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Deutschland 1959: Als vermeintliche Gattin eines angesehenen Anwalts wird von Nora erwartet, dass sie Gäste bewirtet, den Haushalt schmeißt, ein Handarbeitskränzchen besucht und ein Haushaltsbuch führt. Nora schlägt sich in ihrer Rolle mehr schlecht als recht. Immer wieder begegnet sie bei verschiedenen Gelegenheiten dem jungen und überaus attraktiven Unternehmer Maximilian. Zwischen den beiden funkt es. Und so sehr Nora es versucht - sie kann die Gefühle nicht ignorieren ...
Lassen Sie sich mit dieser wunderbaren Liebesgeschichte in die Zeit von Petticoats, Halbstarken, Nierentischen und Toast Hawaii entführen. Und erleben Sie eine Frau, die einen Ausweg sucht ... und die Liebe findet.
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Seitenzahl: 421
Cover
Über dieses Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
Epilog
Nora, Karrierefrau aus dem 21. Jahrhundert, wird durch einen Zufall in das Jahr 1959 zurückversetzt und muss dort in die Rolle einer Anwaltsgattin schlüpfen. Gar nicht so einfach, wird doch von ihr erwartet, dass sie den Haushalt schmeißt, Handarbeitskränzchen besucht und ein Haushaltsbuch führt. Als sie sich dann auch noch in einen jungen Unternehmer verliebt, wird die Sache richtig kompliziert …
Elaine Winter ist ein Pseudonym der Autorin Ira Severin, die schon als Kind gerne Geschichten erfunden hat. Sie studierte Germanistik und Anglistik, probierte sich in verschiedenen Jobs in der Medienbranche aus und kehrte bald zum Geschichten erfinden zurück. Inzwischen ist sie seit mehr als zwanzig Jahren Autorin und hat den Spaß am Erdenken schicksalhafter Wendungen und romantischer Begegnungen bis heute nicht verloren.
ELAINE WINTER
FräuleinNora findetdie Liebe
beHEARTBEAT
Originalausgabe
»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat/Projektmanagement: Anna-Lena Meyhöfer
Covergestaltung: Nicole Meyer, designrevolte.de
Unter Verwendung von Motiven von © J614/istockphoto, © MoustacheGirl/istock und © MSSA/shutterstock
Kapitelvignette: © Hut Hanna/shutterstock
eBook-Erstellung: Olders DTP.company, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-4719-7
www.be-ebooks.de
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Elisabeths Beerdigung fand an einem strahlenden Sommertag statt. Nora hätte dunkle Wolken, strömenden Regen oder sogar ein Gewitter passender gefunden. Während sich der Pastor in Allgemeinplätzen über das Leben vor und nach dem Tod verlor, sah sie mit zusammengekniffenen Augen hinauf in den zartblauen Himmel. Sie hatte sich so viel Mühe gegeben, dem Pfarrer zu beschreiben, wie lebendig und voller Neugier auf jeden einzelnen Tag Elisabeth bis zu ihrem letzten Atemzug gewesen war. In seiner gesamten Predigt hatte sie jedoch kein einziger Satz auch nur im Entferntesten an ihre geliebte Granny erinnert.
Da Elisabeth außer Nora und Silke keine Familie mehr gehabt hatte, standen um das offene Grab nur eine Handvoll Menschen herum. Die meisten von Elisabeths Freunden lagen schon seit Jahren auf einem der hannoverschen Friedhöfe. Bis zuletzt hatte Elisabeth einmal im Monat mit ihrem roten Mini eine Tour durch die Stadt gemacht. Sie nannte es ihren »Alte-Freunde-soll-man-nie-vergessen«-Tag.
Bei dem Gedanken, dass Elisabeths Freunde nun vielleicht gar keinen Besuch mehr bekamen, musste Nora schlucken.
Als der Pastor endlich schwieg und sie auffordernd ansah, trat sie neben das offene Grab und warf den dicken Strauß Schwertlilien auf den hellen Sarg. Leider wirkten die strahlend blauen Blumen etwas schlapp, nachdem sie sie während der Trauerfeier eine ganze Stunde lang fest umklammert hatte. Elisabeth hätte sich trotzdem gefreut.
Schwertlilien waren ihre Lieblingsblumen gewesen. Im Sommer hatte immer ein Strauß davon auf ihrem Esszimmertisch gestanden. Vielleicht war es Nora sogar ein kleiner Trost, dass Elisabeth im Juni gestorben war: Im Hochsommer oder gar im Winter wäre es schwierig gewesen, Schwertlilien zu besorgen.
Noras Mutter Silke hatte in einem Café nahe dem Friedhof einen Tisch bestellt und die Beerdigungsgesellschaft dorthin eingeladen. Sobald der Pastor sich jedoch gemächlichen Schrittes entfernt hatte, wurden drei der alten Leute mit hastig gemurmelten Entschuldigungen von ihren zum Fahrdienst abkommandierten Verwandten umgehend wieder zum Parkplatz geschafft und abtransportiert.
Die einzige Besucherin, die außer Silke und Nora noch übrig geblieben war, war ohne Begleitung gekommen. Sie lächelte traurig. »Man kann von seinen Enkeln wahrscheinlich nicht erwarten, dass sie sich auch noch stundenlang anhören, wie Erinnerungen über die liebe Verblichene ausgetauscht werden«, erklärte sie, als müsste sie das rasche Verschwinden der anderen Beerdigungsgäste entschuldigen.
»Aber Sie kommen doch mit?«, bat Silke die alte Dame mit den leuchtenden grauen Augen hinter dicken Brillengläsern.
»Ich sollte schon längst auf dem Heimweg sein.« Mit bedauernder Miene schüttelte sie den Kopf. »Immerhin habe ich über drei Stunden Autofahrt vor mir. Und obwohl mein Mann mir zugeredet hat, zu Elisabeths Beerdigung zu fahren, weiß ich, dass er sehnsüchtig auf mich wartet. Burckhardt ist sehr krank, da weiß man nie, was passiert. Wenn ich nicht in seiner Nähe bin, werde ich die Unruhe nicht los.«
»Das tut mir leid.« Nora betrachtete die alte Dame interessiert. »Haben Sie Elisabeth gut gekannt?«
Ein heftiges Nicken war die Antwort. »Als junge Frauen waren wir beste Freundinnen. Dann hat mein Mann eine gute Stelle bei einer Zeitung in Köln angeboten bekommen, und wir haben Hannover verlassen. Er war Journalist, und wir sind später noch mehrmals umgezogen. Elisabeth und ich sind dennoch immer in Kontakt geblieben, wenigstens zu den Geburtstagen und zu Weihnachten. Aber gesehen haben wir uns zuletzt vor mehr als zwanzig Jahren. Wie das so ist. Und jetzt ist es zu spät.« Die letzten Worte wurden von einem tiefen Seufzer begleitet.
»Vielen Dank, dass Sie zur Trauerfeier gekommen sind.« Silke reichte ihr die Hand. »Wir haben allen Leuten, die Elisabeth in ihr Adressbüchlein eingetragen hatte, eine Karte geschickt. Aber es waren nur sehr wenige heute hier.«
»Ich streiche Name und Adresse auch nicht durch, wenn jemand gestorben ist«, gestand die alte Dame mit einem leisen Lächeln. »Das ist so endgültig. Und es könnte sein, dass es eines Tages nur noch durchgestrichene Zeilen in meinem Adressverzeichnis gibt.«
Sie wandte sich Nora zu und betrachtete sie aufmerksam durch ihre runden Brillengläser. »Ich wünsche dir alles Gute, Nora.«
»Sie kennen meinen Namen? Sind wir uns schon einmal begegnet? Ich kann mich nicht erinnern.« Nora griff nach der schmalen Hand, die sich ihr entgegenstreckte. Fast gewichtslos lag sie zwischen ihren Fingern und glitt wieder dazwischen hervor wie ein Herbstblatt, das der Wind wegwehte.
