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Franz Werfel

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Beschreibung

Werfels Popularität beruhte vor allem auf seinen erzählenden Werken und Theaterstücken, über die er selbst aber seine Lyrik setzte. Mit seiner Schrift »Verdi. Roman der Oper« (1924) wurde Werfel zu einem Auslöser der deutschen Verdi-Renaissance. Neben seinen Lyrik-Bänden und seinen Novellen dürfte der zur Zeit der Veröffentlichung äußerst umstrittene Roman »Die vierzig Tage des Musa Dagh« über den Völkermord an den Armeniern sein bekanntestes Werk sein. - Stern der Ungeborenen - Der veruntreute Himmel - Die Geschwister von Neapel - Die vierzig Tage des Musa Dagh - Verdi - Das Lied von Bernadette - Der Abituriententag - Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig - Eine blaßblaue Frauenschrift - Das Trauerhaus - Die Entfremdung - Die arge Legende vom gerissenen Galgenstrick - Der Tod des Kleinbürgers - Die wahre Geschichte vom wiederhergestellten Kreuz - Geheimnis eines Menschen - Géza de Varsany - Kleine Verhältnisse - Weißenstein, der Weltverbesserer - Ballade von Wahn und Tod - Jacobowsky und der Oberst Null Papier Verlag

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Franz Werfel

Franz Werfel

Gesammelte Werke

Franz Werfel

Franz Werfel

Gesammelte Werke

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected]: Jürgen Schulze 2. Auflage, ISBN 978-3-954187-73-7

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Inhaltsverzeichnis

Franz Wer­fel

Ro­ma­ne

Stern der Un­ge­bo­re­nen

Der ver­un­treu­te Him­mel

Die Ge­schwis­ter von Nea­pel

Die vier­zig Tage des Musa Dagh

Ver­di

Das Lied von Ber­na­det­te

Der Abi­tu­ri­en­ten­tag

Nicht der Mör­der, der Er­mor­de­te ist schul­dig

Eine blaß­blaue Frau­en­schrift

No­vel­len

Das Trau­er­haus

Die Ent­frem­dung

Die arge Le­gen­de vom ge­ris­se­nen Gal­gen­strick

Der Tod des Klein­bür­gers

Die wah­re Ge­schich­te vom wie­der­her­ge­stell­ten Kreuz

Ge­heim­nis ei­nes Men­schen

Géza de Var­sa­ny

Klei­ne Ver­hält­nis­se

Wei­ßen­stein, der Welt­ver­bes­se­rer

Ly­rik

Bal­la­de von Wahn und Tod

Bal­la­de von ei­ner Schuld

Bal­la­de von Nacht­wan­del

Bal­la­de von zwei Tü­ren

Klei­ne Bal­la­de an die Schwes­ter

Ge­sang der Mem­nons-Säu­le

No­vem­ber­ge­sang

De­zem­ber­ge­sang

Frag­ment der Eu­ry­di­ke

Der Ruf

Ver­lust

Ver­ges­sen

An eine Ler­che

Trink­lied

Der Ge­richts­herr

Der Tem­pel

Das Ge­bet Mo­sis

Ab­sa­lom

Ein­tritt

Das Café der Lee­ren

Die Lei­den­schaft­li­chen

En­gel

Ant­litz vor­über­we­hend

Die Schwes­tern von Bo­zen

Frau­en

Ver­wun­de­ter Storch

Ge­sang des Traum­bergs

Ge­sang von Ge­fan­ge­nen

Gärt­ner und Tor

Ge­wal­ti­ge Mut­ter

Ge­dächt­nis der Sün­de

Ge­sang ei­nes ver­damm­ten an die se­li­gen Ge­prüf­ten der Erde

Ge­sang ei­ner Frau

An­blick der Wahr­heit

Lied

Nun ist in mir ein Tod

Ge­sang

Lied nach ei­nem Tage

Be­nen­nung

Auch ich ein­fach

Das letz­te Wort

Ehr­geiz

Ei­tel­keit

Faul­heit

Zwei­fel

Schein

Träg­heit des Her­zens

Schuld

Spur

Spie­gel

Mor­pheus senex

Tie­fes Er­wa­chen

Schau­der

Vi­si­on

Mü­dig­keit

Ver­gäng­nis

Not­wen­dig­keit

Ver­heis­sung

Völ­ker

Geis­ti­ge Freu­de

Schön­heit

Phä­no­men

Prooe­mi­um

Der Vor­wurf

War­nung und Leh­re

Der Mäch­ti­ge

Der Nich­ti­ge

Der Fluch

Das Un­rech­te

All-Wir­kung

Weiß und schwarz

Un­mut

Un­wan­del­bar

Schick­sal

Die Feu­er­pa­ten

Die Meis­ter

An die Si­byl­le Mara

Dä­mo­nen

Die Ler­che

Die Voll­kom­me­nen

Lob­prei­sung

Die Wi­der­sa­cher

An die Dich­ter

Ge­heim­nis

Un­wich­tig

Was ein je­der so­gleich nach­spre­chen soll

Mein ei­ge­ner Hen­ker bin ich

Sein und Trei­ben

Ge­stör­tes Gleich­ge­wicht ist die Welt

Der wei­nen­de Zer­stö­rer

Lie­be

Der rei­ne Mensch

Stu­fen­lei­ter

Vor­spruch

Er­wa­chen

Zer­fall

Aus mei­ner Tie­fe

An den Rich­ter

Ge­bet um Rein­heit

Ge­bet ge­gen Wor­te

Pfings­te­le­gie

Ei­nem Den­ker

Ge­bet

Der Feind

Höl­le

Ver­wüs­tung

Trüb­sinn

Ge­setz des Bo­gens

Schrei

Be­kennt­nis

Die Ver­ma­le­dei­ung der Erde

Ver­flu­chung

Der Dich­ter

Der Ritt

Wir nicht

Ge­burt

Ge­sang der Be­gra­be­nen

Das Licht und das Schwei­gen

Ein Ge­sang von To­ten

Wid­mung

Die Un­ver­las­se­ne

Die Al­tern­de

Als mich dein Wan­deln an den Tod ver­zück­te

Die Stim­me der Ge­lieb­ten

Noch tan­zet Bro­nis­la­wa

Ei­ner Chan­so­net­te

Ah­nung Bea­tri­cens

Ein Sonn­tags-Lied

Das Un­ver­gäng­li­che

Les­bie­rin­nen

Dra­ma

Ja­co­bow­sky und der Oberst

In­dex

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Franz Werfel

Franz Vik­tor Wer­fel (1890-1945) war ein ös­ter­rei­chi­scher Schrift­stel­ler jü­di­scher Her­kunft. Ne­ben sei­nen Ly­rik-Bän­den und sei­nen No­vel­len dürf­te der zur Zeit der Ver­öf­fent­li­chung äu­ßerst um­strit­te­ne Ro­man »Die vier­zig Tage des Musa Dagh« über den Völ­ker­mord an den Ar­me­ni­ern sein be­kann­tes­tes Werk sein.

Er wur­de 1890 in Prag als Sohn ei­nes wohl­ha­ben­den Hand­schuh­fa­bri­kan­ten ge­bo­ren. Die Fa­mi­lie ge­hör­te dem deutsch-böh­mi­schen Ju­den­tum an.

Be­reits 1908 er­folg­ten ers­te Ge­dicht-Ver­öf­fent­li­chun­gen. Von 1912 bis 1915 war er Lek­tor beim Kurt Wolff Ver­lag in Leip­zig. Wäh­rend des Ers­ten Welt­krie­ges kämpf­te er an der ost­ga­li­zi­schen Front, 1917 wur­de er ins Wie­ner Kriegs­pres­se­quar­tier ver­setzt.

Wer­fel war ein Wort­füh­rer des ly­ri­schen Ex­pres­sio­nis­mus. In den 1920er und -30er Jah­ren avan­cier­te er zu ei­nem der meist­ge­le­se­nen deutsch­spra­chi­gen Au­to­ren. Er traf Rai­ner Ma­ria Ril­ke und be­freun­de­te sich mit Karl Kraus, mit dem er sich spä­ter über­warf. Wer­fel pfleg­te auch enge Kon­tak­te zu den Schrift­stel­lern Max Brod, Franz Kaf­ka und Wil­ly Haas.

Wer­fels Po­pu­la­ri­tät be­ruh­te vor al­lem auf sei­nen er­zäh­len­den Wer­ken und Thea­ter­stücken, über die er selbst aber sei­ne Ly­rik setz­te. Mit sei­ner Schrift »Ver­di. Ro­man der Oper« (1924) wur­de Wer­fel zu ei­nem Aus­lö­ser der deut­schen Ver­di-Re­naissance.

Vie­le Jah­re leb­te der Au­tor in Wien und schloss dort Be­kannt­schaft mit Alma Mah­ler, der Wit­we von Gu­stav Mah­ler, die da­mals noch mit Wal­ter Gro­pi­us ver­hei­ra­tet war. Noch wäh­rend ih­rer Ehe mit Gro­pi­us brach­te Alma Mah­ler den mut­maß­li­chen Sohn Wer­fels (Mar­tin Carl Jo­han­nes) zur Welt, der aber be­reits ein Jahr spä­ter starb. 1929, neun Jah­re nach der Schei­dung von Gro­pi­us, hei­ra­te­ten Franz Wer­fel und Alma Mah­ler

Wer­fel wur­de 1934 aus der Preu­ßi­schen Aka­de­mie der Küns­te aus­ge­schlos­sen, dies ge­sch­ah auf Be­trei­ben Gott­fried Benns. Ur­sa­che da­für war Wer­fels Ro­man »Die vier­zig Tage des Musa Dagh«, der 1934 mit Hin­weis auf die Ge­fähr­dung der öf­fent­li­chen Si­cher­heit und Ord­nung ver­bo­ten wur­de.

Wer­fel floh vor der na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Herr­schaft. Wie vie­le schrei­ben­de Zeit­ge­nos­sen aus dem deutsch­spra­chi­gen Raum (Zweig, Roth, Mann) lan­de­te Wer­fel über meh­re Sta­tio­nen in der Dias­po­ra: 1938 emi­grier­te er nach Frank­reich, 1940 über Spa­ni­en in die USA. 1941 wur­de Wer­fel ame­ri­ka­ni­scher Staats­bür­ger. Sei­ne letz­ten Jah­re ver­brach­te er in Hol­ly­wood, wo 1943 sein Ro­man »Das Lied von Ber­na­det­te« mit großem Er­folg ver­filmt wur­de.

Romane

Stern der Ungeborenen

Ein Rei­se­ro­man

1946

Erstes Kapitel

Wo­rin sich ein Vor­wor­t ver­birgt, das, wie so oft, nur eine Aus­re­de ist.

Dies hier ist ein ers­tes Ka­pi­tel, wel­ches ver­hin­dern soll, daß vor­lie­gen­des Werk­chen mit ei­nem Zwei­ten Ka­pi­tel be­gin­ne. Dem Ent­schlus­se, auf das An­fangs­blatt ei­nes Ro­mans set­zen zu las­sen: »Zwei­tes Ka­pi­tel« stand nichts andres im Wege als der Ord­nungs­sinn des Ver­le­gers, die be­kann­te Ent­decker­lust des le­sen­den Pub­li­kums an faust­di­cken Druck­feh­lern und end­lich die Ori­gi­na­li­täts­sucht des Ver­fas­sers, der be­fürch­te­te, ir­gend­ein Kol­le­ge aus der fopp­freu­di­gen Epo­che der Ro­man­tik habe ge­wiß schon ein­mal ei­nes sei­ner ver­wil­der­ten Wer­ke mit dem Zwei­ten Ka­pi­tel er­öff­net. Fan­gen wir dar­um mit dem Ers­ten Ka­pi­tel an, so über­flüs­sig das­sel­be für den Gang der Hand­lung oder, ge­nau­er ge­sagt, For­schung auch sein mag. Da es sich um eine Art von Rei­se­be­richt han­delt, füh­le ich die Ver­pflich­tung, den Hel­den, oder be­schei­de­ner, den Mit­tel­punkt der hier ge­schil­der­ten Be­ge­ben­hei­ten vor­zu­stel­len. Es ist ein­mal die Schwä­che die­ser li­te­ra­ri­schen Form, daß ihr das Auge, das sieht, das Ohr, das hört, der Geist, der be­greift, die Stim­me, die be­rich­tet, das Ich, das in vie­le Aben­teu­er ver­wi­ckelt wird, den Mit­tel­punkt bil­den, um den sich al­les im wört­li­chen Sin­ne »dreht«. Die­ser Mit­tel­punkt, der auf­rich­ti­ger­wei­se F.W. be­nannt ist, bin lei­der ich selbst. Ich hät­te es aus an­ge­bo­re­ner Un­lust, in Schwie­rig­kei­ten zu ge­ra­ten, lie­ber ver­mie­den, auf die­sen Blät­tern ich selbst zu sein, aber es war nicht nur der na­tür­li­che, son­dern der ein­zi­ge Weg, und ich konn­te lei­der kei­nen »Er« fin­den, der mir zu­läng­li­cher­wei­se die Last des »Ich« ab­ge­nom­men hät­te. So ist also das Ich in die­ser Ge­schich­te eben­so­we­nig ein trü­ge­ri­sches, ro­man­haf­tes, an­ge­nom­me­nes, fik­ti­ves Ich wie die­se Ge­schich­te selbst eine blo­ße Aus­ge­burt spe­ku­lie­ren­der Ein­bil­dungs­kraft ist. Sie hat sich mir, wie ich ge­ste­hen muß, wi­der Wil­len be­ge­ben. Ohne vor­her im ge­rings­ten be­nach­rich­tigt oder aus­ge­rüs­tet zu sein, wur­de ich, ge­gen alle sons­ti­ge Ge­pflo­gen­heit als For­schungs­rei­sen­der aus­ge­sandt, ei­nes Nachts. Was ich er­leb­te, habe ich wirk­lich er­lebt. Ich bin ger­ne be­reit, mit je­dem phi­lo­so­phisch ge­wand­ten Le­ser eine ehr­li­che Dis­kus­si­on über die­ses Wört­chen »wirk­lich« ab­zu­füh­ren, und ich maße mir an, auf je­den Fall recht zu be­hal­ten.

