Frau Böhning will weg - Katharina Münk - E-Book

Frau Böhning will weg E-Book

Katharina Münk

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Beschreibung

Bedarf es erst einer Pandemie, um die Abenteuerlust zu wecken, die schon lange in uns schlummert? Bei den Böhnings ist das so. Es ist das verdammte Fernweh, das die beiden gegen jede Vernunft zu einer Reise verführt – ausgerechnet zu Corona-Zeiten. Und es kommt, wie es kommen muss: aus hundertprozentiger Planung wird hundertprozentiges Chaos, aus skurrilen Zufällen werden echte Bewährungsproben. So gerät Böhnings Reise mehr und mehr zu einer Selbsterkundung. Da hilft nur eine ordentliche Prise Humor.... Dieses Buch ist mehr als die Geschichte einer wiederentdeckten Liebe. Es ist ein Plädoyer für Mut, Phantasie und Zuversicht, auch in Zeiten der Krise.

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Seitenzahl: 205

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Katharina Münk

Frau Böhningwill weg

Eine Reisegeschichte der anderen Art

Roman

Bedarf es erst einer Pandemie, um die Abenteuerlust zu wecken, die schon lange in uns schlummert? Bei den Böhnings ist das so. Es ist das verdammte Fernweh, das die beiden gegen jede Vernunft zu einer Reise verführt – ausgerechnet zu Corona-Zeiten. Und es kommt, wie es kommen muss: aus hundertprozentiger Planung wird hundertprozentiges Chaos, aus skurrilen Zufällen werden echte Bewährungsproben. So gerät Böhnings Reise mehr und mehr zu einer Selbsterkundung. Da hilft nur eine ordentliche Prise Humor.

Dieses Buch ist mehr als die Geschichte einer wiederentdeckten Liebe. Es ist ein Plädoyer für Mut, Phantasie und Zuversicht, auch in Zeiten der Krise.

© GEIGER Images_Manuel Geiger

Katharina Münk ist Roman-, Sachbuch- und Drehbuchautorin. Mit „Und morgen bringe ich ihn um“ und „Die Insassen“ stand sie wochenlang auf den Bestsellerlisten. Katharina Münk greift in ihren mit prallem Leben gefüllten Geschichten auf unterhaltsame Weise Themen unserer Zeit auf. Ihre Romane „Die Insassen“ und „Die Eisläuferin“ wurden für ARD und ZDF verfilmt.

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.

Verlag GOYA

© 2021 Jumbo Neue Medien & Verlag GmbH, Hamburg

Umschlaggestaltung: Marcelo Marques unter Verwendung der Fotos von iStock: photoarthouse, medesulda, Alisa Pravotorova, MNStudio, M. Kaercher und amriphoto

Lektorat: Lena Eckle

eISBN 978-3-8337-4376-4

Der gleichnamige Hörbuch-Download (EAN 4064066919061), gelesen von Jürgen Uter, ist im Jumbo Verlag unter dem Label GOYA LiT erschienen.

Weitere Informationen zu unserem Programm finden Sie unter www.jumboverlag.de

Inhalt

Prolog

Frau Böhning will weg

„Das Leben ließ sich wohl nicht rein biologisch erfassen. Es war mehr als das.

Es bestand aus Erinnerungen, aus Träumen, aus Entscheidungen und Spuren, die alles überdauern konnten und noch nicht einmal an einen einzigen Körper gebunden waren. Man konnte sie teilen und weitergeben, man konnte für Geschichten sorgen, die begannen mit ‚Weißt du noch, als …‘, Geschichten, die so verrückt waren, dass man sich an sie erinnern würde.“

Frau Böhning

Prolog

„Bleiben Sie ganz ruhig. Jetzt bitte keine Panik.“ Der Polizist hob die Arme wie zur Abwehr nach vorn in die Luft. Er hörte sich an wie eine Selbstmord-Hotline oder zumindest so, wie man sich diese eben vorstellte.

