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Die 1900 von Schnitzler verfasste Erzählung widmet sich dem großen Thema des von der Freud'schen Psychoanalyse stark beeinflussten Schriftstellers. Im gleichen Jahr erschien Freuds TRAUMDEUTUNG. Schnitzler greift, begeistert davon, Erkenntnisse auf und setzt sie in FRAU BERTA GARLAN um.
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Seitenzahl: 248
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Arthur Schnitzler
Frau Berta Garlan
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Impressum neobooks
Langsam schritt sie den Hügel hinab; nicht über die breite Fahrstraße, die in Windungen zur Stadt hinunterlief, sondern über den schmalen Weg zwischen den Weingeländen. Ihr kleiner Bub, den sie an der Hand hielt, ging immer einen Schritt voraus, denn für beide war nicht Platz genug. Die späte Nachmittagssonne strahlte ihr entgegen und hatte noch so viel Kraft, dass Berta ihren dunklen Strohhut ein wenig tiefer in die Stirn drücken und den Blick senken musste. Auf den Hängen, an die die kleine Stadt sich lehnte, flimmerte es wie ein goldener Nebel, die Dächer unten glänzten, und der Fluss, der dort, außerhalb der Stadt, zwischen den Auen hervorkam, zog leuchtend ins Land. Die Luft war ganz regungslos, und die Kühle des Abends schien noch fern.
Berta blieb einen Augenblick stehen und sah um sich. Sie war ganz allein mit ihrem Buben, und eine merkwürdige Stille war um sie. Auch oben auf dem Friedhof hatte sie heute niemanden begegnet, nicht einmal die alte Frau, die sonst die Blumen begoss, den Gräberschmuck in gutem Stand erhielt, und mit der sie manchmal plauderte. Es kam Berta vor, als wäre sie schon recht lang vom Hause fort und hätte schon lang mit niemandem gesprochen. Jetzt schlug es von einem Kirchturme sechs Uhr. So war noch kaum eine Stunde verflossen, seit sie ihre Wohnung verlassen, und noch kürzere Zeit, dass sie auf der Straße mit der schönen Frau Rupius geplaudert. Und selbst die wenigen Minuten, die verstrichen waren, seit sie am Grabe ihres Mannes gestanden, schienen ihr schon weit zu liegen. –
»Mama!« hörte sie plötzlich ihren Buben rufen. Er hatte sich von ihrer Hand losgemacht und warvorausgelaufen. »Mama, ich kann schneller gehen als du!«
»So warte doch, Fritz!« rief Berta. »Du wirst die Mama doch nicht allein lassen.« Sie folgte ihm und nahm ihn wieder bei der Hand.
»Gehen wir schon nach Hause?« fragte der Kleine.
»Ja, Fritz, wir wollen uns zum offenen Fenster setzen, so lang, bis es ganz dunkel wird.«
Bald waren sie am Fuß des Hügels angelangt und spazierten nun unter den schattigen Kastanien, neben der staubweißen Reichsstraße, dem Städtchen zu. Auch hier trafen sie nur wenige Menschen. Auf der Fahrstraße kamen ihnen ein paar Lastwagen entgegen, die Kutscher trotteten daneben, die Peitsche in der Hand, zwei Radfahrer kamen aus der Stadt und fuhren landeinwärts, Staubwolken hinter sich lassend. Unwillkürlich blieb Berta stehen, sah den beiden nach, bis sie beinahe ganz verschwunden waren.
Indes war der Kleine auf eine Bank geklettert. »Schau, Mama, was für eine Kunst ich kann!« rief er aus und machte sich bereit, herunterzuspringen. Die Mutter fasste ihn bei den Armen und hob ihn sorgsam herab. Dann setzte sie sich.
»Bist du müd?« fragte der Kleine.
»Ja,« sagte sie und wunderte sich selbst, dass es so war. Denn jetzt erst fühlte sie, dass die schwüle Luft sie bis zur Schläfrigkeit ermattet hatte. Sie erinnerte sich übrigens nicht, jemals Mitte Mai so warme Tage erlebt zu haben.
