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Wenn in der magischen Adventszeit eine Katastrophe die nächste jagt, kann es ja nur froh und munter werden. Oder nicht?
Während bei ihrer Freundin Lena von der Zuckerbäckerei »Fräulein Gewürzzauber« bald die Hochzeitsglocken läuten, glaubt Emma nicht mehr an die große Liebe. Ohnehin geht gerade alles schief: Sie hat ihren Job als Assistenzärztin in einer Tierarztpraxis verloren, und auch die Wildtierauffangstation, die ihr Großvater gründete, ist bedroht. Ganz schön schwierig, in solch einer Situation den Kopf nicht hängen zu lassen! Zum Glück gibt es ihre Freunde - und die Briefe ihrer Mutter, die ihr pünktlich zum Beginn des Advents ins Haus flattern. Ein unerwartetes Geschenk, haben sich Emma und ihre Mutter doch vor Jahren aus den Augen verloren. Findet Emma in dem ganzen Durcheinander doch noch ein wenig Glück zur Weihnacht - im Leben und in der Liebe?
Eine liebenswert chaotische Tierärztin, eine Wildtierauffangstation und jede Menge Wirbel im Advent - ein schokoladigsüßer Weihnachtszauber in 24 Kapiteln
Perfekt als lesbarer Adventskalender!
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Seitenzahl: 395
Wenn in der magischen Adventszeit eine Katastrophe die nächste jagt, kann es ja nur froh und munter werden. Oder nicht? Während bei ihrer Freundin Lena von der Zuckerbäckerei »Fräulein Gewürzzauber« bald die Hochzeitsglocken läuten, glaubt Emma nicht mehr an die große Liebe. Ohnehin geht gerade alles schief: Sie hat ihren Job als Assistenzärztin in einer Tierarztpraxis verloren, und auch die Wildtierauffangstation, die ihr Großvater gründete, ist bedroht. Ganz schön schwierig, in solch einer Situation den Kopf nicht hängen zu lassen! Zum Glück gibt es ihre Freunde – und die Briefe ihrer Mutter, die ihr pünktlich zum Beginn des Advents ins Haus flattern. Ein unerwartetes Geschenk, haben sich Emma und ihre Mutter doch vor Jahren aus den Augen verloren. Findet Emma in dem ganzen Durcheinander doch noch ein wenig Glück zur Weihnacht – im Leben und in der Liebe? Eine liebenswert chaotische Tierärztin, eine Wildtierauffangstation und jede Menge Wirbel im Advent – ein schokoladigsüßer Weihnachtszauber in 24 Kapiteln Perfekt als lesbarer Adventskalender!
Stephanie Marzian wurde 1978 in Dortmund geboren, studierte Kommunikationsdesign und arbeitete nach ihrem Studium als Designerin bei einem großen Fotobuchhersteller, bevor sie sich als freiberufliche Illustratorin und Grafikerin selbstständig machte. Im Mai 2021 veröffentlichte sie mit ihrem ersten Kinderbuch Der Tag, an dem die Hexe hickste ihr Debüt, bei dem sie Autorin und Illustratorin zugleich ist. Sie und ihr Mann haben zwei Kinder und leben in der Nähe von Xanten am Niederrhein.
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Dieses Werk wurde vermittelt durch
die Literarische Agentur Michael Gaeb.
Copyright © 2024 by Stephanie Marzian
Copyright © 2024 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln
Lektorat: Dr. Stefanie Heinen
Innenillustrationen: Stephanie Marzian
Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de
Umschlagmotiv: © Stephanie Marzian
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7517-6109-3
luebbe.de
lesejury.de
Für Moni.
Freude sei stets Dein Begleiter,
Glück und recht viel Sonnenschein …
Hast Du Dich schon einmal gefragt, ob es magische Worte wirklich gibt? Worte, die einen vom ersten Buchstaben an verzaubern? Heute glaubt Emma fest daran. Es sind magische Worte wie »Liebe«, »Schneeflockenglitzer« und »Weihnachten«, die Emmas Herz allein durch ihren Klang wild pochen lassen. Das war aber nicht immer so.
Zumindest nicht, als diese Geschichte begann. Damals jedenfalls hätte sie mit großer Wahrscheinlichkeit gelacht und demjenigen, der ihr den 1. Dezember als Beginn ihres neuen Lebens hätte verkaufen wollen, die Tür vor der Nase zugeschlagen. Doch ich will nicht vorgreifen. Beginnen wir am Anfang der Geschichte.
Es war Ende November, und unverhofft war der Winter über Nacht mit Eisblumenfingern und Schneegestöber in die schmalen Gassen des Städtchens eingezogen. Dicke Flocken fielen vom grau verhangenen Himmel, und nur spärlich drang Licht durch die hohen Fenster, die Emmas geliebte Altbauwohnung sonst mit Helligkeit durchfluteten. Doch von der einstigen Gemütlichkeit ihrer Wohnung war nichts mehr zu spüren.
Schweren Herzens warf sie einen letzten Blick auf das feuchte Chaos, das ihr der Wasserrohrbruch im Stockwerk über ihr vor einer Woche beschert hatte. Der Putz kam von der Decke, die Tapeten schälten sich wie Engelslocken von den Wänden, und das in wunderschönem Fischgrätmuster verlegte Holzparkett war so getränkt mit Wasser, dass sie erneut ein Stoßgebet gen Himmel schickte, es möge noch zu retten sein.
Sie hatte ihre Habe, die wie Schiffchen auf hoher See dahinschipperte, so gut es ging aus den Fluten geklaubt, die ihr schon auf der Treppe entgegengesprudelt waren, als sie von der Arbeit nach Hause gekommen war. Am schlimmsten betroffen war ihr Wohnzimmer mit dem bezaubernden Erker. Ihre Möbel stapelten sich nun in der Küche und rund um ihr Bett. Die Versicherung ihres Vermieters würde die Schäden natürlich übernehmen, aber deren Ausmaß und das Wissen um die Mangelware Handwerker hatten Emma die Hoffnung auf einen erträglichen Zeitraum für die Renovierungsarbeiten genommen. O du Fröhliche … Das lausige Wetter setzte ihrer traurigen Stimmung noch das Melancholie-Krönchen auf.
»Komm, Süße.«
Bei Millas Worten zuckte Emma kurz zusammen. Sie fröstelte. Im nächsten Moment spürte sie, wie sich der Arm ihrer Freundin tröstend um ihre Schultern legte.
»Lass uns gehen. Lena wartet.« Mit einem aufmunternden Lächeln schob Milla sie zur Wohnungstür.
Graue Wolken hingen schlaftrunken vom Himmel, und als ob sie ab und an zwinkerten, trudelten kleine Flocken zur Erde, die schnell dicker wurden, immer dichter fielen und die Straßen und Wege mit ihrem weißen Glitzer bedeckten. Nur ab und an huschte jemand bis auf die Nasenspitze vermummt mit hastigen Schritten über den Gehweg. Immer bestrebt, schnell wieder ins Warme zu kommen. So ging es auch Emma und Milla, die in dicke Mäntel und Wollmützen gehüllt durch die Stadt eilten. Millas große, schlanke Figur war unter so viel Wolle kaum zu erkennen. Sie hatte eine ausgebeulte dunkelgrüne Reisetasche geschultert, die sie in eine leichte Schräglage versetzte. Emma hatte es nicht leicht, mit ihr Schritt zu halten, war sie doch einen Kopf kleiner und deutlich zierlicher als ihre Freundin. Sie zog einen großen schwarzen Trolley hinter sich her, dessen Rollen wie Schlittenkufen lange schmale Abdrücke im Schnee hinterließen. Verloren gegangen wäre sie Milla dennoch nicht: Ihr roter Mantel strahlte wie ein Leuchtfeuer vor der weißen Kulisse.