Wäh­rend ich dies nie­der­schrei­be, lebe ich noch im­mer und schon wie­der. Genau in dem Rau­me zwi­schen die­sem »Noch im­mer« und »Schon wie­der« liegt die Welt mei­ner Ent­de­ckungs­rei­se oder For­scher­fahrt, die ich als Un­wis­sen­der, ja als wi­der­stre­ben­der Tou­rist be­gann, um sie, wie ich hof­fe, als schar­fer Beo­b­ach­ter mit ei­ni­gen neu­en und si­che­ren Er­kennt­nis­sen im Sack zu be­en­den. Es wäre zwei­fel­los ein Feh­ler des Le­sers, das Buch schon in die­sem Sta­di­um är­ger­lich zu­zu­klap­pen. »Noch im­mer« und »Schon wie­der«, das sind so die Dun­kel­hei­ten und Rät­sel ei­nes Ers­ten Ka­pi­tels, wel­ches das Zwei­te Ka­pi­tel be­reits zu lö­sen ha­ben wird.

Um al­len gro­ben Miß­ver­ständ­nis­sen vor­zu­beu­gen: ich bin durch­aus kein Meis­ter­träu­mer. Ich träu­me nicht leb­haf­ter als an­de­re Leu­te. Ich pfle­ge am Mor­gen zu­meist mei­ne Träu­me ver­ges­sen zu ha­ben. Oft blei­ben frei­lich, als Strand­gut der Nacht, in der grau­en Frü­he ein paar merk­wür­di­ge Bil­der und Sze­nen zu­rück. Da gibt es zum Bei­spiel einen Hund, der mit mir in ver­stän­di­gen Wor­ten spricht. Eine leuch­ten­de Braut im Braut­schlei­er, die ich nie ge­se­hen habe, tritt mit aus­ge­brei­te­ten Ar­men an mein Bett. Ein Mann mit Voll­bart und blau­er Schür­ze, den man den »Ar­bei­ter« nennt, setzt Was­ser­küns­te in Gang, die je­doch nicht aus Was­ser, son­dern aus ab­son­der­li­chen Licht­strah­len be­ste­hen. Oder ich sehe mit un­be­schreib­li­cher Deut­lich­keit grei­se Män­ner, die an­statt zu ster­ben im­mer klei­ner wer­den, im­mer win­zi­ger, und zu­letzt als men­schen­för­mi­ge Rüb­chen in der Erde ste­cken. Sol­che Bil­der und Sze­nen sind –– wenn das Ge­dächt­nis sie nicht aus­stößt –– wie ei­gen­wil­li­ge Kei­me, die sich im Geis­te wäh­rend des Ta­ges­le­bens wach­send wei­ter­ent­wi­ckeln, willst du oder willst du nicht. Sel­ten, und doch ein paar­mal im Le­ben ge­schieht es, daß die­se selb­stän­di­gen, vom er­fin­de­ri­schen Wil­len un­ab­hän­gi­gen Ge­sich­te wäh­rend ei­ner ein­zi­gen Nacht oder so­gar in meh­re­ren Näch­ten nach­ein­an­der lo­gi­sche Ket­ten und epi­sche Rei­hen bil­den, und man muß dann schon ein bra­ver Tropf sein, um nicht an­ge­schau­ert zu wer­den von den sinn­vol­len Spie­len, die uns­re See­le hin­ter un­serm Rücken auf­führt, als wäre sie nicht ein be­schränk­tes Ich, son­dern ein gren­zen­lo­ses All.

Es gibt nur zwei Wege, um ein His­to­ri­ker der Zu­kunft zu wer­den: wis­sen­schaft­li­che Fol­ge­rung und Traum­deu­te­rei oder Wahr­sa­ge­rei. Die wis­sen­schaft­li­che Fol­ge­rung dürf­te sich durch wis­sen­schaft­li­che Fol­ge­rung von der Er­kennt­nis der Zu­kunft selbst aus­schlie­ßen. Die Wis­sen­schaft näm­lich muß stets auf der Hut sein, aus sich eine När­rin zu ma­chen. Sie bringt es höchs­tens zur Wahr­schein­lich­keits­rech­nung. Traum­deu­te­rei und Weis­sa­gung hin­ge­gen ha­ben den un­schätz­ba­ren Vor­teil, auf eine ur­al­te Pra­xis zu­rück­zu­bli­cken, die der un­an­zwei­fel­ba­ren Über­lie­fe­rung ge­mäß nam­haf­te Er­fol­ge auf­zu­wei­sen hat. Die pro­phe­ti­schen Er­kennt­nis­ar­ten müs­sen es nur ver­ste­hen, um echt zu sein, die Schlei­er des Gleich­nis­ses zu tra­gen und die Schat­ten des Ge­heim­nis­ses zu wer­fen.

Stren­ge Au­gen sehn mich schon län­ge­re Zeit an. Sie wer­den im­mer stren­ger, und jetzt spre­chen sie so­gar:

»Sie sind ein Mann in ziem­lich rei­fem Al­ter. Sie ha­ben wahr­haf­tig nicht so viel Zeit mehr, um auf un­nüt­ze Rei­sen zu gehn. Wie lan­ge noch wol­len Sie Ihren kur­z­en Ar­beits­tag ver­geu­den? Wis­sen Sie nicht, was heu­te in die­ser Welt ge­schieht? Wa­ren Sie nicht selbst ein Ver­folg­ter und ein Op­fer? Sind Sie’s nicht noch im­mer? Hö­ren Sie nicht das Brau­sen der Bom­ber, das Knat­tern der schwe­ren Ma­schi­nen­ge­weh­re, das den Erd­ball ein­hüllt, ein Nes­sus­hemd die­ses un­se­li­gen Stern­chens, aus Ex­plo­sio­nen ge­wo­ben? Hö­ren Sie nicht, schlim­mer als die­sen Lärm, das letz­te Auf­stöh­nen der zu Tode Ge­trof­fe­nen, an tau­send Or­ten und zu je­der Stun­de? Hö­ren Sie nicht, schlim­mer als die­ses letz­te Auf­stöh­nen, den Mar­ter­schrei und das Ver­rö­cheln der Mil­lio­nen, die zu­erst ent­ehrt und dann ge­fol­tert und dann massa­kriert wer­den? Ist es nicht Ihre Pf­licht und Schul­dig­keit, kei­nen Au­gen­blick weg­zu­sehn und fort­zu­hö­ren von die­ser un­ge­heu­ren Wirk­lich­keit, die das tolls­te Vi­sio­nen­ge­wim­mel ei­nes träu­men­den Qual­dä­mons an Phan­tas­tik ins Nichts zu­rück­wirft und da­bei doch schluß­ge­recht ist wie eine ma­the­ma­ti­sche Ablei­tung? Wel­che hö­he­re Auf­ga­be hät­ten Sie als die­se, den Mar­ter­schrei und das Geröchel der Ge­fol­ter­ten fest­zu­hal­ten und er­star­ren zu las­sen im ge­präg­ten Wort, für die kur­ze Zeit­span­ne we­nigs­tens, in der Er­leb­nis und Aus­druck ei­ner Ge­ne­ra­ti­on der kom­men­den ver­ständ­lich bleibt?«

Ich kann nichts an­de­res tun, oh, ihr ge­stren­gen Au­gen, als die mei­ni­gen vor euch nie­der­zu­schla­gen. Ich beich­te und be­ken­ne: mei­ne Zeit ist kurz, und ich ver­geu­de sie ge­wis­sen­los. Nicht ver­ges­sen habe ich, daß auch ich ein Ver­folg­ter bin. Nicht so taub bin ich ge­wor­den, um nicht zu hö­ren das Brau­sen der Bom­ber, das Knat­tern der schwe­ren Ma­schi­nen­ge­weh­re, das letz­te Auf­stöh­nen der zu Tode Ge­trof­fe­nen, den Mar­ter­schrei und das Ver­rö­cheln der Ent­ehr­ten, der Ge­fol­ter­ten, Massa­krier­ten. Die un­ge­heu­er­li­che Wirk­lich­keit, die­ses Vi­sio­nen­ge­wim­mel ei­nes träu­men­den Qual­dä­mons hält mich ge­packt an der Keh­le bei Tag und bei Nacht, im Ste­hen und Ge­hen, auf der Stra­ße und im Zim­mer, wäh­rend der Ar­beit und Er­ho­lung. Ja, ja, ich ver­säu­me mei­ne Pf­licht. Aber die­ses un­ge­heu­er­li­che Ge­schehn läßt mir nicht ein­mal Luft ge­nug, um den Mar­ter­schrei als Echo nach­zuäch­zen.

Zu mei­ner Ent­las­tung habe ich nur an­zu­füh­ren, was den Le­ser als eine un­ver­mit­tel­te Bana­li­tät er­schre­cken mag: Schon hat­te ich einen mäch­ti­gen Stoß schö­nen glat­ten Pa­piers ge­kauft. Schon hat­te ich mich hin­ge­setzt und auf das obers­te Blatt des mäch­ti­gen Sto­ßes, der für zwei Bän­de hin­rei­chen moch­te, mit runder sorg­fäl­ti­ger Schrift die Wor­te ge­malt: »Ers­tes Ka­pi­tel«, wel­ches die Ge­schich­te ein­lei­ten soll­te, die den Ent­ehr­ten, Ge­fol­ter­ten und Massa­krier­ten ein­mal ge­weiht sein wird, wenn es Gott will. Lei­der aber war die Fe­der nichts wert. Es ist jetzt so schwer, die rich­ti­gen Fe­dern zu be­kom­men. Selbst die bes­ten Füll­fe­dern sind steif und hart und wi­der­spens­tig und zu spitz und wol­len nicht recht in Schwung kom­men. Das le­sen­de Pub­li­kum weiß glück­li­cher­wei­se nur we­nig von der Werk­statt des Schrift­stel­lers. Ein wah­rer Schrift­stel­ler, das soll­te ein Mann sein, der mit der emp­find­lichs­ten, ner­vigs­ten Hand schreibt und nicht auf tote Tas­ten klopft. Ein sol­cher Mann ge­ra­de aber be­darf ge­wis­ser be­geis­tern­der Schrei­bu­ten­si­li­en. Eine gute Fe­der vor al­lem, weich und ge­schmei­dig, der zar­tes­ten, zwei­felnds­ten Haar- und der ent­schlos­sens­ten Schat­ten­stri­che fä­hig, sie wirft das Satz­bild aufs Pa­pier wie eine Meis­ter­zeich­nung. Eine gute Fe­der –– und dies soll kein Scherz sein –– ist schon der hal­be Ge­dan­ke. Ich ging also aus, um eine gute Fe­der zu su­chen. Ich fand nur eine leid­li­che. Die Jagd aber nahm meh­re­re Tage in An­spruch. In der Nacht des letz­ten die­ser Tage aber un­ter­lief mir das, was ich hier die »Aus­sen­dung auf eine For­schungs­rei­se« nen­nen will. Das Ma­te­ri­al, das ich von die­ser Rei­se in mei­nem Geis­te heim­brach­te, war groß, grö­ßer als selbst eine um­fang­rei­che­re Schrift, als die­se es zu wer­den droht, ver­ra­ten könn­te.

Ich hat­te nun mei­ne Wahl zu tref­fen. Vor mir lag das wei­ße Blatt, auf dem in großen Let­tern ge­malt stand: »Ers­tes Ka­pi­tel«, und sonst nichts. Die­se be­fehls­ha­be­ri­schen zwei Wor­te schie­nen mit Recht zu for­dern, daß ih­nen die Ge­schich­te uns­rer un­ge­heu­er­li­chen Wirk­lich­keit nach­rücke in Reih und Glied. Ich aber schau­der­te zu­rück: Wird die­se un­ge­heu­er­li­che Wirk­lich­keit nicht wirk­li­cher wer­den von Tag zu Tag und am wirk­lichs­ten und wahrs­ten viel­leicht dann, wenn sie nicht mehr ist? Die Wirk­lich­keit mei­ner Rei­se­er­leb­nis­se hin­ge­gen ist aus ei­nem an­de­ren Zeug ge­spon­nen. Sie pflegt meist zu zer­ge­hen beim ers­ten Hah­nen­schrei oder Hu­pen­ruf, und auch das bes­te Ge­dächt­nis bie­tet kei­ne Ge­währ da­für, daß sie ihm nicht ent­schlüp­fe, plötz­lich und auf Nim­mer­wie­der­sehn. Eile tut da­her not.

Und so be­schloß ich denn, un­ter je­nes »Ers­te Ka­pi­tel«, das noch im­mer auf die Ge­schich­te uns­rer un­ge­heu­er­li­chen Wirk­lich­keit war­tet, das obi­ge hier ein­zu­schwär­zen. Es ist ein aber­gläu­bi­scher Trick. Ich habe mir nichts weg­ge­schrie­ben. Ich habe mei­ne Auf­ga­be nicht preis­ge­ge­ben. Je­nes »Ers­te Ka­pi­tel«, das eine Last oh­ne­glei­chen tra­gen soll, steht leer ... Denn die­ses hier, wie­der­ho­le ich zum Schluß un­ter all­ge­mei­ner Zu­stim­mung, ist kei­nes. Son­dern das Zwei­te Ka­pi­tel über­nimmt das Ers­te Ka­pi­tel.