Von der Bank aus, auf der sie saß, konnte sie den Weg zurück verfolgen, den sie gekommen war, wie er zwischen den Weingeländen in der Sonne hinauflief, bis zu der hell glänzenden Friedhofmauer. Es war ein Spaziergang, den sie zwei- oder dreimal in der Woche zu machen pflegte. Schon lange hatte dieser Wegfür sie nichts anderes zu bedeuten. Wenn sie dort oben auf dem gepflegten Kies, zwischen den Kreuzen und Steinen umherwandelte, und am Grab ihres Mannes ein stilles Gebet verrichtete oder auch ein paar Feldblumen hinlegte, die sie auf dem Hinweg selbst gepflückt, empfand sie kaum mehr die leiseste schmerzliche Bewegung. Freilich waren nun drei Jahre hingegangen, seit sie ihn begraben, ebenso viele als sie mit ihm zusammen verlebt hatte. –
Ihre Augen schlossen sich. Sie gedachte ihrer Ankunft in der Stadt, wenige Tage nach ihrer Hochzeit, die noch in Wien stattgefunden. Sie hatten eine kleine Reise gemacht, wie sie sich eben ein Mann in geringen Verhältnissen gestatten konnte, der eine Frau ganz ohne Mitgift geheiratet. Sie waren mit dem Schiff von Wien aus stromaufwärts gefahren und hatten in einem kleinen Ort in der Wachau, ganz nahe ihrem künftigen Bestimmungsort, ein paar Tage zugebracht. Berta erinnerte sich noch deutlich des kleinen Gasthofs, in dem sie gewohnt, des Gärtchens am Fluss, wo sie nach Sonnenuntergang zu sitzen pflegten, an diese ruhigen und etwas langweiligen Abende, die so völlig anders waren, als sie sich, ein ganz junges Mädchen, die Abende einer jungen Ehe vorgestellt hatte. Freilich, sie hatte sich bescheiden müssen.
Sie war sechsundzwanzig Jahre alt und stand ganz allein, als Victor Mathias Garlan um sie anhielt. Ihre Eltern waren eben gestorben. Der eine ihrer Brüder war schon lang vorher nach Amerika gegangen, um dort als Kaufmann sein Glück zu versuchen, der jüngere war beim Theater, hatte eine Schauspielerin zur Frau genommen und spielte auf deutschen Bühnen dritten Rangs Komödie. Zu ihren Verwandten stand sie kaum in Beziehung, nur im Haus einer Cousine, die einen Advokaten geheiratet, verkehrte sie zuweilen.Aber auch diese Freundschaft war mit jedem Jahr kühler geworden, da die junge Frau mit einer Art Inbrunst sich ausschließlich ihrem Mann und ihren Kindern widmete und wenig Interesse, mehr für die unverheiratete Freundin übrig hatte.
Herr Garlan war ein entfernter Verwandter von Bertas verstorbener Mutter; er hatte in früheren Jahren viel im Hause verkehrt und dem jungen Mädchen in etwas unbeholfener Weise den Hof gemacht. Damals hatte Berta keinen Grund, ihn zu ermutigen, das Leben und das Glück zeigte sich ihr in anderen Gestalten. Sie war jung und hübsch, die Verhältnisse im Hause ihrer Eltern waren behaglich, wenn auch nicht reich, und ihr lag die Hoffnung näher, als eine große Klaviervirtuosin, vielleicht als Gattin eines Künstlers, in der Welt umherzuziehen denn im Frieden der Familie eine bescheidene Existenz zu führen. Aber diese Hoffnung verblasste bald, da ihr Vater eines Tags in einer Aufwallung seiner bürgerlichen Anschauungen ihr den weiteren Besuch des Konservatoriums nicht mehr gestattete, wodurch sowohl ihre Aussichten auf eine Künstlerlaufbahn, als ihre Beziehungen zu dem jungen Violinspieler, der seither so berühmt geworden war, ein Ende nahmen. Dann verflossen ein paar Jahre in einer sonderbaren Dumpfheit; anfangs mochte sie wohl etwas wie Enttäuschung oder gar Schmerz empfunden haben, aber das hatte gewiss nicht lange gedauert. Später waren Bewerber gekommen, ein junger Arzt und ein Kaufmann, die sie beide nicht hatte nehmen wollen; den Arzt, weil er zu hässlich, den Kaufmann, weil er in einer Provinzstadt ansässig war. Die Eltern redeten ihr auch nicht lebhaft zu. Aber als Berta sechsundzwanzig alt wurde und der Vater durch einen Bankrott sein kleines Vermögen verlor, musste sie verspätete Vorwürfe hören wegenaller möglichen Dinge, die sie selbst zu vergessen anfing: wegen ihrer früheren künstlerischen Pläne, wegen jener längstvergangenen aussichtslosen Geschichte mit dem Violinspieler, wegen ihrer ablehnenden Haltung gegen den hässlichen Arzt und den Kaufmann aus der Provinz. Zu dieser Zeit war Victor Mathias Garlan nicht mehr in Wien ansässig; die Versicherungsgesellschaft, in der er seit seinem zwanzigsten Jahr als Beamter tätig war, hatte ihn vor zwei Jahren, auf seinen eigenen Wunsch, als Leiter einer neugegründeten Filiale nach der kleinen Stadt an der Donau versetzt, wo sein verheirateter Bruder als Weinhändler lebte. Als