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München, 1945: Claire kehrt kurz nach Kriegsende mit ihren beiden Töchtern Viktoria und Mabelle in die Villa Rabenfels zurück. Das Herrenhaus steht noch, doch die Näherei liegt in Schutt und Asche. Die Familie steht vor dem Nichts: Helmut ist im Krieg gefallen, Richard wird noch vermisst, und die einzige Einnahmequelle ist zerstört. Claire verfällt in eine tiefe Depression, und die ganze Verantwortung liegt nun auf Viktorias Schultern. Da erinnert sich Viktoria an ihr Talent, elegante, außergewöhnliche Kleider zu entwerfen. Tatsächlich gelingt es ihr, ihre Familie mit dem Verkauf handgefertigter Modellkleider zu ernähren.
In diesen schweren Zeiten trifft die junge Frau auf einen Kriegsrückkehrer, der hungrig und einsam durch die Stadt irrt. Sie nimmt ihn mit nach Rabenfels. Schon bald merkt Viktoria, dass sie Gefühle für den mysteriösen Fremden entwickelt hat, doch dieser verlässt die Villa nach einer gemeinsam verbrachten Gewitternacht. Wird sie ihn jemals wiedersehen?
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Seitenzahl: 428
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Das Geheimnis von Chaleran Castle
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München, 1945: Claire kehrt kurz nach Kriegsende mit ihren beiden Töchtern Viktoria und Mabelle in die Villa Rabenfels zurück. Das Herrenhaus steht noch, doch die Näherei liegt in Schutt und Asche. Die Familie steht vor dem Nichts: Helmut ist im Krieg gefallen, Richard wird noch vermisst, und die einzige Einnahmequelle ist zerstört. Claire verfällt in eine tiefe Depression, und die ganze Verantwortung liegt nun auf Viktorias Schultern. Da erinnert sich Viktoria an ihr Talent, elegante, außergewöhnliche Kleider zu entwerfen. Tatsächlich gelingt es ihr, ihre Familie mit dem Verkauf handgefertigter Modellkleider zu ernähren.
In diesen schweren Zeiten trifft die junge Frau auf einen Kriegsrückkehrer, der hungrig und einsam durch die Stadt irrt. Sie nimmt ihn mit nach Rabenfels. Schon bald merkt Viktoria, dass sie Gefühle für den mysteriösen Fremden entwickelt hat, doch dieser verlässt die Villa nach einer gemeinsam verbrachten Gewitternacht. Wird sie ihn jemals wiedersehen?
Elaine Winter ist ein Pseudonym der Autorin Ira Severin, die schon als Kind gerne Geschichten erfunden hat. Sie studierte Germanistik und Anglistik, probierte sich in verschiedenen Jobs in der Medienbranche aus und kehrte bald zum Geschichten erfinden zurück. Inzwischen ist sie seit mehr als zwanzig Jahren Autorin und hat den Spaß am Erdenken schicksalhafter Wendungen und romantischer Begegnungen bis heute nicht verloren.
ELAINE WINTER
Schicksalhafte Jahre
Originalausgabe
»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Dr. Ulrike Brandt-Schwarze
Lektorat/Projektmanagement: Anna-Lena Meyhöfer
Covergestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de
Unter Verwendung von Motiven © shutterstock: KOCHMARYOV | ampcool | Valery Sidelnykov | Millena | YegoeVdo22 | ecco | mohdizuan | Grazyna Rogala
eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 978-3-7325-7062-1
www.be-ebooks.de
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Irgendwo in Bayern, Juni 1945
Viktoria Louisa von Haynbach schreckte aus dem Schlaf hoch, richtete sich auf und spähte angestrengt in die Dunkelheit im Schatten der Bäume, wohin das schwache Mondlicht nicht reichte. Ein lautes Knacken hatte sie geweckt. Waren das Schritte gewesen? Oder schlich ein gefährliches Tier herum? Vielleicht hatte auch nur ein Ast der Eiche geknackt, unter der sie ihr Nachtlager aufgeschlagen hatten.
»Bist du wach, Mama?«, flüsterte sie ihrer Mutter zu, die sich dicht neben ihr in eine dünne Decke eingewickelt hatte.
