Fräulein Gewürzzauber - Zimtküsse und Honigduft - Stephanie Marzian - E-Book
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Fräulein Gewürzzauber - Zimtküsse und Honigduft E-Book

Stephanie Marzian

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Beschreibung

Eine liebenswerte Zuckerbäckerin, ihre bezaubernde Konfiserie und jede Menge Wirbel im Advent - ein entzückender Roman, romantisch wie ein zu Papier gebrachter Weihnachtsfilm

Lena hat die Welt im Keksdöschen: Vor Kurzem ist ihre große Liebe Max zu ihr in das charmante alte Stadthaus gezogen, in dem sich auch ihre Zuckerbäckerei, das »Fräulein Gewürzzauber«, befindet. Mit viel Leidenschaft hat sie sie zu ihrer süßen Welt gemacht. Als Lena das Tagebuch ihrer Ururgroßmutter Elvi auf dem Dachboden findet, werden Erinnerungen an Oma Gretas letzten Adventskalender wach, und sie beschließt, bis Weihnachten jeden Tag einen Eintrag zu lesen. Sie ist fasziniert, wie wundervoll Elvis Überlegungen ihr beim Durcheinander ihres eigenen Lebens helfen. Und davon gibt es auf einmal genug, denn Max’ skurrile Tante kommt überraschend zu Besuch, und Lena bekommt Konkurrenz: für ihr Café - und in der Liebe ...


Schokoladigsüßer Weihnachtszauber - von der Autorin illustriert und mit Lenas liebsten Rezepten zum Nachbacken

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Seitenzahl: 399

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INHALT

CoverÜber das BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungProlog1. Dezember2. Dezember3. Dezember4. Dezember5. Dezember6. Dezember7. Dezember8. Dezember9. Dezember10. Dezember11. Dezember12. Dezember13. Dezember14. Dezember15. Dezember16. Dezember17. Dezember18. Dezember19. Dezember20. Dezember21. Dezember22. Dezember23. Dezember24. DezemberEpilogRezepteDankeschön

ÜBER DAS BUCH

Eine liebenswerte Zuckerbäckerin, ihre bezaubernde Konfiserie und jede Menge Wirbel im Advent – ein entzückender Roman, romantisch wie ein zu Papier gebrachter Weihnachtsfilm

Lena hat die Welt im Keksdöschen: Vor Kurzem ist ihre große Liebe Max zu ihr in das charmante alte Stadthaus gezogen, in dem sich auch ihre Zuckerbäckerei, das »Fräulein Gewürzzauber«, befindet. Mit viel Leidenschaft hat sie sie zu ihrer süßen Welt gemacht. Als Lena das Tagebuch ihrer Ururgroßmutter Elvi auf dem Dachboden findet, werden Erinnerungen an Oma Gretas letzten Adventskalender wach, und sie beschließt, bis Weihnachten jeden Tag einen Eintrag zu lesen. Sie ist fasziniert, wie wundervoll Elvis Überlegungen ihr beim Durcheinander ihres eigenen Lebens helfen. Und davon gibt es auf einmal genug, denn Max’ skurrile Tante kommt überraschend zu Besuch, und Lena bekommt Konkurrenz: für ihr Café – und in der Liebe

Schokoladigsüßer Weihnachtszauber – von der Autorin illustriert und mit Lenas liebsten Rezepten zum Nachbacken

ÜBER DIE AUTORIN

Stephanie Marzian wurde 1978 in Dortmund geboren, studierte Kommunikationsdesign und arbeitete nach ihrem Studium als Designerin bei einem großen Fotobuchhersteller, bevor sie sich als Illustratorin und Grafikerin selbstständig machte. Stephanie Marzian lebt mit ihrem Mann und den zwei Kindern in der Nähe von Xanten am Niederrhein. Mit ihrem ersten Weihnachtsroman um das FRÄULEIN GEWÜRZZAUBER erfüllt sie sich einen lang gehegten Wunsch.

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Dieser Titel ist auch als Hörbuch-Download erschienen

Originalausgabe

 

Dieses Werk wurde vermittelt durch

die Literarische Agentur Michael Gaeb.

Copyright © 2023 by Stephanie Marzian

Copyright © 2023 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln

Lektorat: Dr. Stefanie Heinen

Umschlaggestaltung und -motiv: Stephanie Marzian

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7517-4804-9

luebbe.de

lesejury.de

 

Für Christian,

meinen Zimtstern-Adventsmann.

PROLOG

Ich habe eine Zimtstern-Romanze.

Jedes Mal, wenn Lena Sonnenschein diese Worte dachte, sah sie vor ihrem inneren Auge die weiße Gründerzeitfassade ihres altehrwürdigen Stadthauses. Die Häupter der pausbackigen Putten über den Fenstern trugen dicke Schneemützen, und das weiße Messingschild über dem Eingang des Fräulein Gewürzzauber wiegte sich knarzend im Wind. Sie fühlte den Moment, in dem Max sie im Schein der nostalgischen Straßenlaterne und inmitten tanzender Schneeflocken das erste Mal geküsst hatte. Und sie spürte die Wärme, die sich von seinen sanften Lippen in ihrem Körper ausbreitete. Zuckersüß, berauschend und betörend zugleich.

Vor einem Jahr hatte sie in Max Himmelreich die Liebe ihres Lebens gefunden – und neue Freunde, neue Aufgaben und in der Süße ihrer eigenen Zuckerbäckerei den Sinn des Lebens. Wer der Hektik des Alltags entfliehen wollte, ging ins Rosenviertel, wo sich inmitten alter Stadthäuser ihr Zufluchtsort befand: das Fräulein Gewürzzauber. Schon seit Generationen – um genau zu sein, seit 1884 – malte die Zuckerbäckerei den Menschen hier in der Rosenstraße 24 ein Lächeln ins Gesicht. Durch ihr feines Gewürznäschen schaffte Lena es immer wieder aufs Neue, auch exotische oder scheinbar zunächst inkompatible Aromen in einer Praline, einem Keks oder einer Torte zu vereinen und damit himmlische Geschmackserlebnisse und wundervolle Genüsse zu kreieren. Doch nicht nur die Leckereien ließen ihre Kunden ins Schwärmen geraten, wenn sie ihren Freunden vom Fräulein Gewürzzauber erzählten. Lena selbst trug das Ihre dazu bei, denn ihre Offenheit und ihr aufrichtig gemeintes Mitgefühl, wann immer jemand über die Widrigkeiten des Lebens klagte, spendeten ihren Besuchern Mut und Trost.

So war Lenas Leben ein wahr gewordener Traum mit rosaroter Baiserhaube und zuckersüßen Amarenakirschen als Topping. Klar, manchmal wurde ihr der Trubel auch ein wenig zu viel – beispielsweise, wenn das Backmagazin Puderzauber wieder einmal einen Bericht über ihre Zuckerbäckerei veröffentlichte und sie mit dem Erledigen der Vorbestellungen oder dem Fertigen und Backen der Naschereien für den Laden nicht mehr nachkam. Dann sehnte sich Lena nach den kleinen Dingen, die das Leben lebenswert machen: nach dem glitzernden Schein einer Lichterkette im Schnee, dem samtweichen Gefühl eines Lächelns, himmlischem Kaffeegeruch am Morgen oder den Worten dazwischen, die einen glücklich machten.

Wenn allzu viel Wirbel diese kleinen, wirklich wichtigen Dinge im Leben zudecken und uns die Sicht versperren und womöglich noch etwas Unvorhergesehenes geschieht, ist es gut, Menschen an seiner Seite zu wissen, die einem den Weg aus dem Schneesturm in winterliches Sonnenwetter weisen. Wie gut, dass Lena diese Menschen an ihrer Seite hatte.

1. DEZEMBER

»Ich bin dann mal weg! Außerordentliche Redaktionssitzung! Hab einen schönen Tag, mein Gewürznäschen«, wirbelten Max’ Worte durch den Raum.