Zweites Kapitel

Wo­rin ich mei­nem Freund B.H. be­geg­ne, der mich dar­auf auf­merk­sam macht, daß ich un­sicht­bar bin.

»Wie, bist du nicht tot, B.H.?«, frag­te ich mei­nen äl­tes­ten und bes­ten Freund und strei­chel­te sei­ne Hand, glück­lich, ihn wie­der­zu­se­hen. Es fiel mir ein Stein vom Her­zen bei die­ser Be­geg­nung nach so vie­len Jah­ren. Ich hat­te B.H. ge­gen­über ein schlech­tes Ge­wis­sen. Er war von der großen Flucht vor den Na­zis nach In­di­en ver­schla­gen wor­den, weit in den Nor­den, an die ti­be­ta­ni­sche Gren­ze, ir­gend­wo­hin in die Nähe von Dar­jee­ling, wo der Krieg je­der Ver­bin­dung zwi­schen uns ein Ende setz­te. Wer weiß, viel­leicht hät­te ich doch ver­su­chen sol­len, ihm noch ein­mal einen Brief zu schrei­ben oder mich an das Rote Kreuz zu wen­den, um ihm zu hel­fen. Ob­wohl ich kei­nen Be­weis da­für hat­te, war es für mich aus­ge­macht, daß er zu­grun­de ge­gan­gen sein muß­te ... B.H. lä­chel­te, wo­bei sein großer Kopf mit den schwar­zen Haa­ren und dunklen schö­nen Au­gen ein we­nig zit­ter­te, ja bei­na­he wa­ckel­te, wie es schon in uns­rer ge­mein­sa­men Schul­zeit sei­ne Art war, wenn es ihm ge­lang, eine über­le­ge­ne Be­mer­kung zu ma­chen.

»Ich bin nicht tot«, zwin­ker­te B.H. »Ich lebe, wie du siehst, aus vol­len Lun­gen. Hin­ge­gen bist du tot, F.W., und län­ger, viel län­ger, als du dich über­haupt er­in­nern kannst ...«

»Wie­so bin ich tot, B.H.?«, frag­te ich, von sei­ner Of­fen­heit ver­letzt, die mir takt­los er­schi­en, ob­wohl ich mir doch vor­hin den­sel­ben Ver­stoß hat­te zu­schul­den kom­men las­sen.

B.H. sah mich lan­ge und ernst an, ehe er sich zur Fra­ge ent­schloß:

»Kannst du mich se­hen, F.W.?«

»Na­tür­lich kann ich dich se­hen. Wie machst du es, daß du mit Fünf­zig noch im­mer wie mit Fün­f­und­zwan­zig aus­schaust ...? Nein, auch das ist noch über­trie­ben. Du siehst ge­nau so aus wie am Tag un­se­rer Abir­u­ri­en­ten­prü­fung ...«

»Ich bin nach der au­gen­blick­lich gül­ti­gen Le­bens­zeit­rech­nung Hun­dert­und­sie­ben«, nick­te er sach­lich, »aber wie steht es mit dir, F.W.? Kannst du zum Bei­spiel dich selbst se­hen?«

Ich sah an mir her­ab. Ich konn­te mich nicht se­hen. Ein kur­z­er gal­va­ni­scher Schreck durch­zuck­te mich. Ich war un­sicht­bar. Un­sicht­bar für an­de­re, das ist wohl be­klem­mend ge­nug. Aber un­sicht­bar für mich selbst? Ich ver­such­te, mei­ne auf­ge­scheuch­ten Ge­dan­ken und Emp­fin­dun­gen zu­sam­men­zu­raf­fen. Zu­erst er­kann­te ich mit Ver­wun­de­rung, daß ich mich wohl­fühl­te, so­gar aus­neh­mend wohl, viel woh­ler je­den­falls als vor­hin (wann, vor­hin?), ehe ich –– ver­mut­lich aus ei­nem von die­sem Orte schon sehr ent­fern­ten Tor tre­tend –– auf eine un­be­kann­te Stra­ße ge­ra­ten war, um plötz­lich mei­nem al­ten Freun­de B.H. zu be­geg­nen. Ich bin nicht si­cher üb­ri­gens, ob ich von ei­ner Stra­ße zu re­den das Recht habe. Es war ge­bahn­ter Bo­den, zwei­fel­los, der sich gleich­mä­ßig nach al­len Sei­ten hin zum Ho­ri­zont er­streck­te, ohne rechts und links von Bö­schun­gen oder Stra­ßen­grä­ben be­grenzt zu sein. Un­ter mei­nen Fü­ßen wuchs ein kur­z­er tro­ckener Ra­sen, der den Schritt er­staun­lich för­der­te und das Ge­hen zu ei­nem neu­ar­ti­gen Ver­gnü­gen mach­te. Die­ser Ra­sen be­stand aus wohl­ge­pfleg­tem Gras. Das Gras aber hat­te die lei­ses­te grün­li­che Tö­nung, die letz­te Spur von Chlo­ro­phyll ver­lo­ren. Es wuchs zum Teil weiß, zum Teil ei­sen­grau auf dem glat­ten Erd­bo­den, wie das Haar auf dem Schä­del ei­nes zwar noch tüch­ti­gen, aber schon er­grei­sen­den Man­nes. Ich ver­wen­de die Phra­se »un­ter mei­nen Fü­ßen« nicht aus ei­nem sti­lis­ti­schen Ver­se­hen, wie man­cher Le­ser wohl schon an­ge­nom­men hat. Ob­wohl ich un­sicht­bar war für an­de­re und so­gar für mich selbst, so be­saß ich doch Hän­de und Füße und den gan­zen Leib, an den ich so sehr ge­wöhnt war. Ge­wiß, ich war un­sicht­bar, aber durch­aus nicht kör­per­los. Zwar, wenn ich mit mei­nen bra­ven al­ten Hän­den mich ab­tas­te­te, griff ich ins Nichts. In die­sem Nichts aber fühl­te ich mein Herz schla­gen, re­gel­mä­ßi­ger und ru­hi­ger als sonst, mei­ne Lun­gen dehn­ten sich aus und zo­gen sich zu­sam­men, ich schau­te, hör­te, roch und schmeck­te. Mein ju­gend­fri­sches Wohl­be­fin­den schi­en da­mit zu­sam­men­zu­hän­gen, daß all die­se Funk­tio­nen der Sin­ne sich nicht, wie sonst, durch eine schwe­re und stel­len­wei­se schon ver­brauch­te Ma­te­rie durch­ar­bei­ten muß­ten. Um einen ba­na­len und nur halb zu­tref­fen­den Ver­gleich zu ver­wen­den, ich fühl­te mich leicht und be­weg­lich, wie etwa ein di­cker Mann sich nach ei­ner streng durch­ge­führ­ten Ent­fet­tungs­kur zu füh­len wünscht. Hat­te B.H. recht, war’s wirk­lich die stren­ge, die treff­lich ge­glück­te Ent­fet­tungs­kur des To­des, die ich so präch­tig über­stan­den hat­te? Ich be­zwei­fel­te die­se Mög­lich­keit kei­nes­wegs. Den­noch aber schäm­te ich mich in die­sem Au­gen­blick, ich weiß nicht warum. Ich schäm­te mich nicht nur um mei­ner selbst wil­len, son­dern auch um B.H.s wil­len. Es war eine Scham, ähn­lich der­je­ni­gen, nackt zu sein, und zwar über alle Vor­stel­lun­gen und Be­grif­fe nackt. Um mir selbst, und viel­leicht auch B.H. aus der Ver­le­gen­heit her­aus­zu­hel­fen, brumm­te ich:

»Was man manch­mal für Un­sinn zu­sam­men­träumt ...«

B.H. schüt­tel­te ziem­lich iro­nisch den Kopf:

»Man hat recht kin­di­sche Theo­ri­en da­mals ver­zapft über sol­che Din­ge«, mein­te er.

»Sprichst du etwa von Freuds Traum­deu­tung, B.H.?«

Er sah mich an­ge­strengt an, als ver­stün­de er mich nicht:

»Wer? Freud? Leid? Wie soll ich mich an alle die­se Na­men er­in­nern aus den An­fän­gen der Mensch­heit?«, sag­te er et­was ge­ring­schät­zig.

»An­fän­ge der Mensch­heit?«, frag­te ich und fühl­te ge­nau, wie eine ge­kränk­te Lei­den­schaft­lich­keit mei­ne Stim­me färb­te, die tö­nend aus mei­nem un­sicht­ba­ren Mun­de und nicht min­der un­sicht­ba­ren In­nern drang. »An­fän­ge der Mensch­heit? Wa­ren es etwa die An­fän­ge der Mensch­heit, lie­ber B.H., als wir ge­mein­sam Sha­ke­s­pea­re und Goe­the la­sen und über Do­sto­jew­ski und Nietz­sche, über Pas­cal und Kier­ke­gaard dis­ku­tier­ten auf den Park­we­gen des Bel­ve­de­res? Erin­nerst du dich nicht, es ist ja so kurz her, es war ges­tern, oder viel­leicht heu­te früh, denn du siehst ja aus wie ein Abi­tu­ri­ent. Und dann rück­ten wir ein in die Ar­mee des Ers­ten Welt­kriegs, du und ich, und spä­ter schrie­ben wir ein­an­der Brie­fe und be­geg­ne­ten uns im­mer wie­der, denn die geis­ti­ge Freund­schaft der ers­ten Ju­gend ist ein star­kes Band für männ­li­che Her­zen. Und du wur­dest B.H. und ich wur­de F.W., und dann ka­men die Na­zis, und ich sah dich noch ein­mal an der Küs­te uns­res ge­lieb­ten Mit­tel­meers. Du warst auf dem Wege nach In­di­en. Welch ein schwer­mü­ti­ger Ab­schied war das für mich! Ich ahn­te, wir wür­den uns nie mehr wie­der­sehn, denn der Zwei­te Welt­krieg war­te­te be­reits am Parktor des schöns­ten süd­fran­zö­si­schen Som­mers. Wir bei­de ha­ben Schwe­res er­lebt, du in ei­nem Camp an der Gren­ze Ti­bets und ich auf mei­ner Flucht aus Eu­ro­pa. Du bist, so fürch­te­te ich, in In­di­en um­ge­kom­men. Vi­el­leicht aber ha­ben dich die ti­be­ta­ni­schen Mön­che ge­lehrt, wie man ewig wei­ter­lebt trotz al­lem! Ich hin­ge­gen lebe au­gen­blick­lich in Ca­li­for­nia. Es mag je­doch sein, daß ich in Ca­li­for­nia nur be­gra­ben bin, denn du hast mich ja von mei­ner schreck­li­chen Un­sicht­bar­keit über­zeugt ... Ach, wie blu­tig ernst und nah ist das al­les! Ich kann dei­ne Iro­nie von den ›An­fän­gen der Mensch­heit‹ nicht ver­stehn ...«

»Die Si­tua­ti­on von uns bei­den, lie­ber F.W.«, un­ter­brach er mich, »ist grund­ver­schie­den. Du be­wahrst all die­se Erin­ne­run­gen von den An­fän­gen der Mensch­heit so le­ben­dig in dir auf, weil du in­zwi­schen nicht wie­der dran­ge­kom­men bist ...«

»Dran­ge­kom­men?«, schnapp­te ich ein. »Was soll die­ser in­fan­ti­le Aus­druck? Du hast dir ja den Jar­gon uns­rer Schü­ler­jah­re recht gut ge­merkt. Dran­kom­men? Meinst du da­mit, vom Leh­rer zur Prü­fung auf­ge­ru­fen wer­den ...?«

»Sehr rich­tig, F.W.«, nick­te er mit ei­nem ge­wis­sen Stolz: »Und ich bin ge­ra­de dran, das will sa­gen: ich lebe ...«