Sie bogen in die Rosenstraße, wo sich altehrwürdige Stadthäuser aneinanderschmiegten. Der Schein der gusseisernen Straßenlaterne fiel auf die mit Tannengrün und glitzernden Lichtern umrahmte Auslage im Schaufenster der mittlerweile stadtbekannten Zuckerbäckerei, dem Fräulein Gewürzzauber. Unter gläsernen Kuppeln glänzten braune Pralinen mit Nussstreuseln, Törtchen mit rosa Sahnehauben und Rosenblüten und bunt verzierte Plätzchen mit Tannenspitzencremefüllung. Eine dicke Zuckergussschicht verwandelte die Lebkuchenhäuschen daneben in ein winterliches Dorf.
Auf dem weiß emaillierten Schild über dem Eingang, das zaghaft schwankte, wenn eine Windböe darüberstrich, verkündeten geschwungene Lettern: Fräulein Gewürzzauber – seit 1884. Ihre Freundin Lena Sonnenschein hatte das bezaubernde Lädchen nach dem Tod ihrer Großmutter vor drei Jahren übernommen und zu ihrer eigenen süßen Welt gemacht. Es hatten seither schon viele Zeitungen, an erster Stelle das Backmagazin Puderzauber, über Lenas beinahe magische Gabe berichtet, durch ihr Gespür für himmlische Geschmackskombinationen die leckersten Backwaren, Bonbons und Pralinen zu zaubern.
Im Fräulein Gewürzzauber schenkte Lena den Menschen ein Lächeln und ein offenes Ohr für ihre Sorgen und Nöte. Es war ein Ort, an dem Menschen zur Ruhe kommen und in Lenas Kreationen Glückseligkeit finden und ihren Alltagsstress für einen Moment vergessen konnten. Und es war der Ort, an dem Lena ihrer großen Liebe Max, ihrem Zimtstern-Adventsmann, zum ersten Mal begegnet war und wo ihre Liebe begonnen hatte. Wie sehr Emma sie darum beneidete! Gerade heute, an diesem trüben Mittag, fühlte sie sich vom Leben vollkommen alleingelassen, und sie hoffte, dass auch sie bei Lena Trost finden würde.
Die pausbackigen Puttenreliefs an der Fassade von Nummer 24 reckten neugierig ihre schneebedeckten Stupsnäschen, als Emma und Milla hastig im Hauseingang verschwanden.
»Da seid ihr ja endlich!«, wurden sie einen Augenblick später von Lena begrüßt, nachdem sie die knarrenden Stufen der Holztreppe in die Etage über dem Lädchen hinaufgestapft waren. Dass sie sie sofort erkannt hatte, hielt Emma für ein mittleres Wunder. Schließlich zeigte der große Spiegel im Flur nichts anderes als zwei Polarforscher mit dicken Schneehauben auf Schultern und Kopf, glühenden Wangen und roten Nasen.
Lena zwinkerte ihnen zu. »Legt erst mal ab, und dann kommt in die Küche. Ich habe uns einen großen Topf Weihnachtspunsch vorbereitet – für euch natürlich auf Wunsch auch mit Schuss!«
»Du bist die Beste!«, freute sich Emma. »Einen Punsch brauche ich jetzt dringend – für mich bitte mit!«
Milla nickte ebenfalls. Sie beeilten sich, die nasse Kleidung auszuziehen und nahmen dankbar die dicken Socken entgegen, die Lena ihnen reichte. Glücklich massierte Emma ihre eisigen Zehen und stülpte die Wollstrümpfe darüber. Dann betrat sie Lenas Wohnküche, die von Lichterketten und Kerzenschein in behagliche Wärme getaucht wurde. Mit einem tiefen Seufzer sog sie den fruchtig würzigen Duft des Punsches ein, der vor ihnen dampfte und sie sogleich von innen wärmte.
»Ist es auch wirklich in Ordnung für dich, dass ich für eine Weile hierbleibe, bis die Renovierung …?« Emma sah ihre Freundin unsicher an.
Doch die lächelte. »Mach dir darum mal keine Gedanken.« Lena hatte ihr langes dunkelblondes Haar zu einem fahrigen Dutt zusammengesteckt, aus dem allerdings einige glänzende Strähnen entkommen waren. »Das ist doch gar keine Frage!«, entrüstete sie sich dann und strich eine der Strähnen zurück. »Für Freundinnen in Not ist immer genug Platz. Du kannst so lange bleiben, wie du willst!«
Emma spürte, wie ihre Sicht vor Dankbarkeit und Rührung verschwamm. Sie wischte sich schnell über die Augen, umrundete den Tisch und umarmte Lena stürmisch – was gar nicht so einfach war, da ihre Freundin mittlerweile so kugelrund wie eine ihrer Pralinen war. Auf einmal konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten.
»Scht! Nicht weinen!« Sacht wiegte Lena sie in ihren Armen. Gleichzeitig spürte Emma Millas Hand auf der Schulter, die ihr beruhigend darüberstrich, bis ihre Schluchzer abebbten.
»Was sagt denn dein Max dazu?« Emma löste sich aus der Umarmung und setzte sich auf die Tischkante. Lena reichte ihr die Tücherbox, die sie dankbar annahm, und Emma tupfte sich die Rinnsale von den Wangen.
»Seine Tante hat einige Monate bei uns gewohnt. Aber jetzt ist Rosina – dem Himmel sei Dank – mit ihrer Yogamatte nach nebenan zu Tjure gezogen, und das Gästezimmer ist wieder frei … Ich habe sie unglaublich gern, aber sie ist schon sehr speziell«, zwinkerte Lena ihr aufmunternd zu. »Komm, lass uns die Koffer in dein Zimmer bringen. Ich habe es dir dort gemütlich gemacht.«
Auch wenn Emma eher der Typ schlichtere Deko im Skandi-Look war, so mochte sie trotzdem Lenas Einstellung, das ganze Jahr Weihnachten zu feiern. Auch nach Ende der Adventszeit blieben bei ihr die Lichterketten hängen, und überall begegneten einem Sternchen.
»Wenn es anfängt zu schneien, beginnen die wundervollsten Geschichten«, lächelte Lena.
»Danke! Genau das brauche ich jetzt«, gestand Emma. Wenig später trat sie noch einmal zum hohen Küchenfenster und sah gedankenverloren hinaus. Die weiße Pracht da draußen, der wärmende Punsch in ihrem Inneren und ihre Herzmenschen an ihrer Seite machten ihr Hoffnung, dass sich alles noch zum Besseren wenden würde. Sie seufzte leise. Vielleicht begann ja tatsächlich gerade eine wundervolle Geschichte …
Emma schlug die Augen auf und wusste im ersten Moment nicht, wo sie war. Doch nur Sekunden später kam die Erinnerung leider viel zu schnell wieder. Sie war bei Lena, genau genommen in deren Gästezimmer, und ihr Leben war gerade ein großer Scherbenhaufen. Erst hatte ihr die Tierarztpraxis, für die sie seit dem Abschluss ihres Studiums als Assistenzärztin gearbeitet hatte, gekündigt. Ihr alter Chef hatte sich zur Ruhe gesetzt, und mit seinem Nachfolger war die Zusammenarbeit mehr als schwierig und die Kündigung wohl nur eine Frage der Zeit gewesen. Das Arbeitsamt hatte ihr zwar eine ganze Reihe freier Stellen vorgeschlagen, aber Emma war sich noch unschlüssig, wie sie weitermachen wollte. Ihr großer Traum war es schon immer gewesen, irgendwann eine eigene Tierarztpraxis zu haben. Doch dazu hatte ihr bisher das Geld gefehlt. Noch während dieser Überlegungen hatte sich ihr Wohnzimmer in eine kostenlose Regenwalddusche verwandelt. Und was ihr Privatleben anging … Nun, da waren die zahlreichen Fehlschläge in Sachen Liebe nur das bittersüße Topping auf der Praline.