Lena spürte einen flüchtigen, aber liebevollen Kuss auf ihren Lippen und den Duft von Zimt und Honig an der Nasenspitze. Dann war ihr Zimtstern-Adventsmann mit seinem verheißungsvollen Duft zur Wohnungstür hinaus. Zu der Tür, durch die sie nun beide für immer gehen würden. Im dämmrigen Schein des anbrechenden Morgens tanzten die ersten dicken Schneeflocken durch die Luft und ließen sich auf den Stupsnasen der pausbackigen Engelsgesichter an der Fassade und auf dem verschnörkelten Messingschild über der Ladentür nieder, das knarzend mit jeder Windböe hin und her schaukelte.

In Lenas Wohnung in der ersten Etage lockten dampfender Kakao, Kerzenschein, Tannenduft, Kekse und weiche Kissen. Noch war es himmlisch ruhig. Gleich aber würde es unten, in Lenas kleinem Lädchen, dem Fräulein Gewürzzauber, wegen der vielen süßen Leckereien von freudestrahlenden Gesichtern nur so wuseln. Lena hatte viele Stammkunden, die regelmäßig kamen, um in ihren Kreationen zu stöbern, mit ihr ein Pläuschchen zu halten oder es sich mit Freunden bei einem heißen Punsch zu Himbeer-Mandel-Torte an einem der drei Tischchen am Fenster gemütlich zu machen. Dort konnte man beim Genuss der süßen Köstlichkeiten dem Alltagsstress für einen Moment entfliehen.

Jetzt, zur Adventszeit, war besonders viel los – vor allem, seit das Backmagazin Puderzucker dem Café im letzten Jahr eine mehrseitige Fotodokumentation gewidmet hatte. Seitdem war das Fräulein Gewürzzauber so beliebt, dass Lena sich an besonders hektischen Tagen sogar eine Aushilfe leisten konnte, die sie im Verkauf unterstützte. Katharina Sommerland studierte Archäologie und Kunstwissenschaft im zehnten Semester und ließ es auch sonst gern langsam angehen. »Man sollte nichts im Leben überstürzen«, sagte sie immer. Lena wusste nicht recht, was sie davon halten sollte. Da Kathi aber immer sehr ausgeglichen und glücklich wirkte, hinterfragte Lena es auch nicht. Sie freute sich einfach darüber, den Wirbelwind mit dem dicken roten Zopf bei sich im Laden zu haben. Kathi lachte viel und herzlich, und durch ihre offene Art gewann sie schnell das Vertrauen der Kunden. Lena konnte sich die Arbeit im Fräulein Gewürzzauber ohne Kathi gar nicht mehr vorstellen.

Lena setzte sich mit ihrem dampfenden Kakao an den Küchentisch und sah Max durch das Fenster lächelnd nach. Ihre Zimtstern-Romanze aus dem letzten Advent hatte sich im Laufe des Jahres zur Liebesgeschichte mit viel Zuckerguss und Glitzerstreuseln entwickelt, und vor ein paar Wochen hatten sie und Max einen neuen Schritt gewagt. Max hatte seine Wohnung gekündigt und war zu Lena gezogen. Noch standen zwar einige Umzugskisten im Flur und im Schlafzimmer, aber damit Max’ Hab und Gut in den Schränken Platz fand, musste Lena erst mal ausmisten. Das war ohnehin dringend nötig, und Lena war sicher, dass es ihr guttun würde, endlich alten Ballast loszuwerden. Zwei Jahre waren seit dem Tod ihrer Großmutter Greta vergangen, und noch immer gab es viele ungeöffnete Schranktüren, hinter denen sich wer weiß was verbarg. Dinge, von denen sie sich nicht trennen konnte oder wollte, würden auf dem Dachboden einen vorübergehenden Altersruhesitz finden.

Lena sah auf die Laterne vor ihrem Fenster. Vielleicht könnte sie dort oben auch ihre Nervosität einmotten. Die hinterließ ab und an ein Kribbeln in ihrem Bauch, das sie nicht einordnen konnte. An Max’ Einzug konnte es jedenfalls nicht liegen. Sie hatte den Tag, an dem ihr Zimtstern-Adventsmann endlich bei ihr einzog, schließlich seit Monaten herbeigesehnt, und ihr Zusammenleben war wie Nugat, das langsam auf der Zunge zerschmolz und einen so himmlischen Geschmack im Mund hinterließ, dass man immer noch mehr davon haben wollte.

Vielleicht war sie einfach nervös, weil sie noch nie mit einem Mann zusammengewohnt hatte? Bei einem Kuchen, den sie zum ersten Mal buk und für den sie kein Rezept hatte, war sie ja auch nervös, ob es klappen würde. Max’ Wohnung gab es nicht mehr. Es gab kein Zurück mehr. Aber zurück wollte sie ja gar nicht.

Ach, es war doch zum Eischneeschlagen! Ungewollt hart stellte Lena ihre leere Tasse auf den Tisch. Sie ärgerte sich über das unnötige Drama, das ihr Kopf veranstaltete. Sobald sie das Fräulein Gewürzzauber heute Nachmittag schloss, würde dieses Thema in einer Schublade ihres Geistes verschwinden. Sie würde auf den Dachboden steigen, um sich dort einen Überblick über den noch freien Stauraum zu verschaffen. Sie hatte ihr Ausmist-Platzschaff-Vorhaben schon viel zu lange vor sich hergeschoben, nicht zuletzt, weil sie wusste, wie viel Arbeit sie erwartete. Ihre Großmutter war in ihrem Café ein Organisationstalent gewesen, hatte aber nichts wegwerfen können. Es hatte schon Tage gedauert, den weißen Einbauschrank in der Backstube mit seinen großen und kleinen Türen und Schubladen zu entrümpeln und die Utensilien herauszupicken, die sie wirklich bei ihrer Arbeit brauchte und nutzen wollte.

Ein verärgertes Keckern und Tschiep-tschiep riss Lena aus ihren Gedanken. Ruprecht, ihr zahmes Eichhörnchen, war auf den Esstisch gesprungen und hockte nun meckernd neben der dampfenden Teetasse.

»Puschelchen! Entschuldige, ich hol dir deine Nüsse!«, rief sie betreten. »Du hast ja recht, ich hab dich vergessen. Das ist unentschuldbar!« Schnell füllte sie eine kleine Holzschale mit einem Potpourri leckerster Nüsse.

Schon etwas versöhnlicher fiepend machte sich Ruprecht darüber her. Lena sah belustigt zu, wie sein rostrotes Fell im Nacken vor Aufregung zitterte. Das Eichhörnchen umrundete tänzelnd die Schale und griff nach der auserwählten Nuss, wobei es die linke Vorderpfote wie immer nur zögerlich hervorschnellen ließ. Ein Terrier hatte sie vor einigen Jahren bei einem unschönen Zusammenstoß im nahe gelegenen Park verletzt. Ruprecht war dabei nur knapp mit dem Leben davongekommen, und Lena hatte ihn damals gesund gepflegt. Seitdem machte das Eichhörnchen keinerlei Anstalten, wieder in die Wildnis zurückzukehren. Es hatte bei Lena auch alles, was es brauchte: Ein Kobel aus Schilfgras hing neben dem Küchenfenster von der Decke, Futter und Wasser waren in Hülle und Fülle vorhanden, dazu nette Gesellschaft, die ihn ab und zu auch kraulte, wenn er es wollte, und es gab Katzenklappen in Wohnungs- und Haustür. Durch die konnte Ruprecht kommen und gehen, wann er wollte.

Da sie nun schon einmal stand, entschied sich Lena, den morgendlichen Gang zum Briefkasten vorzuziehen. Als sie gerade hinausgehen wollte, streifte ihr Blick das Holzkistchen, das auf der antiken Holzkommode neben dem Bogendurchgang zum Wohnzimmer stand. Wie immer versetzte es ihr einen kleinen Piks ins Herz. Denn darin befanden sich die vierundzwanzig Postkarten ihrer Großmutter Greta, die sie letztes Jahr als Adventskalender erhalten hatte.

Mit einem tiefen Seufzer stieg Lena die Treppe hinunter. Dieses Jahr würde sie ohne die täglichen Glücksbotschaften auskommen müssen.