Die Böhnings blickten sich an und fanden, dass man recht aufgeräumt und gefasst aussah, vielleicht kleidungstechnisch etwas exzentrisch, eben der Situation geschuldet, aber nicht gerade nach Randale. Sie waren Nachkriegskinder, krisenerprobt und viel herumgekommen. Sie waren die lebende Lebenserfahrung. Der Beamte dort vorn hätte ihr Sohn sein können. Gut, Frau Böhning saß auf ihrem Koffer mit den Füßen im Schotter, aber auch das war schließlich nicht verboten. Und ihr Mann hätte durchaus schon früher körperbetonte Kleidung tragen sollen. Sie stand ihm gar nicht einmal schlecht, fand Frau Böhning. An ihnen konnte es also nicht liegen. Vermutlich würde der Polizist sich selbst beruhigen wollen, schließlich waren alle etwas angefasst dieser Tage.

Herr Böhning versuchte, zu deeskalieren, und ging langsam einen Schritt auf den Beamten zu, woraufhin dieser einen Schritt zurückwich und seine Hand unauffällig seitlich an den Gürtel legte.

„Panik hatten wir auf dieser Reise schon genug, glauben Sie mir. Wir sind langsam zu alt für Panik.“ Herr Böhning war erstaunt, dass ihm dieser Kommentar so souverän über die Lippen kam und dass ihn der Anblick eines Revolvers mittlerweile erstaunlich kalt ließ. Auf eine Waffe mehr oder weniger kam es jetzt auch nicht mehr an, und der gefährlichere Mann war stets der Mann, der die Nerven behielt und mutig genug war, einen Jersey-Anzug für Damen zu tragen. Es würde Filme darüber geben. „Es wäre furchtbar nett, wenn Sie uns aus dieser misslichen Lage befreien könnten.“ Er blickte an sich hinunter. „Uns ist ein wenig kalt, wenn ich das mal so sagen darf, und wir werden sicher eine Anzeige machen müssen.“

Der Beamte schien sich langsam zu beruhigen und inspizierte sie nun etwas gefasster mit schräg gelegtem Kopf, gerade so, als könne man das Virus mittlerweile mit bloßem Auge erkennen, wenn man nur genau hinsah. Er kramte einen kleinen Block aus seiner Gesäßtasche. „Wie viele Haushalte sind Sie?“

„Das können wir Ihnen doch alles auf dem Präsidium sagen“, raunte Frau Böhning von unten.

„Das muss ich wissen, bevor ich Sie mitnehme. So sind die Vorschriften.“

„Ein Haushalt. Wir sind natürlich ein Haushalt, und den kenne ich in- und auswendig, das können Sie mir glauben.“ Frau Böhning malte mit dem Finger kleine Kreise in den Schotter. „Ich bin Hebamme, und mein Mann ist Abwasserspezialist – reaktiviert. Wir sind systemrelevant.“

„Nun, das mit dem Abwasserspezialisten würde ich gern erklären …“, wandte Herr Böhning ein.

Die Böhnings konnten sich im Grunde nicht beschweren. Das Backsteinhäuschen mit Garten war ein kleines Juwel am Stadtrand. Man konnte sich dort geborgen fühlen, in gewohnter Umgebung, wenn man es wollte. Die Luft war frischer, die sternenklaren Nächte ruhiger, die Tage auch, und die Zeit hatte ihren ganz eigenen Rhythmus, wie Honig, der langsam von einem Löffel hinuntertropfte. Sie kamen zurecht, und es gab ja weitaus Schlimmeres in der Welt. Es reichte bereits, den Fernseher anzuschalten, um ein schlechtes Gewissen zu bekommen. Man konnte auch nicht behaupten, dass das Leben der Böhnings aus den Fugen geraten oder gar abgespeckt gewesen wäre, seitdem das alles passiert war. Im Gegenteil, Frau Böhning hatte den kleinen roten Plastikanzeiger auf der alten Badezimmerwaage ein wenig nach vorne schieben müssen, um – der allgemeinen Lage Tribut zollend – wenigstens ein Mindestmaß an Zugeständnissen und Beeinträchtigungen in den eigenen vier Wänden in Kauf zu nehmen. „Jeder muss den Gürtel ein wenig weiter schnallen“, hatte Herr Böhning gesagt.