Ich be­schloß zu schwei­gen, ob­wohl es mir recht schwer fiel. Kraft mei­ner Un­sicht­bar­keit näm­lich, oder bes­ser, mei­ner durch­sich­ti­gen, un­an­tast­ba­ren und schwe­re­lo­sen Kör­per­lich­keit, kreis­ten mei­ne Ge­dan­ken in hef­ti­gen Strom­schnel­len, und ich ver­stand und er­kann­te so man­ches in neu­ar­tig durch­drin­gen­der Wei­se. Mein Geist funk­tio­nier­te im Sin­ne ei­ner höchst po­ly­pho­nen Or­che­s­ter­par­ti­tur. Eine Rei­he von Er­kennt­nis­sen ent­wi­ckel­te sich wie ein mu­si­ka­li­sches Stim­men­ge­fü­ge ne­ben­ein­an­der, un­ter­ein­an­der, und bil­de­te doch eine sinn­vol­le Ein­heit, de­ren ich völ­lig in­ne­ward. Also doch, dach­te es in mir, B.H.s Auf­ent­halt in Ti­bet hat ihn ent­schei­dend be­ein­flußt. Er hat sich zwei­fel­los der or­tho­do­xes­ten Form der Rein­kar­na­ti­ons­leh­re an­ge­schlos­sen, und mehr als das, der Rein­kar­na­ti­on selbst. Das meint er un­ter »Dran­kom­men«. Muß ich mich des­halb von B.H. ab­wen­den und ihn Knall und Fall ver­las­sen? Wi­der­spricht die Dok­trin und gar die Pra­xis der Wie­der­ge­burt mei­nem ei­ge­nen Uns­terb­lich­keits­glau­ben? Nein, ent­schied ich, ohne zu zö­gern. Fürs ers­te ist mein Uns­terb­lich­keits­glau­be ja kein Glau­be mehr, son­dern ein hand­fest be­wie­se­nes Phä­no­men. Den schla­gen­den Be­weis bil­de ich selbst in mei­ner ge­gen­wär­tig un­sicht­ba­ren und doch le­ben­di­gen Ver­fas­sung ... Ich bin, wie mir mein bes­ter Freund ohne höf­li­che Um­schwei­fe auf den Kopf zu­ge­sagt hat, längst ab­ge­schie­den und wahr­schein­lich auf dem Fo­rest Lawn be­gra­ben, so­fern der­sel­be nicht schon seit Ur­vä­ter­zei­ten auf­ge­las­sen und der Aus­beu­tung von Erd­öl über­ge­ben wor­den ist. Und trotz­dem bin ich ganz passa­bel bei­sam­men und den­ke und füh­le so­gar mit er­höh­ter Leb­haf­tig­keit. Des­car­tes’ »Co­gi­to, ergo sum« gilt, Gott sei es ge­dankt, auch für mich nach dem Tode. Welch ein mo­ra­li­scher Tri­umph über das »Sum, ergo co­gi­to« mei­ner ma­te­ria­lis­ti­schen Wi­der­sa­cher, die­ses stump­fen In­tel­lek­tu­el­len­packs. Was aber die Rein­kar­na­ti­on an­be­trifft, war es nicht erst ges­tern nach­mit­tag, daß mich eine jähe Er­leuch­tung über­fiel? Der Ort frei­lich, wo der Blitz die­ser geis­ti­gen In­spi­ra­ti­on in mich ein­schlug, galt mir nicht als be­son­ders phi­lo­so­phisch: ein Drug­sto­re am Wils­hi­re Bou­le­vard. Ich ver­gaß, mei­nen Kaf­fee aus­zu­trin­ken. Wie war das nur? Wie ist das nur? ... Je­des Ich ist un­s­terb­lich, aber nicht je­des Ich ist ein gan­zes Ich. Wie in der ma­te­ri­el­len Welt, zum Bei­spiel in der Welt der Ro­sen, sich ein und die­sel­be Blü­te von Zeit zu Zeit auf das ge­naues­te wie­der­ho­len muß, so auch in der Welt der Men­schen, kör­per­lich, see­lisch, geis­tig. Der For­men­schatz der Na­tur ist be­schränkt, und nicht an­ders der For­men­schatz der Mensch­heit. Es gibt nur eine be­stimm­te An­zahl von See­len, von aus­ge­spro­che­nen Egos, die viel klei­ner ist als die An­zahl der Na­men, die die­se Egos im Lau­fe ih­rer Ver­wand­lun­gen tra­gen. So ein Ich er­scheint wie ein mehr oder we­ni­ger er­folg­rei­ches Buch in ver­schie­de­nen Auf­la­gen und Aus­ga­ben, doch je­des­mal un­ter ver­än­der­tem Ti­tel. Wenn Gott am Jüngs­ten Tage, wie es ge­schrie­ben steht, die See­len zäh­len wird, so wird er eben nicht drei­hun­dert­sieb­zig Quin­quil­lio­nen, son­dern nur sie­ben­hun­dert­tau­send bis sieb­zig Mil­li­ar­den See­len zäh­len, je we­ni­ger de­sto bes­ser und wür­di­ger. Je­des Ich wird am Ende der Zeit ein di­cker Strauß von Ver­kör­pe­run­gen sein, eine Art stau­bum­hüll­ter Wan­der­stamm, der durch die Wüs­te der Äo­nen zog ... Im­mer­hin ist es ver­wun­der­lich, daß der B.H. der Ge­gen­wart dem B.H. aus den An­fän­gen der Mensch­heit so bis aufs Haar ähn­lich sieht. Ich fühl­te einen leich­ten Schwin­del mein Be­wußt­sein be­drän­gen und un­ter­brach da­her den Strom die­ser Ge­dan­ken. Lan­ge ließ ich mei­nen Blick auf B.H. ru­hen, ohne zu be­den­ken, daß die­ser Blick ihm nichts sa­gen konn­te. Nun, dach­te ich, duns­te nur, mein Lie­ber! Ich rede kein Wort mehr. Das al­les macht mich müde.

B.H. trat nä­her auf mich zu. In sei­nem Lä­cheln war kein Vor­wurf:

»Wir sind ein­ge­la­den, F.W.«, sag­te er und mach­te einen Ver­such, mich auf die Schul­ter zu klop­fen, die doch für ihn nicht vor­han­den sein konn­te.

»Ein­ge­la­den?«, frag­te ich ängst­lich. Doch dann hör­te ich mei­nen ei­ge­nen, ab­ge­spann­ten Seuf­zer:

»Tu, was du willst ... Ich muß ja mit al­lem ein­ver­stan­den sein.«

Die­se mei­ne Wor­te klan­gen ziem­lich jäm­mer­lich. Sie ver­schaff­ten mir aber die Er­leich­te­rung, die ein Tou­rist emp­fin­det, wenn er die Ein­tei­lung sei­nes Ta­ges in die Hän­de ei­nes be­währ­ten Rei­se­mar­schalls legt.

Drittes Kapitel

Wo­rin ich am Schluß ein neu­ar­ti­ges Mit­tel der Fort­be­we­gung ken­nen ler­ne.

Nach die­sem Ge­spräch, das mir sehr kurz er­schi­en, be­gann ich die Ge­gend, wo wir uns be­fan­den, schär­fer ins un­sicht­ba­re, aber se­hen­de Auge zu fas­sen. Ohne Zwei­fel, wenn auch son­der­ba­rer­wei­se, hat­ten B.H. und ich, zwei Städ­ter durch und durch, ein­an­der auf dem fla­chen Lan­de be­geg­net. Es war das flachs­te Land, das ich je er­blickt, und es schi­en zu al­le­dem auch noch ein ganz un­be­wohn­tes Land zu sein. Nicht die ge­rings­te An­deu­tung ei­ner städ­ti­schen oder dörf­li­chen Sied­lung, so weit die Seh­kraft reich­te. Kei­ne Bau­lich­keit ir­gend­wel­cher Art hob sich von der glat­ten Ebe­ne ab, kei­ne Tank­stel­le nah oder fern, kein Was­ser­rad, ja nicht ein­mal eine je­ner großen Re­kla­me­ta­feln, wie sie sonst selbst die ein­sams­ten Wüs­ten­stre­cken flan­kie­ren. Die Emp­fin­dung aber, auf ei­ner Stra­ße zu stehn, konn­te ich trotz der un­be­schränk­ten und un­par­zel­lier­ten Ödig­keit rings­um nicht los­wer­den. Der dich­te, wun­der­sam kurz ge­hal­te­ne, ei­sen­graue Gras­wuchs, der den Erd­bo­den un­un­ter­bro­chen be­deck­te, konn­te nur auf mensch­li­che Pflan­zung und Pfle­ge zu­rück­zu­füh­ren sein. Der gan­ze Um­kreis, von Ho­ri­zont zu Ho­ri­zont, war ge­wis­ser­ma­ßen Land­stra­ße, eine Stra­ße, an­statt mit As­phalt, mit die­sem trau­er­far­be­nen Tep­pich für Lust­wan­deln­de be­legt, eine Stra­ße ohne die lei­ses­te Erin­ne­rung an einen Ver­kehr und den­noch so, als sei sie ir­gend­ein­mal von ei­nem schier un­er­meß­li­chen Ver­kehr ver­las­sen wor­den, da­mals, als tau­send Rei­hen von Blitz­ge­fähr­ten ne­ben­ein­an­der in bei­den schnur­ge­ra­den Rich­tun­gen hin und zu­rück ras­ten. Erst all­ge­mach er­kann­te ich, daß die Glät­te und Ödig­keit der Ge­gend nicht so un­un­ter­bro­chen war, wie ich zu­erst ver­mu­tet hat­te. In großen Ab­stän­den of­fen­bar­ten sich mei­nem Auge, das sich der völ­li­gen Un­ver­traut­heit die­ser Welt erst lang­sam an­pas­sen muß­te, grö­ße­re Baum­grup­pen, oder rich­ti­ger Baum­hau­fen, denn so dicht wa­ren sie ge­setzt, daß sie kei­ne Lücken und Schar­ten auf­wie­sen und wi­der­na­tür­lich kom­pakt wirk­ten. Die­se Bäu­me –– es brauch­te ei­ni­ge Zeit, ehe ich in ih­nen Bäu­me er­kann­te –– wa­ren alle gleich­ar­tig und ziem­lich nied­rig. Ihre star­ren Kro­nen wur­den von le­dri­gem und bei­na­he schwar­zem Laub ge­bil­det, aus wel­chem große wäch­ser­ne Blü­ten her­vor­leuch­te­ten, de­ren gelb­li­chem Weiß ver­schie­de­ne An­deu­tun­gen von Far­be zu­ge­mischt wa­ren. Ich hat­te ähn­li­che Ge­wäch­se nie ge­sehn. Es fiel mir so­fort auf, daß die­se Baum­hau­fen, so­fern sie ir­gend­ein Le­ben über­wölb­ten, ein zar­tes und weh­lei­di­ges Le­ben hü­ten muß­ten.

Der Him­mel war wol­ken­los und glich in sei­ner tief­blau­en Ver­ein­sa­mung die­ser grau­en Erde hier un­ter sei­nem Bo­gen. Ver­mut­lich war die Ta­ges­zeit ziem­lich fort­ge­schrit­ten, denn der Son­nen­ball, der mir et­was rö­ter er­schi­en, als ich ihn in Erin­ne­rung hat­te, warf schie­fe, aber grel­le Strah­len und er­zeug­te eine Tem­pe­ra­tur, die man kal­te Hit­ze oder hei­ße Käl­te hät­te nen­nen kön­nen. Ob­wohl mich das Be­dürf­nis nach dunklen Bril­lenglä­sern er­faß­te, fror mich zu­neh­mend, trotz mei­ner un­sicht­ba­ren Kör­per­ver­fas­sung.

Ich sah B.H. fra­gend an, viel­leicht so­gar un­ge­dul­dig. So­fort er­riet er mei­ne Ge­dan­ken. Er hat­te eine Art, mei­ne Ge­dan­ken zu er­ra­ten, die mir sehr un­be­hag­lich war. War das Ti­bet, frag­te ich mich, oder soll­te es die Er­run­gen­schaft ei­ner Mensch­heit sein, die sich längst nicht mehr in ih­ren An­fän­gen be­fand? Zu dem ver­le­ge­nen Nackt­heits­ge­fühl mei­ner Un­sicht­bar­keit trat so­mit die furcht­sa­me Scham hin­zu, mein Den­ken, Wün­schen, Pla­nen, mei­ne Zu­stim­mung, mei­ne Ab­leh­nung, mei­ne Zwei­fel und mei­ne Kri­tik nicht völ­lig ver­ber­gen zu kön­nen.

»Un­ser Ren­dez­vous«, sag­te er, ohne mei­ne Fra­ge ab­zu­war­ten, »spielt sich in Ca­li­for­nia ab.«

»Wie das, B.H.?«, gab ich zu­rück, ohne eine An­wand­lung ra­schen Är­gers ver­win­den zu kön­nen. »Ca­li­for­nia ken­ne ich. Dort hab’ ich ge­lebt. Dort lebe ich viel­leicht noch im­mer, trotz dei­ner merk­wür­di­gen Theo­rie über mich und mein Tot­sein (üb­ri­gens er­in­ne­re ich mich nicht, dir ein Ren­dez­vous ge­ge­ben zu ha­ben). Hät­test du mir ge­sagt, wir be­fän­den uns hier im Mit­tel­wes­ten des Kon­tin­ents, dort wo einst die end­lo­sen Prä­ri­en sich dehn­ten, ich hät­te dir ohne wei­te­res ge­glaubt. Aber Ca­li­for­nia ken­ne ich ziem­lich gut. Man nennt es mit Fug und Recht pa­ra­die­sisch, ob­wohl ge­wis­se Sn­obs miß­bil­li­gen­de Be­mer­kun­gen über die­sen schö­nen Er­den­fleck zu ma­chen pfle­gen und so­gar be­haup­ten, sie zö­gen das plat­te Flo­ri­da der ab­wechs­lungs­rei­chen West­küs­te vor. Die­se Sn­obs schel­ten Ca­li­for­nia eine mit künst­li­cher Üp­pig­keit über­zo­ge­ne Wüs­te, de­ren ge­schmink­te Ro­sen, Bou­gain­vil­las, Poin­set­ti­as und sons­ti­ge Blu­men nicht duf­ten, de­ren Früch­te und Ge­mü­se nicht schme­cken und de­ren Men­schen schön­ge­wach­sen, aber ge­wis­ser­ma­ßen le­mu­risch sind. Das mag da­mit zu­sam­men­hän­gen, daß Ca­li­for­nia, noch lan­ge vor den uns bei­den so ver­trau­ten An­fän­gen der Mensch­heit, zu dem teil­wei­se ver­sun­ke­nen Kon­ti­nent Le­mu­ria ge­hör­te. Da­von hat sich eine Erin­ne­rung er­hal­ten. Die Le­mu­ren schei­nen ein schat­ten­haf­ter, un­erns­ter Stamm ge­we­sen zu sein, über­tünch­te Grä­ber, mit ei­nem Wort, Schau­spie­ler, die der Welt al­ler­lei Ge­fälsch­tes und Ge­färb­tes vor­gau­kel­ten, das erns­ter Prü­fung nicht stand­hielt. Es gibt einen zeit­ge­nös­si­schen Aus­druck für die­ses Ur-Le­mu­ri­sche, das Wort ›phony‹, und so rümp­fen die Sn­obs heu­te (ich mei­ne mein ei­ge­nes Heu­te oder Ges­tern) ihre Nase über Ca­li­for­nia haupt­säch­lich des­halb, weil dort in ei­ner be­rühm­ten Stadt jene Fil­me, jene pho­to­gra­phi­schen Phan­ta­sie­ges­chich­ten her­ge­stellt wer­den, wel­che ihre Zeit er­obert ha­ben, ob­wohl oder ge­ra­de weil sie le­mu­risch sind. Aber viel­leicht weißt du und dei­ne ge­gen­wär­ti­ge Mensch­heit gar nicht mehr, was das ist, ein Film?«