Als sie einen Moment später in ihrer Hosentasche nach dem Briefkastenschlüssel suchte, huschten ihr die Erinnerungen wie liebgewonnene Freunde durch den Sinn. Genau wie heute hatte sie letztes Jahr am ersten Dezember hier gestanden. Damals hatte sie einen dicken eisblauen Umschlag aus dem Briefkasten gefischt, in dem sich – wie sich später herausgestellt hatte – die erste Postkarte von Oma Gretas Adventskalender befunden hatte. Sie spürte einen fiesen Trauerkloß im Hals und schluckte. Die Kärtchen waren genau das, was sie gebraucht hatte. Sie hatten ihr Oma Greta mit jedem Wort, das sie für sie geschrieben hatte, noch einmal zurückgebracht und ihr den Abschied damit etwas leichter gemacht.

Genau wie damals hatten auch heute früh dicke Flocken die Straßen in eine Zuckerwattewelt verwandelt. Doch es hatte aufgehört zu schneien, und jetzt hing eine trübgraue Wolkensuppe über dem Fräulein Gewürzzauber. Schaudernd machte Lena sich daran, endlich die Klappe zu öffnen. Der Inhalt des Briefkastens war so enttäuschend und trostlos wie das Wetter. Die Morgenzeitung. Zwei Werbeflyer. Eine Rechnung. Aber was hatte sie erwartet? Einen neuen Adventskalender? Kurz musste Lena über sich selbst lachen, dann schüttelte sie gedankenverloren den Kopf. Schnell wieder ins Warme! Bevor sie das Fräulein Gewürzzauber öffnete, wollten noch ein Berg Spekulatius mit Schuss und Zimtsterne gebacken werden. Außerdem freuten sich die Zuckerstangen darauf, endlich ins Tütchen zu hüpfen.

Kurz nachdem Lena die Ladentür aufgeschlossen hatte, strömten die Kunden auch schon bei fröhlichem Glöckchengeklingel ins Fräulein Gewürzzauber.

»Guten Morgen!«, begrüßte sie jeden einzelnen und schenkte ihnen ein strahlendes Zuckerbäckerinnenlächeln. Auch Tjure Großherz klopfte sich den Schnee von den Jagdstiefeln. Er trug sein langes Haar im Nacken gebunden und sah mit seiner hünenhaften Statur aus wie eine Mischung aus Germane und alter Eiche. Er grinste breit unter seinem grau melierten Bart und winkte mit einer ausgebeulten Papiertüte.

»Ist es das, was ich denke?« Freudestrahlend öffnete Lena die Tüte.

Tjure nickte. »Frisch gepflückt.«

Der Förster im Ruhestand bewohnte das Haus neben Lena und half seit einigen Monaten samstags im Laden aus, was Lena freute. Das Schönste aber war: Er brachte ihr die schönsten Schätze des Waldes mit, die sie dann für ihre Backkreationen verwenden konnte. Aromatische Beeren und Waldhonig ließen Lenas Herz höherschlagen und die Augen ihrer Kunden glänzen, wenn sie Walderdbeer-Nugat probierten oder mit dem Honig ihren Tee süßten.

Heute verströmten zarte hellgrüne Tannenspitzen ihren harzig-herben Duft.

»Danke! Daraus mache ich wieder leckere Waldtroll-Kekse!« Lena huschte schnell durch die Tür hinter dem Verkaufstresen, die in die Backstube führte. Hier war das Herz des Fräulein Gewürzzauber. Die hohe Decke wölbte sich schützend über den großen Arbeitstisch, der sich in der Mitte des Raums befand. An der rechten Wand stand ein alter Buffetschrank, der das gute Geschirr für die kuchenhungrigen Gäste beherbergte. Die Wand ihm gegenüber war eine Collage aus weißen Schranktüren und Schubladen in unterschiedlichen Formen und Größen. Die beiden Industrielampen, die aufflammten, als Lena den Drehschalter betätigte, tauchten die Backstube in angenehm helles, warmes Licht.

Lena stellte ihren Tannenspitzen-Schatz auf den Arbeitstisch und kehrte sogleich in den Verkaufsraum zurück. Jetzt musste sie sich erst einmal um ihre Gäste kümmern.

Ihr Blick fiel auf die Tische am Fenster. Alle waren bereits besetzt, und an einem von ihnen saßen zwei junge Frauen und berieten lautstark, welche geheimen Zutaten wohl in den himmlischen Schokoküchlein versteckt waren, die vor ihnen auf den Tellern lagen. Kathi, die wie gewöhnlich erst kurz nach zehn eingetrudelt war, hatte sichtlich Freude daran, ihre Kundinnen erst einmal raten zu lassen, bevor sie ihnen mit des Rätsels Lösung – Tonkabohnen – ein erstauntes Oh! und Ah! entlockte. Lächelnd wandte sie sich ab und ging mit einer neuen Bestellung in die Backküche. »Ein Zimtstern für deine Gedanken!«

»Wie?« Lena schaute erschrocken von dem Kuchenteller auf, auf dem sie gerade das dritte Stück Torte platzieren wollte.

Kathi verengte die Augen: »Los, raus damit! Du bist heute so schweigsam.«

Lena lachte auf und bugsierte kopfschüttelnd die Gebäckstücke zurück auf die Kuchenplatte. Drei auf einen Teller, was hatte sie sich dabei nur gedacht? Kathi hatte sie eiskalt erwischt. In Gedanken war sie schon zwei Etagen über dem Lädchen gewesen. »Nach Ladenschluss erwarten mich ein Dachboden voller Geheimnisse und mit Sicherheit jede Menge Spinnweben«, erklärte sie.

»Na, dann wünsche ich dir weniger Spinnweben und umso mehr Geheimnisse. Ich ziehe meine Couch vor!« Lachend wandte sich Kathi einer Kundin zu, die ratlos vor der Pralinentheke nach dem richtigen Naschwerk Ausschau hielt.

Beim nächsten Glöckchenklingeln sah Lena ein bekanntes Gesicht. Ein sonderlich wirkender junger Mann mit Achtzigerjahre-Moonboots, Cargohose und einer Outdoorjacke, die aussah, als hätte ein Schaf mehrere Schichten Wolle übereinandergezogen, betrat den Laden. Er zog sich die Strickmütze vom Kopf, und heraus quollen so viele dunkelbraune Locken, dass Lena sich fragte, wie er es geschafft hatte, sie darunter zu verstauen. Mit einem schrägen Grinsen stapfte er auf Lena zu.

»Hallo, Matthi!«, begrüßte sie ihn herzlich und drückte Kathi mit einem Blick auf die von ihm hinterlassene Pfützenspur wie beiläufig den Aufnehmer in die Hand. Kathi machte sich ohne Umschweife ans Werk.

»Deine Visitenkarten sind fertig«, kommentierte Matthi das in braunes Packpapier eingewickelte, schon etwas in Mitleidenschaft gezogene Päckchen, das er aus einer Innentasche seiner Jacke zog. Er war Grafiker und gestaltete seit einem Jahr alles, was auf Papier gedruckt das Fräulein Gewürzzauber bewarb. »Hier.«

Wortkarg und einsilbig. So kannte und mochte Lena ihn.

»So, Überschwemmung beseitigt!« Schwungvoll stellte Kathi den Aufnehmer zurück an seinen Platz hinter der Theke. »Erstaunlich, dass du die Stiefel noch hochbekommen hast. Da müssen Tonnen Schnee von deiner Landung in der Rosenstraße dran geklebt haben!«, ulkte sie, kicherte ihr Kathi-Kichern und zwinkerte Matthi zu.

Dessen linker Mundwinkel zuckte. Das wollte doch wohl nicht etwa ein Lächeln werden? Erstaunt sah Lena ihn an. Seine Wangen glühten förmlich. Doch ob dies an der Kälte lag oder an Wirbelwind-Kathi und ob Matthis Ohren unter der Jackson-Five-Frisur genauso rot waren, würde wohl sein Geheimnis bleiben.