er damals in Bertas Hause Abschied genommen, hatte er in einem längeren Gespräch, das auf Berta einen gewissen Eindruck übte, erwähnt, dass er besonders deshalb um seine Versetzung nach der kleinen Stadt angesucht, weil er sich alt werden fühlte, nicht mehr zu heiraten gedächte und doch gern eine Art Heim bei Leuten hätte, die ihm naheständen. Die Eltern hatten damals über seine Auffassung, die etwas hypochondrisch schien, gescherzt; denn Garlan war kaum vierzig Jahre alt. Berta aber fand sie sehr vernünftig, denn ihr war Garlan nie eigentlich jung vorgekommen. Im Lauf der nächsten Jahre kam Victor Mathias Garlan öfters geschäftlich nach Wien und versäumte niemals, die Familie aufzusuchen. Dann pflegte Berta nach dem Nachtmahl Klavier vorzuspielen, und er hörte ihr mit einer gewissen Andacht zu, sprach wohl auch von seinem kleinen Neffen und von seiner kleinen Nichte, die beide sehr musikalisch wären und der er oft von Fräulein Berta erzählte als der vorzüglichsten Klavierspielerin, die er je gehört. Es schien sonderbar, und die Mutter konnte gelegentlich ihre Bemerkungen darüber nicht unterdrücken, dass Herr Garlan seit seiner schüchternen Werbung in früherer Zeit auchnicht mehr die leiseste Anspielung auf Vergangenes oder gar auf eine mögliche Zukunft gewagt hatte, und zu den anderen Vorwürfen, die Berta zu hören bekam, gesellte sich nun auch der, dass sie Herrn Garlan mit zu großer Gleichgültigkeit, ja mit Kälte begegnete. Berta schüttelte nur den Kopf, denn sie selbst dachte auch damals noch nicht daran, den etwas unbeholfenen Mann, der vor der Zeit alterte, zu heiraten. Nach dem plötzlichen Tod der Mutter, welcher erfolgte, während der Vater schon durch viele Monate krank war, erschien Herr Garlan wieder in Wien und teilte mit, dass er einen vierwöchigen Urlaub genommen, den einzigen, um den er jemals angesucht hatte. Berta merkte wohl, dass er nur gekommen war, um ihr in dieser schweren Zeit beizustehen. Und als nun auch der Vater eine Woche nach dem Begräbnis der Mutter starb, erwies sich Garlan als treuer Freund und zudem von einer Energie, die sie ihm nie zugetraut hatte. Er veranlasste seine Schwägerin, auf einige Wochen nach Wien zu kommen, um der Verwaisten in der ersten Zeit beizustehen und sie ein wenig zu zerstreuen; und er ordnete die geschäftlichen Angelegenheiten geschickt und schnell. Er war von einer Herzlichkeit, die Berta in diesen schlimmen Tagen sehr wohl tat, und als er sie nach Ablauf seines Urlaubs fragte, ob sie seine Frau werden wollte, nahm sie seinen Antrag mit dem Gefühl der tiefsten Dankbarkeit an. Sie wusste wohl, dass sie sonst genötigt gewesen wäre, sich nach wenigen Monaten vielleicht durch Lektionen ihr Brot selbst zu verdienen, überdies hatte sie Garlan so schätzen gelernt und sich so sehr an ihn gewöhnt, dass sie ihm in der Stunde, da er sie in die Kirche zur Trauung führte und im Wagen zum ersten Mal fragte, ob sie ihn lieb hätte, ein aufrichtiges Ja zur Antwort geben konnte.
Schon in den ersten Tagen merkte sie freilich selbst, dass sie keine Liebe für ihn fühlte. Seine Zärtlichkeit ließ sie sich eben gefallen, anfangs mit einem gewissen Staunen der Enttäuschung, später mit Gleichgültigkeit, und, erst als sie sich Mutter fühlte, mit dem guten Willen, sie zu erwidern. An das stille Wesen in der kleinen Stadt hatte sie sich rasch gewöhnt, umso leichter, als sie auch in Wien zurückgezogen gelebt hatte. In der Familie ihres Mannes fühlte sie sich recht wohl; der Schwager schien ihr ganz liebenswürdig und lustig, wenn auch mitunter derb; seine Frau war gutmütig und zuweilen etwas traurig. Der Neffe – zur Zeit, als Berta in die Stadt kam, zählte er dreizehn Jahre – war hübsch und keck; die Nichte ein sehr stilles Kind von neun Jahren, mit großen, erstaunten Augen, war Berta von allem Anfang an am herzlichsten zugetan. Als Berta ihren Buben bekam, wurde er von den Kindern als willkommenes Spielzeug begrüßt, und in den nächsten zwei Jahren fühlte sie sich vollkommen glücklich. Ja, sie glaubte zuweilen, dass ihr Schicksal sich gar nicht günstiger hätte gestalten können. Der Lärm, die Unruhe der großen Stadt erschienen ihr in der Erinnerung wie etwas Unangenehmes, beinahe Gefährliches, und als sie einmal mit ihrem Mann hineingefahren war, um einige Einkäufe zu machen und der Zufall es fügte, dass es ein ärgerlicher, schmutziger Regentag war, schwur sie sich zu, niemals wieder diese langweilige und überflüssige Reise von drei Stunden zu unternehmen.