»Du wirst dich erinnern. Schon bald. Ich bin Brigitte« Mit einer spontanen, jugendlich wirkenden Bewegung schlang sie Nora die Arme um den Hals und drückte sie für einen Moment mit erstaunlicher Kraft an sich. Dann drehte sie sich um und ging über den schmalen Fußweg zum Ausgang des Friedhofs. Dabei wackelte das schwarze Hütchen auf ihrem Kopf im Takt mit ihren Schritten.
»Was war denn das?«, wandte Nora sich an ihre Mutter, nachdem sie der alten Dame eine Weile verblüfft hinterhergeschaut hatte.
»Kann schon sein, dass sie dich als kleines Mädchen mal gesehen hat. Wenn sie Elisabeth zuletzt vor zwanzig Jahren getroffen hat, warst du ja damals schon neun.« Mit einer nervösen Geste strich Silke sich die Haare glatt.
»Aber wieso sollte ich mich schon bald daran erinnern, wenn ich es jetzt nicht tue?« Nora starrte so angestrengt den Rücken der schmalen, sich entfernenden Gestalt an, als könnte sie auf diese Weise in letzter Minute eine Antwort auf ihre Frage bekommen.
»Sie ist schon alt und wahrscheinlich ein bisschen verwirrt.« Mit einem Seufzer widmete Silke sich wieder dem frischen Grab. Außer dem großen Kranz lagen nur ein üppiges Gesteck und zwei Sträuße auf dem kleinen Hügel, die Silke jetzt noch einmal neu arrangierte.
»Meinst du, das da ist von ihr?« Nora deutete auf das Gesteck, in dessen Mitte ein Herz aus himmelblauen Schwertlilien blühte.
»Möglich.« Noch einmal bückte sich Silke hinunter zu dem Kranz, den sie zusammen mit Nora ausgesucht hatte, und zog die weiße Schleife glatt. Wir werden dich nie vergessen, geliebte Granny, stand auf der einen Seite, auf der anderen ihre beiden Namen. Obwohl Elisabeth nicht ihre echte Großmutter gewesen war, hatte Nora sie immer liebevoll Granny genannt. Dieses Kosewort stammte aus der Zeit, als sie nach der Schule mit Elisabeth oft amerikanische Familienserien gesehen hatte.
Plötzlich schnürte die Sehnsucht nach dem hellen Wohnzimmer, in dem sie auch als Erwachsene noch oft Zeit mit Elisabeth verbracht hatte, Nora die Kehle zu. Nie mehr würde Nora in dem bequemen Sessel am Fenster sitzen, an ihrem Darjeeling nippen und Elisabeth davon erzählen, was gerade in ihrem Leben vor sich ging. Natürlich hatte sie noch Silke, doch der Rat der lebensklugen Granny mit den funkelnden Augen und dem feinen Lächeln war für sie immer unschätzbar viel wert gewesen.
»Lass uns zu Elisabeths Wohnung fahren«, schlug Nora spontan vor, während sie zusah, wie der Sommerwind mit der weißen Schleife spielte, die Silke eben noch glattgezogen hatte. »Wir können genauso gut heute anfangen, ihre Sachen durchzusehen.«
Silke warf ihr einen erstaunten Blick zu. »Heute? Haben wir nicht schon genug geweint?«
»Hier kann ich mich nicht richtig von ihr verabschieden. Ich möchte dorthin, wo sie gelebt hat. Wo sie lebendig war«, sagte Nora leise.
»Na gut«, stimmte Silke zögernd zu. »Vorher müssen wir aber noch in dem Café vorbeischauen und den Tisch abbestellen. Eigentlich traurig, dass Elisabeths alte Freunde nicht wenigstens eine Weile zusammensitzen und sich an sie erinnern. Aber das ist wohl der Preis dafür, wenn man sehr alt wird. Es gibt immer weniger Menschen, mit denen man ein langes Stück seines Weges gegangen ist.«
»Aber wir sind noch da und erinnern uns an sie«, tröstete Nora ihre Mutter und hakte sich bei ihr unter, während sie zum Friedhofstor gingen.
*
Elisabeths geräumige Drei-Zimmer-Wohnung lag in einer ruhigen, grünen Nebenstraße in Herrenhausen. Es war immer schwierig gewesen, hier einen Parkplatz zu finden, aber heute war erstaunlicherweise direkt vor der Haustür einer frei.
Elisabeths Schlüssel hingen an Noras Schlüsselbund. Sie öffnete die weißlackierte Haustür, dann stiegen sie schweigend die Treppe in den ersten Stock hinauf. Es waren genau einundzwanzig Stufen, die sie nun nur noch wenige Mal im Geist mitzählen würde.
Vor der Wohnungstür hielt sie inne und sah hilfesuchend ihre Mutter an. »Ich weiß, es ist blöd, aber ich habe ein bisschen Angst reinzugehen. Jetzt kann ich mir noch einbilden, sie sitzt da drinnen am Tisch, hat eine Kanne Tee auf dem Stövchen stehen und wartet darauf, dass ich eine Tasse Darjeeling mit ihr trinke.«
Silke lächelte traurig. »Hast du ihr auch nie gesagt, dass du keinen schwarzen Tee magst? Ich habe dich nie irgendwo anders welchen trinken sehen – außer bei Elisabeth.«
Nickend biss Nora sich auf die Unterlippe. »Sie hat ein richtiges kleines Fest daraus gemacht, als ich mit vierzehn meine erste Tasse Tee mit ihr trinken durfte. Deshalb mochte ich ihn dann doch irgendwie.«
»Ich mochte ihn auch nur, weil es eben Elisabeths Tee war.« Nachdenklich sah Silke die immer noch geschlossene Wohnungstür an. »Wollen wir lieber erst morgen anfangen, die Sachen in der Wohnung durchzugehen?«
Sie zupfte an ihrem schwarzen Etuikleid herum, in dem sie auf Nora seltsam fremd wirkte. Normalerweise bevorzugte ihre Mutter leuchtende Farben. Ganz anders als Nora selbst, die zur Arbeit nur dunkelblaue und anthrazitfarbene Kostüme trug. Und in Zukunft auch den schwarzen Hosenanzug, den sie für Elisabeths Beerdigung gekauft hatte. Für die Freizeit hatte sie einen Stapel schlichte schwarze T-Shirts und einige Jeans im Schrank.
Nora schob den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um. »Lieber jetzt«, verkündete sie, während sie die Tür aufschob. »Wahrscheinlich werde ich die ganze Zeit heulen müssen. Also bringe ich es lieber hinter mich.« Sie atmete tief durch und trat in die Wohnung ein.
In der Diele mit dem dunkelblauen Teppich und dem Garderobenschrank aus heller Eiche blieb sie stehen und lauschte in die Stille, die sich wie ein Gewicht auf ihre Brust zu legen schien. Plötzlich fiel ihr das Atmen schwer. Sonst hatte Granny immer ihren Namen gerufen, sobald sie die Wohnung betreten hatte.
Es roch ganz anders als sonst. Nach Tod schoss es Nora durch den Kopf, obwohl Elisabeth gar nicht in ihrer Wohnung gestorben war.
Ihr Blick fiel auf eines der Landschaftsbilder, die ihre Granny noch in hohem Alter gemalt und überall in ihrer Wohnung aufgehängt hatte. Es gab Dutzende davon, die ständig ausgetauscht wurden. Hastig wandte Nora den Kopf ab, weil das sanfte Grün der Hügellandschaft, die die begeisterte Hobbykünstlerin auf diesem Aquarell eingefangen hatte, vor ihren Augen verschwamm.
»Wo möchtest du anfangen?«, flüsterte Silke, die so leise die Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte, als könnte sie Elisabeth stören, die doch seit mehr als zwei Stunden unter der Erde lag. »Wohnzimmer oder Schlafzimmer?«
Nora zuckte mit den Schultern. Dann kam ihr die Erleuchtung. »Am besten mit dem Erinnerungsschrank.« Sie zwang sich, in normaler Lautstärke zu sprechen, während sie in Richtung Schlafzimmer ging.
»Erinnerungsschrank?« Ihre Mutter klang erschrocken.