Sie hatte derweil die Visitenkarten aus ihrer Hülle befreit und war erleichtert, dass sie unversehrt waren. Die Karten waren so hübsch, wie Lena es sich erhofft hatte. Die vergleichsweise dicke zartrosa Pappe war wie ein Wölkchen ausgestanzt und sah aus wie eine winzige Tortenspitze. Zarte Linien verbanden sich in der oberen Hälfte zu dem Schriftzug Fräulein Gewürzzauber. Darunter waren in klaren, geraden Buchstaben Lenas Name, Adresse und sonstige Kontaktdaten angegeben.

»Darf ich Ihnen meine Karte überreichen? Sonnenschein, Lena Sonnenschein.« Gespielt geschäftig hielt Lena ihrer Mitarbeiterin die Minitortenspitze unter die Nase. »Sie haben eine Feier? Möchten lernen, wie man Pralinen macht? Oder haben Sie Heißhunger auf Mandellikörtorte mit Zimtpuder? Dann sind Sie bei mir im Fräulein Gewürzzauber goldrichtig! Sie können mit Ihrem Freund gern an einem Workshop teilnehmen!« An Matthi gewandt sagte sie: »Wenn Sie selbst keinen Gefallen am Backen finden, möchten Sie vielleicht meinen Weihnachtspunsch nach einem Geheimrezept meiner Ururgroßmutter probieren?«

»Öhm …« Matthi war sichtlich überfordert.

Kathi aber setzte noch einen drauf, indem sie sich bei ihm einhakte und ihn zuckersüß anklimperte: »Schatz, du kannst ruhig zugeben, dass du auch gern mal Rüschenschürze trägst.« Zu Lena sagte sie mit gespieltem Ernst: »Er ist von uns beiden aber auch der talentiertere Zuckerbäcker!«

Lena kicherte hinter vorgehaltener Hand. Als sie sah, dass sich mittlerweile auch Matthis Nase himbeerrosa färbte, erlöste sie ihn: »Ich danke dir sehr. Die Visitenkarten sind wirklich hübsch. Du hast dich wieder einmal selbst übertroffen!«

»Das verdanke ich nur meiner Glücksschürze. Trage sie immer bei der Arbeit«, konterte Matthi trocken.

Lena und Kathi konnten sich vor Lachen nicht mehr halten. Einige Kunden schauten irritiert auf. Im selben Moment kündigten die Türglöckchen zwei ältere Damen an.

»Es war schön, dich kennenzulernen, Matthi! Vielleicht kommst du mal wieder vorbei? Dann gebe ich dir ein Stück Glühweintorte aus!« Kathi zwinkerte Matthi zu, und schon wirbelte ihr Zopf an ihm vorbei zu den beiden Neuankömmlingen.

Matthi schaute ihr mit offenem Mund hinterher. Selbst wenn er noch etwas hätte sagen wollen, was Lena stark bezweifelte, hätte er keine Chance gehabt.

Lena zog es innerlich zum Dachboden. Daher gab sie Kathi ausnahmsweise schon früher frei, weil sie hoffte, das Fräulein Gewürzzauber um halb zwei schließen zu können. Doch kaum war die Ladentür hinter ihrer Mitarbeiterin ins Schloss gefallen, kündigten die Glöckchen einen neuen Besuch an, und Maria von Singen, die Pfarrerin der Gemeinde, kam bibbernd herein.

Lena eilte herbei. »Hallo, Frau von Singen!«, begrüßte sie die Seelsorgerin. »Herrje, Sie sind ja ganz durchgefroren! Kann ich Ihnen einen heißen Tee oder Punsch anbieten?«

»Einen Punsch. Aber bitte alkoholfrei!« Frau von Singen nickte dankbar, als Lena ihr den Mantel abnahm, und setzte sich an das mittlere Tischchen am Fenster. Als Lena wenig später eine dampfende Tasse vor ihr abstellte und mit einer eigenen neben ihr Platz nahm, schloss sie mit einem wohligen Seufzer die zitternden Finger darum.

»Vielen Dank, Frau Sonnenschein.« Sie nippte kurz und wirkte auf einmal deutlich entspannter. Dann sah sie ihr in die Augen. »Ich habe zwei Anliegen: Zum einen kann die morgige Bibelrunde nicht ohne Ihre Adventspralinen stattfinden!« Sie machte eine kurze Pause, um ihr vom Wind zerzaustes grau meliertes Haar zurechtzulegen. »Zum anderen habe ich mich gefragt, ob Sie schon ans Heiraten gedacht haben?«

Lena, die gerade einen Schluck aus ihrer Tasse nahm, hatte Mühe, den Punsch nicht auszuprusten. Nein, darüber hatte sie noch nicht nachgedacht. Wozu auch? Max war gerade erst zu ihr gezogen, und warum sollte sie fünf Schritte auf einmal tun und dabei vielleicht etwas überstürzen? »Frau von Singen, wir sind doch gerade erst ein Jahr zusammen. Es wird sich schon noch ergeben, aber wir lassen uns noch Zeit«, erklärte sie vorsichtig. »So etwas will ja auch gut geplant sein! Aber wenn es so weit ist, werden Sie es bestimmt erfahren!«

Die Pfarrerin nickte. Lena konnte ihr allerdings an der Nasenspitze ansehen, dass das nicht die Antwort war, die sie gern gehört hätte. Dann aber schmunzelte sie. »Als ich so alt war wie Sie, wurde geheiratet, und erst dann zog man in einen gemeinsamen Haushalt. Eine undenkbare Schande, wenn ein Paar in wilder Ehe zusammenwohnte!« Sie riss die Augen weit auf und schüttelte den Kopf.

»Gut, dass diese Zeiten vorbei sind«, antwortete Lena mit gespieltem Ernst. Unglaublich, dass die Pfarrerin meinte, intervenieren zu müssen! Noch als Frau von Singen längst gegangen war und sie die Eingangstür abschloss, kicherte sie innerlich über den Ausdruck wilde Ehe.

Im Hinauseilen löschte sie das Licht im Verkaufsraum und blickte sich noch einmal zum Schaufenster um, in dem eine mit Puderzucker bestäubte Marzipanstadt von warmweißen Lichtern erhellt wurde. Wie romantisch, dachte sie mit einem Seufzer. Dann ließ sie die schwere Holztür zum Flur ins Schloss fallen – und stand im Dunkeln.

Lena stöhnte. So ein Mist! Offenbar hatte die Glühbirne irgendwann heute Morgen den Geist aufgegeben. Max hatte schon ein paarmal gesagt, dass sie sich dringend um die veraltete Beleuchtung kümmern mussten, sinnvoll wären Lampen auf jeder Etage. Aber in Lenas Augen erhellte die alte Glaslaterne, die seit ewigen Zeiten mittig von der hohen Decke baumelte, den Treppenaufgang gerade richtig – und das schon seit gut hundert Jahren. Außerdem war sie hübsch. Alt und verstaubt, ja, aber hübsch.

Mit vorgestreckten Armen tastete sich Lena in die erste Etage, wo sie den Drehschalter für die Treppenbeleuchtung zum Dachboden betätigen konnte. Sie atmete noch einmal kräftig ein und aus, dann wagte sie den Aufstieg.

Mit jeder knarzenden Stufe, die sie zum Dachboden emporstieg, wurde ihre Anspannung größer. Gleichzeitig flatterten Schmetterlinge in ihrem Bauch herum. Welche unverhofften, lange verloren geglaubten oder geheimnisvollen Dinge würden dort oben auf sie warten?

Lena schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich würde sie nur verstaubte Rüschenkleider, alte Bücher und Klimbim finden, der vielleicht noch zum Schrottwichteln geeignet war. Am liebsten wäre sie umgekehrt. Aber halt! Sie hatte eine Aufgabe, eine Mission, auf die sie sich konzentrieren musste: Platz schaffen für Max’ Sachen.

Die Holztür war nicht verschlossen, und die geschwungene Messingklinke ließ sich leicht hinunterdrücken. Lena trat ins Dämmerlicht und fühlte sich sofort, als habe sie eine vergessene Welt entdeckt. Durch das winzige Dachfenster drang nur wenig Licht, und vor der trüben Scheibe des runden Fensters an der Fassadenseite schwebten immer größer werdende weiße Flocken vom Himmel.