Ihr Mann starb plötzlich, an einem Frühlingsmorgen, drei Jahre, nachdem er sie geheiratet. Ihre Bestürzung war groß. Sie fühlte, dass sie diese Möglichkeit überhaupt nie im Auge gehabt hatte. Sie blieb in recht beschränkten Verhältnissen zurück. Aber bald wurde von der Schwägerin eine liebenswürdige Art gefunden,die Witwe zu unterstützen, ohne dass es wie ein Almosen ausgesehen hätte. Man bat sie, die Kinder im Klavierspiel weiter auszubilden und verschaffte ihr auch in einigen anderen Häusern der Stadt Lektionen. Es war ein stilles Übereinkommen, dass man immer so tat, als wenn sie diese Lektionen nur übernommen, um sich ein wenig zu zerstreuen, und dass man sie dafür bezahlte, weil man sich ja ihre Zeit und Mühe unmöglich schenken lassen konnte. Was sie nun auf diese Weise verdiente, genügte vollkommen, um ihre Einnahmen in einer für ihre Lebensweise ausreichenden Art zu ergänzen. So war sie denn, nachdem erst der Schmerz und dann die Traurigkeit über das Hinscheiden ihres Mannes überwunden war, wieder ganz zufrieden und heiter. Ihr bisheriges Leben war nicht so verflossen, dass sie jetzt irgendetwas zu entbehren glaubte. In ihren Gedanken an die Zukunft beschäftigte sie kaum je anderes als das allmähliche Heranwachsen ihres Kleinen, und nur selten flog ihr die Möglichkeit einer neuen Heirat durch den Sinn, immer ganz flüchtig, da sich noch niemand gezeigt, an den sie in dieser Hinsicht ernstlich denken mochte. Regungen von jugendlichen Wünschen, die ihr zuweilen in wachen Morgenstunden kamen, verflogen immer wieder im gleichmäßigen Lauf der Tage. Erst seit Beginn dieses Frühlings fühlte sie sich weniger behaglich als bisher; sie schlief nicht mehr so ruhig und traumlos als früher, sie hatte zuweilen eine Empfindung der Langeweile, die sie nie gekannt, und das Sonderbarste war eine plötzliche Ermattung, die sie manchmal bei helllichtem Tage überkam, in der sie das Kreisen des Blutes in ihrem ganzen Körper zu verspüren meinte, und die sie an eine ganz frühe Epoche ihrer Mädchenzeit erinnerte. Anfangs war ihr das Gefühl in aller seiner Bekanntheit doch so fremd, dass ihr war, als hätte ihreinmal eine ihrer Freundinnen davon erzählt. Erst als es sich häufiger wiederholte, besann sie sich, dass sie selbst es schon früher erlebt hatte.