B.H. schüt­tel­te lang­sam den Kopf und sah mich auf­rich­tig an:

»Nein, das wis­sen wir wirk­lich nicht.«

»Gleich­viel, B.H.«, fuhr ich fort, leicht ver­wun­dert über mei­ne ei­ge­ne er­reg­te Be­red­sam­keit. »Die­ses Ca­li­for­nia ist zu­meist ein ber­gi­ges Land. Ge­gen Os­ten er­he­ben sich die ge­wal­ti­gen, schnee­be­deck­ten Sier­ren, die viel­leicht noch kei­nes Men­schen Fuß er­klomm. Aber auch im Wes­ten, wo der Pa­zi­fi­sche Ozean die Küs­ten be­nagt, gibt es über­all Ber­ge und Hü­gel, und wä­ren’s auch nur Sand­hau­fen aus ver­wit­ter­tem, zer­brö­ckel­tem Ur­ge­stein. Da­zwi­schen ziehn die brei­ten Tä­ler hin, mit un­end­li­chen Obst­kul­tu­ren be­pflanzt, Oran­gen, Li­mo­nen, Gra­pe­fruits, im­mer ist Blü­te­zeit, daß ei­nem Hö­ren und Se­hen ver­geht von dem Duft. Und selbst die Wüs­ten blü­hen im April rosa und vio­lett mit ih­ren hun­dert­fäl­ti­gen Kak­teen. Wo im­mer man steht und geht, blau­en die Ber­ge in der Fer­ne. Hier aber ...«

»Du ver­gißt«, un­ter­brach mich B.H., »daß du ei­ni­ge län­ge­re Er­de­po­chen ver­säumt hast.« (Es klang nach »un­ent­schul­digt ver­säum­ter Schul­zeit«.) »In­zwi­schen sind die meis­ten Er­he­bun­gen der Erd­ober­flä­che ein­ge­eb­net wor­den, teils durch die ord­nungs­ge­mäß geo­lo­gi­sche Ent­wick­lung des Pla­ne­ten, teils durch den Zweck­wil­len sei­ner Be­woh­ner und teils durch je­nes gran­di­os ent­schei­den­de Er­eig­nis, von dem ich vor­läu­fig noch schwei­gen will, um dich nicht all­zu­sehr zu er­schre­cken ... Ber­ge aber gibt es nur mehr au­ßer­halb der Kul­tur­zo­ne ...«

Da­ge­gen ließ sich frei­lich nichts mehr ein­wen­den. Nur um zu nör­geln, brumm­te ich noch:

»Das al­les ist so mo­no­ton ... Ich wünsch­te mir eine Stadt hier­her.«

»Wir sind in ei­ner Stadt«, mein­te mein Freund gut­mü­tig und freu­te sich die­ser Poin­te, ehe er nach ei­ner Wei­le er­klä­rend hin­zu­füg­te: »Wir sind in ei­ner Stadt, wo­fern du un­ter die­sem Wor­te eine zu­sam­men­hän­gen­de Sied­lung ver­stehst. Al­les was du siehst, ist Stadt. Ca­li­for­nia ist der Name ei­ner Stadt. Sie geht nach ei­ni­gen hun­dert Mei­len We­ges in Städ­te über, die an­ders hei­ßen, ob­wohl die Gren­zen zwi­schen die­sen Städ­ten ab­strak­ter, ja rein geis­ti­ger Na­tur sind, denn der gan­ze be­wohn­te Glo­bus ist eine ein­zi­ge Stadt.«

»Nun gut, nenn es Stadt«, sag­te ich, mehr müde als fried­fer­tig, »ob­wohl ich jetzt mit Heim­weh an die Tür­me und Tore uns­rer mit­tel­al­ter­li­chen Hei­mat­stadt den­ken muß, an ihre Hoch­burg, den Hrad­schin, und an ihre go­ti­schen und ba­ro­cken Pa­läs­te ... Wie? Und hier­her bin ich ein­ge­la­den? Hast du mir nicht vor­her ver­ra­ten, daß ich hier­her ein­ge­la­den bin, oder soll­te ich’s nur ge­träumt ha­ben?«

Sei­ne Stim­me wur­de ein we­nig fei­er­lich:

»Du bist mehr als ein­ge­la­den. Man hat dich zi­tiert ...«

Mei­ne Un­sicht­bar­keit kam zwei­fel­los mei­ner In­tel­li­genz und schnel­len Auf­fas­sung zu Hil­fe. Ich ver­stand so­fort. Man hat mich zi­tiert. Wen »zi­tiert« man? Die Geis­ter der Ver­stor­be­nen. Ich selbst war, ohne ein Ge­fühl be­son­de­rer Un­heim­lich­keit, ein sol­cher Geist. Und wer zi­tiert uns? Die Spi­ri­tis­ten, als da zu­meist sind alte, jum­per­stri­cken­de Da­men, pen­sio­nier­te Ge­ne­ra­le des Frie­dens­stan­des, aus­ran­gier­te hö­he­re Staats­be­am­te und so wei­ter. Wer kennt nicht die­se leicht­gläu­bi­ge Ge­sell­schaft um ein hop­sen­des Tisch­chen?

»Also so weit habt ihr es ge­bracht«, fuhr ich un­zie­mend auf, »daß ihr die­se Fin­ger­übun­gen der Ärms­ten im Geis­te aus den An­fän­gen der Mensch­heit re­pe­tiert und die In­tel­li­gen­zen der To­ten zi­tiert? Pla­to, Na­po­le­on, Jack the Rip­per und Ma­da­me Pom­pa­dour? Wie? Ist das aus­denk­bar? Und ich, ich muß es mir ge­fal­len las­sen, eine Ma­te­ria­li­sa­ti­on zu sein, ob­wohl selbst das eine Über­trei­bung ist, denn ich bin ja nicht ein­mal ein ek­to­plas­ti­sches Phä­no­men, son­dern schlecht­hin un­sicht­bar und nur als Be­wußt­sein vor­han­den.«

B.H. blieb ru­hig und ernst:

»Man­ches, was dir noch viel un­aus­denk­ba­rer er­schie­ne, wür­dest du es ken­nen, wir ha­ben’s längst ver­wor­fen; ei­ni­ges aber ha­ben wir ge­ret­tet und fort­ent­wi­ckelt, was du ver­ach­tet hast zu dei­ner Zeit.«

»Zu mei­ner Zeit? War’s nicht auch dei­ne Zeit, B.H.?«

»Ge­wiß, F.W., es war un­ter an­de­ren Zei­ten auch mei­ne Zeit.«

Bit­ter drang es aus mir her­vor:

»Und warum hast du mich zi­tie­ren las­sen, ge­ra­de mich?«

Erst nach ei­nem lan­gem Schwei­gen frag­te er mich zur Ant­wort:

»Hast du nicht in den letz­ten Ta­gen viel an mich den­ken müs­sen, F.W.?«

»Je­den­falls schei­ne ich nur durch dich in die­se Ver­le­gen­heit ge­kom­men zu sein, mich hier zu be­fin­den.«

»Nein, man hat all­ge­mein dei­nem Na­men zu­ge­stimmt«, wehr­te er rasch ab.

Mich aber durch­schau­er­te es ei­tel bei die­sen Wor­ten, vom un­sicht­ba­ren Schei­tel zur un­sicht­ba­ren Soh­le. Wie, nach fünf­zig-, sech­zig-, ja viel­leicht hun­dert­tau­send Jah­ren kennt man noch mei­nen Na­men? Ber­ge sind ein­ge­eb­net, Mee­re sind aus­ge­trock­net, die Gra­vi­ta­ti­on der Son­ne scheint ab­ge­schwächt, ver­mut­lich ist ihr die Erde fer­ner ge­rückt, wie die­se grel­len, aber mat­ten Strah­len be­wei­sen, un­ter de­nen selbst ein Ge­s­penst wie ich friert. Vi­el­leicht sind auch die Tage län­ger ge­wor­den und mit ih­nen das mensch­li­che Le­ben. Trotz die­ser Ver­wand­lung je­doch über alle Maße und Be­grif­fe, kennt man noch mei­nen Na­men, den Na­men ei­nes Men­schen, des­sen gan­zes ver­dienst­lo­ses Ver­dienst es ist, zwi­schen end­lo­sen Pe­ri­oden von Dumpf­heit und Faul­heit in ein paar kur­z­en auf­ge­putsch­ten Stun­den eine An­zahl von nack­ten Sei­ten Pa­piers mit Wor­ten an­ge­füllt zu ha­ben, ge­reim­ten und un­ge­reim­ten. B.H. er­riet na­tür­lich mei­ne über­heb­li­chen Ge­dan­ken ohne Ver­zug.

»Nein, nein, mein Lie­ber, das ist es nicht«, lach­te er, bei­na­he bos­haft. »Für sol­cher­lei hat man fast gar kein Ver­ständ­nis mehr. Ich habe dei­nen Na­men ein­fach aus dem Al­pha­bet ge­sto­chen, ›durch Zu­fall‹, wür­de man da­mals ge­sagt ha­ben, in den dunklen An­fän­gen der Mensch­heit. Dein Name ge­fiel al­len Haus­ge­nos­sen recht wohl, und sie mein­ten ein­hel­lig, F.W. soll un­ser Hoch­zeits­gast sein, und er soll einen Blick tun aus sei­ner pri­mi­ti­ven Zeit in un­se­re fort­ge­schrit­te­ne Zeit. Und wir wol­len uns durch ihn von der kör­ni­gen Kraft je­nes ur­tüm­li­chen Wel­tal­ters an­we­hen las­sen, von dem wir nur so we­nig wis­sen ... Das ist al­les! Und des­halb hat man dich zi­tiert.«

»So, so, da bin ich nun plötz­lich ein Hoch­zeits­gast und eine Art Dar­win­scher Affe«, mur­mel­te ich vor mich hin, wäh­rend ich blitz­schnell mei­ne au­ßer­ge­wöhn­li­che Lage über­schlug. Ich bin ge­stor­ben vor min­des­tens sech­zig- bis hun­dert­tau­send Jah­ren oder noch mehr, je­den­falls vor ei­nem ge­ra­de­zu astro­no­mi­schen Zeit­raum. Das In­ter­reg­num zwi­schen mei­nem Tod und dem jet­zi­gen Au­gen­blick habe ich nicht ganz be­wußt­los zu­ge­bracht. Das ab­ge­leb­te Le­ben in mir wirk­te so stark nach, daß die schier un­end­li­che Pau­se mir nicht län­ger und wich­ti­ger er­scheint als eine kur­ze Nacht. In die­ser kur­z­en Nacht frei­lich scheint mich ei­ni­ges be­trof­fen zu ha­ben, das sich noch nicht ganz zum Lich­te durch­ge­run­gen hat. Wäh­rend­des­sen aber hat mein Freund B.H., von ti­be­ta­ni­schen Mön­chen trai­niert, eine oder meh­re­re Wie­der­ge­bur­ten durch­mes­sen, der fixe Kerl. Und jetzt ge­ra­de nimmt er neu­er­dings teil an ei­ner fort­ge­schrit­te­nen Epo­che der Mensch­heit, wo man mit hun­dert­sie­ben Jah­ren ei­nem Stu­den­ten von 1910 gleicht. Er ist es, der mich dank dem tech­nisch hoch­ent­wi­ckel­ten Spi­ri­tis­mus die­ser Läuf­te hat ins Le­ben zi­tie­ren las­sen, wenn auch nicht ins rich­ti­ge Le­ben (noch war ich von mei­nem Rei­se­er­leb­nis nicht weit ge­nug fort­ge­ris­sen, um nicht zu zwei­feln, ob dies das rich­ti­ge Le­ben sei.) Was tut’s? Ich soll­te we­ni­ger emp­find­lich und cho­le­risch sein. Mein un­sicht­ba­rer Zu­stand, wenn auch mit wah­rem Le­ben nicht zu ver­glei­chen, er­spart mir an­de­rer­seits die Fähr­nis­se, Ri­si­ken und Sin­nes­ver­dunk­lun­gen ei­ner Exis­tenz, die mit sich selbst iden­tisch ist. Ich darf mei­ne Neu­gier frei schwei­fen las­sen. Eine ähn­li­che Ge­le­gen­heit bie­tet sich sel­ten wie­der. So dach­te ich. Laut aber rief ich aus:

»Worauf war­ten wir noch, B.H.? Gehn wir viel­leicht zu Fuß zu die­ser Hoch­zeit?«

»Ja«, nick­te er, »na­tür­lich gehn wir zu Fuß, wir ha­ben ja nur vier­hun­dert Mei­len Wegs.«

Ich hat­te mich si­cher ver­hört. Da­rum dreh­te ich mich um mei­ne ei­ge­ne un­sicht­ba­re Ach­se, nach al­len Sei­ten Aus­schau hal­tend.