Wenn sie ehrlich war, glaubte Emma inzwischen nicht mehr, dass es den vielbeschworenen Einen für sie tatsächlich gab. Schon in ihren Teenagerjahren hatte die Trennung ihrer Eltern sie zum ersten Mal an der großen Liebe mit Schmetterlingen im Bauch und verstohlenen Blicken, die ein Feuerwerk entfachten, zweifeln lassen. Ihre bisherigen Partybekanntschaften und schiffbrüchigen Beziehungen, die schon wegen ihrer Kürze den Namen nicht verdient hatten, schienen das noch zu untermauern. Ein kleiner Funke Hoffnung glimmte allein dann in Emma auf, wenn sie an Lena und Milla dachte. Milla war glücklich mit Tim und wohnte seit einem halben Jahr mit ihm zusammen, und Max hatte seiner Lena im vergangenen Advent vor dem knisternden Kaminfeuer im Haus seiner Großeltern sogar einen Antrag gemacht. Und nun war schon ihr erstes Kind unterwegs – das Vanillekipferl, wie sie es liebevoll nannten. Anders als bei ihr selbst war bei ihren Freundinnen aus der ersten Verliebtheit tiefe Zuneigung und Liebe geworden, und deshalb hatte Emma sich in letzter Zeit das erste Mal in ihrem Leben wirklich einsam gefühlt.
Sie kuschelte sich in ihre Bettdecke. Draußen war es noch dunkel. Da die Tage in schnellen Schritten immer kürzer wurden, konnte das dennoch bedeuten, dass sie einmal wieder viel zu lange im Bett lag. Ein Blick auf das Display ihres Handys hätte genügt, um herauszufinden, wie spät es war, aber das lag noch gut verstaut in einem Innenfach der Reisetasche, die sie in den letzten vier Tagen nur angerührt hatte, um ihren Jogginganzug herauszufischen. Sie war nicht der Typ, der schnell zur Heulboje wurde, und doch hatte sie die Zeit gebraucht. Ein Rückschlag verdaute sich nicht so schnell. Und wenn gleich mehrere von ihnen auf einmal auftraten, konnte das auch länger dauern. Zumindest das weihnachtlich dekorierte Gästezimmer umschmiegte Emma wie ein schützender Kokon und gab ihr das Gefühl von Sicherheit.
Sie setzte sich auf und sah versonnen zum Fenster. Auf einer dicken, glitzernden Watteschicht standen dort drei singende Engelsfigürchen mit Stupsnasen und kleinen dicken Bäuchen. Der grinsende Santa Claus auf dem Tisch daneben schaffte es jedes Mal, sie zum Lachen zu bringen, wenn er mit seinem Po im Takt von Jingle Bells Rock wackelte. Und die Lichterketten, die Lena im Raum verteilt hatte, tauchten das Zimmer in genau die Behaglichkeit, die Emma so dringend benötigte.
So gut wie in den letzten Nächten hatte Emma schon lange nicht mehr geschlafen, und endlich fühlte sie sich ausgeruht und bereit, ihren Jogginganzug gegen normale Alltagskleidung zu tauschen. Sie schlüpfte aus dem warmen Bett und huschte unter die Dusche. Vor dem Spiegel flocht sie sich den Pony ihres langen, tiefdunkelbraunen Haares zu einer Seite und steckte ihn mit einer kleinen Goldspange fest. Im nächsten Augenblick schaute ihr ein Emma-Gesicht entgegen, das zufriedener wirkte als noch vor vierundzwanzig Stunden. Ihre dunkel umrandeten himmelblauen Augen leuchteten aus dem weichen Gesicht mit der geraden Nase und den vollen Lippen, die heute wieder ein zaghaftes Lächeln zeigten. So leicht kriegst du mich nicht unter, Leben!, grollte sie ihrem Spiegelbild entgegen und grinste es frech an.
Als sie aus dem Badezimmer trat, hörte sie Geschirr klappern und folgte dem Wohlgeruch frisch gebrühten Kaffees in die Wohnküche.
»Guten Morgen, Süße!«, begrüßte Lena sie gut gelaunt und goss sich einen dampfenden Kakao ein, der kurz darauf eine berauschende Kombination aus Zimt-, Kardamom- und Nelken-Duft verströmte. Sie trug einen figurbetonten dunkelgrünen Strickpullover mit breitem Kragen und einen engen Jeansrock. Hätte sie sich zur Begrüßung nicht umgedreht, hätte man im Leben nicht erkannt, dass sie schwanger war.
Emma hoffte sehr, sie hätte ebensolche Gene, sollte sie auch einmal Kinder bekommen. Aber dazu müsste sie erst mal den passenden Mann finden.
»Du möchtest sicher lieber Kaffee?«, fragte Lena. »Max hat extra ein paar Tassen mehr gekocht.«
»Du kennst mich. Kaffee ist mein Lebenselixier!« Grinsend nahm Emma sich einen großen Becher aus dem Regal. »Wusstest du, dass sich das Wort Kaffee von dem arabischen Wort Kahwe ableitet, das so viel wie Lebenskraft oder Stärke bedeutet?«
»Das wusste ich nicht, aber jetzt weiß ich, woher du deine Willensstärke hast.« Lena grinste nun ebenfalls.
»Du meintest wohl eher meine Sturheit?«, feixte Emma und schüttete sich Kaffee ein. Sie ließ Milchschaum aus einem Metallkännchen in die tintenschwarze Flüssigkeit gleiten und sah fasziniert zu, wie sie sanft miteinander verschmolzen. Nun noch etwas Zucker und Kardamom. Dann setzte sie sich an den gedeckten Tisch, auf dem die erste der Honigkerzen auf dem Adventskranz flackerte und ihren waldig süßen Duft verströmte.
»Wo ist Max eigentlich?« Sie fischte ein Brötchen aus dem Korb, bestrich es großzügig mit Butter und dem Inhalt eines Glases, aus dem es nach Weihnachtsbäckerei roch, und biss beherzt hinein. Gleich darauf verdrehte sie genießerisch die Augen. »Das schmeckt ja köstlich!«
»Bratapfelmarmelade. Selbst gemacht«, erklärte Lena mit Stolz in der Stimme. »Max ist schon auf dem Weg zur Redaktion. Sie haben ein Meeting.« Ihr Verlobter war freier Journalist und Fotograf, schrieb hauptsächlich für die Tageszeitung, erstellte aber auch Fotoreportagen für Magazine.
Lena schwenkte eine Haselnuss vor der Kobelöffnung ihres zahmen Eichhörnchens. Die aus Schilf geflochtene Behausung hing wie ein dicker Wassertropfen von der hohen Decke neben dem Fenster ihrer gemütlichen Wohnküche. »Na, Puschelchen, möchtest du heute gar nicht aufstehen?« Doch Ruprecht ließ nur ein müdes Tschiepen vernehmen, und sie steckte die Nuss wieder in ihre Rocktasche.
Emma konnte es dem Tierchen nicht verübeln. Es war noch früh, und die Welt da draußen wirkte noch wie in Druckerschwärze getunkt. Sie stand auf, stellte sich mit ihrer dampfenden Tasse in den Händen neben Lena und sah aus dem hohen Strebenfenster auf die Straße hinunter. Im schummrigen Schein der Laternen tanzten unzählige weiße Flocken; das raue Pflaster und die herbstlich-trostlosen Vorgärten waren schon seit ein paar Tagen mit einer dicken weißen Schicht zugedeckt.
»Jetzt kommt die allerschönste Zeit im Jahr! Hast du nicht auch schon so ein Himbeerzuckerwattegefühl im Bauch?« Lena legte Emma selig lächelnd die Arme um die Schultern.