Ruprecht war, von Lena unbemerkt, mit auf den Dachboden gehuscht. Er tollte zwischen den Kisten herum und sprang auf einen Stapel Bücher. Dann verschwand er in einer alten, fleckigen Hutschachtel, deren Deckel halb geöffnet war.

Hier oben schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Lenas Blick fiel auf ein Monstrum von Koffer, das sich hinter den fast zur Decke gestapelten Kisten verbarg. Es war offensichtlich einer jener antiken Reiseschränke aus Holz, mit dunkelgrünem Leder bezogen.

Neugierig trat Lena näher. Der Koffer reichte ihr bis fast zu den Schultern und stand hochkant, sodass man ihn tatsächlich wie ein Möbelstück öffnen und nutzen konnte. Kunstvoll verschnörkeltes Metall zierte und schützte die Ecken zugleich. An den beiden breiten Seiten war mittig ein Ledergriff angebracht. Zwei schmale hölzerne Ringe umfassten den Schrankkoffer.

So einen Überseekoffer hatten damals auf der Titanic die Passagiere der ersten Klasse, schoss es Lena durch den Kopf. Sie strich über die unzähligen Schrammen und Kratzer auf seiner Oberfläche, bis ihr Blick auf die beiden Metallverschlüsse links und rechts eines Ledergurts fiel.

Neugierig löste Lena die breite Gürtelschnalle. Öffnen ließ sich der Koffer jedoch nicht. Ein Schloss, versteckt unter dem breiten Gurt, verhinderte das. Enttäuscht hockte sie sich vor den Koffer. Wo mochte der Schlüssel stecken, und wem gehörte das gute Stück überhaupt? War darin etwa etwas, was geheim war und nicht gefunden werden sollte? Warum hatte Oma Greta nie von ihm erzählt? Hatte sie von dem Koffer überhaupt gewusst? Lena konnte sich nicht erinnern, dass sie ihn als Kind einmal gesehen hatte.

Nachdenklich strich sie sich über die Stirn. Einer guten Detektivin hätte jetzt eine Haarnadel geholfen. Sie selbst aber wüsste nicht einmal, was sie damit anfangen sollte.

Ein Keckern riss sie aus ihren Überlegungen. »Ruprecht? Bist du das? Wo steckst du?«

Wieder erklang ein Tschiep-tschiep, in ihrer Nähe, allerdings wie durch einen Wattebausch gedämpft. Lenas Blick fiel auf die große gestreifte Hutschachtel, deren Deckel gerade runterrutschte und mit einem dumpfen Geräusch auf dem staubigen Boden aufkam. »Ruprecht?«

Tatsächlich! Aus der Schachtel schauten ihr große, verzweifelt wirkende Knopfaugen entgegen. Das Eichhörnchen hockte inmitten eines lila Federnestes auf einem Filzhut.

Mit einem Lächeln schob Lena beide Hände in die Schachtel, um Ruprecht hochzuheben, und zuckte im selben Moment zusammen. Irgendetwas hatte sie gestochen. Während das Eichhörnchen ihren Arm hinaufhüpfte und sich zitternd auf ihrer Schulter niederließ, betastete Lena vorsichtig das Federnest. Nacheinander zog sie den Übeltäter und seinen Komplizen heraus: zwei Hutnadeln. Beide waren lang und dünn, ihre Enden schmerzhaft spitz. Das andere Ende zierte jeweils eine kleine Gemme mit einem filigran aus einem ovalen Quarzstein herausgearbeiteten Frauenporträt.

Wie hübsch!, dachte Lena und hatte im selben Moment eine Idee. Wenn die nicht perfekt waren, um … Schnell machte sie sich mit den Nadeln am Schloss des Koffers zu schaffen. Nach wenigen Versuchen hatte sie tatsächlich Erfolg! Der Mechanismus im Inneren des Schlosses klickte, und die beiden Metallverschlüsse schnellten mit einen Klack-klack aus ihrer Verankerung.

Lena grinste in sich hinein. Wie lehrreich Krimis doch heute waren! Vorsichtig öffnete sie den Reiseschrank einen Spalt. Die Luft darin war etwas moderig, aber es sprangen ihr keine unerwünschten Besucher entgegen. Also traute sie sich, die beiden Hälften weiter auseinanderzuschieben. Zunächst sah sie nichts als grauen Tweedstoff, der sich als Sakko eines Sonntagsanzugs entpuppte. Als sie genauer hinschaute, entdeckte sie auch noch einige passende Hosen, Herrenhemden und weiße und grau gestreifte Stofflappen, die an einer Seite Schlitze und an der gegenüberliegenden eine lange Reihe dunkler Knöpfe hatten. Alles wirkte, als sei es einem Charlie-Chaplin-Film entsprungen.

Unter der säuberlich aufgehängten Kleidung verbarg sich eine breite Schublade. In der rechten Hälfte türmten sich weitere sechs hölzerne Schubladen mit dunklen Ledergriffen, die Lena nacheinander aufzog. Die oberen drei gaben Socken, Fliegen, einen Rasierhobel aus den Zwanzigerjahren und Unterhosen und Unterhemden in Feinripp preis. Herrjemine!

Der Inhalt der anderen Schubladen ließ Lenas Herz jedoch galoppieren. In zwei der Fächer fand sie getrocknete Sträußchen heimischer Gewürze, sorgsam auf Zeitungspapier gebettet. Als sie einige der kleinen gräulichen Blättchen zwischen ihren Fingern zerrieb, strömte ein feiner Duft von Thymian, Salbei und Rosmarin in ihre Nase. Noch ganz benommen, schob sie die Laden wieder zu und zog an dem Ledergriff der untersten. Was war das denn? Ein in lila Leinen gebundenes dickes Buch, mit einem schmalen Lederband mehrmals umwickelt.

Ehrfürchtig nahm Lena es heraus und betrachtete es. Ohne das Bändchen wäre das Buch wahrscheinlich geplatzt, denn es war offensichtlich vollgestopft mit allerlei Erinnerungen. Sie löste das Band und öffnete behutsam den Buchdeckel. Gleich auf der ersten Seite sah sie eine geschwungene Schrift. Sie ähnelte der ihrer Oma Greta, weswegen Lenas Herz einen Hüpfer machte. Erst als sie genauer hinsah, erkannte sie, dass die Worte in Sütterlin geschrieben waren. Zum Glück kannte sie die Zeichen von alten Familienrezepten, die ihre Ururoma Elvi einst niedergeschrieben hatte. Oma Greta hatte sie seit vielen Jahren in einem dicken Lederbuch, das sie liebevoll ihre Zuckergusschroniken nannte, aufbewahrt. Damit auch Lena die Rezepte lesen konnte, hatte Oma Greta ihr die altdeutsche Schrift beigebracht.

Backtagebuch von Elvira Sonnenschein, entzifferte Lena nun.

Dort, wo Schokolade gegessen wird,

Da lass Dich nieder.

Bösen Menschen ist sie einfach zuwider.

Lena musste grinsen. Daher also hatte Oma Greta den Hang zum Dichten!

Vorsichtig blätterte sie durch die Seiten – und stutzte. Die letzten vielleicht zwanzig Seiten waren zusammengeklebt; in ihrer Mitte klaffte ein etwa eigroßes Loch, und in diesem Oval ruhte ein Medaillon. Das Ende einer Silberkette hing über den Rand, und Lena konnte nicht widerstehen, daran zu ziehen. Wenig später schwebte der Anhänger in der Luft. Lena legte das Buch vorsichtig auf die Holzdielen neben sich und bettete das Medaillon in ihre Handfläche. Andächtig strich sie über das Relief aus weißem Schmuckstein, das in den Silberdeckel eingelassen war. Wie hübsch es war! Es zeigte ein Bouquet Rosenblüten mit zarten, beinahe transparenten Blättern.