»Wo ist dein Auto? Wo ist der nächs­te Park­platz? Ich neh­me an, daß heut­zu­ta­ge je­der Säug­ling sei­nen ei­ge­nen Kraft­kin­der­wa­gen be­sitzt, der von der Mut­ter, die zu Hau­se wirt­schaf­tet, mit­tels Kurz­wel­len si­cher durch den töd­lich dich­tes­ten Ver­kehr ge­lenkt wird. Das war ja bei­na­he zu mei­ner Zeit schon er­reicht.«

»Meinst du un­ter Auto und Kraft­wa­gen et­was, das auf Rä­dern ge­rollt wird?«, frag­te der Wie­der­ge­bo­re­ne, und An­stren­gung des Den­kens und ein leich­ter Ab­scheu lag um sei­nen ju­gend­li­chen Mund. Ich such­te Fas­sung zu be­wah­ren:

»Hör ein­mal, B.H., du be­haup­test, wir be­fin­den uns hier in­mit­ten ei­ner Stadt, ei­ner zu­sam­men­hän­gen­den Sied­lung. Was für eine Stadt aber ist das, die ei­ner noch nicht ent­deck­ten oder schon wie­der ver­las­se­nen Ur­land­schaft gleicht in ih­rer Pon­ti­schen Trost­lo­sig­keit? Erin­nerst du dich nicht aus dei­nen ver­schie­de­nen Rein­kar­na­tio­nen, was eine mo­der­ne Groß­stadt ist oder war? Hast du ver­ges­sen die zehn­tau­send schnit­ti­gen, laut­los glei­ten­den Ge­fähr­te, die von den ro­ten Stop­lich­tern wie Bran­dun­gen ge­staut, von den grü­nen ent­las­sen wer­den wie glän­zen­de Strom­schnel­len? Und die lang­sam sich wei­ter schie­ben­de Lava der gie­rig er­reg­ten Men­ge vor den rie­si­gen Spie­gel­schei­ben der Schau­fens­ter, die stets aufs neue die er­mü­de­te Sinn­lich­keit auf­sta­cheln zu er­füll­bar-un­er­füll­ba­rem Wun­schle­ben? Und in der Nacht die krei­sen­den, ja­gen­den, zu­cken­den Fi­gu­ren des Ne­on­lichts zu un­sern Häup­ten? Was rede ich da? Ich kom­me mir vor, als wäre ich in die re­ak­tio­närs­te Lee­re ver­schla­gen, ja, mei­ner Treu, in eine aus­ge­stor­be­ne Welt des un­faß­bars­ten Rück­schritts! Ist es mög­lich, daß die Tech­nik, an de­ren frü­her Wie­ge wir stan­den, der wir eine Unend­lich­keit von Zu­kunft und Wohl­tat zu­bil­lig­ten, ganz und gar ver­lo­ren und ver­tan sei bin­nen sech­zig- bis hun­dert­tau­send Jah­ren?«

Der alte Freund lä­chel­te nach­sich­tig zu mei­nen Wor­ten.

»Es hat weit we­ni­ger be­durft«, sag­te er, »als solch ei­ner Zeit­span­ne, um das aus­zu­schal­ten, was du ver­mut­lich mit dem heu­te ver­lo­ren ge­gan­ge­nen Be­griff Tech­nik aus­drücken willst, ob­wohl ge­ra­de wäh­rend die­ser Zeit­span­ne je­nes un­ge­heu­re Er­eig­nis ein­trat, das al­lein schon ge­nügt hät­te, das ge­schicht­li­che Ge­dächt­nis der Mensch­heit aus­zu­lö­schen. Die­ses Ge­dächt­nis aber ist nicht aus­ge­löscht wor­den, son­dern nur ein biß­chen ver­wischt, was die Zei­ten vor dem Er­eig­nis be­trifft. Zum Be­wei­se des Ge­sag­ten möge dir die­nen, daß wir noch im­mer die Jah­re, wie in den An­fän­gen der Mensch­heit, von Chris­ti Ge­burt her rech­nen. Die Tech­nik aber, wenn ich mich recht er­in­ne­re, ein pri­mi­ti­ver Greu­el, zu­sam­men­ge­setzt aus Mas­sen­mord, Ben­zin­ge­stank, elek­tri­scher Hoch­span­nung, Atom­zer­trüm­me­rung, lee­rer, lang­sa­mer Ge­schwin­dig­keit und ent­ner­ven­der Be­quem­lich­keits­sucht, un­ser­eins könn­te sie nicht mehr er­tra­gen, ohne ernst­lich zu er­kran­ken. Wer zum Bei­spiel wür­de sich in ei­nes je­ner plum­pen Rä­der­ve­hi­kel set­zen dür­fen –– man be­wahrt ei­ni­ge da­von noch auf –– ohne ei­ner Ner­ven­kri­se aus­ge­setzt zu sein ...«

Er hielt inne und sah mich zö­gernd an. Ich be­merk­te, recht ei­gent­lich zum ers­ten­ma­le, daß B.H. eine alte Fel­d­uni­form trug und Wi­ckel­ga­ma­schen an den Bei­nen hat­te. Bei nä­he­rem Hin­schau­en aber war’s nur die Nach­ah­mung, die Ko­pie ei­ner al­ten Fel­d­uni­form, und zwar in ei­nem mir un­be­kann­ten, über­aus fei­nen, sil­ber­grau­en Schlei­er­stoff.

»Ich will dich nicht be­lei­di­gen, F.W.«, fuhr er fort, »die Men­schen ha­ben ihre Kräf­te im­mer an­ge­strengt und aus­ge­dehnt bis an die Gren­zen, die ih­nen ihre Zeit setz­te. Auch wir ver­wen­den selbst­ver­ständ­lich tech­ni­sche Hilfs­mit­tel, wenn du willst. Nur ist uns­re Tech­nik laut­los, be­schei­den und nicht phy­si­ka­li­scher oder che­mi­scher, son­dern men­ta­ler Art. Sieh dir zum Bei­spiel die­ses In­stru­ment an, das je­der Zeit­ge­nos­se bei sich trägt. Es er­spart un­sern Ein­ge­wei­den, die ihre Ru­he­la­ge nicht ver­än­dern sol­len, jeg­li­ches Aben­teu­er auf rol­len­den Rä­dern. Es er­spart uns so­gar das Aben­teu­er von Ra­ke­ten-Luft­rei­sen der pri­mi­ti­ven Zeit, jene Rei­se­art, die dem Sau­er­stoff­haus­halt mensch­li­cher Her­zen und Lun­gen einst so übel zu­setz­te, daß ge­wis­se Ge­ne­ra­tio­nen es nicht über fünf­zig Jah­re Le­bensal­ter brin­gen konn­ten. All die Ge­ne­ra­tio­nen, die durch die Luft hin und zu­rück eil­ten, um zu kau­fen und zu ver­kau­fen, muß­ten den frü­hen ra­schen Herz­tod hin­neh­men wie ein Na­tur­ge­setz. Die­se Schä­di­gun­gen hat gott­lob die Mensch­heit über­wun­den, ich ver­mag dir gar nicht zu sa­gen, seit wie vie­len Jahr­zehn­tau­sen­den! Die His­to­ri­ker sind sich nicht ei­nig über den ge­nau­en Zeit­punkt, wann die ma­te­ri­el­le Rei­se­art von der ma­the­ma­tisch-men­ta­len Rei­se­art ab­ge­löst wor­den ist. Daß sich die­ser Zeit­punkt aber im dun­kel­graues­ten Al­ter­tum ver­liert, dar­über herrscht kein Zwei­fel ...«

»Ma­the­ma­tisch-men­ta­le Rei­se­art?«, frag­te ich be­stürzt.

»Die­se Sa­che«, trös­te­te er mich, »be­ruht auf ei­ner ur­tüm­lich sim­plen Ein­sicht von der Re­la­ti­vi­tät al­ler be­weg­ten Punk­te des Kos­mos im Ver­hält­nis zu­ein­an­der. Sim­pel wie al­les Gro­ße ist die­se Sa­che, und man sieht ge­ra­de­zu den bra­ven, na­men­lo­sen Hand­werks­mann mit glat­tem, schlich­tem Weiß­haar vor sich, der in my­thi­scher Vor­zeit die Re­la­ti­vi­täts­theo­rie aus­ge­son­nen hat. Kurz ge­faßt: wir be­we­gen uns, wenn wir rei­sen, nicht auf das Ziel zu, son­dern wir be­we­gen das Ziel auf uns zu.«

Wäh­rend die­ser Er­klä­run­gen hielt er mir ein Ding un­ter die Nase, das grö­ßer war als eine Ta­schen­uhr und klei­ner als ein Baro­me­ter, also un­ge­fähr ei­nem be­schei­de­nen Kom­paß glich. Da ich auf B.H.s ab­ge­bis­se­ne Fin­ger­nä­gel starr­te, wur­de ich nicht so­gleich ge­wahr, daß ich In­stru­men­te gleich die­sem längst schon ge­se­hen hat­te. Es schi­en mir ei­nes je­ner Ge­duld­spie­le aus mei­nem Kind­heits­be­sitz zu sein, bei de­nen man durch ge­schick­tes Ma­nö­vrie­ren bun­te Kü­gel­chen in die dazu be­stimm­ten Löch­lein prak­ti­zie­ren muß­te.

»Ich ver­ste­he nichts von Ma­the­ma­tik«, sag­te ich aus­wei­chend, wäh­rend ich das alte Spiel­zeug be­trach­te­te, stau­nend und von un­sag­bar schwer­mü­ti­gen Emp­fin­dun­gen be­wegt.

»Die Ma­the­ma­tik ist nur ein Hilfs­mit­tel«, be­ru­hig­te mich B.H. »Sie ist eine tau­to­lo­gi­sche Ope­ra­ti­on, die ein Zei­chen ei­nem an­de­ren gleich­setzt, um durch sol­che Gleich­set­zun­gen zu un­be­kann­ten Re­sul­ta­ten vor­zu­drin­gen. Auf der Lei­ter der Gleich­set­zun­gen läßt es sich frei­lich ge­trost her­um­klet­tern, wie du sehr bald selbst er­fah­ren wirst.«

Und in­dem er mit stump­fem Zei­ge­fin­ger auf das glas­be­deck­te Zif­fer­blatt des Ge­duld­spiels hin­wies:

»Siehst du hier die bei­den kon­zen­tri­schen Krei­se der klei­nen Löch­lein? Der äu­ße­re ge­hört der Ma­the­ma­tik an. Da müs­sen die blaß­blau­en Kü­gel­chen hin­ein. Hier! Da du un­sicht­bar bist, kannst du ge­wiß auch ohne Bril­le die­se Dia­mant­schrift le­sen ...«

Und ich las ohne Bril­le und ohne Mühe: »›Galak­ti­scher Zeit­punk­t‹ –– ›Pla­ne­ta­rer Zeit­punk­t‹ –– ›Kon­ti­nen­ta­ler Zeit­punk­t‹ –– ›Ört­li­cher Zeit­punk­t‹ –– ›Galak­ti­scher Raum­punk­t‹ –– ›Pla­ne­ta­rer Raum­punk­t‹ –– ›Kon­ti­nen­ta­ler Raum­punk­t‹ –– ›Ört­li­cher Raum­punk­t‹ –– ›Ge­naue Win­kel­nei­gung des Licht­strahls‹.«

»So, da wä­ren wir«, sag­te B.H., wäh­rend er mit jun­gen­haf­ter Freu­de an sei­ner Über­le­gen­heit die blaß­blau­en Kü­gel­chen in die Löch­lein hin­ein­ba­lan­cier­te, wel­che die obi­gen Be­schrif­tun­gen zeig­ten. Die Ge­schick­lich­keit, mit wel­cher er das Ge­duld­spiel be­herrsch­te, war mir ge­ra­de­zu un­faß­lich.

»Ich ver­ste­he nichts da­von«, stieß ich her­vor, »und ich will auch nichts da­von ver­ste­hen.«

Un­be­irrt von mei­nem Wi­der­stand, setz­te er sei­ne Be­leh­rung fort, mit dem Fin­ger­na­gel den in­nern Kreis auf dem Zif­fer­blatt des In­stru­men­tes nach­zie­hend:

»Siehst du, hier? Viel wich­ti­ger als der ma­the­ma­tisch-astro­no­mi­sche ist der men­ta­le Zir­kel. Ver­zeih, den Be­griff ›men­tal‹ könn­test du viel­leicht miß­ver­ste­hen. Es wird da­mit nicht eine blo­ße Tä­tig­keit des In­tel­lekts ge­meint; als men­tal be­zeich­nen wir jede See­len­re­gung, jede Emo­ti­on, die vom Lich­te des Be­wußt­seins rein­ge­wa­schen und so­mit ver­geis­tigt wird ... Wa­rum bist du un­auf­merk­sam? Strengt es dich an, zu­zu­hö­ren ...? Hier, lies mit mir die Ter­mi­ni über den Löch­lein, in die ich jetzt die hel­len grü­nen Kü­gel­chen ein­rol­len las­se: ›Wil­lens­rich­tung‹ –– ›Ver­än­de­rungs­drang‹ –– ›Ziel­si­cher­heit‹ –– ›Mut­maß­li­che Dau­er der Un­ge­duld‹ –– ›Mut­maß­li­che Dau­er der Ge­duld‹.«

»Halt, B.H.«, un­ter­brach ich ihn, ernst­lich ver­wirrt. »Ich bin ein­ge­la­den oder ›zi­tier­t‹, was viel är­ger ist, bei wild­frem­den Leu­ten. Ich weiß nicht, wie und wer die­se Leu­te sind, wie sie hei­ßen, und wie sie le­ben. Ich ken­ne nicht ihre Spra­che, ihre Sit­ten und Ge­bräu­che, ihr Zeit­al­ter, das von dem mei­ni­gen, den An­fän­gen der Mensch­heit, viel­leicht hun­dertzwölf­tau­send­drei­hun­dert­fünf­und­zwan­zig Jah­re ge­trennt ist. Du hast dich durch meh­re­re Wie­der­ge­bur­ten durch­ge­schla­gen und da­von ein Sa­voir Vi­vre be­hal­ten, mit dem du in je­der Ge­sell­schaft wei­ter­kommst. Weißt du denn, wie mir zu­mu­te ist, ei­nem von Na­tur schüch­ter­nen und ver­le­ge­nen Men­schen, der schon im Jah­re 1930 nur mit Schweiß­trop­fen auf der Stirn ein frem­des Wohn­zim­mer be­trat? Wie soll ich mich be­neh­men? Wie soll ich mich ver­hal­ten? Der ein­zi­ge Vor­teil, der mei­nen Ner­ven zu­gu­te kommt, ist der, daß ich un­sicht­bar bin. Du kannst mich nicht so mir nichts dir nichts der Frik­ti­on ei­ner sol­chen Be­geg­nung aus­set­zen, nach ei­ner vol­len Ewig­keit der Ent­wöh­nung ...«