»Hm?«, machte Claire und rührte sich nicht.
»Hast du das auch gehört?« Mit zusammengekniffenen Augen starrte Viktoria an dem dicken Baumstamm vorbei in die tiefen Schatten. Da bewegte sich doch etwas! Vielleicht hatte ihr der Wind im Laub die hohe, schmale Silhouette aber auch nur vorgegaukelt, die sie zu sehen geglaubt hatte.
Sie tastete nach dem Messer, das sie unter die zusammengerollte Jacke geschoben hatte, die ihr als Kopfkissen diente. Gleichzeitig fixierte sie den Leiterwagen, der mitsamt Inhalt im Moment ihren ganzen Besitz darstellte.
Die Bauersleute hatten ihnen das klapprige Wägelchen im Tausch gegen ihre Wintermäntel überlassen. Drei hochwertige, warme Mäntel gegen einen altersschwachen Karren – definitiv ein schlechtes Geschäft. Doch die Züge fuhren unregelmäßig und waren oft so überfüllt, dass niemand mehr zusteigen konnte. Deshalb hatten sie beschlossen, die mehr als hundert Kilometer nach Hause zu Fuß zurückzulegen, und sie mussten ihr Hab und Gut ja irgendwie transportieren. Sie wussten nicht, was aus ihren persönlichen Dingen geworden war, die sie bei ihrer Flucht in der Villa Rabenfels zurückgelassen hatten. Also konnte es sich bei den wenigen Kleidungsstücken, die sie nach der Zeit auf dem Bauernhof noch besaßen, tatsächlich um ihre komplette Garderobe handeln. Ihr Proviant für den restlichen Weg bestand aus einem halben Laib Brot, zwei schrumpeligen Winteräpfeln und einem vertrockneten Stück Käse.
»Was meinst du?«, erwiderte ihre Mutter auf Viktorias Frage. Falls tatsächlich jemand im Schatten herumschlich, der sie bestehlen wollte oder noch Schlimmeres im Schilde führte, würde Claire sich nicht wehren, so viel stand fest. Sie war nicht bereit zu kämpfen. Nicht ums Leben und nicht ums Überleben. Es hatte Tage gegeben, an denen Viktoria nicht gewagt hatte, ihre Mutter aus den Augen zu lassen, aus Angst, sie könnte sich etwas antun.
Mit bebenden Fingern umklammerte Viktoria den Messergriff und sah zu ihrer Schwester hinüber, die auf Claires anderer Seite lag. Wenn Mabelle erst einmal schlief, war sie nur durch heftiges Rütteln und lautes Rufen wachzubekommen. Vorerst hielt Viktoria es jedoch für klüger, sich ruhig zu verhalten.
Ein erneutes Knacken ließ sie zusammenfahren. Mit einem Ruck setzte sie sich ganz auf – gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie ein Mann unter den Bäumen hervor ins Mondlicht trat und auf sie zukam. Sie sprang auf und schrie los – rief irgendwelche zusammenhanglosen Worte, während sie wie wild mit dem Messer herumfuchtelte.
Tatsächlich blieb der Mann wenige Schritte vor ihr stehen und sagte irgendetwas, das sie in ihrer Panik nicht verstand. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Mabelle sich vom Boden hochrappelte und auch ihre Mutter aufstand.
»Gehen Sie weg, ich bin bewaffnet«, schrie Viktoria mit sich überschlagender Stimme den Mann an, der sich weitere zwei oder drei weitere Schritte genähert hatte. Jetzt erkannte sie, dass er eine zerlumpte Wehrmachtsuniform und eine Schirmmütze trug. Offenbar war er ein deutscher Soldat, was sie allerdings auch nicht sonderlich beruhigte. Sie hatte schon furchtbare Dinge über Frauen gehört, die Kriegsheimkehrern in die Hände gefallen waren. Diese Männer waren nicht nur ausgehungert nach Nahrung – viele von ihnen hatten auch schon lange keine Frau mehr gehabt.
»Sachte, sachte.« Er hob beschwichtigend beide Hände und kam weiter auf sie zu.
»Stehenbleiben«, kreischte Viktoria.