Frau Böhning streifte die Handschuhe über, warf mit eleganter Routine einen Bügel ihrer Atemschutzmaske hinters Ohr und zog diese dann einhändig bis zum anderen Ohr. Sie näherte sich geräuschlos ihrem Mann und griff den Spaten, der an der Hauswand lehnte. Er war mit der Reinigung des Wohnmobils beschäftigt, das er in den hinteren Teil der Auffahrt ganz dicht ans Haus geparkt hatte. Dort konnte er verdeckt im Schatten arbeiten. Es musste nicht jeder mitbekommen. Gerade war er über die Anhängerkupplung gebeugt, die er sehr konzentriert mit einem Schwamm bearbeitete. Er liebte das Wohnmobil. Man konnte viele Dinge lieben. Frau Böhning liebte zum Beispiel den alten Kirschbaum im Garten, der jedes Jahr so herrlich blühte und die wunderbarsten Früchte lieferte für wunderbarste Konfitüren. Sie liebte die Konfitüren. Und ihr Mann liebte diese auch. So schlossen sich die Kreise.

Im Nachhinein war es unmöglich zu sagen, ob die verzweifelte und doch eigentlich sinnlose Reinigungsaktion des Wohnmobils den Ausschlag gegeben hatte, oder vielmehr ein sehnlicher Wunsch von Frau Böhning, den sie schon seit Jahren wohl unbewusst gehegt hatte, und der sich nun in diesen ohnehin eigenartigen Zeiten Bahn brach.

„Du hast den Spaten einfach so hier stehen lassen“, rief Frau Böhning, während sie mit dem Gartengerät hinter dem Haus verschwand. Herr Böhning blickte auf. „Du könntest dagegentreten, und er würde an das Wohnmobil schlagen“, hörte er sie von hinten rufen. „Oder dich direkt erwischen.“

„Warum trägst du deine Maske jetzt schon?“ Herr Böhning versuchte, die unteren Schrauben der Anhängerkupplung zu säubern. Es war Gift für den Rücken, aber man musste achtsam und sorgfältig sein, nicht nur in diesen Zeiten.

„Es ist keine Maske. Es ist eine MNB, eine Mund-Nasen-Bedeckung für den öffentlichen Raum“, korrigierte Frau Böhning, als sie mit dem Fahrrad und der Einkaufstasche am Lenker in der Auffahrt erschien.

„Eben“, sagte Herr Böhning etwas kehlig von unten.

„Für mich beginnt der öffentliche Raum genau hier, und ich bin gern vorbereitet.“ Frau Böhning hatte ihr Fahrrad durch die kleine Pforte geschoben und stand jetzt auf dem Bürgersteig. „Hier könntest du auch mal ölen. Sie ist rostig“, sagte sie mit einem kritischen Blick auf die Pforte. Ihr Tonfall hatte etwas von einer ärztlichen Diagnose. Manche Menschen sahen mit Maske geradezu klinisch aus, andere ähnelten Bankräubern. Seine Frau aber sah mit ihrer Maske weder wie eine Ärztin noch wie ein Überfallkommando aus, sondern eben wie Frau Böhning mit Maske.

Herr Böhning blickte sich um. Die Vögel sangen an diesem Tag schöner als sonst in die Stille hinein. Die Welt mochte im Winterschlaf sein, aber die Natur war bereits zartgrün, wohin das Auge reichte.

Der nächste Lebensmittelladen war über zwei Kilometer entfernt, und es war weit und breit niemand zu sehen, außer einem kleinen Traktor, der in der Ferne übers Feld fuhr und schädliche Aerosole von sich gab, aber eben anderer Art. Es hätte nur noch ein vertrockneter Dornbusch aus dem vergangenen Winter gefehlt, der mit dem letzten kühlen Windstoß durch die Szene wehte. Es war ein sehr offener öffentlicher Raum, in dem seine Frau gerade stand.

