich den Bewachungsmannschaften der Burg als Logis dienten.“[12]
Reiner Stach schreibt über den „Katastrophenwinter“[13] im Goldenen Gässchen: „[…] selbst der bedrohliche Mangel an Kohlen (nächtliches Heizen war bereits ver-boten) konnte ihn [i. e. Kafka] nicht davon abhalten, so lange wie möglich in seinem neuen Refugium auszuharren. Als Brod ihn einmal dort oben besuchte und sich ein wenig vorlesen ließ […], staunte er über diese „Klosterzelle eines wirklichen Dichters“ und gewann den Eindruck, Kafka leide unter dem Grauen des dritten Kriegswinters weniger als er selbst.“ Stach führt weiter aus: „Überliefert sind aus diesem Winter 1916/17 insgesamt vier unlinierte Oktavhefte zu je 80 Seiten: ein kleines, handliches Format, geeignet, in der Brusttasche durch die Stadt getragen zu werden. Zwei klei-ne Hefte, die Kafka benutzt haben muss, sind verschollen.“ Kafka habe die Kladden („die Kafka-Philologie spricht von den <Oktavheften A bis D>“) bis zur letzten Seite vollgeschrieben.[14]
Wagenbach nennt die Jahreswende als Entstehungszeit der Landarzt-Texte: „In diesem Winter 1916/17 beginnt Kafka die acht <Oktavhefte> (in die Monate Novem-ber bis Februar fallen das sogenannte 7. und 1. Oktavheft).“ In diesen zwei Heften stehen nach Wagenbach „unter anderem das dramatische Fragment Die Gruftwäch-ter und die Erzählungen Die Brücke, Der Jäger Gracchus, Der Kübelreiter, Schakale und Araber und Der neue Advokat.“[15]
Sabine Schindler schreibt, die meisten Geschichten aus dem Winter 1916/17 fän-den sich in den acht kleinformatigen Oktavheften, „die von Malcom Pasley der bes-seren Übersicht halber mit den Buchstaben A bis H gekennzeichnet wurden.“[16]
Als Entstehungszeit für Der neue Advokat nennt Ludwig Dietz „Jan./ Febr. 1917“.[17]
Gerhard Neumann schreibt im Binder-Handbuch, „die Geschichte des verwandelten Streitrosses Alexanders des Großen [sei] im Januar 1917“ entstanden.[18] Juliane Blank vermutet die Entstehung „um den 10.2.1917“.[19]
Für die Schule reicht das Wissen, dass in dem Goldenen Gässchen auf dem Prager Hradschin in dem ungewöhnlich strengen Winter von 1916 auf 1917 „gut die Hälfte der Erzählungen [entstand], die 1919/20 im Landarzt-Band zusammengestellt werden.“[20] Daher lohnt ein Blick auf die Stellung dieser Werke in Kafkas gesamtem Schaffen.
Kafkas Werke beginnen eigentlich mit dem ersten, in einem Brief vom 20.12.1902 an seinen Freund Oskar Pollak überlieferten Prosatext Geschichte vom schamhaf-ten Langen und vom Unredlichen in seinem Herzen[21] und enden mit seinem letzten Werk Josephine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse, das „zwischen März und April 1924 geschrieben wird.“[22]
In dem meinen Schülern zugänglichen Abriss über Kafka aus dem Klett Verlag nimmt Peter Beicken eine grobe Phaseneinteilung vor: „Die Einteilung von Kafkas Werk in eine Frühphase (bis 1912), die Reifezeit (1912-1917/20) und eine Spätphase (1921-1924) deckt sich mit den wichtigsten Zäsuren im Leben des Dichters, be-sonders die Jahre 1912 (Kennenlernen von Felice Bauer, Heiratspläne) und 1917 (Ausbruch der Krankheit) können als wichtige Lebenswendepunkte gelten, die auch für die Werkphasen von Bedeutung sind.“[23]