Mit Schwung stieß Nora die Tür auf. Sie würde es jetzt hinter sich bringen. Es war schmerzhaft, in Elisabeths Wohnung zu sein, aber Abschied tat nun mal weh. »Darin hat Elisabeth ihre alten Kleider aufbewahrt«, erklärte sie und deutete auf den kleinen Schrank in der Ecke. »Solche, die sie schon lange nicht mehr angezogen hat, die aber irgendeine Bedeutung für sie hatten. Weil sie besonders schön waren oder weil sie sie zu einem besonderen Anlass getragen hat. Es ist schon ewig her, seit sie da mal mit mir reingeguckt hat. Die Sachen sind so alt, dass ich Granny nie darin gesehen habe. Darum ist es am einfachsten für mich, damit anzufangen.« Sie wandte sich ihrer Mutter zu. »Es kann natürlich sein, dass du dich von irgendwelchen Gelegenheiten her an die Sachen erinnerst. Aber das muss dann auch ziemlich lange her sein.«
Silke strich sich mit dem Zeigefinger über den Nasenrücken und starrte die beiden schmalen Holztüren an, als wollte sie sie hypnotisieren. »Mach auf!«
Der Schrank war so vollgestopft, dass es Nora nur mit Mühe gelang, den ersten Bügel von der Stange zu nehmen. Darauf hing ein altrosa Kostüm mit einer kurzen Jacke und einem schmalen Rock. Verblüfft starrten Nora und ihre Mutter die beiden Teile auf dem Bügel an.
»Rosa?«, flüsterte Nora, als müsste das ein Geheimnis zwischen ihnen bleiben.
»Das war eine andere Zeit«, beschloss Silke, nahm Nora den Bügel aus der Hand und legte das Kostüm vorsichtig auf die dezent gemusterte blaugrüne Tagesdecke.
Es folgten ein mit großen bunten Blüten bedrucktes Kleid mit weitem Rock und schmaler Taille und eine knallrote Bluse, deren Anblick Nora, die es dezent liebte, ein wenig erschreckte.
Als sie sich wieder zum offenen Kleiderschrank umdrehte, fiel ihr Blick auf einen langen bronzefarbenen Rock, der zwischen den anderen Kleidungsstücken warm leuchtete wie die Herbstsonne an einem dunstigen Tag. Es dauerte etwas, bis sie in dem überfüllten Schrank den richtigen Bügel gefunden hatte.
»Ist das nicht wunderschön?« Mit ausgestrecktem Arm hielt sie ein Abendkleid vor sich in die Luft. Es war schulterfrei und hatte eine enge Taille und einen weiten, bodenlangen Rock. Dazu gab es eine Stola aus dem gleichen Stoff, die locker um den Haken des Bügels drapiert war. Als Nora über den Stoff strich, raschelte er leise. Offenbar handelte es sich um Taft, dessen glänzende Oberfläche in allen Tönen zwischen Weinrot, Bronze und Gold schimmerte. Am Ausschnitt und am Saum waren die Nähte mit zarten Goldstickereien verziert, die sich auf der Stola wiederholten. »Hast du Elisabeth mal in dem Kleid gesehen?«
»Nein. Ich habe sie ja erst kurz nach deiner Geburt näher kennengelernt. Da war sie über fünfzig und hat sicher kein Kleid mit einem solchen Ausschnitt mehr getragen.« Vorsichtig strich Silke über den schimmernden Taft.
»Ich wusste gar nicht, dass Elisabeth und du früher keinen Kontakt hattet. Sie hat immer zu meinem Leben gehört wie …«
»Wie eine Großmutter«, beendete Silke den Satz ihrer Tochter. Sie ließ sich auf die Bettkante fallen und starrte in die Luft, als würde sie weit zurück in die Vergangenheit sehen.
»Ich weiß nicht, wie ich es ohne sie geschafft hätte«, fuhr sie langsam fort. »Als berufstätige, alleinerziehende Mutter mit Kleinkind in einer fremden Stadt, in der ich niemanden kannte. Aber ich war ja froh, dass ich überhaupt einen Job gefunden habe. Und deine Großeltern waren beide schon tot. Elisabeth bin ich an einem meiner ersten Tage hier in Hannover rein zufällig auf der Straße begegnet. Habe ich dir das nie erzählt?«
Nora schüttelte schweigend den Kopf und setzte sich neben ihrer Mutter aufs Bett, nachdem sie das lange Taftkleid über das Kopfkissen gelegt hatte.
»Es war wie eine Fügung. Wir hatten uns vorher nur einmal auf der Hochzeit irgendeiner Cousine gesehen. Später hat sie mal gesagt, mich allein hätte sie nicht erkannt. Aber du bist ihr sofort aufgefallen, wie du mit deinen knapp anderthalb Jahren in deinem Buggy gesessen hast und deine kupferroten Haare in der Sonne leuchteten. Sie hat mich angesprochen und sofort angeboten, uns zu helfen, als sie mitbekam, in welcher Lage wir waren. Ich habe nie verstanden, wie meine Mutter es über sich brachte, all die Jahre keinen Kontakt mit ihrer Schwester zu haben, nur weil die beiden sich mal gestritten hatten. Schließlich war Elisabeth meine einzige Tante mütterlicherseits. Es war so ein glücklicher Zufall, dass wir uns damals über den Weg gelaufen sind.« Bei der Erinnerung an die schwierige Zeit, die sie als junge Frau durchgemacht hatte, zog Silke die Stirn kraus.
»Sie war zwar meine Großtante, aber ich hätte keine bessere Großmutter haben können. Obwohl meine echte Oma sicher auch lieb war. Lustigerweise haben die meisten Leute mich sowieso für Elisabeths Enkelin gehalten.«
»Das lag bestimmt an den kupferfarbenen Haaren, die fast alle Kramers haben. Meine Mutter hatte sie. Elisabeth, ihre Schwester, hatte sie. Du hast sie. Nur ich leider nicht.« Missmutig strich Silke ihre braunen, glatten Haare zurück, lächelte dann aber wieder. »Hast du dir mal die Fotos von Elisabeth als junge Frau angesehen? Es sind nicht nur die Haare. Du bist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten.«
Nora lächelte. »Meinst du, das Kleid würde mir passen?«
Fast schien es ihr, als würde Silke bei der Frage erschrocken zusammenzucken und noch blasser werden, als sie an diesem traurigen Tag ohnehin schon war. Dann ging ein Ruck durch ihren Körper, und sie nickte. »Kann schon sein. Probiere es doch einfach mal an.«
»Wäre das nicht irgendwie … pietätlos? Am Tag von Grannys Beerdigung.«
»Glaubst du etwa, sie hätte etwas dagegen gehabt?« Silkes Lächeln wirkte etwas gezwungen.
»Nein. Sie hätte sich gefreut«, beschloss Nora, streifte ihren schwarzen Blazer ab und knöpfte die Bluse auf, die sie darunter trug.
»Oh«, sagte Silke, nachdem sie Nora in das lange Taftkleid geholfen hatte. »Es sitzt, als wäre es für dich gemacht. Du siehst wunderschön darin aus.«
Nora trat vor den großen Wandspiegel und schnappte kurz nach Luft. In dem glamourösen Kleid erkannte sie sich kaum wieder, zumal sie sich normalerweise eher unauffällig kleidete. Die Abendrobe umgab ihren Oberkörper wie eine zweite Haut und floss von der Taille abwärts in weiten, schimmernden Falten um ihre Hüften und Beine.
»Jetzt weiß ich, wo ich das Kleid schon mal gesehen habe!« Nora wirbelte herum und lief nach nebenan ins Wohnzimmer. Dabei hatte sie das Gefühl, sich in einem bronzefarbenen Meer zu bewegen. Auf der niedrigen Kommode seitlich vom Fenster fand sie sofort, was sie suchte. Hier hatte Elisabeth ein gutes Dutzend Bilder aufgestellt. Die meisten zeigten Silke, Nora und sie selbst. Es gab aber auch einige wenige Erinnerungsfotos aus der Zeit vor Noras Geburt. Nach einem dieser Schwarzweißfotos griff Nora und hielt es ihrer Mutter hin, die ihr langsam gefolgt war.
»Das ist das Kleid! Man erkennt natürlich die Farbe nicht, aber es ist der gleiche Schnitt.«
Silke nickte stumm.