Doch Emma konnte Lenas Vorfreude nicht recht teilen. Die weihnachtlich romantischen Gefühle, in denen sie sich nur allzu gern verlor, ließen in diesem Jahr noch auf sich warten; und das war wohl kaum überraschend.
»Ruprecht, runter da!«, sagte Lena plötzlich streng und löste sich abrupt von Emma. Sie nahm das Eichhörnchen, das von beiden Frauen unbemerkt aus dem Kobel gehüpft war und es sich auf dem Esstisch zwischen Käse und Trauben bequem gemacht hatte, mit gekonntem Griff auf und setzte es neben seine leere Nussschale auf die Fensterbank. Dort brach es in ein verärgertes Keckern aus.
»Entschuldige bitte, Puschelchen. Natürlich bekommst du auch Frühstück!« Lena füllte die Schale mit Sonnenblumenkernen, Hasel- und Walnüssen auf, dekorierte den Nussberg mit ein paar Weintrauben, stellte einen Eierbecher mit Wasser daneben und kraulte Ruprecht kurz hinter den Pinselöhrchen. Einen kleinen Moment ließ er es sich gefallen und legte das Köpfchen genießerisch schräg, dann aber siegte der Hunger und er machte sich über sein Frühstück her.
»Es ist so wundervoll zu sehen, wie er sich gemacht hat! Ich sehe ihn noch, wie ich ihn zu dir gebracht habe, eingewickelt in das ganze Verbandszeug«, erinnerte sich Emma. Sie arbeitete ehrenamtlich in der Wildtierstation am Waldrand und hatte das nach einem Hundeangriff verletzte Eichhörnchen vor einigen Jahren in Lenas Obhut und Pflege gegeben, weil die Station fürchterlich überlastet gewesen war. Das eigentlich wilde Waldtier wollte nach einiger Zeit allerdings kaum noch wild sein und schenkte Lena seither seine Eichhörnchenliebe. Es hatte zwar die Freiheit, zu jeder Zeit durch die Katzenklappen zu kommen und zu gehen, um im Park gegenüber in den hohen Bäumen zu klettern. Gleichzeitig genoss es aber sichtlich die Vorzüge seines Zuhauses, in dem es immer genug Nüsse und ein warmes Schlafplätzchen gab.
Als sie beide wieder am Frühstückstisch saßen, platzte Emma plötzlich heraus: »Lena, ich habe eine Idee!«
»Ach ja, und welche?« Lena legte eine Scheibe Käse auf ihr Brötchen, verzierte sie mit ein paar Scheiben Gurke und sah Emma erwartungsvoll an.
»Vielleicht ist es auch zu verrückt, und es klappt bei meinem Glück derzeit sowieso nicht, aber …«
Lena legte beruhigend ihre Hand auf Emmas. »Wenn eine Idee zuerst nicht absurd erscheint, taugt sie nichts.«
»Oma Greta?«
Lena schüttelte lachend den Kopf. »Albert Einstein.«
»Stimmt! Bei deiner Oma hätte es geheißen: ›Wenn ein Rezept zuerst nicht absurd erscheint, taugt es nichts!‹«, lachte Emma mit.
»Nun sag schon – was ist das für eine Idee?«
»Was würdest du davon halten, wenn ich die Wildtierstation zu einer eigenen Tierarztpraxis ausbaue? Alle Voraussetzungen, um selbstständig als Ärztin zu praktizieren, erfülle ich. Allerdings würde die Renovierung ein hübsches Sümmchen kosten, und die medizinischen Geräte dort sind auch nicht mehr auf dem neusten Stand.«
»Das ist wahrscheinlich das Verrückte an deiner Idee?«, vermutete Lena, und Emma lächelte schief. »Wem gehören das Haus und das Grundstück eigentlich?«
»Der Stadt. Der Greifvogel und Wildtier e. V. finanziert die Pacht durch Spendengelder. Allerdings läuft der Pachtvertrag zum Ende des Jahres aus. Ich habe mit der Verlängerung gewartet. Wäre doch sehr praktisch, wenn die Stadt mir das Haus verkauft, oder? Dann braucht der Verein keinen Pachtvertrag mehr.« Emma nahm einen großen Schluck Kaffee.
»Erkundige dich einfach bei der Stadt ob es die Möglichkeit gibt, die Station zu kaufen.«
»Aber wie soll ich das machen, wenn ich schon nicht das Geld für die Ausstattung und Renovierung habe?«
»Ein Bankkredit? Ach, Süße! Jetzt stell dich nicht dümmer, als du bist.« Lena zwinkerte ihr zu. »Schreib einen Businessplan, und schenk dem Mitarbeiter in der Kreditabteilung deinen schönsten Big-Volume-Explosion-Mascara-Augenaufschlag!«
»Du findest also, ich sollte es tun?«, flüsterte Emma aufgeregt. In ihrem Bauch setzte ein Wunderkerzenkribbeln ein, als Lena nickte.
»Ach, bevor ich es vergesse: Da lag etwas für dich bei der Post.«
»Für mich? Wer weiß denn, dass ich gerade bei dir wohne?« Emma war erstaunt, nahm aber die Sendung in einem Anflug von Euphorie entgegen.
Der buchgroße braune Luftpolsterumschlag ließ reichlich Inhalt vermuten. Emma besah ihn von allen Seiten. Der Absender fehlte, und es war auch keine Briefmarke darauf. Jemand musste ihn also persönlich eingeworfen haben. Auf der Vorderseite vereinten sich dünne Tintenlinien zu ihrem Namen: Emma Herzsprung. Die Handschrift ihrer Mutter!
Emma erschrak so sehr, dass sie den Umschlag abrupt losließ, als hätte sie sich an einer heißen Kartoffel verbrannt. Er landete mit einem dumpfen Rumms neben ihrem Frühstücksbrettchen und verfehlte nur knapp die Butterschale.
Im Allgemeinen beschrieb Emma sich als von Natur aus fröhlichen Menschen mit einem gesunden Maß an Skepsis und Ehrgeiz. Doch in Hinblick auf ihre Mutter gab es da noch die verletzliche Emma; eine Emma, die es ihr nicht verziehen hatte, dass sie vor fünfzehn Jahren einfach gegangen war. Als Journalistin hatte es Marlin Herzsprung, die es vorgezogen hatte, ihren Mädchennamen zu behalten, in die Welt gezogen. Sie hatte die häufigen, langen Reisen genossen und war als Auslandskorrespondentin erfolgreich. Emma hatte sich oft gefragt, warum ihre Mutter überhaupt geheiratet und ein Kind bekommen hatte, wenn sie ihre Tochter sowieso lieber über kurz oder lang gegen eine schillernde Karriere eingetauscht hatte. Sie hatte sich so sehr von ihr im Stich gelassen gefühlt, dass sie sich nach einiger Zeit geweigert hatte, auch nur ein Wort mit ihr zu reden. Noch heute verspürte sie einen tiefen Groll darüber und fragte sich, wie man dem eigenen Kind so etwas antun konnte.
»Von wem ist das Päckchen?«, fragte Lena.
Emma bemerkte den besorgten Seitenblick ihrer Freundin. »Nicht so wichtig«, antwortete sie schlicht, obwohl sich in ihrem Inneren ein Wutkloß ausbreitete. Sie nahm den Umschlag, zog die große Schublade mit dem Papiermüll auf, warf ihn hinein und setzte sich wieder vor ihren Kaffeebecher. Im Moment gab es genug, worüber sie sich Gedanken machen musste. Da war nun wirklich kein Raum für einen Annäherungsversuch ihrer Mutter. Doch natürlich fragte sie sich bereits, warum sich ihre Mutter gerade jetzt bei ihr meldete.
Plötzlich schob sich ein kleiner Teller mit einem Schoko-Tonkabohnen-Küchlein in ihr Sichtfeld. »Ist noch warm«, sagte Lena leise.