Sie schauerte zusammen, und es war ihr, als erwachte sie aus einem Schlaf. Sie öffnete die Augen. Die Luft schien ihr wie in einer schwirrenden Bewegung. Sie Straße lag bereits zur Hälfte im Schatten, die Friedhofmauer oben auf dem Hügel glänzte nicht mehr; Berta bewegte ihren Kopf einige Mal rasch hin und her, wie um sich ganz zu erwecken. Ihr schien, als wäre ein ganzer Tag, eine ganze Nacht verflossen, seit sie sich hierher auf die Bank gesetzt hatte. Wie ging das nur zu, dass ihr die Zeit so auseinander rann? Sie sah um sich. Wo war denn ihr Bub? Da hinter ihr spielte er mit den Kindern des Doktor Friedrich, das Kindermädchen kniete neben ihnen auf dem Boden und half ihnen aus Sand eine Burg bauen. Die Allee war nun belebter als früher. Berta kannte beinah alle Leute, jeden Tag sah sie dieselben. Da sie aber die meisten selten sprach, zogen sie wie Schatten an ihr vorbei; hier kam der Sattler Peter Nowak mit seiner Frau, auf seinem kleinen Landwagen fuhr Doktor Rellinger vorbei und grüßte sie, dann kamen die beiden Töchter des Hausbesitzers Wendelein, und dort radelte der Leutnant Baier mit seiner Braut langsam die Straße ins Land hinaus. Dann schien wieder alle Bewegung auf kurze Zeit vorbei, und Berta hörte nichts als das Lachen der Kinder hinter sich. Jetzt sah sie wieder jemanden von der Stadt her langsam herankommen, den sie schon von weitem erkannte. Es war Herr Klingemann, der sie in der letzten Zeit öfter als früher anzureden pflegte. Vor zwölf oder fünfzehn Jahren war er aus Wien in die kleine Stadt übergesiedelt; es hieß, dass er früher Arzt gewesen und seine Praxis wegen irgendeines Kunstfehlers oder eines noch böseren Versehens hatteaufgeben müssen. Andere behaupteten, dass er es überhaupt nie bis zum Doktor gebracht und schließlich als alter Student das Studieren aufgegeben. Er selbst gab sich als Philosophen aus, den das Leben in der Großstadt, nachdem er es bis zum Überdruss genossen, angewidert und der deshalb in die kleine Stadt gezogen war, wo er mit den Resten seines Vermögens anständig leben konnte. Er war jetzt kaum älter als fünfundvierzig, hatte noch seine guten Tage, sah aber meistens recht verwittert und unangenehm aus. Schon von weitem lächelte er der jungen Witwe zu, beeilte seine Schritte aber nicht und blieb endlich mit einem spöttischen Kopfnicken, das sein Gruß gegenüber jedermann war, vor ihr stehen.
»Guten Abend, schöne Frau,« sagte er.
Sie erwiderte seinen Gruß. Es war heute einer jener Tage, wo er wieder auf Jugend und Eleganz Anspruch zu machen schien. Er war in einen dunkelgrauen Gehrock wie eingeschnürt und hätte auf dem Kopf einen schmalkrempigen, braunen Strohhut mit schwarzem Band, dazu trug er eine ganz kleine rote Krawatte, die etwas schief saß. Nachdem er eine Weile geschwiegen und seinen leicht angegrauten blonden Schnurrbart hinauf und hinunter gezogen hatte, sagte er: »Sie kommen wohl von dort oben, gnädige Frau?« Er wies mit der einen Hand, ohne seinen Kopf oder nur seine Augen zu wenden, gewissermaßen verächtlich über seine Schulter nach rückwärts in die Gegend des Friedhofs. Herr Klingemann galt in der ganzen Stadt als ein Mann, dem nichts heilig war; und Berta musste, als er so vor ihr stand, an allerlei denken, was man von ihm erzählte. Es war bekannt, dass er ein Verhältnis mit seiner Köchin hatte, die er übrigens »Wirtschafterin« nannte, zugleich ein anderes mit einer Tabaktrafikantin, welche ihn mit einem Hauptmann des hierstationierten Regiments betrog, was er Berta mit stolzer Trauer erzählt hatte; außerdem gab es einige heiratsfähige Mädchen in der Stadt, die für ihn ein gewisses Interesse hegten. Spielte man darauf an, so pflegte er höhnische Bemerkungen über das Institut der Ehe im Allgemeinen zu machen, was ihm zwar von manchem übel vermerkt wurde, im Ganzen aber doch den Respekt vor ihm erhöhte.
»Ich habe einen kleinen Spaziergang gemacht,« sagte Berta.
»Allein?«
»Oh nein, mit dem Buben.«
»Richtig, da ist er ja! Grüß dich Gott, kleiner Sterblicher.« Er sah, während er das sagte, über den Kleinen hinweg. »Darf man sich auf einen Augenblick zu Ihnen setzen, Frau Berta?« Er sprach ihren Namen spöttisch aus und setzte sich, ohne ihre Antwort abzuwarten. »Ich habe Sie heute Vormittag Klavier spielen gehört,« fuhr er fort. »Wissen Sie, was ich für einen Eindruck habe? Dass Ihnen die Musik alles ersetzen muss.« Er wiederholte: »Alles« und sah sie dabei an, dass sie rot wurde. Dann fuhr er fort: »Wie schade, dass ich so selten Gelegenheit habe, Sie zu hören! Wenn ich nicht zufällig an Ihrem offenen Fenster vorbeigehe, während Sie spielen –«
Berta merkte, dass er immer näher an sie herangerückt war und mit seinem Arm den ihren berührte. Sie rückte unwillkürlich weg. Plötzlich fühlte sie sich von rückwärts umschlungen, ihren Kopf über die Lehne der Bank zurückgebeugt, eine Hand über ihre Augen gehalten. Einen Moment lang hatte sie die Empfindung, als fühlte sie die Hand Klingemanns über den Augenlidern und rief: »Aber sind Sie denn verrückt!« Die lachende Stimme eines Knaben hinter ihr erwiderte: »Nein, wie komisch das ist, wenn du zu mir ›Sie‹ sagst, Tante Berta!«
»So las mich doch wenigstens die Augen aufmachen, Richard!« sagte Berta und versuchte, die Hände von ihren Augen zu entfernen; dann wandte sie sich um und fragte: »Kommst du vom Hause?«
»Ja, Tante, da hab ich dir auch die Zeitung mitgebracht.« Berta nahm ihm das Blatt aus der Hand und begann darin zu lesen. Indes stand Klingemann auf und wandte sich zu Richard. »Haben Sie schon Ihre Aufgaben gemacht?« fragte er ihn.