»Hauen Sie ab«, hörte sie gleichzeitig ihre Schwester rufen. In Mabelles Stimme schwang so viel Angst mit, dass sich Viktorias Magen zusammenkrampfte.
»Mama«, fügte Mabelle flehend hinzu, und automatisch schaute auch Viktoria ihre Mutter an.
»Bitte tun Sie meinen Töchtern nichts«, flüsterte Claire, die immer noch mit hängenden Armen dastand.
In diesem Moment wurde Viktoria endgültig klar, dass sie diejenige war, die die Verantwortung für die kleine Familie trug. Mabelle verhielt sich mit ihren knapp sechzehn Jahren in manchen Momenten noch wie ein Kind, das sich hinter den Erwachsenen versteckte. Auch jetzt war sie einen Schritt zurückgewichen.
Und ihre Mutter …
Der Soldat stand unbewegt da und starrte die drei Frauen an. Ab und zu schien er einen prüfenden Blick auf den Handkarren zu werfen. Und war da nicht auch Begehren in seinen Augen, besonders, wenn er Mabelle ansah?
»Sie! Gehen! Weg! Sofort!«, schrie Viktoria den Mann an. »Wenn Sie nicht auf der Stelle verschwinden …«
Er glitt so schnell durch die silbergraue Dunkelheit auf sie zu, dass sie die Bewegung kaum wahrnahm. Plötzlich stand er vor ihr und packte sie beim Arm.
»Hören Sie auf, so herumzubrüllen«, fuhr er sie an. »Wenn hier in der Nähe eine amerikanische Patrouille unterwegs ist, werde ich festgenommen, obwohl ich nichts getan habe.«
»Ich denke nicht dran, leise zu sein.« Sie funkelte ihn wütend an und erschrak, als sie aus der Nähe in seine Augen sah. Die Traurigkeit im Dunkel seiner Iris traf sie wie ein Schlag in die Magengrube. Es war, als könnte sie in seinem fiebrigen Blick für eine Sekunde wahrnehmen, was er an der Front erlebt hatte. Schlimme Dinge, die einen Menschen für immer verändern mussten. Entsetzliche Gräuel, die aus ganz normalen Männern Monster machen konnten, die sich mit Gewalt nahmen, was sie wollten und außer dem eigenen Schmerz nichts mehr fühlten.
»Ich will doch nur …«
Durch den Ärmel ihres dünnen Pullovers spürte sie die Hitze seiner Finger wie kleine Flammen auf der Haut. Mit einem energischen Ruck befreite sie sich aus seinem Griff, verwundert, wie leicht er sie losließ. Als hätte er nicht genug Kraft, sie gegen ihren Willen festzuhalten.
Entschlossen fuhr sie mit dem Messer durch die Luft. Die Klinge blitzte im schwachen Mondschein. Der Soldat zuckte zurück und presste sich die Hand an den Kopf. Als er sie wieder sinken ließ, sah sie einen dünnen roten Strich auf seiner Stirn, den sie offenbar mit der Spitze ihres Messers gezogen hatte. Er reichte von der linken Schläfe bis zur Nasenwurzel.
Der Soldat wich zurück, und Viktoria atmete auf. Dennoch umklammerte sie ihr Messer noch fester. Bisher hatte sie nicht gewusst, ob sie tatsächlich in der Lage sein würde, sich damit zu verteidigen. Doch sie konnte es. Und in diesem Moment wusste sie, dass sie den Mann, wenn es sein musste, auch noch schwerer verletzen würde. Sie würde sich und ihre Familie verteidigen. Warum ging er nicht? Was wollte er von ihnen? Sie hatten nichts, was sie ihm hätten geben können – bis auf einen Happen Essen vielleicht, den sie anschließend schmerzlich vermissen würden. Und aus irgendeinem Grund glaubte sie nicht, dass er mit einem schrumpeligen Apfel oder einem Stück Brot zufrieden gewesen wäre.
Wieder musste sie an die schrecklichen Geschichten über Frauen denken, die von Soldaten vergewaltigt und halb totgeschlagen worden waren. Das waren nicht nur russische oder andere Soldaten der Siegermächte gewesen, sondern auch deutsche Heimkehrer, die sich nach langen Monaten in Todesgefahr wie Tiere verhalten hatten.