»Und das da ist Onkel Albert, oder?« Nora zeigte auf den gutaussehenden Mann mit dem streng gescheitelten Haar, bei dem Elisabeth sich für das Foto eingehakt hatte. Während die junge Frau strahlend in die Kamera lächelte, hatte ihr Ehemann den Mund zu einem etwas verkrampften Lächeln verzogen. Er sah aus, als hätte er sich nicht gern fotografieren lassen.
»Hmhm. Ich habe ihn allerdings nicht persönlich gekannt. Als wir hierhergezogen sind, war er schon seit Jahren tot.«
»Sie sah wunderschön aus.« Mit der Spitze ihres Zeigefingers strich Nora vorsichtig über das Gesicht der etwa fünfundzwanzigjährigen Elisabeth auf dem alten Foto. »Aber ihre Augen sehen irgendwie traurig aus. Anders als ich sie kenne. Da haben sie meistens gefunkelt.«
»Vielleicht war sie aus irgendeinem Grund angespannt.«
»Sieht so aus, als wäre das Foto vor einem offiziellen Ereignis gemacht worden«, überlegte Nora laut. »Das im Hintergrund könnte der Kuppelsaal sein. Die Treppe und die Säulen kommen mir bekannt vor. Da muss ich übrigens nächste Woche auch hin.«
Mit einem Ruck und lautem Taftgeraschel drehte sie sich zu ihrer Mutter. »Glaubst du, ich könnte das Kleid zum Ball der Werbung tragen?«
Ohne auf Silkes Antwort zu warten, eilte sie zurück ins Schlafzimmer und stellte sich dort wieder vor den Spiegel.
Wenige Sekunden später tauchte Silkes Gesicht hinter ihrer Schulter auf. Fast besorgt musterte sie Noras Spiegelbild. »Fühlst du dich in dem Kleid denn wohl? Das ist irgendwie gar nicht … dein Stil.«
»Na ja, es ist ziemlich auffällig.« Nora drehte sich schwungvoll um ihre eigene Achse, sodass der schimmernde Rock um ihre Beine schwang, und sah sich dann wieder im Spiegel an. »Aber Galaball ist Galaball. Und es ist sozusagen mein erster Auftritt als Projektmanagerin. Ich werde unseren neuen Kunden begleiten. Das heißt, er hat noch nicht unterschrieben. Es ist also wichtig, dass ich Eindruck mache. Auf ausdrücklichen Wunsch des Kunden werde ich das Projekt betreuen. Er hat irgendwo eine Anzeige gesehen, die ich mitgestaltet habe, und ist davon begeistert. Was ein wirklicher Glücksfall ist und eine Riesenchance für mich und meine Karriere sein könnte. Ich darf es also nicht vermasseln. Und in dem Kleid fühle ich mich irgendwie … stark.«
Nora meinte, ihre Mutter leise seufzen zu hören. Sie drehte sich um und nahm Silke fest in die Arme. »Ich bin auch furchtbar traurig«, flüsterte sie. »Aber das Leben geht weiter und der Gedanke, Elisabeths Kleid zu tragen, tröstet mich irgendwie. Zumindest ein kleines bisschen.«
»Dann solltest du es anziehen.« Silkes Stimme klang gepresst, als würde sie ihre Tränen nur mühsam unterdrücken können.
*
Vorsichtig zog Nora sich mit schwarzem Kajal einen dünnen Lidstrich. Anschließend begutachtete sie ihre nicht sehr umfangreiche Lippenstiftsammlung und wählte das kräftigste Rot aus, das sie besaß. Nachdem sie ihre Lippen ausgemalt hatte, presste sie sie in ein Kosmetiktuch, um die überschüssige Farbe abzunehmen. Dann ließ sie den Blick mehrmals zwischen ihrem Spiegelbild und dem alten Foto hin und her wandern, das sie auf ihren kleinen Schminktisch gelegt hatte. Sie griff zum Eyeliner, zeichnete noch einmal den Lidstrich nach und war dann mit ihrem Werk zufrieden. Das Make-up verstärkte die Ähnlichkeit zwischen ihr und der jungen Elisabeth auf dem Bild geradezu unglaublich.
»Hallo, Elisabeth«, sagte sie leise zum Abbild der jungen Frau, die strahlend in die Kamera lächelte. »Heute gehe ich als deine Zwillingsschwester zum Ball, und es fühlt sich gut an. Irgendwie fühle ich mich anders – mutiger und stärker. Alle behaupten, ich wäre selbstbewusst, und das stimmt wohl auch. Aber vor manchen Dingen habe sogar ich Angst. Zum Beispiel vor dem Ball heute. Ich soll unseren neuen Kunden beeindrucken. Das bedeutet, ich soll mit ihm tanzen und trinken und ihn nebenbei davon überzeugen, dass Bruder & Partner die Werbeagentur ist, die die besten Kampagnen für ihn plant. Oder vielmehr, dass ich die besten Kampagnen für ihn plane. Keine Ahnung, wie ich das machen soll. Aber vielleicht hilft mir dein wunderschönes Kleid ein bisschen dabei. Und deine tolle Frisur.«
Sie hielt das Foto so, dass sie im Spiegel Elisabeths Kopf neben ihrem sehen konnte. Sie war beim Friseur gewesen und hatte ihre halblangen Haare noch ein wenig kürzen lassen, sodass die großen, rotgolden schimmernden Wellen auf Kinnhöhe endeten.
Als es in der Ecke des Zimmers raschelte, sah sie sich lächelnd um. »Und wie gefalle ich dir, Kassiopeia?«, fragte sie ihre Schildkröte, die wie jeden Abend Auslauf in ihrer Wohnung hatte.
Sie hatte das Tier von Elisabeth zu ihrem zehnten Geburtstag bekommen und nach der Schildkröte in ihrem damaligen Lieblingsbuch »Momo« getauft. Damals war Kassiopeia gerade mal so groß wie ihre Kinderhand gewesen. Inzwischen waren fast zwanzig Jahre vergangen, und der goldbraune Panzer war fast so groß wie einer von ihren kleineren Kochtöpfen.
Jetzt reckte die Schildkröte den faltigen Hals, als wollte sie Nora in ihrem Abendkleid ganz genau betrachten. Dabei verzog sie den breiten Mund zu etwas, das aussah wie ein Lächeln. Aber wahrscheinlich bildete Nora sich das nur ein.
Sie stand auf, um Kassiopeia für die Nacht in ihr Terrarium zu verfrachten. Im selben Moment meldete sich ihr Smartphone. Mit einem Blick aufs Display stellte Nora fest, dass ihre Freundin Valerie anrief. Lächelnd griff sie nach dem kleinen Telefon.
»Hallo, Val«, meldete sie sich. »Ich habe es tatsächlich angezogen!«
»Gratuliere!« Vom anderen Ende der Leitung war das leise Lachen der Freundin zu hören. »Ich war mir nicht ganz sicher, ob du dich traust. Das Kleid ist wunderschön, aber du hast immer ein bisschen Angst davor aufzufallen. Obwohl du nun wirklich keinen Grund hast, dich zu verstecken.«
Nora unterdrückte einen Seufzer. »Ich weiß. Aber wenn ich es im Job zu etwas bringen will, muss ich mir das abgewöhnen. Wer unsichtbar ist, kann auch keinen Erfolg haben. Außerdem fühlt es sich gut für mich an, dass meine Granny dieses Kleid in meinem Alter getragen hat.«
»Na bitte! Und morgen ist Mädelsabend bei mir. Sarah kommt natürlich auch. Der Prosecco ist schon kaltgestellt. Wir erwarten einen detaillierten Bericht über den Ball.«
»Okay. Wenn der nur erst mal überstanden wäre.« Wieder seufzte Nora und kam sich dabei ziemlich dumm vor. Die meisten Frauen hätten sich auf diesen Abend gefreut. Aber die meisten Frauen mussten auch nicht auf einem Ball tanzen, um einen neuen Kunden zu gewinnen und damit ihrem Chef klarzumachen, dass sie zu Recht befördert worden war.
»Ich gehe gern für dich hin, wenn ich das Kleid anziehen darf«, bot Valerie ihr an.