Wie lieb! Dankbar versuchte Emma sich an einem kleinen Lächeln. Sie nahm einen Schluck Kaffee und biss in das Schokoküchlein. Als der weiche Schokoladenkern auf ihrer Zunge mit dem Kaffeearoma verschmolz, schloss sie die Augen und gab sich einen Moment lang dem Genuss hin.
Lena grinste. »Wenn dir nachher die Decke auf den Kopf fällt, kommst du einfach runter. Im Lädchen hab ich noch mehr davon.«
»Ja gern!«, schwärmte Emma, wurde dann aber ernst. »Ich könnte im Laden mithelfen, wenn dir das ein oder andere zu beschwerlich wird. Außerdem kann ich mich damit dafür revanchieren, dass ich hierbleiben darf.«
Mit beschwerlich hatte sie bei Lena offenbar ungewollt einen Nerv getroffen. »Ich bin nur schwanger und keine gebrechliche Achtzigjährige!«, entrüstete sie sich und setzte bestimmt hinzu: »Das ist wirklich nicht nötig. Du solltest selbst erst mal zur Ruhe kommen.«
Emma seufzte. Vielleicht hatte Lena sogar recht. Zumindest damit, dass sie zur Ruhe kommen musste. Kündigung, Wasserrohrbruch, ihr verkorkstes Liebesleben und nun auch noch ihre Mutter … Etwas Ablenkung würde ihr gerade jetzt guttun, und was Lena betraf … Vielleicht wollte sie einfach nicht wahrhaben, dass sie mittlerweile ein wenig Hilfe brauchen konnte. Emma nahm sich vor, behutsam vorzugehen und Lena nicht zu bedrängen.
»Das hier könnte dich wieder etwas aufmuntern.« Mit einem breiten Grinsen reichte Lena Emma einen weiteren Umschlag. Er war kleiner und weiß.
Verdutzt öffnete sie ihn. Es war eine Karte aus cremeweißem, dickem Büttenpapier – eine Hochzeitseinladung! Wunderschön gezeichnete Mistelzweige umrahmten den handgeschriebenen Text am oberen Rand der Karte und weiße Glöckchen in den Ecken läuteten das freudige Ereignis ein:
Liebe Emma,
hiermit laden wir Dich herzlich zu unserer Hochzeit am 24.12. um 14 Uhr ins Filmtheater Casablanca ein! Das Restaurant Insieme und das Fräulein Gewürzzauber werden euch mit kulinarischen Gaumenfreuden beglücken.
Wir freuen uns auf Dich und darauf, einen unvergesslichen Heiligen Abend mit Dir zu verbringen!
Herzliche Grüße
Lena & Max
Emmas Augen füllten sich mit Tränen. Sie sprang auf, juchzte und tanzte mit Lena durch die Küche, während Ruprecht ihnen aufgeregt tschiepend um die Beine flitzte. Nach der gefühlt hundertsten Umarmung lachte Emma: »Wie wundervoll! Endlich! Milla und ich waren schon so aufgeregt, wann es endlich so weit ist! Schließlich wollen wir doch einen Jungesellinnenabschied für dich veranstalten!«
»Was kosten die Tütchen mit den gebrannten Kürbiskernen?«, fragte eine hochgewachsene Dame mit dicker Strickmütze.
»Momentchen, ich komme!«, flötete Kathi durch den Verkaufsraum. Sie war Lenas Aushilfe, überzeugte Langzeitstudentin und kam an den Nachmittagen ins Fräulein Gewürzzauber. Emma mochte ihre offene Art sehr, denn Kathi lachte gern und ließ sich auch vom vorweihnachtlichen Trubel kaum beeindrucken.
Auch heute waren die Tischchen voll besetzt. Im Verkaufsraum stöberten Kunden in Lenas Schokoladenkreationen und traten mit roten Wangen und glücklichem Leuchten in den Augen an die Kasse. Sichtlich erleichtert huschte Kathi zu Emma: »Dich schickt der Himmel! Kannst du die Kuchengäste bedienen? Dann kann ich mich um den Verkauf kümmern.«
»Ja, sicher. Aber wo ist denn Lena?«, fragte Emma verwundert.
»Sie wollte sich mal eben um Nachschub kümmern.« Kathi verdrehte genervt die großen blauen Augen. »Die Zimtstangen, Printen, Schneekugeln und Himbeer-Lavendel-Pralinen sind fast aus. Kathi, das kriegst du doch eben allein hin!«, zitierte sie ihre Chefin und schubste energisch einen ihrer roten Flechtzöpfe von der Schulter.
Emma lachte. »Lass sie mal in Ruhe machen. Wir kriegen das doch locker hin. Die ziehe ich allerdings nicht an!« Entschieden zeigte sie auf die rosafarbene Rüschenschürze um Kathis üppige Hüften.
Kathi hob abwehrend die Hände. »Ich hab dazu nichts zu sagen. Mir ist alles recht, wenn du mir nur hilfst. Du darfst dich nur nicht von der Chefin erwischen lassen!«
Grinsend wandte sich Emma zu den Tischen und begann mit der Arbeit.
»Möchten Sie dazu noch etwas Winterpunsch? Den kann ich sehr empfehlen.« Lächelnd servierte Emma einem Herrn mit roter Fliege und dunkelgrau karierter Weste ein Stück Orangen-Torte mit Schwips. Sein Tweed-Jackett mit Lederflicken an beiden Ellbogen hatte er über die Stuhllehne gehängt, und mit seinem biederen Outfit wirkte er etwas aus der Zeit gefallen – was Emma schwierig machte, sein Alter zu schätzen. Sie ordnete ihn schließlich mit etwa Ende fünfzig dem Altersumfeld ihres Vaters zu.
Als Emma neben ihn trat, legte der Mann seinen Füller und das Notizbuch beiseite, ein in Leinen gebundenes Büchlein, auf dem Emma ein eingeprägtes Eulen-Logo erkannte. »Sie wollen mich doch nicht zum Alkohol verführen, junge Frau?« Er zwinkerte über seine Nickelbrille und schmunzelte in seinen kurzen weißen Bart.
»Aber nein, mein Herr! Den Winterpunsch gibt es natürlich auch ohne«, ging Emma auf sein Spiel ein.
»Dann bitte einen Winterpunsch ohne.« Er lehnte sich zurück. »Es ist wirklich schön, mit netten Menschen einen Plausch zu halten.«
Was meinte er wohl damit? Mit einem irritierten Lächeln wandte Emma sich ab, um sich um seine Bestellung zu kümmern.
Als Lena eine Stunde später aus der Backküche kam, wirkte sie überrascht, Emma zu sehen, die gerade einen Tisch abräumte. »Hast du etwa heimlich ausgenutzt, dass ich beschäftigt war?« Sie verengte die Augen und stemmte die schmalen Hände neben ihren Marzipankugelbauch.
Emma grinste zur Antwort, gab Lena einen Luftkuss und brachte das Geschirr in die Backküche.
Der Nachmittag war arbeitsam und verging wie im Flug. Emma und Lena waren froh, als sie es sich endlich im Wohnzimmer auf der Couch gemütlich machen konnten. Ruprecht kuschelte sich mit zufriedenen Wuck-wuck-wuck-Lauten auf Lenas Schoß, ließ sich von ihr streicheln, während sie erschöpft den Kopf in die weichen Kissen sinken ließ.
»Gerade würde ich mir wünschen, ich hätte auch so einen wundervollen tierischen Begleiter«, seufzte Emma und schaute mit verliebtem Blick zu Lena.
»Wann gehst du zur Wildtierstation?«
»Morgen wieder. Aber es ist eine Wildtierstation. Betonung auf wild. Die wenigsten Tiere sind wie Ruprecht. Wer konnte denn auch ahnen, dass dein kleiner Freund sich als Haustier viel wohler fühlt?«
»Das konnte wohl niemand.«
»Übrigens habe ich mir etwas vorgenommen.«
»Und das wäre?«, fragte Lena neugierig.