Behutsam öffnete Lena den Deckel und blickte sogleich in einige Gesichter, die ihr von zwei vergilbten Schwarz-Weiß-Fotografien entgegenlächelten. Auf der linken Seite war eine Familie mit Vater, Mutter und einem kleinen Mädchen von etwa sechs Jahren mit dunklen, ordentlich geflochtenen Zöpfen zu sehen. Sie strahlten eine so vertraute Herzenswärme aus, dass es Lena vorkam, als kenne sie sie ihr Leben lang. Alle drei trugen altertümliche, aber sehr edle Kleidung.

Lena wandte ihren Blick auf das Pärchen auf dem anderen Foto. Vor Schreck wäre ihr beinahe das Medaillon aus der Hand geglitten. Die junge Frau, die sich glücklich an einen jungen Mann schmiegte, ähnelte ihr so sehr, dass Lena in einen Spiegel zu blicken meinte. Nur die aufgedrehten Locken, das Herbsthütchen mit seidenen Rosenknospen und -blättern und die Bluse mit Spitzenkragen wiesen darauf hin, dass es sich um jemand anderen handelte.

Lena verengte ihre Augen zu Schlitzen, bemüht, jede feine Linie im Gesicht ihrer Doppelgängerin zu erkennen. Dann kam ihr die Erkenntnis: Die Frau auf dem Bild musste Elvi sein. Sie hatte schon davon gehört, dass angeblich jeder Mensch gleich sieben Doppelgänger auf der Welt hatte, und innerhalb der Familie war die Wahrscheinlichkeit sicher noch viel größer, sich bis aufs Haar zu gleichen. Dennoch lief Lena ein Schauer über den Rücken.

Sie schloss das Schmuckstück und drehte es um. Ihr Herz machte einen kleinen Hüpfer, als sie eine Gravur aus verschnörkelten Linien entdeckte.

Deine Liebe ist

ein Zimtstern.

Für immer,

Gilda Shine

Lena wusste nicht, wer diese Gilda Shine war, aber für einen Moment war es ihr, als gälte der Sinnspruch ihr. Sie lächelte. Elvi und ihre Backkunst mussten dieser Gilda sehr viel bedeutet haben. Ein so besonderes und offensichtlich teures Geschenk machte man nicht jedem.

Vor Rührung kamen Lena die Tränen. Erst jetzt merkte sie, wie still es um sie herum war. Selbst Ruprecht gab keinen Tschiep von sich, sondern hockte ruhig auf ihrer Schulter und schaute auf ihren kleinen Schatz. Als Lena den Verschluss der Kette öffnete, um sie sich um den Hals zu legen, rückte er ein kleines Stück zur Seite.

Lena wandte den Kopf, um das Eichhörnchen besser zu sehen. »Ob in dem Buch mehr über das Medaillon steht, Puschelchen? Ich bin gespannt, es herauszufinden. Du nicht auch? Komm, wir gehen runter. Da haben wir mehr Licht.«

Voller Glückseligkeit ließ Lena den Schrankkoffer Schrankkoffer und den Dachboden Dachboden sein und kehrte mit dem Büchlein in der Hand und dem Medaillon um den Hals in ihre Wohnung zurück. Ausmisten konnte sie nachher immer noch. Jetzt wollten erst einmal ihre neuen Schätze begutachtet werden.

Mit einem dampfenden Kakao machte Lena es sich auf dem Sofa bequem und begann zu lesen. Die Schrift zu entziffern war mühselig, aber ihr Entdeckergeist war geweckt.

Der erste Eintrag stand neben der Zeichnung einer zarten Kräuterpflanze.

Dieses Büchlein ist ein Geschenk meiner lieben Mutter. Obgleich ich keine große Schreiblust verspüre, habe ich mir dies zum Anlass genommen, meine neuen Backrezepte und geheimen Backversuche festzuhalten. Wenn Mutter das wüsste, sie würde mir Stubenarrest bis Weihnachten 1930 geben! Sie sagt immer: »Warum willst du an den Rezepten etwas ändern? So haben schon deine Großmütter gebacken. Es hat immer allen geschmeckt!«

Ja, liebe Mutter, aber ich bin eine Frau von Welt, die ihre Nase nicht nur in die Bibel steckt!

Wie sagte Großpapa immer so treffend? Träume sind wie Baiserhauben – sie sind fluffig leicht, ihr Knack schmeckt nach Abenteuer, und sie geben dem Leben die Süße! Wenn man hineinbeißt, wird man für seine Neugier belohnt.

Mutter, ich will träumen und diese Träume in die Tat umsetzen. Also vielen Dank für dieses Büchlein, ich werde es weise nutzen!

Lena klappte das Buch mit einem breiten Grinsen zu und nahm einen Schluck Kakao. Auch sie hatte lange davon geträumt, dass Max zu ihr zog, und nun war es endlich so weit! Wie wunderbar, dass sie beim Aufräumen dieses Buch gefunden hatte! Welche Backexperimente Ururoma Elvi wohl gewagt hatte?

Gedankenversunken tastete Lena nach dem Metallanhänger und strich über seinen glatten Rücken und den erhabenen Deckel. Sie würde jeden Tag einige Seiten im Buch lesen und schauen, welche Geheimnisse sich in ihm verbargen. Vielleicht erfuhr sie so ja auch, wer diese Gilda Shine war.

Sie seufzte. Nun war es wirklich an der Zeit, die Ärmel hochzukrempeln und Platz für die Siebensachen ihres Zimtstern-Adventsmanns zu schaffen.

2. DEZEMBER

Lena wachte an diesem zweiten Dezember sehr früh auf. Draußen war es noch dunkel. Doch ein seltsamer Schein glimmte am Vorhang vorbei ins Zimmer, der sie neugierig machte. Kurz entschlossen streckte sie ihre Füße unter der warmen Bettdecke hervor und tapste zum Fenster. Max schlief noch friedlich. Ruprecht hatte erst verschlafen sein Näschen von ihrem Kissen hochgereckt, sprang aber einen Moment später flink hinter Lena her.

Sie schob den dicken Stoff zur Seite. Über Nacht hatte es so heftig geschneit, dass eine dicke weiße Decke Straße, Vorgärten und Gehwege wie mit Zuckerguss überzog. Die Autos und Laternen hatten Mützen wie Sahnehauben aufgezogen. Ein Glücksflummi hüpfte so heftig in ihrem Inneren, dass sie zurück ins Bett sprang und auf der Bettdecke und dem darunter grummelnden Max herumhüpfte.

»Was habe ich bloß getan? Hilfe! Meine Freundin ist verrückt geworden!«

»Es hat noch mehr geschneit! Ganz, ganz viel! Komm, wir bauen einen Schneemann!«, bat sie aufgeregt, während das Eichhörnchen tschiepte, als wollte es ihr beipflichten.

»Können wir den nicht bauen, wenn es hell ist?«, kam es gedämpft unter der Decke hervor.

»Nein, können wir nicht! Erstens ist es das Wunderschönste auf der Welt, wenn es draußen noch so still ist und der Schnee unter den Füßen knarzt. Zweitens ist es das Allerwunderschönste auf der Welt, den frisch gefallenen Schnee als Erster zu betreten. Und drittens können wir das Schöne mit dem Nützlichen verbinden, indem wir erst auf dem Gehweg vor dem Fräulein Gewürzzauber einen Schneemann bauen und dann die Schneereste mit dem Besen wegkehren. Ich muss als Ladenbesitzerin schließlich darauf achten, dass niemand ausrutscht und sich womöglich ein Bein bricht! Das willst du doch auch nicht, oder? ODER? Schläfst du schon wieder?«

Max schlug die Bettdecke beiseite, zog Lena zu sich und deckte sie beide schnell wieder zu. »Wie könnte ich?« Er lachte und küsste Lena sanft auf den Mund. Sein Dreitagebart kratzte ein wenig, aber sein Zimt-Honig-Duft wiegte sie wie in weichen Wattewolken. Als seine Lippen fordernder wurden und seine Hände unter ihr Top fanden, ließ Lena es geschehen und gab sich diesen wundervollen Gefühlen hin. Das war sogar noch besser als Schneemannbauen!