»Wir haben überhaupt keine Aufgaben mehr, Herr Klingemann, denn im Juli haben wir Matura.« »Also wirklich, das nächste Jahr sind Sie schon Student?« »Das nächste Jahr? Im Herbst!« Dabei schwippte er mit den Fingern über die Zeitung der Tante.
»Was willst du denn, ungezogener Bursch?«
»Du, Tante, wirst du mich in Wien besuchen?«
»Ja, könnt mir einfallen! Ich werd froh sein, wenn ich dich los bin.«
»Da kommt Herr Rupius,« sagte Richard.
Berta ließ das Blatt sinken. Sie sah in die Richtung, welche Richards Blick wies. In der Allee von der Stadt her kam in einem Rollstuhl, den ein Dienstmädchen vor sich herschob, ein Mann herangefahren; er hatte den Kopf unbedeckt, der weiche Hut lag auf seinem Schoß, von dem ein Plaid bis über seine Füße herabfiel. Die Stirn war hoch, die Haare schlicht und blond, an der Stirngrenze ergraut, die Augen eigentümlich groß. Als er an der Bank vorüberfuhr, neigte er nur leicht den Kopf, ohne zu lächeln. Berta wusste, dass er sicher hätte anhalten lassen, wenn sie allein gewesen wäre; er sah auch nur sie an, als er vorbeifuhr, und sein Gruß schien nur ihr zu gelten. Ihr war, als hätten seine Augen noch nie so ernst geblickt als heut. Das machte sie sehr traurig, denn sie hatte ein tiefes Mitleid mit dem gelähmten Mann.
Als er vorüber war, sagte Klingemann: »Armer Teufel! Und das Weibchen ist wohl wieder einmal in Wien?«
»Nein,« sagte Berta beinah erzürnt, »ich hab sie vor einer Stunde gesprochen.« Klingemann schwieg, denn er fühlte, dass weitere Bemerkungen über die geheimnisvollen Reisen der Frau Rupius sich mit seinem eigenen Ruf als freidenkender Mensch nicht vertragen hätten.
»Wird er wirklich nie wieder gehen können?« fragte Richard.
»Nie,« sagte Berta. Sie wusste es, weil es ihr Herr Rupius selbst einmal gesagt hatte, als sie ihn besuchte, während seine Frau in Wien war. Er kam ihr in diesem Augenblick besonders elend vor, denn gerade als Herr Rupius an ihnen vorbeigerollt wurde, war sie beim Lesen der Zeitung auf den Namen von einem gestoßen, den sie für einen Glücklichen hielt. Unwillkürlich las sie noch einmal. »Unser berühmter Landsmann Emil Lindbach ist von seiner Kunstreise durch Spanien und Frankreich, die ihm große Triumphe brachte, vor wenigen Tagen wieder nach Wien zurückgekehrt. In Madrid hatte der ausgezeichnete Künstler die Ehre, vor der Königin zu spielen. Am 24. dieses wird Herr Lindbach bei dem Wohltätigkeitskonzert zugunsten der durch die letzte Überschwemmung so schwer geschädigten Einwohner von Vorarlberg mitwirken, für das sich trotz der vorgerückten Saison lebhaftes Interesse im Publikum kundgibt.«
Emil Lindbach. Es kostete ihr eine gewisse Mühe, sich vorzustellen, dass es derselbe war, den sie – wann? – vor zwölf Jahren geliebt hatte. Vor zwölf Jahren. Sie fühlte, wie es ihr heiß in die Stirne stieg. Es war ihr, als müsste sie sich ihres allmählichen Älterwerdens schämen.