»Dem Rat meiner Freundin zu folgen.« Emma grinste. »Ich werde bei der Stadt anrufen und hoffe, sie verkaufen mir das Haus. Dann kann ich meine eigene Praxis eröffnen, und die Wildtierstation kann auch dortbleiben!« Ihr Entschluss stand fest, und das fühlte sich sehr gut an.
Lena nickte, doch Emma merkte sofort, dass ihre Freundin mit den Gedanken woanders war. Ihr Blick schweifte ab, als hätte sie etwas Wichtiges auf dem Herzen und würde die Bombe gleich platzen lassen.
»Lena-Süße, möchtest du mir etwas sagen?«, fragte Emma vorsichtig.
Lena tat, als hätte sie die Frage nicht gehört. Sie schaute auf Ruprecht und kraulte ihm die Pinselöhrchen, während sie genauso vorsichtig fragte: »Was hältst du generell von überbesorgten, aufdringlichen und übergriffigen Freundinnen?«
»Ähm?« Emma stutzte und verengte skeptisch die Augen. »Wenn es sich um meine beste Freundin handeln würde, würde ich sie fragen, ob sie heute zu viel Zucker im Kakao hatte.«
»Bitte, sei mir nicht böse!«, platzte Lena heraus und machte einen so schnellen Ruck nach vorn, dass Ruprecht erschrocken hochschnellte und wütend keckernd in seinen Kobel flitzte. »Vielleicht war es nicht richtig von mir, ihn wieder aus dem Müll zu holen, aber …« Sie zog den Umschlag mit Emmas Namen hinter einem dicken Kissen hervor und reichte ihn ihr. »Ich kann mir schon denken, von wem er ist.« Emma öffnete den Mund, um zu protestieren, doch Lena ließ sich nicht unterbrechen: »Du warst so aufgewühlt heute Morgen. Deswegen und weil doch bald Weihnachten ist und weil sie doch deine Mutter ist, habe ich ihn wieder rausgeholt. Bist du nicht ein kleines bisschen neugierig?«
Aufgewühlt beschrieb das Gefühl nicht annähernd, das Emma gerade ergriff. War es Schmerz? Traurigkeit? Verzweiflung? Wut? Es war, als glitte ihr das Wort dafür immer dann aus den Fingern, wenn sie gerade meinte, es zu kennen. Um ihren Herzschlag zu beruhigen, schloss sie die Augen und atmete ein paarmal ein und aus. Sie hatte den ganzen Tag nicht an den Umschlag gedacht. Er stellte eine seltsame Verbindung zu ihrer Mutter dar, und sie hatte noch nicht entschieden, ob sie diese Verbindung zulassen wollte. »Gerade weil er von ihr ist, hätte er ruhig dort liegen bleiben können. Auch nach fünfzehn Jahren tut es immer noch so weh, als wäre es gestern gewesen«, flüsterte sie und fühlte Lenas Hand auf ihrer.
Erwin Schrödingers Katze kam Emma in den Sinn, ein Gedankenexperiment, über das viel zu oft am sonntäglichen Frühstückstisch philosophiert worden war. Man hatte als pubertierendes Mädchen zweifellos kein leichtes Leben, wenn der Vater Psychologe war. Jetzt im Erwachsenenalter führte es zu Gedanken wie, dass der Inhalt des Umschlags sie freuen, ja vielleicht sogar glücklich machen konnte – oder aber sie verletzen, alte Wunden wieder aufreißen würde. Öffnete sie den Umschlag nicht, würden die miteinander verbundenen Zustände zu einem verschmelzen. Aber welcher war das?
Emma nahm eins der Sofakissen und drückte es fest an sich. Jetzt, wo sie wusste, dass es den Umschlag gab, konnte sie ihr Leben nicht weiterleben, als wäre nichts weiter geschehen. Emmas Teenager-Ich hätte ihr zugezischt: Lass dich nicht um den kleinen Finger wickeln – sie enttäuscht dich doch nur wieder! Doch nun, da sie erwachsen war, sah sie die Dinge mit etwas anderen Augen. Sie war immer noch verletzt, aber auch unsicher, ob sie nicht vielleicht doch zu hart zu ihrer Mutter gewesen war.
»Dass es noch wehtut, verstehe ich. Und ich sage auch nicht, dass du ihr alles vergeben sollst, aber … Wie war das noch mit deiner Sturheit?« Lena strich sacht über Emmas Rücken.
Einen Moment lang zögerte Emma noch und überlegte, ob sie Lena böse sein sollte. Dann aber siegte ihre Neugier. Schließlich stand ihre Mutter ja nicht persönlich vor ihr. Sie hatte lediglich einen Umschlag mit geheimnisvollem Inhalt geschickt, den Emma nur zu gern erkunden wollte. »Dafür hab ich was gut bei dir!«, grummelte sie.
»Aber sicher doch!«
Zaghaft öffnete Emma das Kuvert. Sie zog ein gefaltetes Blatt heraus und ein etwa daumendickes, in mit Mistelzweigen verziertes Papier gehülltes Geschenk. Mit zittrigen Fingern nahm sie das Blatt und las das Anschreiben laut vor:
Liebe Emma,
das Leben kann manchmal schwer sein, und die Liebe macht alles noch komplizierter. Vielleicht erinnerst Du Dich noch an die glücklichen Gefühle, die Du jedes Jahr als Kind hattest, wenn Du am Morgen das nächste Päckchen Deines Adventskalenders öffnen durftest?
Diese Momente möchte ich Dir wieder schenken. Manchmal reicht ein kleiner Funke, der einen wieder hoffen lässt.
So hoffe ich, dass Dir dieser Adventskalender jeden Tag eine Stütze sein kann – im Leben und, falls Du sie noch nicht gefunden hast, besonders in der Liebe.
Deine Mama
Emmas Stimme brach, als sie die letzten Worte las, und eine Träne rann ihr die Wange hinunter. Sie spürte einen bohrenden Stich im Herzen. Das Leben kann manchmal schwer sein. Die Worte spendeten ihr seltsamen Trost. Aber konnte ein Kalender ihr wirklich die Hilfe geben, die sie die ganzen Jahre so vermisst hatte?
Emma versuchte, den dunklen Schatten ihrer Vergangenheit zusammenzuknautschen und in eine Truhe mit dickem Schloss zu sperren. Sie wollte lieber nach vorn blicken als zurück. Also versuchte sie, sich an das vorfreudige, kribbelige Gefühl in ihrem Bauch zu erinnern, das sie als Kind gespürt hatte, wenn sie die Säckchen des selbst gemachten Adventskalenders ihrer Mutter geöffnet hatte. Engelchen mit roten und weißen Kleidern, goldene Sterne und ein großer Tannenbaum mit grünen Zweigen waren auf einen groben Leinenstoff gestickt gewesen. An vierundzwanzig goldenen Ringen hatten dunkelrote Säckchen wie Christbaumkugeln gehangen. Und jedes hatte nur darauf gewartet, von der kleinen Emma geöffnet zu werden.
Lena nahm sie tröstend in den Arm.
»Danke, es geht schon wieder.« Emma tupfte sich die Tränen von den Wangen, atmete tief durch und nahm dann das flache Päckchen zur Hand.
Unter dem hübschen Geschenkpapier kam ein dicker Stapel Briefumschläge zum Vorschein; pastellgrünes Naturpapier, auf dem Blätter, Tannenzapfen und Zweige mit roten Beeren zu einem stilvollen Muster arrangiert waren. Ein breites weißes Schleifenband hielt alles zusammen, bis Emma es löste. Auf dem obersten Umschlag prangte ein kleines weißes Oval mit gezacktem Rand wie bei einer alten Fotografie. In sanft geschwungenen Buchstaben stand darin: Emmas Adventskalender – 1. Dezember.