Eingewickelt in mehrere Lagen Stoff, trat Lena zur Haustür hinaus und die beiden Stufen auf den Gehsteig hinunter. Sie hatte sich beeilt, um noch vor Max rauszukommen – was nicht schwierig gewesen war, da er ohnehin lieber in seinem warmen Bett geblieben wäre.

Lena sog die frische Schneeluft in vollen Zügen ein und hüpfte dann auf die Straße hinaus. Ruprecht hoppelte mit fröhlichem Tschiep-tschiep um sie herum und machte große Augen, als sie sich auf den Rücken fallen ließ und mit Armen und Beinen wedelte. Max stand kopfschüttelnd und bis auf die Augen vermummt auf den Stufen. »Du sagtest etwas von einem Schneemann.«

»Ja, ich sagte, lass uns einen Schneemann bauen, nicht uns wie ein Eskimo verkleiden!« Lachend stand Lena auf. Sie drehte sich um, befand ihren Schneeengel mit einem Kopfnicken für gelungen, klopfte sich den Schnee vom Mantel und nahm ihren Freund an die Hand.

Letztendlich bauten sie sogar zwei Schneemänner: einen mit einem stattlichen Bauch und einer Igelfrisur aus kleinen Stöcken und einen, der an den Stufen zum Fräulein Gewürzzauber stand und mit den Armen zu bedeuten schien »Hier geht es rein!«.

Nachdem sie auch den Rest des Gehwegs unfallsicher gemacht hatten, kuschelten sich Lena und Max mit rot gefrorenen Nasen und Fingern unter eine warme Decke auf die Couch. Zwei dampfende Tassen Kakao mit Sahnehaube und Minimarshmallow-Topping standen neben ihnen auf dem Tisch, und Lena hatte die erste der dickbauchigen roten Kerzen auf dem Adventskranz entzündet. Versonnen beobachtete sie das lustig tanzende Flämmchen, während sie Max’ warme Umarmung genoss.

»Es ist so schön, euch mal wieder zu sehen!« Charlotte umarmte Lena herzlich, und auch Max wurde gedrückt, als sie am Nachmittag ihre Freunde auf der Alpaka-Farm besuchten. »Daniel ist wie immer bei den Tieren.«

»Oh, kann ich ihn dort abholen?« Lena stapfte den Schnee von ihren Stiefeln. »Ich habe mich schon so auf Fräulein Frieda gefreut!«

Charlotte nickte und ging mit Max ins Haus, während Lena im Vorraum zu den Alpaka-Ställen abbog. Schon als sie die Holztür öffnete, hörte sie das zufriedene Schnaufen der Tiere. Was sie sah, zauberte ihr ein breites Grinsen ins Gesicht: Daniel versuchte gerade, Buddys krauses Fell mit einem breitzinkigen Kamm zu bändigen. Das Alpaka, das ihn mit seinem langen Hals um einen Kopf überragte, ließ das zwar geduldig über sich ergehen, allerdings stupsten Rose und Odette ihn immer wieder von hinten an, als müssten sie ihren Kumpel aus Daniels Fängen befreien.

Prustend trat Lena näher. »Buddy, brauchst du Hilfe?«

Daniel wandte den Kopf. »Ah, Lena, hallo! Ihr Mädels tut euch doch immer zusammen …« Er seufzte. »Okay, ihr habt gewonnen!«

Während Daniel die Tiere noch mit Heu versorgte, kraulte Lena Fräulein Friedas dunkelbraunes Fell. Weich und warm fühlte es sich an. Als sie Charlotte, Daniel und ihre kleine Farm im letzten Advent kennengelernt hatte, war Fräulein Frieda noch ganz klein und wackelig auf den Beinen gewesen. Mittlerweile war die Alpaka-Dame fast ausgewachsen und mit Lena auf Augenhöhe. Sie hatte eine wunderschöne wie mit Kajal gezogene schwarze Umrandung um die Augen und schmiegte ihren Kopf an Lenas Brust. Ein wunderschönes Gefühl, in dem Lena noch ewig hätte verweilen können.

»Wo ich dich schon mal allein hier habe, kann ich dich etwas fragen?«

»Wie?« Lena sah Daniel neugierig an. Der trat nervös von einem Fuß auf den anderen, als hätte er etwas angestellt und warte auf ein Donnerwetter. »Natürlich! Frag ruhig!«

Offenbar musste er sich erst einen Ruck geben, dann aber schossen die Worte aus ihm heraus: »Ich will Charlotte einen Antrag machen, und es soll ganz besonders sein – na ja, nichts mit einem Banner hinter einem Flugzeug oder so … Ich dachte eher, du könntest vielleicht … also, wenn du irgendwas Leckeres zaubern könntest und den Verlobungsring dann mit einbackst oder so?«

Einen Moment war Lena überfordert, dann hatte sie verstanden. Stürmisch zog sie Daniel an sich. »Das ist ja wunderbar! Weiß Charlotte es schon? Natürlich weiß sie es noch nicht! Ich Dummerchen … Ich freue mich so!« Sie trat einen Schritt zurück, packte ihn dann noch einmal an den Schultern und sah ihn ernst an: »Mach Charlotte bloß glücklich!«

»Das … Also, das ist mein Plan!«, stotterte Daniel überrumpelt.

»Gut!« Lena grinste. Ihr kam eine Idee. »Kommt doch zu meinem Backworkshop! Am fünfzehnten, wieder um drei Uhr. Dieses Jahr backen wir einen Nusskranz. Natürlich gibt es Punsch, und ich könnte mir vorstellen, dass es für Charlotte noch ein besonderes Gebäck mit Spezialfüllung gibt!«

Daniel lachte erleichtert. »Das klingt nach einer guten Idee! Aber jetzt lass uns rübergehen, sonst wundern sich die anderen noch, wo wir bleiben.«

Es war spät geworden, denn sie hatten sich wie immer viel zu erzählen gehabt und viel gelacht. Aber eins wollte Lena nun endlich tun: Max von ihrem Dachbodenfund erzählen. Sie wollte ihm das Foto zeigen und mit ihm zusammen einen neuen Eintrag in Ururoma Elvis Tagebuch lesen. Sie schnappte sich das Leinenbüchlein, das sie am Morgen neben das Holzkistchen mit Oma Gretas Adventskalenderpostkärtchen gelegt hatte, und ging damit ins Wohnzimmer.

»Was hast du da?« Max ließ sich neben Lena auf die Couch gleiten und legte seinen Kopf auf ihre Schulter. »Und was ist das für eine Kette? Die hattest du vorhin auch schon um, oder?«

»Gut erkannt, Sherlock!« Lena stupste Max auf die Nasenspitze. »Das … sind meine Schätze!«

»Okay, schon gut, ich will dir ja nichts wegnehmen!«, verteidigte Max sich.

Lena lachte. »Es ist ein Backtagebuch, geschrieben von meiner Ururgroßmutter Elvira Sonnenschein. Ich habe es beim Ausmisten auf dem Dachboden entdeckt. Genauso wie das hier.« Lena zeigte auf das Medaillon.

Max machte große Augen. »Sehr hübsch. Das ist bestimmt hundert Jahre alt. Lass mich mal sehen!« Er setzte sich auf und versuchte, einen Blick auf das Buch zu erhaschen.

Lena verstaute es schnell unter einem Kissen. »Erst sollst du einen Blick hierauf werfen und sagen, was du davon hältst.«

»Jetzt machst du mich aber neugierig!«

Vorsichtig öffnete Lena den Verschluss des Medaillons und klappte es auf. »Schau!«

Max’ Augenbrauen schnellten in die Höhe, und er riss seine von dunklen Wimpern umrahmten Smaragdaugen weit auf. »Das ist unfassbar!« Er hielt das Medaillon neben Lenas Kopf und fragte ungläubig: »Wer ist das? Und wer sind die anderen Leute?«

»Das muss meine Ururgroßmutter sein, Elvi. Das heißt, ich nehme an, dass sie es ist. Oma Greta hat mir nie Fotos gezeigt, von ihr nicht und nicht von der Familie oder dem jungen Mann neben ihr. Aber …«, Lena zog das Leinenbüchlein unter dem Kissen hervor und wickelte das Lederband ab, »vielleicht finden wir ja hier drin Antworten.«

»Darf ich?«, bat Max.