»Danke, aber ich mach das schon.«
Durch die Wohnungsklingel wurde das Gespräch abrupt unterbrochen. Das Taxi war da.
Nachdem sie sich eilig von Valerie verabschiedet hatte, lief Nora hektisch durch die Wohnung. Sie musste unbedingt vor Fabian Schröder am Kuppelsaal ankommen. Schließlich war er der Kunde und sie am heutigen Abend seine Gastgeberin.
Seltsamerweise hatte Herr Schröder selbst den Wunsch geäußert, zusammen mit der künftigen Projektmanagerin seiner Kampagne den Ball zu besuchen. Er hatte vor, bei dieser Gelegenheit mit ihr erste Gespräche über die geplanten Maßnahmen zu führen. Selbstverständlich hatte Rainer Bruder ihn großzügig dazu eingeladen. Was bei der Höhe des Werbeetats, um den es ging, natürlich keine Frage war. Schließlich würde der festliche Rahmen auf den zahlungskräftigen Kunden mehr Eindruck machen als ein schnödes Abendessen.
Freudestrahlend hatte der Chef Nora erklärt, dass ihr auf diese Weise ein eleganter Ballsaal und ein Orchester als Hilfsmittel zur Verfügung standen, um den Kunden von Bruder & Partner und von sich selbst zu überzeugen. Wobei ihr ein Whiteboard und ein paar gute Anzeigenentwürfe als Argumente weitaus lieber gewesen wären.
Sie warf sich die Stola aus bronzefarbenem Taft um die Schultern, griff nach ihrer goldfarbenen Clutch und verließ eilig die Wohnung. Vor Aufregung war ihr ein kleines bisschen schlecht. Sie hatte keine Ahnung, wie das gehen sollte, eine Präsentation im Ballsaal. Ganz nebenbei. Ganz locker. Ganz ungezwungen. Während im Hintergrund irgendein Orchester Walzerklänge produzierte. Oder auch Foxtrott. Irgendwas in der Art. Wahrscheinlich erwartete Herr Schröder, dass sie mit ihm tanzte.
Hilfe, ich werde ihm wahrscheinlich die ganze Zeit auf die Füße treten, sodass ich vor lauter Entschuldigungen gar nicht dazu komme, ihm von den geplanten Fotoshootings zu erzählen. Bei diesem Gedanken geriet sie auf dem Treppenabsatz ins Taumeln, konnte sich aber gerade noch am Geländer festhalten und so verhindern, dass sie die letzten zehn Stufen kopfüber hinunterstürzte.
Als sie kurz darauf ins Taxi stieg, war sie fest davon überzeugt, dass Fabian Schröder nach spätestens einer Stunde das Weite suchen würde. Sie konnte nicht nur nicht tanzen, sie war auch nicht gerade eine Meisterin im Smalltalk. Was sie beherrschte, waren Power-Point-Präsentationen in Konferenzräumen. Sie konnte hervorragend den Preisrahmen der einzelnen Werbemaßnahmen umreißen und Fotomotive und Slogans vorstellen. Aber doch nicht tanzen!
In dem Moment, als sie die Eingangshalle betrat, in der sich bereits zahlreiche Gäste drängelten, war sie mit den Nerven vollkommen am Ende. Spätestens nach einer halben Stunde wäre Herrn Schröder mit Sicherheit klar, dass die stammelnde und stotternde Frau, die ihm im Walzertakt auf die Füße trat, nie und nimmer als Projektmanagerin für seine Werbekampagne infrage kam.
Als ein schwarzbefrackter Kellner an ihr vorbeiging, angelte sie sich ein Sektglas von seinem Tablett und stürzte die prickelnde Flüssigkeit in einem Zug herunter. Dabei ließ sie den Haupteingang nicht aus den Augen. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis ihre Verabredung auftauchte. Eine gewisse Menge Alkohol, gerade so viel, dass sie sich ein bisschen entspannte, würde sie vielleicht etwas lockerer und charmanter machen.
»Charmant, was soll das überhaupt heißen?«, murmelte Nora vor sich hin.
»Wie bitte?« Der Kellner, der soeben vorbeiging, blieb stehen und sah sie fragend an. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Ich nehme noch eins.« Mit einem verbissenen Lächeln stellte sie ihr leeres Glas auf sein Tablett und griff nach einem gefüllten. »Vielen Dank.«
Dieses Mal nippte sie nur am Sekt. Normalerweise vertrug sie das Prickelwasser nicht besonders gut, und sie hatte mittags nur ein halbes Brötchen gegessen. Dennoch konnte ein bisschen mehr Entspannung nicht schaden. Charmante Frauen waren schließlich entspannt, oder etwa nicht?
Inzwischen war Herr Schröder seit zehn Minuten überfällig. Ganz kurz hoffte sie, er würde nicht kommen, verbot sich diesen unprofessionellen Gedanken aber sofort wieder.
Als das Handy in der Clutch unter ihrem Arm vibrierte, hatte sie ihr zweites Sektglas doch schon fast geleert. Sie fühlte sich angenehm beschwingt, wenn es ihr auch ein bisschen schwerfiel, einen klaren Gedanken zu fassen.
Ungeschickt zog sie das Smartphone aus der kleinen Tasche und meldete sich. Es war Fabian Schröder, und sie schnappte erschrocken nach Luft.
»Ich hoffe, Sie müssen nicht absagen. Wir können uns aber im Notfall auch gern in unserem Büro treffen. Morgen oder wann immer Sie wollen.«
Das leise Lachen an ihrem Ohr klang locker und freundlich. »Hört sich fast an, als würden Sie auf eine Absage hoffen.«
»Natürlich nicht! Ich wäre sehr enttäuscht. Und Herr Bruder erst«, sprudelte es aus ihr heraus, und sie hatte dabei das Gefühl, ihre Zunge würde sich gleich verknoten.
»Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich mich leider etwas verspäte. Der Messeschnellweg war wegen eines Unfalls gesperrt, aber jetzt geht es weiter. Ich werde in etwa zwanzig Minuten da sein.«
»Das ist schön. Ganz wunderbar.« Nora biss sich auf die Lippe. Sie musste sich zusammenreißen! »Ich warte in der Eingangshalle auf Sie.«
In der Zwischenzeit würde sie ein bisschen an die frische Luft gehen, dann hatte sie wieder einen klaren Kopf, wenn sie ihrem Kunden zum ersten Mal gegenüberstand.
»Vielen Dank.« Am anderen Ende der Leitung war es still.
Nora schob das Smartphone zurück in die Clutch, stellte ihr leeres Glas auf einen der Stehtische und eilte nach draußen. Die Sommernacht war kühl und klar. Vorsichtig stieg sie in ihren hochhackigen Pumps die Stufen vor dem Eingang hinunter. Wenn sie jetzt stolperte und hinfiel, wäre der Abend gelaufen. Seitlich von der Treppe stand eine Bank vor einer kleinen Buschgruppe. Hier ließ sie sich aufatmend nieder. Obwohl sie kaum eine halbe Stunde in den glitzernden High Heels unterwegs war, die sie sich extra zu Elisabeths Kleid gekauft hatte, taten ihr jetzt schon die Füße weh. Sie beschloss, die hübschen Folterinstrumente einen Moment auszuziehen, doch bevor sie dazu kam, machte sich erneut das Handy in ihrer Tasche bemerkbar. Was wollte dieser Schröder denn jetzt noch?
»Es macht nichts, wenn Sie ein bisschen länger brauchen«, meldete sie sich hastig, nachdem sie das Smartphone wieder hervorgekramt hatte. »Ich warte auf Sie! Das ist gar kein Problem.«
»Nora? Was redest du da?«
»Mama!« Nora verdrehte die Augen. So gern sie sonst mit ihrer Mutter quatschte, dies war nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Sie weiß doch, dass ich einen Geschäftstermin habe.
»Hast du getrunken?«
»Nur ein Glas Sekt … oder vielleicht zwei. Ich bin schließlich auf einem Ball.«
»Du weißt doch, dass du den nicht verträgst.« Manchmal konnte Silke immer noch die besorgte Mutter hervorkehren. Selbst der demonstrative Seufzer klang noch wie früher.