Die Sonne war ganz hinunter. Berta nahm den Knaben bei der Hand, empfahl sich von den anderen und ging langsam heimwärts. Das Haus, in dessen erstem Stock sie wohnte, lag in einer neuen Straße; von ihren Fenstern hatte sie den Blick auf die Hügel, und ihr gegenüber lagen unbebaute Plätze. Berta übergab ihren Kleinen dem Mädchen, setzte sich ans Fenster, nahm die Zeitung zur Hand und las weiter. Es war ihre Gewohnheit geblieben, zuerst die Kunstnachrichten durchzuschauen; die stammte noch aus ihrer frühesten Kinderzeit, als sie mit ihrem Bruder, dem jetzigen Schauspieler, auf die vierte Galerie ins Burgtheater zu gehen pflegte. Dieses Interesse wuchs natürlich, als sie das Konservatorium besuchte; sie kannte damals die Namen der kleinsten Schauspieler, Sänger, Pianisten, und als später der häufige Theaterbesuch, der Unterricht im Konservatorium und ihre eigenen künstlerischen Bestrebungen ein Ende nahmen, blieb doch eine Art von Anteilnahme an dieser fröhlichen Welt in ihr zurück, die etwas vom Heimweh an sich hatte. Schon in der letzten Zeit ihres Wiener Aufenthalts hatten ja alle diese Dinge kaum mehr etwas für sie zu bedeuten, wie wenig erst, seit sie in der kleinen Stadt wohnte, wo gelegentliche Dilettantenkonzerte das Höchste waren, was an künstlerischen Genüssen geboten wurde. Im ersten Jahre ihres Hierseins hatte sie bei einem solchen Abend im Gasthof »zum roten Apfel« mitgewirkt, das heißt, sie hatte mit einer anderen jungen Dame der Stadt zwei Märsche von Schubert vierhändig gespielt. Ihre Aufregung war damals so groß gewesen, dass sie sich verschwor, je wieder öffentlich aufzutreten, und recht froh war, ihre Karriere aufgegeben zu haben. Dazu musste man ganz anders angelegt sein, so etwa wie Emil Lindbach. – Ja, der war dazu geboren! Das hatte sie erkanntin dem Augenblick, da sie ihn das erste Mal bei einer Schülerproduktion aufs Podium treten gesehen, an der Art, wie er sich unbefangen das Haar zurückgestrichen, die Leute unten mit spöttischer Überlegenheit angesehen und sich gleich für den ersten Beifall mit einer Ruhe bedankt hatte, als war er das längst gewohnt. Sonderbar! wenn sie an Emil Lindbach dachte, sah sie ihn noch immer so jünglingshaft, ja knabenhaft vor sich, als er zu der Zeit aussah, da sie einander gekannt und geliebt hatten. Und doch hatte sie vor ganz kurzem, als sie mit Schwager und Schwägerin einmal abends im Kaffeehaus war, in einem illustrierten Blatt eine Photographie von ihm gesehen, auf der er sehr verändert aussah. Er trug die Haare nicht mehr lang, der schwarze Schnurrbart schien mit dem Eisen nach abwärts gedreht, er hatte einen auffallend hohen Kragen und eine nach der Mode geschlungene Krawatte. Die Schwägerin hatte gefunden, er sehe aus wie ein polnischer Graf.
Berta nahm die Zeitung wieder vor und wollte weiterlesen, aber es war schon zu dunkel. Sie stand auf, rief nach dem Mädchen. Die Lampe wurde hereingebracht, der Tisch gedeckt. Berta aß mit dem Kleinen zur Nacht, während das Fenster offen stehen blieb. Sie empfand heute für ihr Kind eine noch größere Zärtlichkeit als sonst, auch dachte sie an die Zeit zurück, in der ihr Mann noch gelebt hatte, und allerlei Erinnerungen flogen ihr durch den Sinn. Während sie Fritz zu Bette brachte, weilte ihr Blick recht lang auf dem Porträt ihres verstorbenen Mannes, das in einem dunkelbraunen, ovalen Holzrahmen über ihrem Bette hing. Er hatte sich in ganzer Figur aufnehmen lassen, im Frack, mit weißer Krawatte, den Zylinder in der Hand, zum Gedächtnis an den Hochzeitstag. Berta wusste in diesem Augenblick ganz bestimmt,dass Herr Klingemann beim Anblick dieses Porträts spöttisch gelächelt hätte.