Als sie vorsichtig mit den Fingern über das Oval strich, bemerkte sie das Lächeln in Lenas Gesicht und folgte ihrem Blick zu dem kleinen Holzkistchen auf der antiken Kommode neben dem Durchbruch zum Wohnzimmer. Dort bewahrte Lena die Kärtchen auf, die ihre Großmutter Greta ihr vor ein paar Jahren als Adventskalender hinterlassen hatte und die ihr durch eine turbulente Adventszeit geholfen hatten.
Emma zog an der Lasche auf der Rückseite und befreite eine Karte aus dem Umschlag. Sie war mit goldenen Sternen beklebt, die im Schein der Lichterkette glänzten. Am unteren Rand las Emma:
Ach du dicker Kuchenkrümel – Ist der Keksteller leer?
Schau doch einfach in die Dose! Da findest du noch mehr!
Sie drehte die Karte um und las weiter:
1. Dezember
Liebe Emma,
erinnerst Du Dich an die Weihnachtsferien bei Deiner Tante und Deinem Onkel? Du warst damals fünf und fest davon überzeugt, dass das ferngesteuerte Auto Deines Cousins auch fahren kann, wenn Du das Kabel der Fernbedienung durchschneidest – denn wozu heißt es denn ferngesteuertes Auto!
Lass Dich nicht beirren, auch wenn es schwierige Momente im Leben gibt, Zeiten, in denen wir Niederlagen und Rückschläge hinnehmen müssen.
Lass Dich weiterhin von Deiner inneren Überzeugung leiten. Die Freunde an Deiner Seite helfen Dir, einen neuen und besseren Weg zu finden, den es mit Sicherheit geben wird.
Deine Mama
Emma wusste weder, was sie denken, noch, was sie sagen sollte. Schließlich hatte sie Lena vor ein paar Jahren für den Postkarten-Adventskalender ihrer verstorbenen Großmutter belächelt und ihr nicht abgenommen, dass er von ihr war. Anders als Lena hatte Emma nicht an ein solches Wunder geglaubt und vermutet, ihre Freundin vermisse ihre Oma einfach zu sehr und könne nicht loslassen. Ihr Glaube galt allein der Wissenschaft und nicht irgendeinem übersinnlichen Simsalabim! Doch dann war alles anders gekommen als gedacht, und Emma hatte sich eingestehen müssen, dass es so etwas wie Wunder an Weihnachten ganz vielleicht und eventuell doch gab. Jedenfalls für Lena.
Und jetzt hatte ihr ihre eigene Mutter einen Adventskalender geschenkt, bei dem sie sich fragte, ob es ein Zufall sein konnte, dass der Spruch und die Nachricht perfekt zum Tag passten. Ach! Emma schüttelte unwillkürlich den Kopf. Das war doch einfach großer Unsinn! Den richtigen Weg musste sie selbst einschlagen. Aber zumindest war sie mit Lena und Milla an ihrer Seite nicht allein.
»Herrje, schon 9 Uhr!«, entfuhr es Emma beim Blick auf ihr Handy. Ein bisschen zur Ruhe kommen tat ja ganz gut, aber sie wollte sich weder zu Gammellook noch Gammelmood hinreißen lassen. Ab morgen würde sie sich wieder den Wecker stellen! Ihr Blick fiel auf das geflochtene Körbchen auf ihrem Nachttisch, das Lena ihr als Ablage für die Umschläge gegeben hatte. Mein Adventskalender. Sie wusste immer noch nicht, was sie davon halten sollte. Das Päckchen und die Nachricht ihrer Mutter hatten geheilt geglaubte Wunden wieder aufgerissen und viele Erinnerungen geweckt, die Emma eigentlich in einer Kiste in der hintersten Ecke des Dachbodens hatte verstauben lassen wollen. Gestern Abend hatten ihre Gefühle, die Gemütlichkeit in Lenas Wohnzimmer und die weihnachtliche Stimmung sie schlicht übermannt. Heute Morgen war ihr Blick wieder klarer, nüchterner.
Unwillig schüttelte Emma den Kopf. Sie war nicht bereit, sich bei ihrer Mutter für den Kalender zu bedanken. Und obwohl sie einen Anflug von Neugier verspürte, ließ sie den für heute bestimmten Umschlag verschlossen. Zumindest für den Moment.
Andere Dinge waren wichtiger. Sie stand auf, bereitete sich ein schnelles Frühstück und rief als Erstes ihren Vermieter an, um ihn zum Stand der Renovierungsarbeiten zu befragen. Niederschmetternder hätte die Antwort nicht sein können, denn Herr Höllermann ging von mindestens vier Wochen Bauzeit aus. Doch Emma machte ihm keinen Vorwurf. Sie versuchte sogar den hörbar zerknirschten Mann zu trösten, indem sie ihm versicherte, dass auch sie glaubte, dass die Handwerker heutzutage nicht mehr das waren, was sie einmal gewesen waren. Am Ende des Telefonats wirkte der bemitleidenswerte Mann nicht mehr ganz so am Boden zerstört. Eine gute Tat am Tag.
Als Nächstes war die Stadt an der Reihe. Mit einem Mal prickelten die Wunderkerzen in Emmas Bauch wieder. Das Haus kaufen … meine eigene Tierarztpraxis und das auch noch in der Wildtierstation … Heiliger Waldkauz! Was, wenn die Stadt ihr tatsächlich ein Angebot machte? Dann musste sie einen Businessplan schreiben und einen Kredit beantragen. Aber wie machte man so etwas? Vielleicht sollte sie den Anruf doch noch eine Weile verschieben? Sie brauchte dringend einen gemütlichen Mädelsabend mit Lena und Milla bei ihrem Lieblingsitaliener, jemanden, der ihr zuhörte und für sie da war, wie es ihre Freundinnen immer waren.
Um ihre Gedanken zu ordnen, machte sie sich auf den Weg zur Wildtierstation. Eine ganze Woche war sie nicht dort gewesen, und es wurde Zeit, dass sie einmal wieder nach dem Rechten schaute.
Eine halbe Stunde später betrat sie den Eingangsbereich der Station, einen quadratischen Raum mit einer halbrunden Empfangstheke und einem offenen Kamin an der Wand gegenüber. Die Station war insgesamt kein spektakulärer Bau, sondern ein unscheinbarer, lang gestreckter Bungalow aus den Sechzigerjahren mit zwei Behandlungszimmern, einem kleinen Büro, einem Lagerraum und einem Gemeinschaftsraum, der sich unter die hohen Tannen am Waldrand duckte.
Das Haus war nicht besonders gut in Schuss. Die Heizungsanlage war veraltet, über einige Wände zogen sich Setzrisse, und in Behandlungsraum 2 hatten sie Eimer aufstellen müssen, weil das Dach undicht war. Für Renovierungsarbeiten aber reichten ihre finanziellen Mittel nicht, die allein aus Spendengeldern bestanden und in Tierfutter, Medikamente und die Instandhaltung der Gehege flossen.
Emma liebte Tiere aller Art. Schon ihr Großvater Rudolf hatte als Tierarzt in der Wildtierstation gearbeitet, und sie hatte ihn als Kind oft dorthin begleitet. Als die Stadt die festen Stellen aus finanziellen Gründen irgendwann gestrichen hatte, hatten einige ehemalige Angestellte einen Verein gegründet, um die Station weiterzubetreiben. Nach dem Tod ihres Großvaters hatte Emma den Vorsitz des Vereins übernommen, und nun war sie die Tierärztin, die die wilden Patienten versorgte. Von ihrer Kündigung und ihren Plänen für die Station wollte sie den Vereinsmitgliedern aber erst etwas sagen, wenn alles in trockenen Tüchern war. Man sollte keine schlafenden Hunde wecken.