„Jetzt öle ich erstmal hier. Später da“, antwortete Herr Böhning und kniete sich wieder vor sein Wohnmobil. Von wegen öffentlicher Raum. Sie würde drinnen im Haus vor dem Spiegel noch überprüft haben, ob die rosa-weiß karierte Maske mit den kleinen Blüten in den rosafarbenen Feldern richtig saß und die Haare gut lagen. Seine Frau hatte stets auf ihr Äußeres geachtet und war nie der improvisierende Typ gewesen. Auch nicht in der Küche. Sie hatte ihre Prinzipien. Er war ja durchaus auch Nutznießer dieser kleinen Marotte, zumindest solange sie diese an sich selbst und nicht an ihm auslebte.

„Unser Wohnmobil können wir doch jetzt sowieso einmotten. Das Jahr ist gelaufen“, bemerkte Frau Böhning beiläufig, während sie den Sitz ihrer Hosenklammern korrigierte. Sie hatte sich einmal die neue Sommerhose an der Fahrradkette versaut. Seitdem stieg sie nicht mehr ohne ihre Hosenklammern aufs Rad. „Ich habe mir mal die neue Sommerhose an der Kette versaut, weißt du noch?“, fragte sie.

Herr Böhning hatte sie nicht verstanden. Manchmal bot eine solche Maske ja auch einen akustischen Fremdschutz, und er fragte auch nicht nach. Er erhob sich mühevoll, die rechte Hand auf die Lendenwirbelsäule gestützt, und blickte auf die Kupplung. Sie sah aus wie vorher. Aber er wusste, dass sie unten wie neu war und glänzte, und darauf kam es an. „Die sagen, dass Deutschland bald wieder ein bisschen Fahrt aufnimmt. Wieso dann nicht auch wir?“

„Die Kraniche kommen wieder“, sagte Frau Böhning mit Blick auf das kleine Wäldchen am Ende des Ackers, über das eine Gruppe von sechs Vögeln mit ausgestreckten Hälsen in Keilformation entlangflog. Sie sah ihnen wehmütig hinterher. „Die haben die Wintermonate bestimmt im sonnigen Spanien oder in Frankreich verbracht.“

„Ihr wichtigstes Überwinterungsgebiet liegt in der Extremadura im Südwesten Spaniens“, ergänzte Herr Böhning. „Aber das können wir uns abschminken.“

„Das Überwintern?“, fragte Frau Böhning.

„Nein, Spanien. Überwintern können wir hier.“

„Es ist so traurig. Für alle.“ Frau Böhning lehnte ihr Rad mit dem rosa-weiß karierten Sattelschoner, den mit dem kleinen Blümchen in den rosafarbenen Feldern, an den Gartenzaun und kam zurück zum Wohnmobil.

„Nein, nicht jetzt“, sagte Herr Böhning mit einer abwehrenden Kopfbewegung, während er vorgab, etwas sehr Wichtiges in seiner Werkzeugkiste zu suchen.

„Was?“, fragte sie.

„Na, darüber reden, wie schlimm alles ist. Wir können doch nichts ändern.“ Es war nicht so, dass er nicht gern mit seiner Frau redete. Im Gegenteil, er war durchaus diskursfähig, beherrschte sowohl das überzeugende Darlegen der eigenen Sicht als auch die glaubhafte Auseinandersetzung mit den Dingen, wie sie nun einmal waren. Meistens deckte sich beides. Nur seit kurzem redete seine Frau nicht mehr über sich und ihr Leben, über ihre Chorproben, den Kater der Nachbarin oder die neuen Freundinnen des Sohnes. Nein, seit kurzem redete sie über die Welt, und sie drehte sich dabei so im Kreis, wie die Erde rund war. Sie wusste auch oft gar nicht, wo sie überhaupt anfangen sollte, bei den Finanzmärkten oder bei den Fledermäusen. Sie hob dann ihre Hände wie zum Segen, holte Luft und stieß diese dann sofort wieder mit einem tiefen Seufzer aus. Entweder kam danach einfach nur ein „Ach“, das den Schmerz der Welt umfasste, oder sie war nicht mehr zu bremsen. Oft traf Letzteres zu.