Später setzte sie sich ans Klavier, wie sie es nicht selten vor dem Schlafengehen zu tun pflegte, nicht eben aus Begeisterung für die Musik, sondern um nicht gar zu früh zu Bett zu gehen. Sie spielte dann meistens die wenigen Sachen, die sie noch auswendig kannte, Mazurken von Chopin, irgendeinen Satz aus einer Beethovenschen Sonate, die Kreisleriana, zuweilen phantasierte sie auch, brachte es aber nie über eine Folge von Akkorden, und zwar waren es immer dieselben. Heute fing sie gleich damit an, ihre Akkorde zu greifen, etwas leiser als sonst, dann versuchte sie Modulationen, und als sie einen letzten Dreiklang recht lang durch das Pedal nachklingen ließ – die Hände hatte sie schon in den Schoß gelegt – empfand sie gelinde Freude über die Töne, welche sie gleichsam umschwebten. Jetzt fiel ihr die Bemerkung Klingemanns ein: »Die Musik ersetzt Ihnen alles.« Wahrhaftig, er hatte nicht ganz unrecht gehabt. Die Musik musste ihr mindestens viel ersetzen. Aber alles? – Oh nein.
Was war das? Schritte gegenüber ... Nun, das war nichts Merkwürdiges. – Aber regelmäßige, langsame Schritte, als wenn jemand auf und ab ginge. Sie stand auf und trat zum Fenster. Es war ganz dunkel, und sie konnte den Mann, der da drüben spazierte, nicht gleich erkennen, aber sie wusste: es war Klingemann. Was für ein Einfall? Sollte er ihr eine Fensterpromenade machen?
»Guten Abend, Frau Berta,« sagte er von drüben, und sie sah, wie er im Dunkel den Hut lüftete.
Sie antwortete, beinah befangen: »Guten Abend.«
»Sie haben sehr schön gespielt, gnädige Frau.«
Sie erwiderte nichts als ein leises »So?«, das er vielleicht gar nicht hörte.
Er blieb eine Sekunde stehen, dann sagte er: »Gute Nacht, schlafen Sie wohl, Frau Berta.« Er sagte das Wort »schlafen« mit einer Betonung, die nahezu unverschämt war. Sie dachte: nun geht er nach Hause zu seiner Köchin. Dann fiel ihr plötzlich etwas ein, was sie schon sehr lang wusste, woran sie aber, seit sie es erfahren, nicht mehr gedacht: in seinem Zimmer sollte ein Bild hängen, das stets von einem kleinen Vorhang überdeckt war und das eine laszive Szene vorstellte. Wer hatte ihr das nur erzählt? – Ach ja, Frau Rupius, im vorigen Herbst einmal während eines Spazierganges an der Donau, und die hatte es wieder von jemand anderm erfahren – von wem nur? Was für ein widerwärtiger Mensch! Berta kam sich ein bisschen verworfen vor, dass sie an ihn und an alle diese Dinge dachte. Sie blieb noch am Fenster stehen. Ihr war, als hätte sie einen schweren Tag hinter sich. Sie dachte nach, was ihr denn eigentlich begegnet sei, und sie wunderte sich, dass es schließlich doch nur ein Tag gewesen war wie viele hundert vor ihm und viele, viele, die noch kommen würden.
Man stand vom Tische auf. Es war eines jener kleinen Sonntagsdiners gewesen, das der Weinhändler Garlan gelegentlich seinen Bekannten zu geben pflegte. Der Herr des Hauses näherte sich seiner Schwägerin und fasste sie um die Taille, was zu seinen Nachmittagsgewohnheiten gehörte.
Sie wusste schon, was er wollte. Wenn er Leute eingeladen hatte, musste Berta nach dem Essen Klavier spielen, manchmal auch vierhändig mit Richard. Das leitete in angenehmer Weise zürn Kartenspielen über oder klang auch anmutig hinein. Sie setzte sich an das Instrument. Indes wurde die Tür zum Herrenzimmer aufgetan; Garlan, Doktor Friedrich und HerrMartin setzten sich an einen kleinen, grünen Tisch und begannen zu spielen. Die Gattinnen der drei Herren blieben im Speisezimmer, und Frau Martin zündete sich eine Zigarette an, setzte sich auf den Diwan und schlug die Beine übereinander. Sie trug sonntags immer Ballschuhe und schwarze Seidenstrümpfe. Frau Doktor Friedrich sah wie gebannt auf die Füße der Frau Martin. Richard war den Herren gefolgt, er interessierte sich schon fürs Tarockspiel. Elly stützte ihren Ellbogen auf die Klavierdecke und wartete, bis Berta zu spielen begänne. Die Frau des Hauses ging aus und ein, sie hatte immer in der Küche Aufträge zu geben und klapperte mit dem Schlüsselbund, den sie in der Hand hielt. Als sie jetzt hereinkam, machte ihr Frau Doktor Friedrich mit den Augen ein Zeichen, das bedeuten sollte: Schauen Sie doch an, wie Frau Martin dasitzt!