»Weg jetzt, verdammt noch mal!«, schrie sie, so laut sie konnte. Denn sie wusste nun, dass der Mann Angst davor hatte, möglicherweise die Aufmerksamkeit in der Nähe kampierender Besatzungssoldaten zu erregen. Und sie fluchte aus tiefstem Herzen, weil es ihr irgendwie Erleichterung verschaffte. Früher wäre ihre Mutter zusammengezuckt und hätte sie heftig getadelt. Aber in diesem Moment wusste sie nicht einmal, ob Claire es bemerkte, wenn sie sich undamenhaft verhielt. Dies war keine Zeit, in der Damen es weit brachten. Wer überleben wollte, musste seine eigenen Regeln aufstellen.
Der Soldat zögerte noch. Er stand jetzt so weit von ihr entfernt, dass sie ihn mit ihrem Messer nur erreichen konnte, wenn sie auf ihn zuging. Doch Mabelle klammerte sich an ihr fest, und sie hätte sie erst abschütteln müssen. Außerdem wollte sie den Mann nicht noch mehr verletzen. Sie wollte einfach nur, dass er fortging und sie in Ruhe ließ.
Obwohl sie seit drei Tagen unterwegs waren, war dies ihre erste wirklich angsteinflößende Begegnung. Sie hatte gehofft, dass so etwas nicht passieren würde, aber sie war bereit, den Kampf aufzunehmen.
Über die kurze Entfernung traf sie erneut sein Blick. Für eine Sekunde hatte sie Mitleid mit ihm. Er wirkte schrecklich einsam und traurig, aber auch entschlossen. Dennoch – was auch immer er wollte, sie war nicht bereit, es ihm zu geben.
»Tut mir leid.« Seine leisen Worte wehten mit dem Nachtwind durchs flüsternde Laub der Bäume, und es dauerte eine Weile, bis sie verstand, was er gesagt hatte. Dann war er fort.
Viktoria starrte noch ein paar Sekunden auf die Stelle, wo er gestanden hatte, bevor sie die Hand mit dem Messer sinken ließ.
»Ist er weg?«, fragte Mabelle ängstlich und löste zögernd die Finger aus Viktorias Pullover.
»Ich hoffe es.« Viktoria schaute aufmerksam in den Schatten unter den Bäumen – dort rührte sich nichts.
»Vielleicht wollte er nur etwas zu essen«, sagte Claire nach einer Weile, in der sie ratlos herumgestanden hatten.
»Wir haben selbst kaum etwas.« Plötzlich hatte Viktoria ein schlechtes Gewissen. Sie musste an ihren Bruder denken. Richard wurde vermisst, doch sie hofften immer noch, dass er in Kriegsgefangenschaft geraten war und sich eines Tages melden oder unverhofft vor der Tür stehen würde. Falls er zu Fuß unterwegs wäre, hoffte sie, dass jemand für ihn da sein würde, wenn er um Hilfe bat. Aber dieser Mann hat sich im Dunkeln angeschlichen, dachte Viktoria. Er hatte ihnen Angst gemacht, und deshalb hatte sie keine andere Möglichkeit gehabt, als ihn zu vertreiben.
Sie seufzte. »Wir sollten versuchen, noch ein bisschen zu schlafen.« Natürlich würde sie kein Auge zutun, solange sie nicht sicher war, dass der Soldat tatsächlich das Weite gesucht hatte.
Vielleicht war er wirklich ein harmloser, freundlicher Mann gewesen. Jemand, der wie sie zu Fuß auf dem Heimweg war, und dem es noch sehr viel schlechter ging als ihnen. Auf dem Bauernhof, wo sie die vergangenen Monate verbracht hatten, waren sie immerhin einigermaßen satt geworden. Und auch während ihres Fußmarsches hatten sie bisher wenigstens etwas zu essen gehabt, auch wenn sie sich jeden Bissen einteilen mussten.
Wenn sie dem Mann ein wenig von ihrem Proviant gegeben hätten, hätte er ihnen wahrscheinlich alles weggenommen – falls er nicht doch Schlimmeres im Schilde geführt hatte.