Sie hatten vorher nie über die Welt debattiert. Ein Teil des spärlichen Verkaufserlöses aus dem kleinen Eisenwarengeschäft, das sie über dreißig Jahre lang geführt und schweren Herzens aufgegeben hatten, war kurzerhand in das kleine Wohnmobil geflossen. Ein Händler hatte ihnen einen günstigen Preis für ein gebrauchtes Fahrzeug gemacht und sogar die speckigen kleinen Gardinen in den hinteren Fenstern vor dem Kauf entfernt. Sicher, es hatte neuere, größere Modelle gegeben, aber die Böhnings hatten beschlossen, sich selbst und der Welt nichts mehr beweisen zu müssen. Sie hatten ihr neues Heim auf vier Rädern L’Avventura getauft, nach dem Antonioni-Film von 1960. Und dann waren sie damit einfach losgefahren. Sie hatten nie viel darüber diskutiert. Sie hatten es einfach getan, das Reisen.

Am Steuer hatte Herr Böhning erhöht sitzend, mit neu montierten Panorama-Rückspiegeln im Blickfeld und dem kleinen Schiebedach über sich, den „Metablick“ für sich entdeckt. Der Metablick ermöglichte es ihm, vorausschauend zu agieren, ohne sich in Einzelheiten zu verlieren. Nach all den Jahren vor den kleinen Schubladen im Laden, bei deren Inhalt es natürlich auf jeden Millimeter angekommen war, hatte das L’Avventura neue Horizonte aufgezeigt. Sie waren höchstens in einem Anfall von Leichtsinn auch mal spontan losgefahren, aber kein Tag war vergangen ohne Ziel, ohne einen Ort, an dem man ankam und den man am nächsten Tag wieder verlassen würde.

Doch nun hatten sie es mit der geballten Wucht von Ereignissen zu tun, die ihnen so unwirklich entgegenprallte und sie ausbremste wie ein Hagelregen auf der Autobahn, der nicht aufhören wollte. Das ganze Land fuhr plötzlich auf Sicht, und man konnte noch nicht einmal sicher sein, ob es überhaupt noch geradeaus ging, oder ob man schon längst aus Versehen irgendwo abgebogen war.

Die Böhnings waren immer nur zu zweit gereist. Sicher, es war durchaus ein schönes Gefühl gewesen, im überschaubaren Maße etwas zur Völkerverständigung beizutragen, sozusagen in den eigenen vier Wänden auf Rädern, ganz ohne sich aufzudrängen, mühelos, praktisch wortlos. Doch spätestens auf den Campingplätzen hatte man vorwiegend seine Ruhe gehabt. Jetzt allerdings teilten sie plötzlich ihr Haus mit Politikern, Virologen, Soziologen, Theologen, Pathologen, Astrologen, Börsenprofis, Krisentherapeuten und vielen anderen seltsam redenden Augenpaaren aus allen Teilen der Erde, völlig unsortiert. Für diesen Ansturm waren Böhnings bescheidene Räumlichkeiten und selbst der Garten unter Einbeziehung der Vorderbeete einfach zu klein, vom L’Avventura ganz zu schweigen.

Sicher, sich all dem zu entziehen, war nahezu unmöglich, wenn man als halbwegs informierter Mensch durchgehen wollte. Doch mittlerweile gelang es Herrn Böhning ganz gut, die Wucht der Ereignisse zwischendurch wie einen Geist in die Flasche zu verbannen, und einen kurzen Moment lang war alles so wie immer, zumindest bis seine Frau kam und reden wollte. „Es ist so traurig“, war meist der Eröffnungssatz. Die Kunst war deshalb, sie rechtzeitig zu stoppen, bevor sie die Flasche wieder öffnete.