Genau wie damals antwortete Nora einfach nicht.
»Hast du tatsächlich Elisabeths Kleid angezogen?« Jetzt hörte sich Silke noch besorgter an.
»Wieso?« Nora räusperte sich, weil ihre Stimme ein kleines bisschen ins Stolpern geraten war. »Wenn du findest, dass sich das Kleid nicht für einen Ball im einundzwanzigsten Jahrhundert eignet, hättest du mir das vorher sagen müssen! Du hast gesagt, es ist wunderschön und ich …«
»Natürlich ist es das!«, beruhigte ihre Mutter sie.
»Ich habe mir die Haare sogar schneiden lassen, damit sie aussehen wie Elisabeths auf dem alten Foto«, erzählte Nora stolz. »Nicht ganz so dauerwellig, sondern lockerer, aber so ähnlich. Und ich habe mich geschminkt wie sie damals. Soweit man das auf dem Schwarzweißfoto erkennen kann. Jetzt sehe ich der jungen Elisabeth tatsächlich ziemlich ähnlich.«
»Oh.« Mehr brachte Silke nicht hervor, obwohl sie normalerweise nicht gerade zu den wortkargen Menschen gehörte.
»Findest du das schlimm? So fühle ich mich Elisabeth ein bisschen näher. Das ist ein wichtiger Abend für mich, und sie fehlt mir ganz schrecklich und …«
»Du siehst sicher sehr schön aus, Nora. Es muss wohl so sein, dass du Elisabeth unglaublich ähnelst. Wie sollte es sonst funktionieren?«
Angestrengt runzelte Nora die Stirn. Sie verstand nicht, was ihre Mutter meinte. Sicher hing das mit dem blöden Sekt zusammen. Ihre Gedanken schlitterten unkontrolliert herum wie auf spiegelglattem Eis.
»Es geht diesem Kunden hoffentlich nicht in erster Linie darum, wie ich aussehe.« Nervös spielte sie mit der zarten goldenen Armbanduhr, die Elisabeth ihr zum bestandenen Abitur geschenkt hatte. »Trotzdem ist es wahrscheinlich kein Nachteil, wenn er bei meinem Anblick nicht schreiend wegläuft.«
»Wahrscheinlich nicht«, stimmte Silke ihr wieder ungewohnt einsilbig zu.
»Ich hab Kassiopeia vergessen«, fiel Nora in diesem Augenblick aus irgendeinem Grund ein. »Ich wollte sie noch in ihr Terrarium sperren, aber dann rief Valerie an und dann kam das Taxi – jetzt läuft sie noch in der Wohnung herum.
»Soll ich schnell hinfahren und sie einfangen?«, bot Silke an.
Nora überlegte kurz. »Danke, aber ich glaube, das geht schon. Was soll sie anstellen? Und weglaufen kann sie ja nicht. Soll sie ihre Freiheit genießen, solange ich weg bin.«
»Ich wünsche dir einen schönen Abend, mein Kind. Pass auf dich auf. Ich hab dich lieb.«
»Ich dich auch, Mama. Mach’s gut. Ich melde mich morgen.« Irritiert schob Nora ihr Handy zurück in die Clutch. Diesen Anruf hatte sie nicht verstanden. Normalerweise gehörte Silke nicht zu den Müttern, die ihrer erwachsenen Tochter immer und überall hinterhertelefonierten.
Mit einem tiefen Durchatmen lehnte Nora sich zurück und versuchte, sich zu entspannen. Was ihr erstaunlicherweise sogar gelang. Sie genoss das kühle Streicheln des Windes auf den Wangen, das Rauschen des Verkehrs in der Ferne und das leise Rascheln der Blätter hinter ihrem Rücken. Als ihr die Augen zufielen, riss sie sie erschrocken wieder auf. Sie durfte auf keinen Fall einschlafen! In spätestens zehn Minuten musste sie zurück in die Eingangshalle, um Herrn Schröder dort zu begrüßen.
Das Röhren eines Automotors in der Nähe riss Nora aus dem leichten Schlummer, in den sie gefallen war. Erschrocken fuhr sie hoch, schmiss dabei ihre Abendtasche auf den Boden, hob sie wieder auf und warf einen hastigen Blick auf ihre Uhr. Zum Glück hatte sie nur wenige Minuten geschlafen. Jetzt fühlte sie sich deutlich besser, fast als hätte sie nichts getrunken.
Entschlossen klemmte sie sich die Clutch unter den Arm, raffte ihren Rock und eilte die breite Treppe hinauf in die Eingangshalle des Kuppelsaals.
Obwohl die Veranstaltung vor einer guten Viertelstunde begonnen hatte, war der Eingangsbereich immer noch voller Menschen. Eigentlich voller als zuvor. Irgendjemand hatte in der Zwischenzeit Blumengirlanden über den Türen zum Saal aufgehängt.
Ein Kellner näherte sich und hielt ihr freundlich lächelnd ein Tablett mit gefüllten Sektgläsern hin. Nora blinzelte erstaunt. Sie war sich ziemlich sicher, dass die Kelche, in denen der Sekt angeboten wurde, vorher anders ausgesehen hatten. Schlichter und ohne Kristallschliff. Wahrscheinlich waren wegen reger Nachfrage inzwischen alle schlichten Gläser schmutzig.
Aber wieso trugen sämtliche Kellner statt schwarzer Jacken plötzlich weiße? Die Jacken konnten doch nicht auch alle schmutzig sein?
»Vielen Dank«, sagte sie mit einem Kopfschütteln zu dem Kellner, der abwartend neben ihr stand. Mehr Sekt hatte ihr gerade noch gefehlt.
»Darf ich dem gnädigen Fräulein ein Kanapee anbieten?« Ein Kollege des Sektkellners baute sich vor ihr auf und hielt ihr ein Silbertablett mit bunt gemischten Häppchen unter die Nase.
»Nein danke.« Überrascht sah sie den jungen Mann mit den streng gescheitelten blonden Haaren an. Gnädiges Fräulein hatte sie noch nie jemand genannt.
Ein erneuter Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass Fabian Schröder inzwischen deutlich überfällig war. Ob er versucht hatte, sie anzurufen, während sie draußen auf der Bank geschlafen hatte? Wieder einmal holte sie ihr Handy hervor. Auf den ersten Blick erkannte sie, dass sie keinen Anruf verpasst hatte. Der zweite Blick verriet ihr, dass sie allerdings auch nicht erreichbar war, weil sie kein Netz hatte.
Suchend sah sie sich um und entdeckte unter all den kultivierten Ballbesuchern einen jungen Mann ohne Begleitung, der nicht ganz so gescheitelt und gestriegelt wirkte wie die anderen anwesenden Männer. Sein kurzgeschnittenes braunes Haar war ein kleines bisschen zerzaust, als wäre er in eine leichte Brise geraten und hätte es anschließend notdürftig wieder glatt gestrichen. Für Noras Geschmack immer noch ein bisschen zu ordentlich und brav, aber immerhin.
Als er ihren Blick bemerkte, erwiderte er das Lächeln, das sie ihm quer durch den großen Raum zuwarf. Dann setzte er sich zögernd in ihre Richtung in Bewegung, sodass sie nur noch ein paar Schritte machen musste, bis sie ihm direkt gegenüberstand.
Sie hielt ihm ihr Handy hin, doch bevor sie dazu kam, ihre Frage zu stellen, neigte er den Kopf zu einer angedeuteten Verbeugung. »Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Schröder. Maximilian Schröder.«
»Maximilian? Ich dachte, Ihr Vorname ist Fabian. Es tut mir leid, dass ich mich verspätet habe. Ich habe unsere Verabredung selbstverständlich nicht vergessen. Ich war nur für einen Moment draußen und …« Sie stockte, weil sie ihrem neuen Kunden unmöglich sagen konnte, dass sie auf einer Bank ihren Rausch ausgeschlafen hatte.