Viktoria konnte hören, dass Mabelle immer noch viel zu schnell atmete. Ihre kleine Schwester musste große Angst gehabt haben. Es war gut, dass sie den Mann vertrieben hatte. In Zeiten wie diesen konnte jedes Zögern lebensgefährlich sein. Und sie war nicht nur für sich selbst verantwortlich, sondern auch für Mabelle und ihre Mutter.
Nachdem sie alle drei noch ein oder zwei Minuten dagestanden und in die Nacht gelauscht hatten, stieß Claire einen leisen Seufzer aus. Dann legte sie sich wieder auf den Boden, wickelte sich in ihre Decke und rührte sich nicht mehr.
»Schlaf noch ein bisschen«, sagte Viktoria zu Mabelle. »In zwei Stunden wird es hell, dann gehen wir weiter.«
Ihre jüngere Schwester legte sich folgsam hin und zog sich die Decke fast bis zu den Ohren hinauf, sodass nur noch ihre blonden Haare im Mondlicht golden schimmerten.
Viktoria setzte sich auf den Boden und lehnte sich mit dem Rücken an den Stamm der Eiche. Den Rest der Nacht wachte sie über ihre Mutter und ihre Schwester, die nach einer Weile wieder tief schliefen, wie sie an ihren regelmäßigen Atemzügen erkannte.
Der Soldat tauchte nicht wieder auf.
*
Am Morgen fing es an zu regnen, und weil sie weder Regenmäntel noch Schirme besaßen, waren sie innerhalb kurzer Zeit bis auf die Haut durchnässt. Zum Glück war es nicht sonderlich kalt. Dennoch froren sie, und Mabelle klapperte hörbar mit den Zähnen, während sie mit müden Schritten die Landstraße in Richtung Starnberg entlanggingen.
Claire war wieder in Schweigen versunken. Niemand wusste, wo sie mit ihren Gedanken war, wenn sie mit ausdruckslosem Blick wie eine an unsichtbaren Fäden gezogene Marionette vor sich hin trottete. Vielleicht erinnerte sie sich an ihre glückliche Vergangenheit, vielleicht sah sie aber auch nur eine leere, düstere Zukunft vor sich.
Je weiter sie sich dem Starnberger See und damit auch München näherten, umso belebter wurde die Landstraße. Neben Flüchtlingen aus dem Osten Deutschlands schleppten sich hauptsächlich kleine Gruppen von Soldaten durch den Regen. Sie waren nach den letzten Kämpfen des Krieges der Gefangennahme durch die Sieger entgangen, und Viktoria wusste, dass viele von ihnen sich seit Wochen auf dem Heimweg befanden.
Manche von ihnen warfen den drei Frauen, vor allem aber dem kleinen Leiterwagen begehrliche Blicke zu. Viktoria hatte festgestellt, dass es wirkungsvoller war, den Männern entschlossen in die Augen zu sehen, als mit gesenktem Blick an ihnen vorbeizugehen und zu versuchen, sich unsichtbar zu machen. Wenn sie die Soldaten in ihren zerschlissenen Uniformen mit erhobenem Kopf anschaute, wagten sie sich deutlich seltener an die kleine Gruppe heran, um nach etwas Essbarem zu fragen oder auf unbeholfene Weise zu versuchen, mit den Frauen anzubändeln.
Die beiden Äpfel hatten sich die drei zum Frühstück geteilt, und das bisschen Proviant, das jetzt noch übrig war, würde auch für sie selbst kaum bis nach Hause reichen. Dennoch gab Viktoria einem jungen und besonders mageren Soldaten einen Brotkanten und ein winziges Stück von dem trockenen Käse. Mit seinen dunklen Haaren und den blauen Augen erinnerte er sie so sehr an Richard, dass sie einfach nicht anders konnte. Vor allem, weil sie sich wünschte, ihr Bruder würde ebenfalls Menschen finden, die ihm halfen.
»Ich kann nicht mehr«, klagte Mabelle, als sie fünf Stunden ohne Pause gegangen waren. »Meine Schuhe sind ganz schwer von der Nässe, und mir ist furchtbar kalt.«
»Wenn wir uns nicht bewegen, frieren wir noch mehr«, sagte Viktoria und ging ein bisschen schneller. Claire blieb schweigend an ihrer Seite.