Auf der großen Fußmatte am Eingang schüttelte Emma den Schnee von ihrer Kleidung, dann erst hängte sie ihren Mantel an der Garderobe neben dem Empfangstresen auf.
»Hallo, Emma!« Oliver, der eigentlich Steuerberater war, lugte aus der Tür von Behandlungszimmer 1. Er feierte offensichtlich einmal wieder Überstunden ab und hatte seinen grauen Anzug gegen eine dunkelgrüne Arbeitslatzhose und Gummistiefel getauscht. Gerade fütterte er eine wunderhübsche Schneeeule.
»Hallo! Na, wie geht es unserer Patientin denn heute?«
»Sie frisst wieder deutlich mehr und meckert mich dabei gar nicht mehr so häufig an!« Behutsam strich Oliver dem Vogel über das weiße Federkleid.
»Das ist doch ein gutes Zeichen!« Zufrieden betrachtete Emma die Eule. Der Förster hatte das noch junge Tier vor ein paar Wochen bewusstlos am Wegesrand gefunden. Offenbar hatte sie bei Forstarbeiten einen Ast abbekommen und sich den Flügel gebrochen. Emma hatte ihn nach der Untersuchung mit einem Streifen medizinischen Klebebands am Körper fixiert, was den Vogel anfangs gar nicht amüsiert hatte. Die Eulendame war unsicher herumgetaumelt, hatte sich dann aber doch an die Situation gewöhnt. Bis ihr Flügel geheilt war, würde sie noch etwas Zeit in einem der Außengehege hinter dem Haus verbringen müssen, dem Wildtier B & B. Es waren keine Luxusunterkünfte, aber sie waren geräumig und artgerecht eingerichtet. Ein Fuchs, zwei Marder, ein Eichhörnchen und ein Dachs waren gerade ebenfalls wegen kleinerer und größerer Blessuren in Behandlung.
»Du warst ein paar Tage nicht hier. Warst du krank?«, fragte Oliver besorgt.
»Nein, nein, ein Wasserrohrbruch in meiner Wohnung«, wehrte Emma schnell ab. »Die Renovierung wird ein paar Wochen dauern. Ich bin zum Glück bei Lena und Max untergekommen.«
Oliver nickte erleichtert.
Emma zog sich nun ebenfalls Arbeitskleidung an, ihre Latzhose und die Gummistiefel, die einmal ihrem Großvater gehört hatten und zwei Nummern zu groß waren. Emma konnte sich dennoch nicht von ihnen trennen. Sie wollte irgendwann in seine Schuhe passen, und mit zwei Paar dicken Wollsocken klappte das schon ganz gut.
Das Grundstück war groß und reichte bis zu einer Lichtung in den Wald hinein. Auf halbem Weg dorthin standen zwei Futterkrippen für die Hirsche und Rehe. Die dicke Schneehaube ließ sie wie zwei obskure Figuren einer Modern-Art-Ausstellung wirken. Die Krippen mussten mit neuem Heu aufgefüllt werden. Doch bei diesem starken Schneefall würde die Arbeit heute nicht einfach werden.
Während sie noch eine Krippe vom Schnee befreite, hörte Emma den frischen Schnee unter Autoreifen knarzen. Vielleicht ein Notfall? Weil sie durch die dichten Flocken nicht weit sehen konnte, beeilte sie sich, zum Haus zurückzukommen. Dort schälte sich gerade ein groß gewachsener Mann aus einem schwarzen Kleinwagen. Sein athletischer Körper steckte in schicker Kleidung, die für dieses Wetter definitiv zu luftig war. Zu seinem rauchblauen Jackett trug er blaue Turnschuhe mit brauner Sohle.
Zumindest hat er sich einen dünnen Schal um den hübschen Hals geschlungen, dachte Emma mit einem Grinsen.
Er beugte sich noch einmal ins Auto und klemmte sich eine Lederkladde unter den Arm. Sein dichtes dunkles Haar war kurz, leicht gewellt und wurde zu den Spitzen hin heller. Sein Pony war schräg nach oben gegelt und glich Büschen im Schneesturm.
Na, der ist bestimmt nicht hier, um die Dienste einer Tierärztin in Anspruch zu nehmen, dachte Emma, ging aber dennoch freundlich lächelnd auf ihn zu. Als sie vor ihm stand, bemerkte sie ein freches Schmunzeln um seine Mundwinkel. Im nächsten Moment sah sie in die mysteriösesten, schönsten Augen, die sie je gesehen hatte. Wie glänzende Zartbitterschokolade!, dachte sie und blinzelte ein paar glitzernde Schneeflocken weg.
»Hallo! Arbeiten Sie hier?«, wollte er wissen. Seine Stimme war warm und tief.
Emma konnte nur nickten und fühlte, wie ihr die Knie weich wurden. »Ich fülle Heu in die Krippen«, antwortete sie und hieb sich innerlich die Hand vor die Stirn. Das haben Sie sicher an meinem stylischen Outfit erkannt?, wäre die bessere Antwort gewesen. Stattdessen hatte ihre Antwort geklungen wie Babys unbeholfenes Gebrabbel: Ich habe eine Wassermelone getragen.
Sie atmete tief durch und versuchte, die Oberhand über ihren Körper zurückzugewinnen. Schnell streifte sie die geblümten Arbeitshandschuhe ab. Warum begegnete ihr ein so gut aussehender Mann gerade dann, wenn sie einen Bad-Hair-Day hatte und die ausgebeulte Arbeitslatzhose und ihr dickster Wollpulli ihre schlanke Figur aufs Unvorteilhafteste verbargen? »Dr. Emma Herzsprung, hallo! Ich bin hier die Tierärztin – wie Ihnen sicher der Doktor vor meinem Namen verraten hat. Und Sie sind?« Sie lachte unsicher. Na, das war doch ein ganz guter Anfang. Für einen Yeti.
»Mein Name ist Leopold Winter.« Er gab ihr die Hand, die sich genauso warm anfühlte, wie seine Stimme sich anhörte.
Emma war wie elektrisiert, als sich seine Wärme während der kurze Berührung in ihrem ganzem Körper ausbreitete. Nur widerwillig ließ sie seine Hand los. »Schön, Sie kennenzulernen, Leopold Winter. Kommen Sie doch bitte mit ins Trockene!«
Schnell drehte sie sich um und ging voran. Als sie unter dem Vordach der Eingangstür standen, begannen ihre weichen Knie auch noch zu zittern. Bevor sich dieser Zustand auf ihren ganzen Körper ausbreiten konnte, fragte sie schnell: »Was kann ich für Sie tun?«
»Ich bin hier, um den Bungalow zu besichtigen.«
War Leopold Winter etwa ein neuer Sponsor, den sie so dringend benötigten? Nichts lieber als das! »Es freut mich sehr, dass Sie sich für die Wildtierstation interessieren! Dann lassen Sie mich Ihnen vor der Besichtigung noch schnell ein paar Eckdaten erläutern.«
»Das ist nicht nötig, ich möchte nur …«
Emma ließ ihn erst gar nicht ausreden. Jetzt war sie voll in ihrem Element. Sie würde ihren Verein und die Wildtierstation in ihrem besten Licht präsentieren. »Wie gesagt, ich bin Tierärztin und gerade dabei, die Futterkrippe für das Damwild wieder aufzufüllen«, begann sie. »Der Greifvogel und Wildtier e. V. hat noch neun weitere Vereinsmitglieder, ehrenamtliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aus ganz unterschiedlichen Berufen, die sich für den Wald und das Wohl der Tiere engagieren. Wir sehen uns als eine Art Ranger. Also, nicht so wie der Mann mit dem gelben Hut. Denn das ist ja nur eine Kindersendung, und der Hut ist auch wirklich sehr gelb. Unsere Outfits sind eher grün und weit und …«
»Könnten Sie jetzt vielleicht …?« Er deutete auf die Tür.
»Ach ja, natürlich!«