„Jeder muss jetzt sein Leben ändern.“ Frau Böhning machte eine ausladende Handbewegung in die Richtung, in der die Kraniche verschwunden waren. „Jeden Tag kann man das, in kleinen oder größeren Schritten. Was Sinnvolles tun. Bevor es zu spät ist.“ Sie setzte sich auf die unterste Treppenstufe vor der Haustür, kurz vor der Flatterband-Markierung für die Paketboten, und drehte ihre Füße nach innen, so wie sie es immer tat. „Oder einfach nur etwas Verrücktes tun oder etwas völlig, nun ja, Unzeitgemäßes“, fügte sie hinzu.

Herr Böhning horchte auf. Sicher, es war nicht immer ganz einfach, positiv zu bleiben, während man tunlichst versuchte, nicht positiv zu werden in diesen kranken Zeiten. Man musste mitunter viel Phantasie und Durchhaltevermögen darauf verwenden. Aber worauf sie jetzt genau hinauswollte, verstand er nicht. Immer wenn sie auf der untersten Treppenstufe saß, gab sie merkwürde Dinge von sich.

„Etwas Verrücktes, Unzeitgemäßes?“, fragte er.

„Nun ja, du wäscht ja auch dein Wohnmobil.“

Herr Böhning sah an den Fältchen um ihre Augen herum, dass seine Frau grinste, als sie es sagte. Vielleicht war es ein diebisches Lächeln, doch es konnte auch ein Hauch von Versonnenheit oder gar etwas Weltvergessenheit darin liegen. So genau konnte man es nicht erkennen hinter dem Karomuster. Es gab ihr etwas Geheimnisvolles. Er mochte es. Jedenfalls schien sie etwas im Schilde zu führen. Sie kannten sich jetzt über vierzig Jahre, und bisher war er davon ausgegangen, dass dies ausreichte, um jeden Winkel ihrer Persönlichkeit erforscht zu haben. Doch nun schien sie mit halbem Gesicht plötzlich mehr Gesicht zu haben als je zuvor.

Frau Böhning zog die rosafarbenen Spülhandschuhe wieder aus, die sie seit kurzem im öffentlichen Raum zu tragen pflegte, legte den Kopf schräg und zog an einem kleinen Unkrautpflänzchen im Vorderbeet. „Ist dir nicht aufgefallen, dass ich diesen Pulli schon den dritten Tag hintereinander trage?“, forschte sie nach.

„Da fragst du den Falschen.“

„Du bist mein Mann. Wen soll ich denn bitte schön sonst fragen? Du bist mein Sozialkontakt!“

Herr Böhning mochte es nicht, wenn sie diese Ausdrücke aus dem Fernsehen oder aus der Zeitung wie eine Schablone auf ihn und sich selbst übertrug. Die Leute draußen hatten ihr Leben. Und die Böhnings hatten ihr eigenes Leben. Man musste vorsichtig sein, wenn man Dinge miteinander vermischte, es fing mit der Wortwahl an. Sonst wurde alles wieder unübersichtlich. Es gab natürlich Leute, die Enkel hatten, die sie gern gesehen hätten. Aber die Böhnings hatten eben keine Enkel, und die Kontakte zu ihren Mitmenschen hatten sich auch schon davor in Grenzen gehalten. Man musste sich nicht aufdrängen. Ja, eine gewisse Abgrenzung und freundliche Distanz nach außen hin hatten die Böhnings immer zu schätzen gewusst. Sie kamen damit gut zurecht, auch bei den Nachbarn zur Rechten, einem jungen Ehepaar, das man selten sah. Gut, man teilte sich eine gelbe Tonne, aber das war es auch schon. Über den Verpackungsmüll hatte man sich dennoch erstaunlich gut kennengelernt, wenn auch nur indirekt, und alles war in Ordnung, solange dieser nicht überhandnahm.

„Es wird Zeit, dass wir was tun“, sagte Frau Böhning und hatte dabei bereits einen sehr konkreten, sehr verrückten und sehr unzeitgemäßen Gedanken. Es war eine Idee, vielleicht konnte man auch sagen ein Traum. Es gab sicherlich Menschen, die in dieser Zeit weniger Ideen und Träume hatten als sonst. Frau Böhning hatte auf einmal mehr davon. „Ja, wir sollten etwas tun“, wiederholte sie.