»Da habe du kei­ne Sor­ge«, lä­chel­te er gü­tig. »Dei­ne Schüch­tern­heit, dei­ne Ver­le­gen­heit ent­stammt ja nur ei­ner men­schen­fres­se­ri­schen Zi­vi­li­sa­ti­on, ei­ner auf göt­zen­die­ne­ri­schen Ta­bus er­rich­te­ten Ge­sell­schaft, wo oben und un­ten, groß und klein, reich und arm, schön und häß­lich durch töd­li­che Ab­grün­de von­ein­an­der ge­trennt leb­ten! Ich ver­spre­che dir, du wirst den freund­lichs­ten, den hüb­sche­s­ten, den takt­volls­ten Leu­ten bei der Hoch­zeits­ge­sell­schaft be­geg­nen, in we­ni­gen Mi­nu­ten ... Siehst du, es fehlt nur mehr das letz­te hell­grü­ne Kü­gel­chen für das Löch­lein, über wel­chem die Wor­te stehn: ›Scharf ein­ge­stell­ter Wunsch.‹«

»Hab’ doch ein Ein­sehn, B.H.«, bat ich, »ehe es zu spät ist. Du kannst mich doch nicht ohne alle In­for­ma­tio­nen und Ratschlä­ge hin­ein­schnei­en las­sen in die­se Welt! Vi­el­leicht wäre es am klügs­ten, das Gan­ze jetzt noch rück­gän­gig zu ma­chen. Bit­te, bit­te, hilf mir! Vi­el­leicht kannst du mich ver­schwin­den las­sen. Du weißt, ich bin stolz. Ich möch­te mich nicht gern bla­mie­ren.«

So pein­lich die­ses Be­kennt­nis für einen Rei­se­schrift­stel­ler auch sein mag, in die­sem Au­gen­blick war mei­ne Ei­tel­keit, mein Hoch­mut und mei­ne Angst grö­ßer als mei­ne Neu­gier und die ge­bo­te­ne jour­na­lis­ti­sche Aben­teu­er­lust. B.H. aber küm­mer­te sich nicht um mich, son­dern hat­te jetzt ei­ni­ge Mühe, das letz­te Kü­gel­chen ins letz­te Löch­lein zu brin­gen und da­mit das Ziel auf uns zu be­we­gen.

»Sei nur nicht ner­vös«, sag­te er, ohne auf­zu­schau­en, »du wirst gar nichts spü­ren ... Heu­te abend wirst du noch dein ei­ge­nes In­stru­ment be­sit­zen.«

Und er faß­te mich mit sei­ner frei­en Hand un­ter, so daß wir eine Ein­heit bil­de­ten.

Als das Kü­gel­chen end­lich in das Löch­lein des »Scharf ein­ge­stell­ten Wun­sches« sprang, gab es einen klei­nen, an­ge­neh­men Knacks, nicht ein Zehn­tel so deut­lich wie der leich­te elek­tri­sche Schlag, den man an kla­ren Win­ter­ta­gen in New York er­hält, wenn ei­nem je­mand die Hand reicht. Ich er­war­te­te nun, die Fer­ne wer­de laut­los aber ra­pid un­serm fes­ten Stand­ort ent­ge­gen­stür­zen. Nichts der­glei­chen ge­sch­ah. Man muß­te schon einen schar­fen Beo­b­ach­tungs­sinn be­sit­zen, um un­mit­tel­bar zu er­ken­nen, daß sich Zahl, Lage und An­ord­nung der großen Baum­hau­fen rings­um auf der end­los öden Ebe­ne ohne Über­gang ver­än­dert hat­ten. Ei­ner die­ser dich­ten Baum­be­stän­de lag nun kei­ne fünf­zehn Schrit­te von uns ent­fernt. Blaß leuch­te­ten die wäch­ser­nen Blü­ten mit ih­ren va­gen Far­ban­deu­tun­gen von den re­gungs­lo­sen Zwei­gen im schwar­zen, le­der­nen Laub. Wir wa­ren am Ziel, oder ge­nau­er, das Ziel war an uns. Wir be­gan­nen, uns­re Bei­ne zu be­we­gen, B.H. sei­ne sicht­ba­ren, ich mei­ne un­sicht­ba­ren. Es war ein merk­wür­di­ges Ver­gnü­gen, auf die­sem grau­haa­ri­gen Ra­sen­tep­pich aus­zu­schrei­ten, mit dem der gan­ze ge­al­ter­te Erd­ball be­legt zu sein schi­en.

Plötz­lich konn­te ich mich nicht län­ger be­herr­schen, blieb stehn und schrie B.H. an:

»Ich gehe kei­nen Schritt wei­ter, ehe du mir nicht sagst, was du un­ter dem ›un­ge­heu­ern Er­eig­nis‹ ver­stehst, mit dem du mich nicht er­schre­cken willst ...«

Viertes Kapitel

Wo­rin ich die ge­for­der­te Be­leh­rung emp­fan­ge, das Haus der Hoch­zei­ter be­tre­te und dem Kreis er­schei­ne, der mich zi­tiert hat.

»Es war ein ganz ge­wöhn­li­cher Tag«, be­gann B.H., »ein Wo­chen­tag ...«

Er un­ter­brach sich und blick­te mit ge­run­zel­ter Stirn auf den wun­der­voll ge­pfleg­ten, ei­sen­grau­en Ra­sen hin­aus, der ganz un­ver­ständ­li­cher­ma­ßen die glat­te Erde be­deck­te, von Ho­ri­zont zu Ho­ri­zont. Ich spür­te, daß es mei­nem Freun­de eine ganz be­trächt­li­che Selb­st­über­win­dung kos­te­te, über »das Er­eig­nis« zu spre­chen. Um ihm die Sa­che zu er­leich­tern, schal­te­te ich im­mer wie­der Fra­gen ein. Zum Bei­spiel fol­gen­de:

»Und du warst an die­sem ganz ge­wöhn­li­chen Tage wie­der ein­mal am Le­ben, B.H., wie?«

»So ge­nau kann ich das nicht im­mer sa­gen, F.W.«, er­wi­der­te er streng. »Merk dir’s! Manch­mal näm­lich ver­mischt sich in mei­nem Be­wußt­sein die ei­ge­ne per­sön­li­che Er­fah­rung mit dem all­ge­mei­nen his­to­ri­schen Wis­sen. Das Er­eig­nis aber bleibt mei­ne ei­ge­ne Er­fah­rung, ob­wohl es der größ­te all­ge­mei­ne Ein­druck ist, wel­chen die Mensch­heit je­mals hat­te. Du weißt ja selbst, daß große Ein­drücke und schwe­re Wun­den erst nach und nach fühl­bar wer­den, und daß die Erin­ne­rung den Au­gen­blick der Ver­wun­dung oft aus­zu­sto­ßen trach­tet. Es war je­den­falls ein Tag wie je­der an­de­re Tag ...«

»Ver­zeih, B.H.«, un­ter­brach ich ihn neu­er­dings, »könn­test du viel­leicht das Da­tum die­ses all­täg­li­chen Wo­chen­tags nä­her be­stim­men?«

»Wenn dir mit ei­nem Da­tum ge­dient ist«, zuck­te er die Ach­seln, »bit­te schön. Es war ein über­aus be­wölk­ter Frei­tag. Und sonst, was je­des Kind seit un­denk­li­chen Zei­ten weiß, war’s ein drei­zehn­ter No­vem­ber ...«

»Daß es heut­zu­ta­ge noch einen be­wölk­ten All­tag oder gar einen ech­ten grau­en No­vem­ber­drei­zehn­ten ge­ben könn­te, das scheint mir sehr zwei­fel­haft«, sag­te ich, in­dem ich die selt­sam tro­ckene Luft ein­schnup­per­te und zum nack­ten, un­be­schütz­ten Blau des Him­mels auf­blick­te.

»Das hast du ganz rich­tig er­kannt, F.W.«, lob­te mich mein Freund. »Wol­ken sind eine große Köst­lich­keit, die wir astro­men­ta­len Men­schen hoch ver­eh­ren ...«

»Aber zu ei­nem ech­ten drei­zehn­ten No­vem­ber ge­hört eine Groß­stadt«, schloß ich, nicht ohne Starr­sinn.

»Mein Gott, du stehst doch auf dem Bo­den ei­ner Groß­stadt«, er­klär­te B.H., lei­se ener­viert.

»Ich neh­me an«, mo­kier­te ich mich, »daß dei­ne Groß­stadt an je­nem drei­zehn­ten No­vem­ber sich an­ders prä­sen­tiert hat.«

»Das ist doch selbst­ver­ständ­lich, F.W.«, wies der Wie­der­ge­bo­re­ne mei­nen leich­ten Spott zu­rück. »Na­tür­lich hat sie an­ders aus­ge­se­hen und hat hun­dert Jah­re vor­her und hun­dert Jah­re nach­her wie­der ganz an­ders aus­ge­se­hen. Der Weg ist lang, mein Lie­ber, den ich kom­me. Da­mals, am drei­zehn­ten No­vem­ber, gab es ent­we­der noch oder schon wie­der Häu­ser über der Erde. Das Men­te­lo­bol frei­lich war noch nicht be­kannt. Wir be­weg­ten nicht das Ziel auf uns zu, son­dern uns auf das Ziel zu, mit enor­mer und höchst un­ge­sun­der Ge­schwin­dig­keit. Du hät­test dei­ne Freu­de ge­habt an je­ner Groß­stadt. Man trat durch die la­by­rin­thischs­ten Pas­sa­gen auf die Stra­ße hin­aus. Es gab noch den fröh­lichs­ten Un­ter­schied zwi­schen Trot­toir und Fahr­bahn. Es gab dich­ten Ver­kehr. Oben flo­gen die Gy­ro­pla­ne. Ihre Ge­schwin­dig­keit mach­te sie so un­sicht­bar, wie du es zum Bei­spiel jetzt bist, F.W. Un­ten stau­ten sich Frau­en und Män­ner und Kin­der vor den mäch­ti­gen Schau­fens­tern, hin­ter wel­chen Tag und Nacht die glän­zends­ten Re­vuen und Ope­ret­ten von großen Künst­lern auf­ge­führt wur­den. So­gar an den lie­ben Milch­mann er­in­ne­re ich mich noch, des­sen Wä­gel­chen mit den Schlit­ten­schel­len von ei­nem Hund ge­zo­gen wur­de. Jene Zeit war halt ziem­lich zu­rück­ge­blie­ben.«

»Und es reg­ne­te«, ver­such­te ich B.H. aufs The­ma zu­rück­zu­brin­gen.

»Nein, es reg­ne­te nicht«, sag­te er ver­son­nen, »es nie­sel­te nicht ein­mal, es war nur sehr dun­kel. Nach­her stell­ten die Jour­na­lis­ten eine Welt­un­ter­gangs­stim­mung fest, die vor­her ge­herrscht habe. Ich und nie­mand von mei­nem Kreis hat­te das ge­rings­te da­von be­merkt. Frei­lich, das darf ich nicht ver­ges­sen: die furcht­ba­re Auf­re­gung der Vö­gel fiel selbst den na­tur­blin­den Groß­städ­tern auf.«

»Und wann be­gann das mit der Auf­re­gung der Vö­gel?«

»Es soll kurz nach Mit­ter­nacht be­gon­nen ha­ben. Durch einen sel­te­nen Zu­fall ver­brach­te ich jene Nacht auf den drei­zehn­ten zu Hau­se. Mil­lio­nen von Vö­geln fie­len in die Groß­stadt ein, von der ich spre­che. Bit­te, frag nicht nach ih­rem Na­men. Ich weiß ihn ab­so­lut nicht mehr. Nach den Vö­geln darfst du fra­gen, selbst­ver­ständ­lich. Alle Ar­ten wa­ren dar­un­ter, die es da­mals gab, große und klei­ne. Von Kon­do­ren, Gei­ern, Ha­bich­ten, Kor­mo­ra­nen her­un­ter bis zu Schwal­ben, Mei­sen und Spat­zen. Mehr Na­men von Vö­geln sind mir nicht mehr ge­läu­fig. Die fla­chen Dä­cher, Dach­gär­ten, Schau- und Wohn­tür­me, Ba­lus­tra­den, An­ten­nen, Fein­me­tall­ge­rüs­te zum Empfan­ge kos­mi­scher Wel­len und Strah­len, die An­la­gen der Fern­sub­stanz­zer­stö­rer, all das war schwarz, pech­schwarz von großen und klei­nen Vö­geln, die dicht ne­ben­ein­an­der hock­ten und ein ge­wal­ti­ges Kla­ge­ge­schrei und Ge­zwit­scher er­ho­ben, das sich nicht be­schrei­ben läßt. Es war ein ein­zi­ger, scharf­ge­zack­ter We­he­laut, der un­ter den tief­hän­gen­den Wol­ken vi­brier­te ...«

»Und das nennst du einen or­di­nären All­tag«, schüt­tel­te ich den Kopf.