»Ich bin untröstlich, aber ich muss Sie enttäuschen. Ich bin mit niemandem verabredet. Leider auch nicht mit Ihnen. Und Maximilian heiße ich schon seit fast zweiunddreißig Jahren.«
»Oh, dann habe ich Sie mit jemandem verwechselt«, stieß sie verlegen hervor und ignorierte sein vergnügtes Zwinkern. Er bemerkte doch wohl hoffentlich nicht, dass sie getrunken hatte. Wenn man das bei zwei Gläsern Sekt so nennen konnte. »Schröder ist ein häufiger Name.«
»Da muss ich Ihnen leider recht geben. Kann ich Ihnen dennoch helfen, gnädige Frau? Oder darf ich sagen, gnädiges Fräulein?« Er warf einen neugierigen Blick auf ihre rechte Hand. Versuchte er etwa festzustellen, ob sie einen Ehering trug?
Nora entschied, seine Frage einfach nicht zu beantworten, und wechselte das Thema. »Entschuldigen Sie bitte, haben Sie hier Empfang?« Sie hielt ihm ihr silberfarbenes Smartphone hin, damit er sich selbst überzeugen konnte, dass ihr der Kontakt zur Außenwelt abhandengekommen war.
»Ähm.« Fast freute es sie, dass der attraktive Mann, der bis eben noch so selbstbewusst gewirkt hatte, plötzlich ebenso ratlos schien wie sie angesichts seiner seltsamen Anrede. Irritiert starrte er das Telefon in ihrer Hand an. »Was meinen Sie?«
»Empfang. Ich habe kein Netz. Zum Telefonieren.« Sie redete mit ihm wie mit einem geistig Zurückgebliebenen, aber was blieb ihr anderes übrig, wenn er sie genauso ansah?
»Ich glaube, Telefone sind da hinten in der Ecke. Wenn Sie Kleingeld brauchen, kann ich Ihnen gern etwas wechseln.«
»Funktioniert Ihr Handy auch nicht? Welchen Anbieter haben Sie denn?«
»Anbieter?« Wieder sah der junge Mann sie an, als hätte sie ihn gefragt, ob er mit ihr eine Runde auf einem fliegenden Teppich drehen wollte.
»Vodafon, T-Mobile, O2, oder einen ganz anderen?«, konkretisierte Nora ihre Frage.
Er kniff seine Augen zusammen, von denen sie bei der diffusen Beleuchtung in dem großen Raum nicht sagen konnte, ob sie dunkelgrün oder dunkelblau waren. Auf jeden Fall waren sie nicht braun, wie bei den meisten dunkelhaarigen Menschen.
Maximilian Schröder schien nun völlig verwirrt zu sein und überging ihre Frage einfach. »Leider haben wir niemanden, der uns offiziell vorstellt. Aber es wäre schön, wenn ich ebenfalls Ihren Namen erfahren dürfte.«
»Nora«, sagte sie schnell, um dem Typen zu zeigen, dass sie von seiner förmlichen Art nicht gerade hingerissen war.
»Fräulein Nora?«
Dazu fiel ihr nichts anderes ein als ein leises Ächzen. Das hier wurde langsam absurd.
»Kann ich Ihnen mit dem Bild irgendwie helfen?« Gnädig wandte Maximilian Schröder seine Aufmerksamkeit jetzt tatsächlich ihrem Smartphone zu, das sie immer noch mit dem Display nach oben in der Hand hielt.
In dem Augenblick, in dem er auf das Handy sah, schaltete es sich aus, und statt der roten Blüten mit der Uhrzeit war nur noch eine schwarze Fläche zu sehen.
Er runzelte ungläubig die Stirn, als hätte Nora einen verblüffenden Zaubertrick vorgeführt. »Was ist das?«, flüsterte er und sah sich um, als wollte er sich vergewissern, ob außer ihm noch jemand das unglaubliche Kunststück beobachtet hatte.
»Ein Samsung«, flüsterte Nora zurück. »Gefällt es Ihnen?«
»Samblung?« Vorsichtig strich er am silberfarbenen Rahmen des Handys entlang.
»Hören Sie. Verarschen kann ich mich alleine.« Nora wandte sich auf dem Absatz um und eilte geschäftig in Richtung Eingangstür, wo hoffentlich jeden Augenblick der richtige Schröder auftauchen würde. Bevor sie die Tür erreichte, erschien ein junger Mann, vermutlich Anfang dreißig, auf der Bildfläche. Er ließ suchend seinen Blick durch den Raum schweifen und schob sich dann durch die Gäste direkt auf sie zu, als würde er sie kennen.
Irgendwie kam er ihr bekannt vor, was aber nicht dafür sprach, dass es sich um Fabian Schröder handelte. Von dem hatte sie bisher nicht einmal ein Foto gesehen.
Während er sich weiter auf sie zu bewegte, zog der Mann eine Zigarettenschachtel aus der Tasche und zündete sich eine an. Mitten in der Halle! Als er vor ihr stand, war er in eine große Wolke aus Qualm gehüllt.
»Da bist du ja, Elisabeth! Ich suche dich seit einer halben Stunde.« Der große, breitschultrige Mann im Smoking, der den Scheitel in seinen dunkelbraunen Haaren offenbar mit einem Lineal gezogen hatte, musterte sie streng.
Nora hustete demonstrativ und wedelte sich den stinkenden Zigarettenrauch aus dem Gesicht. Dann erst fiel ihr auf, wie der Mann sie genannt hatte.
»Ich bin nicht …«, begann sie, stockte aber, weil ihr plötzlich einfiel, woher sie den wild vor sich hin qualmenden Mann zu kennen meinte. Er hatte eine fatale Ähnlichkeit mit Elisabeths längst verstorbenem Mann Albert, den sie von alten Fotos kannte. Was natürlich nur ein seltsamer Zufall sein konnte. Genau wie die Tatsache, dass er sie Elisabeth genannt hatte.
Durch eine weitere dichte Rauchschwade sah er sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Du hast mich in eine peinliche Situation gebracht. Der Oberbürgermeister hat nach dir gefragt, und ich wusste nicht, wo du bist.«
»Ich war kurz draußen. Frische Luft schnappen.« Mit einer fahrigen Handbewegung zeigte sie zur Tür. »Mir war ein bisschen schwindelig.«
Wieso rechtfertigte sie sich eigentlich vor diesem Kerl, der aus irgendeinem Grund glaubte, er hätte ihr etwas zu sagen?
»Du weißt doch, dass du Sekt nicht verträgst.« Er schüttelte den Kopf, als hätte er ein unartiges Kind vor sich.
»Daran liegt es nicht. Ich habe schon seit heute Morgen Kopfschmerzen.«
»Oh. Ist es deine Frauensache?«, raunte das Albert-Lookalike und sah sich verstohlen um, ob auch niemand ihn gehört hatte.
»Frauensache?«, wiederholte Nora klar und deutlich in normaler Lautstärke. »Was für eine Frauensache?«
»Was ist nur mit dir los? Dir scheint es tatsächlich gar nicht gutzugehen.« Der Fremde nahm sie beim Arm und zog sie mit sich an den Rand der Menge. »Es ist besser, wenn wir nach Hause fahren, wo jetzt gerade Pause ist. Das Dinner ist ja schon vorbei. Und da wir ohnehin nicht tanzen und ich mit allen wichtigen Leuten inzwischen gesprochen habe, können wir gerne verschwinden. Du musst dich ausruhen.« Noch energischer als zuvor packte er sie beim Ellbogen und bewegte sich in Richtung Tür.
»Lassen Sie mich los! Ich denke nicht dran, mit Ihnen irgendwohin zu gehen.« Langsam wurde Nora die Sache unheimlich. Entweder der Mann war verrückt, oder er verwechselte sie mit jemandem – wie es aussah mit seiner Frau, die noch dazu Elisabeth hieß.
»Hör bitte auf mit dem Blödsinn, Ella. Du weißt genau, dass es für unsere Kanzlei von größter Bedeutung ist, wie wir in der Öffentlichkeit auftreten.« Der fremde Mann hatte seinen Kopf so weit zu ihrem heruntergebeugt, dass sie seinen heißen Atem in ihrer Ohrmuschel spürte.
Bei seinen Worten erstarrte Nora. Elisabeths Mann Albert war Rechtsanwalt mit einer eigenen Kanzlei gewesen.