„Die beanspruchen mittlerweile schon über zwei Drittel der Tonne für sich“, stimmte Herr Böhning seiner Frau kopfnickend zu.

„Ich möchte noch einmal an den Königssee. Ich wollte immer schon einmal an den Königssee.“ Frau Böhning blickte über das Feld in die Ferne. Sicher, sie waren die letzten Jahre nicht ständig in der Welt herumgefahren. Aber nun durften sie es auch nicht mehr. Dieser kleine Unterschied, der nur an einem einzigen Wort hing, war im Grunde zum Heulen. Er teilte das Leben in ein Davor und ein Danach. In Frau Böhning regte sich ein seltener Anflug von Wut, wenn sie daran dachte und dabei auch noch ihre Maske trug. Ja, sie fand es höchst bemerkenswert, dass sie sich mit der Maske nicht nur latent gefährlich vorkam, sondern damit auch plötzlich auf eigenartige, verwegene Gedanken kam, trotz des Blümchenmusters. Während des Tragens tauchten vor ihrem geistigen Auge ganz andere Bilder auf, wie im Zeitraffer, und dann wurden ihre restlichen zwei Augen zu kleinen Schlitzen.

„Der Norden hat dicht gemacht, wie wir wissen. Man wird uns im Wohnmobil an der Grenze abfangen wie Schwerverbrecher. Und unser Auto mit Hamburger Kennzeichen ist auch keine Option.“

„Wovon redest du?“, fragte Herr Böhning, der sich nun daran machte, die Scheibenwischerblätter zu wechseln. Er hatte sie vor zwei Tagen an der Tankstelle entdeckt, als er dort Aussaaterde gekauft hatte. Er brauchte momentan nicht unbedingt neue Blätter, aber ein Karton mit gleich sechs Stück je siebenhundert Millimeter zum Preis von vier zu bekommen, war ein Schnäppchen, und der Heckwischer quietschte schon, wenn man bei beginnendem Regen genau hinhörte.

„Der Süden ist momentan noch offen bis zur österreichischen Grenze. Das ist einfacher.“ Frau Böhning blickte wieder zu ihrem Gatten hinüber und sprach lauter. „Bayern ist ja fast so gut wie Ausland. Es gibt dort höchstens verschärfte Kontrollen.“

Herr Böhning suchte seine Lesebrille, um die Kartonbeschriftung lesen zu können und sagte „Hm“.

„Ich wollte immer schon einmal an den Königssee“, wiederholte Frau Böhning.

„Man empfiehlt uns, nicht dort hinzufahren“, bemerkte er gedankenverloren, in der Hoffnung, damit die Diskussion im Keim zu ersticken.

Frau Böhning allerdings hatte mit Empfehlungen stets schlechte Erfahrungen gemacht. Es begann mit neuen Waschmitteln und endete bei Ärzten. „Ich brauche keine Empfehlungen.“

„Du wolltest immer nur ans Meer“, sagte Herr Böhning. Seine Lesebrille schien wie vom Erdboden verschluckt. „Der Königssee passt irgendwie nicht zu dir.“

„Warum?“, fragte Frau Böhning.

„Nun, es ist ein Stillgewässer.“

Seine Frau hatte ganz offenbar kein Ohr und vor allem keine Zeit mehr für Zwischentöne: „Ach komm, noch ein einziges Mal, bevor die in Bayern auch noch dicht machen. Bevor es zu spät ist.“

„Das hört sich ja an wie eine Löffelliste. Und dabei bist du noch nicht einmal krank.“ Herr Böhning ließ die Wischerblätter Wischerblätter sein und kam zur ihr herüber. „Oder?“, fragte er unsicher. Sie hatte doch hoffentlich keine Wallfahrt im Sinn? Sie wollte sich doch hoffentlich nicht auf die Suche nach Heilung von irgendetwas machen?