»Er war es«, nick­te B.H., »ein ganz or­di­närer Wo­chen­tag, ein Frei­tag, ein drei­zehn­ter No­vem­ber wie­der ein­mal. Die ers­ten Ex­trablät­ter be­rich­te­ten die Sa­che mit den Vö­geln be­reits um zwei Uhr mor­gens eben­so wie die ver­schie­de­nen wel­len­ver­sen­den­den Agen­zi­en. Den Ura­no­gra­phen, den du ver­mut­lich bald ken­nen ler­nen wirst, gab’s da­mals noch nicht. Wir durch­lie­fen ge­ra­de eine stark ra­tio­na­lis­ti­sche Epo­che, und das Ver­trau­en in die Wis­sen­schaft war un­be­ding­ter, als du es je er­lebt hast, F.W. Die ge­lehr­ten In­sti­tu­te nah­men die An­ge­le­gen­heit noch mit­ten in der Nacht in die Hand. Um vier Uhr früh war das Phä­no­men ge­prüft, ana­ly­siert und er­klärt. Es hing zu­sam­men mit ir­gend­wel­chen elek­tro­ma­gne­ti­schen Un­re­gel­mä­ßig­kei­ten, die zum Ent­ste­hen gan­zer Ket­ten von Ku­gel­blit­zen in den un­tern Schich­ten der At­mo­sphä­re ge­führt hat­ten.«

»Im­mer we­ni­ger All­tag, mein Bes­ter«, fiel ich ein und spür­te ge­nau, wie ich mit den Schul­tern zuck­te, ob­wohl sie un­sicht­bar wa­ren.

»Glaub mir, F.W., bis auf das Vo­gel­ge­schrei war’s der ba­nals­te Frei­tag, den du dir den­ken kannst. Und wie lan­ge braucht eine rich­ti­ge Me­tro­po­le, um über das ex­trems­te Ge­schrei zur Ta­ges­ord­nung über­zu­ge­hen? Zwei, drei Stun­den. Um elf Uhr drei­ßig hat­te sich die Welt be­reits dar­an ge­wöhnt, und die Schlag­zei­len der Mit­tags­zei­tun­gen be­schäf­tig­ten sich wie­der mit den Eheaf­fä­ren ei­nes welt­be­rühm­ten Ven­tri­lo­quis­ten ...«

»Und um elf Uhr fünf­und­fünf­zig?«, frag­te ich.

»Da be­gann ich ge­ra­de mein Ge­sicht ein­zusei­fen«, er­wi­der­te B.H., voll Nach­denk­lich­keit. »Um die­se Zeit er­hob sich da­mals der ar­bei­ten­de Kul­tur­mensch. Dies ist näm­lich eine mei­ner ge­si­cherts­ten Er­fah­run­gen im Lau­fe so man­cher Wie­der­ge­bur­ten: Je fort­ge­schrit­te­ner die Mensch­heit, um so spä­ter steht sie auf.«

»Und um zwölf Uhr zwan­zig?«, frag­te ich hart­nä­ckig wei­ter.

»Um zwölf Uhr vierund­vier­zig«, sag­te er und mach­te eine län­ge­re Pau­se, ehe er fort­fuhr, »um zwölf Uhr vierund­vier­zig ver­ließ ich mei­nen kom­for­ta­blen Le­bens­raum, um ei­ner Ein­la­dung zum Früh­stück Fol­ge zu leis­ten. Es ist üb­ri­gens durch­aus un­wahr, daß wir da­mals, wie ein ge­schichts­schrei­ben­der Witz­bold es for­mu­lier­te, in über­aus prak­ti­schen ›Wohn­sär­gen‹ leb­ten, die sich nach un­serm Hin­schied me­cha­nisch ver­kap­sel­ten und selbst­tä­tig in die Erde ver­senk­ten. All das ist Schwin­del. Un­se­re Le­bens­räu­me wa­ren wohl recht klein, aber an­ge­nehm wie ein elas­ti­scher Hand­schuh. Längst wa­ren die Zei­ten vor­über, wo der Mensch um sei­nen Platz an der Son­ne, und noch mehr um sei­nen Platz im Schat­ten zu kämp­fen hat­te ...«

»Jetzt ist es min­des­tens zwölf Uhr fünf­zig Mi­nu­ten, B.H.«, dräng­te ich un­ge­dul­dig, denn ich fühl­te, wie er mir auf Sei­ten­we­gen ent­wi­schen woll­te. »Du bist aus dei­nem Le­bens­raum, aus dei­nem Haus ge­tre­ten. Ich fürch­te, du wirst zu spät zum Lunch kom­men ...«

»Ich wer­de über­haupt nicht zu die­sem Lunch kom­men, F.W.«, lä­chel­te er träu­me­risch. »Ich wer­de ge­ra­de noch un­se­ren städ­ti­schen Park in der nächs­ten Nähe er­rei­chen. Du weißt, daß ich im­mer die Fort­be­we­gung per pe­des apo­sto­lo­rum ge­schätzt habe. Mei­ne Ab­sicht war’s auch dies­mal, zu den Freun­den, die mich ein­ge­la­den hat­ten, ganz ge­mäch­lich hin­zu­bum­meln. Ich kam frei­lich nicht weit ...«

»Weil in­zwi­schen das Er­eig­nis ein­trat?«, trieb ich ihn vor­wärts. Er sah son­der­bar ver­stört durch mich hin­durch. Die Erin­ne­rung schi­en ihn noch im­mer zu ver­wir­ren.

»Wie kann man«, frag­te er ins Lee­re, das ich war, »von et­was, was kei­ne oder fast kei­ne Zeit in An­spruch nimmt, leicht­fer­tig sa­gen, es tre­te ein?«

»Fast kei­ne Zeit ist im­mer­hin so gut wie jede an­de­re Zeit«, er­klär­te ich. »Das Er­eig­nis währ­te dem­nach den Bruch­teil ei­ner Se­kun­de, B.H.? Vi­el­leicht kannst du die­sen Bruch­teil in Zah­len aus­drücken ...«

»Und ob ich’s kann«, ent­geg­ne­te er und schrieb in die Luft sehr ge­schwind eine be­trächt­li­che Rei­he von Nul­len, an de­ren Ende er ener­gisch einen Ein­ser setz­te.

»Ich ver­ste­he nichts da­von«, er­wog ich, »aber ich den­ke, ein Bruch­teil von sol­cher Win­zig­keit kann ja gar nicht sinn­lich wahr­ge­nom­men wer­den.«

»Gar nicht sinn­lich wahr­ge­nom­men wer­den«, wie­der­hol­te er bei­na­he höh­nisch. »Ich sage dir, wir alle glaub­ten, das Er­eig­nis habe Ewig­kei­ten ge­dau­ert. Wäh­rend es statt­fand, wa­ren wir wie aus der Zeit ge­wor­fen. Hin­ter der schwe­ren, di­cken Wol­ken­wand des drei­zehn­ten No­vem­bers flamm­te plötz­lich vom Auf­gang zum Nie­der­gang das Em­py­re­um auf, der Feu­er­him­mel, von dem die Men­schen einst ge­glaubt hat­ten, daß er hin­ter al­len an­de­ren Him­meln lie­ge. Wie soll ich dir das Un­ge­heu­er­li­che schil­dern, es gab nichts mehr, kei­ne Stadt, kei­ne Häu­ser, kei­nen Park, kei­ne Al­lee, kei­nen Baum, kein Ich, kein Du, es gab nur Licht, ein Licht aber, ge­gen das al­les be­kann­te Licht die schmut­zigs­te Däm­me­rung war ...«

»Ich habe im­mer ge­fürch­tet«, mur­mel­te ich er­schüt­tert, »die Son­ne kön­ne ein­mal eine Her­zat­ta­cke oder einen Wahn­sinns­an­fall be­kom­men ...«

»Nenn’ es, wie du willst«, sag­te er. »An je­nem Frei­tag, dem drei­zehn­ten No­vem­ber, droh­te die Son­ne mit sich selbst durch­zu­gehn. Man kennt das ja von an­de­ren Licht­ge­stir­nen, die ur­plötz­lich ex­plo­die­ren, das heißt zur mil­lio­nen­fa­chen Grö­ße ih­rer selbst an­wach­sen. Ich weiß nicht, ob wir in un­se­rer ge­mein­sa­men Gym­na­si­al­zeit schon et­was von der No­va­bil­dung ge­lernt ha­ben, oder ob das erst eine viel spä­te­re Ent­de­ckung war. Das Gro­ße aber an un­se­rer Son­ne ist, daß sie zu­gleich, als sie mit sich durch­ging, sich selbst be­herrsch­te und sich selbst in der Ge­walt be­hielt. So kam es nur zu dem großen Er­eig­nis der ›Trans­pa­renz‹ und nicht zur Ver­nich­tung. Das Er­eig­nis über­schritt die Gren­ze des Geis­ti­gen kaum. Und doch, wir ha­ben den Jüngs­ten Tag er­lebt ...«

»Wie furcht­bar muß es ge­we­sen sein«, hör­te ich mich mur­meln, »wie furcht­bar.«

»Furcht­bar!«, rief er aus. »Es war herr­lich, un­aus­drück­bar herr­lich! Wäre die Kür­ze des Au­gen­blicks nur um eine feh­len­de Null län­ger ge­we­sen, al­les wäre vor­bei für im­mer. Hät­te ir­gend­ein We­sen auf Er­den wäh­rend der ›Trans­pa­renz‹ ein bren­nen­des Streich­holz in der Hand ge­hal­ten, die At­mo­sphä­re hät­te sich ent­zün­det und wäre wie eine Flam­men­fah­ne in den Raum ver­pufft. Wa­rum? Weil der Sau­er­stoff der Luft vor und nach der Trans­pa­renz ei­ni­ge Se­kun­den lang ums Drei­fa­che ver­mehrt war. Aber es gab eben kei­ne Streich­hölz­chen mehr auf Er­den, kein of­fe­nes Feu­er und nicht ein­mal La­va­strö­me. Da sind heu­te noch Ge­lehr­te, die be­haup­ten, die Ver­meh­rung des Sau­er­stof­fes in der At­mo­sphä­re sei die Ur­sa­che der gött­li­chen Be­geis­te­rung, der un­aus­sprech­li­chen Ek­sta­se ge­we­sen, die mich und al­les an­de­re, das leb­te, in je­nem Bruch­teil von Zeit er­füll­te ...«

»Wie soll ich mir vor­stel­len«, wun­der­te ich mich, »daß in ei­nem sol­chen Bruch­teil von Zeit sich über­haupt eine Emp­fin­dung ent­wi­ckeln kann, B.H.?«

»Du kannst dir die­sen Bruch­teil ähn­lich vor­stel­len, F.W., wie etwa die Stei­ge­rung in ei­nem nie­mals er­dach­ten Sym­pho­nie­satz. Ach Gott, das al­les ist ein Blöd­sinn, und du kannst dir gar nichts vor­stel­len. Ver­su­che aber trotz­dem dir vor­zu­stel­len, du hät­test bis­her nur als Fi­gur auf ei­nem Bil­de ge­lebt, und plötz­lich brichst du leib­haf­tig und drei­di­men­sio­nal aus der Lein­wand. Stell dir vor, das, was du bis­her für dein Le­ben ge­nom­men hast, sei nichts als ein Krampf, eine ver­küm­mern­de Kon­trak­tur al­ler Mus­keln, und mit ei­nem Schla­ge bist du von die­sem Krampf er­löst und in der rich­ti­gen Hal­tung. So un­ge­fähr emp­fan­den wir das Le­ben wäh­rend der Trans­pa­renz ... Oh, du hast viel ver­schla­fen, F.W.«

»Ich habe mir nicht ge­wünscht, ge­weckt zu wer­den«, er­wi­der­te ich eben­so un­lo­gisch wie pi­kiert.

»Fühlst du dich wirk­lich so un­wohl in dei­nem Man­tel aus Durch­sich­tig­keit?«, frag­te er, und ich merk­te, daß ich ihn ge­kränkt hat­te.

»Wenn ich dei­nen kla­ren Be­richt über­den­ke, B.H.«, lenk­te ich ein, »so hat es sich we­ni­ger um ein astro­no­mi­sches Er­eig­nis ge­han­delt, das un­rett­bar zum Un­ter­gang ge­führt hät­te, als um ein un­end­lich kurz­fris­ti­ges Schwan­ken in der Son­nen­na­tur zwi­schen Dau­er und Ver­nich­tung, zwi­schen Fort­strah­len und Zu­sam­men­flam­men, um einen Au­gen­blick auf des Mes­sers Schnei­de gleich­sam, der sich in der Licht­er­schei­nung aus­drück­te, die du oder die Wis­sen­schaft ›Trans­pa­renz‹ nennt. Ich ver­ste­he die Be­geis­te­rung, die Ek­sta­se des Jüngs­ten Ta­ges und der Wel­ter­lö­sung, die die­se Trans­pa­renz aus­lös­te. Sonst aber scheint sie er­geb­nis­los und ohne Fol­gen vor­über­ge­gan­gen zu sein ...«

»Sie hat­te Fol­gen«, fiel er mir ins Wort, »die Trans­pa­renz ver­lief nicht nur wie ein Schau­spiel ...«

»Aber kei­ne phy­si­ka­li­schen und che­mi­schen Fol­gen«, warf ich ein, »bis auf die au­gen­blick­li­che Ver­meh­rung des at­mo­sphä­ri­schen Sau­er­stoffs ...«

»Irr­tum«, sag­te B.H., »das Er­eig­nis hat­te eine Men­ge von phy­si­ka­li­schen Fol­gen. Daß ei­ni­ge Mil­lio­nen Men­schen wäh­rend der Trans­pa­renz star­ben, ist nicht so wich­tig. Aber sieh nach oben, F.W., und du wirst die Fol­gen se­hen, oder rich­ti­ger, nicht se­hen ...«