Was ist hier los? Ich habe tatsächlich zu viel Sekt getrunken. Und jetzt sitze ich immer noch auf der verdammten Bank und träume. Ich muss aufwachen! Sofort!
Doch so weit Nora ihre Augen auch aufriss, es änderte sich nichts. Der Mann führte sie mit einem verbindlichen Lächeln auf den Lippen und eisernem Griff zum Ausgang und vergaß dabei nicht, freundlich in alle Richtungen zu nicken und zu grüßen.
Bevor Nora sich dazu durchringen konnte, um Hilfe zu rufen, stand sie schon draußen vor der Tür. Irgendwann musste sie doch aus diesem komischen Traum aufwachen, der sich langsam zum Albtraum entwickelte! Plötzlich hatte sie eine Eingebung.
»Albert?«
»Ja?« Er reagierte ohne zu zögern.
Erschrocken schnappte sie nach Luft. Er hieß tatsächlich Albert! Wie konnte das sein?
»Was ist denn, Liebes?«, erkundigte sich der Fremde namens Albert, als sie nach einer Weile immer noch nichts gesagt hatte. Inzwischen waren sie auf einem Parkplatz in der Nähe des Eingangs angelangt, der vorhin nicht da gewesen war. Sie hätte schwören können, dass hier bei ihrer Ankunft noch ein Gebäudeteil des Kongresszentrums gestanden hatte.
»Nichts.«
»Da wir ja nun einen angebrochenen Abend zur Verfügung haben, könnten wir zu Hause noch in Ruhe über unsere Probleme reden.«
Was für Probleme? Wenn er ein Problem hatte, dann ja wohl das, dass er seine eigene Frau nicht erkannte.
Galant öffnete er ihr die Beifahrertür eines schwarzen Mercedes. Obwohl sie alles andere als eine Autoexpertin war, erkannte sie, dass es sich zweifellos um einen Oldtimer handelte.
Unschlüssig starrte sie den Beifahrersitz an. Es erschien ihr unendlich reizvoll, sich auf das hellbraune Lederpolster fallen zu lassen, denn sie war entsetzlich müde. Was wahrscheinlich daran lag, dass sie ohnehin schlief. Das hier konnte nichts anderes als ein merkwürdiger Traum sein, auch wenn sich alles unglaublich real anfühlte.
Prüfend legte sie die Hand auf die obere Kante der offenen Beifahrertür und spürte das harte, kühle Metall unter ihren Fingern. Dann sank sie mit einem unterdrückten Seufzer auf den weichen Sitz. Albert schloss die Tür mit einem sanften Klicken und ging um den Wagen herum.
Während er sich hinters Steuer setzte, tastete Nora nach dem Gurt, aber es gab keinen. Viel irritierender als die fehlenden Sicherheitsvorrichtungen im Innenraum des Mercedes war jedoch die Tatsache, dass auf dem Parkplatz, den sie gerade verließen, ausschließlich Oldtimer standen. Im Scheinwerferlicht sah sie lauter Autos, die sie nur aus alten Filmen kannte.
»Wohin fahren Sie … fährst du mit mir?«, fragte sie, ohne den Mann hinter dem Steuer anzusehen.
»Nach Hause, Ella. Was ist nur mit dir los? Du wirkst … orientierungslos.« Aus dem Augenwinkel sah sie, wie er den Kopf schüttelte.
»Ich bin nur müde.« Tatsächlich fühlte sie sich, als hätte sie eine schrecklich weite Reise zurückgelegt.
Durch ihre halbgeschlossenen Lider sah sie die beleuchteten Fenster der Häuser vorbeihuschen. Das Licht der Straßenlaternen kam ihr merkwürdig matt vor, und die Straßen waren für die Uhrzeit – es war kurz nach neun – sehr leer. Die wenigen Autos, die ihnen begegneten, waren ebenfalls Oldtimer.
Albert fuhr in Richtung Herrenhausen. Dort hatte Elisabeth während der vergangenen zwölf Jahre in einer Etagenwohnung gelebt. Bevor sie in diese Wohnung gezogen war, hatte sie nur wenige Straßen entfernt eine kleine Villa mit einem großen Garten besessen. Nora konnte sich gut daran erinnern, wie sie während ihrer Schulzeit im Garten getobt hatte. Ihretwegen hatte Elisabeth, die selbst nie Kinder gehabt hatte, einen Sandkasten anlegen und eine Schaukel aufstellen lassen. Erst als Nora schon fast das Abitur gehabt hatte, hatte Elisabeth das eigentlich viel zu große Haus verkauft, in dem sie seit dem frühen Tod ihres Mannes allein gelebt hatte.
Viel später erfuhr Nora von ihrer Mutter, dass Elisabeth ihr angeboten hatte, mit der kleinen Nora zu ihr in die Villa zu ziehen. Es wäre einfach gewesen und wahrscheinlich auch schön. Aber Nora konnte verstehen, dass Silke trotz ihrer Sorgen als alleinerziehende Mutter ihre Unabhängigkeit bewahren wollte. Sie hatte Elisabeths Hilfe bei der Kinderbetreuung angenommen, aber Wert darauf gelegt, ihre Finanzen selbst in der Hand zu behalten und nicht etwa mietfrei zu wohnen, nur weil es bequemer für sie war.
Als Albert die etwa zehn Meter lange Auffahrt entlangfuhr und vor den drei Stufen anhielt, die zu der breiten Haustür führten, wunderte Nora sich nicht einmal mehr. Als hätte sie genau das schon unzählige Male getan, blieb sie sitzen und wartete, bis Albert um den Wagen herumgegangen war, um ihr die Beifahrertür zu öffnen. In ihrem langen Kleid konnte sie etwas Hilfe beim Aussteigen gut gebrauchen. Also reichte sie ihm die Hand und stieg unter lautem Geraschel des langen Taftrocks aus. Auf dem kurzen Weg zur Haustür legte sie ihre Finger in die Beuge seines angewinkelten Arms.
Albert schloss die Tür auf und gab ihr einen kleinen Stoß, während er mit der Linken den Lichtschalter innen neben dem Türrahmen betätigte. Die großzügig geschnittene Diele, von der aus eine Treppe ins Obergeschoss führte, war Nora vertraut. Sie erkannte die Hängelampe mit den drei Milchglaskugeln, die Biedermeierkommode an der Wand und den offenen Garderobenschrank mit den Messinghaken und der Hutablage. Fast genauso hatte dieser Raum noch ausgesehen, als Elisabeth die Villa schließlich verkauft hatte.
Wieso war sie plötzlich in diesem Haus, das sie von früher kannte und seit vielen Jahren nicht mehr betreten hatte? Mit einem Mann, der …
Es kostete sie Überwindung, diesen Gedanken zu Ende zu denken. Der Mann, der sie Elisabeth nannte, war seit vielen Jahren tot. Genau wie die echte Elisabeth, die vor einer knappen Woche gestorben war.
Ein Schauer durchlief sie, Panik stieg in ihr auf, und sie musste mehrmals trocken schlucken, bevor sie sich wieder unter Kontrolle hatte. Irgendetwas Seltsames war geschehen, doch wenn sie, wie auch immer, in diese Situation geraten war, musste es auch einen Weg zurück geben. Vielleicht indem sie einfach mal aus diesem merkwürdigen Traum erwachte.
Während sie noch unter der viel zu hellen Deckenlampe stand und krampfhaft versuchte, einen klaren Kopf zu bewahren, bewegte Albert sich auf eine Tür zu. Mit der Hand auf der Klinke drehte er sich zu ihr um.
»Setzen wir uns noch einen Moment zusammen? Wir müssen über das reden, was heute passiert ist. Über deine Aufgaben als meine Frau. So geht es wirklich nicht weiter, Ella.«
Ohne auf ihre Antwort zu warten, schaltete er auch in dem großen Wohnraum die grelle Deckenbeleuchtung an und verschwand durch die Tür.
Nora folgte ihm zögernd und überlegte, ob es nicht besser wäre, aus diesem Haus zu verschwinden. Aber wohin sollte sie in ihrem Ballkleid mit den hochhackigen Schuhen laufen? Sie hatte nur wenig Bargeld bei sich, und ihr Handy funktionierte nicht.