Frau Böhning blickte von den Stufen zu ihm hoch. „Wir gehören zur Risikogruppe“, stellte sie fest und starrte dabei eigenartig furchtlos über ihre Maske hinweg. Ihre Augenbrauen bewegten sich dabei verschwörerisch aufeinander zu, und sie hatte verdächtig langsam und fast vibrierend gesprochen. Es hatte sich nicht ängstlich angehört, sondern eher rigoros, wie eine Drohung oder als müsse man einem Ruf folgen.

Sicher, während all der Jahre auf fünfundachtzig Quadratmetern hatte sie sich um die eigene Achse bewegt, zwischen Tausenden von Artikeln, wie ein gut geöltes Scharnier. Sie mochte mehr Nachholbedarf haben als er, was das Leben und die damit verbundenen Risiken anging. Aber Herr Böhning mochte das Wort „Risikogruppe“ nicht. Es war nicht so, dass er nicht über das Alter hätte reden wollen. Er sah zum Beispiel immerhin noch recht vital aus und fühlte sich auch so. Er musste sich nicht verstecken. Er wollte nur keine Risikogruppe sein. Jegliche Eingruppierungen waren ihm suspekt. Er war nie in einem Verein gewesen, nie in einem Verband. Er war kein Gruppentyp. Er war noch nicht einmal Teil einer Gruppe. Selbst zu zweit waren sie ein Paar. Und keine Gruppe. Eine Risikogruppe erst recht nicht. Eine Risikogruppe zu sein, war der soziale Ausstieg. Es hörte sich so an, als gefährde man seine Umwelt, nur weil man so war wie man war, als habe man eine ganz schlechte Eigenschaft und laufe Gefahr, rückfällig zu werden. Und genauso guckte seine Frau jetzt auch, als wolle sie ganz bewusst zum lebenden Risiko mutieren.

„Jeder ist ein Risiko. Das ganze Leben ist ein Risiko“, sagte Frau Böhning mit einem ungewohnt dunklen Timbre in der Stimme.

Diese Äußerung war allerdings nicht ganz von der Hand zu weisen, fand Herr Böhning. Es war auch nicht auszuschließen, dass die siebenhundert Millimeter bei den Wischerblättern zwar an der Windschutzscheibe vorne, aber nicht hinten passen würden. Er hatte es billigend in Kauf genommen. Ja, wenn man so wollte, war er, was den Heckscheibenwischer anging, auf volles Risiko gegangen. Es war erstaunlich, dass er dennoch ein gutes Gefühl dabei gehabt hatte. In diesem Moment beschloss Herr Böhning, den Karton einfach zu öffnen, ohne vorher das Kleingedruckte darauf zu lesen. Wenn schon Risiko, dann richtig.

„Wenn wir unterwegs wären, dann müsste ich all diese schrecklichen Nachrichten im Fernsehen nicht mehr sehen.“

„Nein, du wärst mittendrin.“ Herr Böhning fand seine Brille im Blumenbeet, prägte sich die Stelle ein und ließ sie dort liegen. Seine Frau klagte auf hohem Niveau, fand er. Gut, vor der örtlichen Post bildeten sich regelmäßig Schlangen, eine recht exotische Erscheinungsform für den kleinen Ort. Der Bus dagegen fuhr leer durch die Straßen, der Sportplatz war gesperrt und der Gasthof war nun ein Lieferservice. Man durfte den Blick nicht zu sehr weiten, um einigermaßen bei Sinnen zu bleiben.

„Ich könnte eine Kerze in diesem kleinen Kirchlein auf der Insel des Königsees anzünden.“

„Es fährt kein Schiff mehr nach St. Bartholomä.“

Frau Böhning lehnte sich an die Kante der nächsten Stufe und schlug die Beine übereinander. „Eine Insel, verstehst du? Fast wie am Meer. Ich könnte mich von einem Fischer hinüberrudern lassen. Es wäre romantisch.“

Herr Böhning atmete einmal tief aus und griff zum Wischerblätterkarton. „Der nimmt höchstens einen Sozialkontakt oder einen Einheimischen mit. Und du hörst dich nicht besonders einheimisch an, sobald du dich dreihundert Kilometer von Zuhause entfernt aufhältst, wenn ich das mal so sagen darf.“

„Wir könnten selbst rudern.“