Zögernd gab Lena es ihm. »Bitte sei vorsichtig – es stecken viele Dinge zwischen den Seiten. Blätter, getrocknete Pflanzen …«

»Das kann man ja gar nicht lesen!«, klagte Max, sobald er das Buch geöffnet hatte.

»Und ob!« Lächelnd nahm Lena es ihm aus der Hand. »Es ist in Sütterlin geschrieben, einer altdeutschen Schreibweise. Oma Greta hat es mir beigebracht, damit ich Ururoma Elvis Rezepte lesen konnte.«

»Was du alles kannst!« Max gab ihr einen Kuss auf die Schläfe und kuschelte sich wieder an sie. »Lies mir vor!«

Lena nickte und blätterte vorsichtig die dünnen Seiten bis zum zweiten Eintrag um. Sie musste sich einen Moment auf die Buchstaben konzentrieren, die nicht nur anders aussahen als moderne Schrift, sondern durch Ururoma Elvis verschnörkelte Schreibweise auch schwer zu entziffern waren.

»Der Eintrag datiert auf den 2. Dezember 1909«, erklärte sie und las dann vor:

Nur noch wenige Tage bis zu meinem Geburtstag, und ich kann nicht sagen, dass ich mich darüber sehr freue. Generell sollten Geburtstage doch etwas Schönes sein. Achtzehn Jahre sind schon ein großer Schritt auf dem Weg zum Erwachsensein, auch wenn ich auf meine Volljährigkeit noch weitere drei Jahre warten muss. Doch was hätte ich davon? Die Welt wird von Männern regiert, wie meine Mutter zu sagen pflegt.

Seit 1884 gibt es das Fräulein Gewürzzauber bereits. Die Tür zur Zuckerwelt öffnete damals eine Frau, meine Großmutter Rose Kirschhut. Doch auf dem Papier trocknete nach langen Diskussionen der Name ihres Gatten: Weinmut. Das heimliche Regiment führten dennoch immer die Ahninnen der Sonnenschein-Linie, und auch mir würde das Zepter eines Tages wie in einem Geheimbund weitergereicht. Doch dazu müsste ich, statt neue Rezepte zu kreieren, zunächst einen Mann finden, der damit einverstanden wäre, und einige Jahre lang Heim und Herd und die Kinder hüten. Was mich zu meinem baldigen Geburtstag zurückführt, an dem meine Verlobung bekannt gegeben werden soll. Tatsächlich haben meine Eltern ein Arrangement mit der Familie eines Geschäftsfreundes geschlossen. Deren Sohn Hans-Peter ist ihrer Ansicht nach eine »gute Partie«. Das heißt für sie, er ist aus gutem Hause, gebildet und ein hochangesehener Anwalt mit außerordentlichem Einkommen, was mir ein überaus angenehmes Leben versprechen würde, sollte das Fräulein Gewürzzauber einmal nicht so gut laufen.

Für mich hört es sich eher an wie: Er ist doppelt so alt wie ich, wird mich maßregeln, sobald ich »in meinem jugendlichen Leichtsinn« den kleinsten Fehler begehe, und mir Vorschriften machen, wie ich die Zuckerbäckerei zu führen habe. Und was interessiert mich das viele Geld, wenn ich mit diesem Herrn nicht glücklich werde?

Ich würde zu gern den Rat einer erfahrenen Freundin hören. Vielleicht würde er so lauten:

Die Süße steckt in der Füllung.

Ein Genuss ist ihre Enthüllung.

Am besten, sie ist mit Schuss!

Dein Schokokuss

So, genug gereimt. Ich sollte mich nun den Walnusspralinen widmen, und vielleicht probiere ich heimlich noch ein neues Rezept aus. Am besten lege ich es mit ins Buch, bevor Mutter es findet und mich wieder ermahnt, von solch unschicklichen Rezepten die Finger zu lassen. Ich höre schon ihre Worte: »Elvi, setz auf die Tradition, die uns zum Erfolg gebracht hat!«

Aber was ist, wenn diese Tradition, an der man so lange festgehalten hat, langsam einstaubt? Wenn sich die Welt weiterdreht und nur im Fräulein Gewürzzauber die Zeit stillsteht? Wäre das nicht furchtbar? Ich habe von einer Frauenbewegung gehört, die sich für die berufliche und soziale Gleichberechtigung der Frau einsetzt. Sollte es mir irgend möglich sein, werde ich mich zu einem ihrer Treffen stehlen, denn ich brenne darauf, zu hören, wie sie diesen Wandel vorantreiben wollen. Vielleicht ist die Welt jetzt noch nicht bereit für eine große Veränderung. Aber ich möchte den Zeitpunkt nicht verpassen, an dem sie es ist.

»Ganz schön harter Tobak!«, entfuhr es Max.

Lena nickte. »Sie hat in einer Zeit gelebt, in der die Frauenbewegung ihre Ziele noch nicht durchsetzen konnte. Aber sie haben nicht aufgegeben, wie wir heute wissen.« Sie betrachtete den zusammengefalteten Zettel, der hinter dem Eintrag ins Buch geklebt war. Mandarinen-Karamell-Kugeln, entzifferte sie.

»Darauf habe ich so gehofft!« Strahlend löste Lena das Papier von der Seite und entfaltete es. Das Rezept darauf ließ ihr Zuckerbäckerinnenherz schneller schlagen. Sie würde es morgen früh direkt ausprobieren.

Max rekelte sich genüsslich. »Also, ich habe meinen Schokokuss mit Schuss schon gefunden!«

»Wie?«

»Na, dich!« Max stupste ihr auf die Nase.

»Ich geb dir gleich einen Schuss!«

»Lieber einen Kuss!«, verlangte Max und holte ihn sich gleich selbst. »Liest du mir noch was vor?«

»Nein, jetzt nicht. Jeden Tag nur einen Eintrag! Dann haben wir länger etwas davon.« Beseelt wickelte Lena das Lederbändchen um das Buch und legte es zurück ins Regal. Bei dem Gedanken daran, morgen mehr von Elvi zu erfahren, hatte sie schon jetzt ein Kribbeln im Bauch.

 

 

3. DEZEMBER

Damit dieser Tag nicht zum Muffellaunetag werden konnte, wozu Montage gern neigen, schaltete Lena direkt nach dem Aufstehen die Lichterketten in der Tannengirlande über dem Türbogen zum Wohnzimmer ein. Normalerweise hätte sie als Nächstes das Radio angemacht, das auf ihren Lieblingsweihnachtssender eingestellt war, doch Max schlief noch tief und fest, und es zog Lena in die Backstube. Mandarinen-Karamell-Kugeln. Die musste sie einfach ausprobieren!

Vorsichtig nahm sie den gefalteten Zettel aus dem Tagebuch ihrer Ururgroßmutter. Das Papier war an einigen Stellen rissig und so dünn, dass man fast durchsehen konnte. Sie musste den Zettel unbedingt einschweißen und in die hübsche Lederkladde zu den besonderen Familienrezepten heften, die Oma Greta immer die Sonnenschein-Chroniken genannt hatte. Um es für die Zukunft allgemeiner zu halten und weil ihr ihr Bauch sagte, dass es einfach besser passte, hatte Lena sie in die Zuckerguss-Chroniken umbenannt.

Sie huschte die Holztreppe im Flur hinunter, schlüpfte durch die schwere Tür ins Fräulein Gewürzzauber und drehte kurze Zeit später den Lichtschalter in der Backküche um. Sogleich flammten die alten Industrielampen unter der Decke auf und erhellten den Raum mit ihrem warmweißen Licht. Schnell das Radio angeschaltet, und schon konnte es bei den Klängen von Driving Home for Christmas losgehen. Ein wenig fühlte sie sich gerade selbst, als sei sie auf geheimer Mission. Als wäre sie die unartige Tochter, die heimlich unschickliche Rezepte ausprobierte.