»Wir haben noch Kleidung im Wagen und könnten uns umziehen.« Mit dem Handrücken schob Mabelle sich eine feuchte Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie hatte als Einzige der Geschwister die blonden Haare ihres Vaters geerbt, die jedoch im Regen ebenfalls dunkel wirkten.
»Dazu müssten wir einen trockenen Ort finden. Und dann wären unsere Kleider nach kurzer Zeit wieder nass. Lasst uns einfach weitergehen. Wenn wir uns ein bisschen anstrengen, schaffen wir es bis heute Abend nach Rabenfels.«
Viktoria spürte zwar ihre Füße kaum noch, aber sie wusste, dass ihnen das Laufen nach einer Pause noch schwerer fallen würde. Wenn sie keine Scheune oder einen ähnlichen Unterschlupf fanden, war es ohnehin vernünftiger weiterzugehen.
»Was machen wir, wenn die Villa zerstört ist?«
Bisher hatte keine von ihnen diesen Gedanken ausgesprochen, und auch jetzt schüttelte Viktoria heftig den Kopf. »Rabenfels liegt abseits von Bernried und von Starnberg, und München ist mehr als vierzig Kilometer entfernt.«
Das sagte sie nur, um ihnen allen, auch sich selbst, Mut zu machen. Schließlich war ihnen klar, dass das große Haus auf dem Hügel über dem Starnberger See ein unübersehbares Ziel für Bomben darstellte. Hinzu kam, dass die Alliierten während der letzten Kriegsmonate zum area bombing übergegangen waren und auch die ländlichen Gebiete Bayerns angegriffen hatten, um die deutsche Bevölkerung zu zermürben.
Im Oktober 1944 hatte eine Fliegerbombe die Hemdennäherei Haynbach in Schutt und Asche gelegt, die in einem ebenerdigen Gebäude am Stadtrand von Starnberg untergebracht gewesen war. Zum Glück war der Einschlag erst nach Feierabend erfolgt, sodass keine der Näherinnen zu Schaden gekommen war. Das war das vorläufige Ende ihrer erfolgreichen Firma gewesen, in der sie zuletzt auch Bekleidung für die Wehrmacht hatten produzieren müssen.
Claires Mutter Louise, wie ihre Tochter geborene Französin, hatte Deutschland schon 1939, kurz nach Kriegsbeginn, verlassen. Sie war es gewesen, die 1924 gemeinsam mit Claire den Grundstein für die damals höchst erfolgreiche Hemdennäherei Haynbach gelegt hatte. Louise war nach Frankreich zurückgekehrt, weil sie befürchten musste, in ein Internierungslager gebracht zu werden. Dorthin wurden Ausländer geschickt, deren Heimatländer zu den Kriegsgegnern gehörten.
Zunächst war Louise in ihre Heimatstadt Andlau im Elsass zurückgekehrt, wo sie bei einer alten Freundin Unterschlupf gefunden hatte. Als Frankreich jedoch 1940 vor den Deutschen kapitulierte, wurde Elsass-Lothringen – wie schon vor dem Ersten Weltkrieg – sofort wieder unter deutsche Herrschaft gestellt. Ebenso wie zahlreiche ihrer Landsleute, musste Louise Andlau verlassen. Sie ließ sich in einem Städtchen in der unbesetzten Zone Frankreichs nieder und hielt sich dort mit Näharbeiten über Wasser.
Auch Claire hatte zeitweise befürchtet, des Landes verwiesen zu werden, doch ihre Ehe mit Helmut von Haynbach schien sie zu schützen. Als jedoch die französische Résistance in ihrem Kampf um die erneute Unabhängigkeit ihres Vaterlands immer mehr deutsche Soldaten und Offiziere tötete, tuschelte man hinter vorgehaltener Hand über »die Französin«, die hier in Bayern nichts zu suchen habe.
Nachdem Helmut von Haynbach 1944 trotz seiner leichten Gehbehinderung eingezogen worden war und sie nicht mehr beschützen konnte, schlug Claire der blanke Hass entgegen.
Dann traf die Hiobsbotschaft ein, die Claire den Boden unter den Füßen weggezogen hatte. Von einer Minute auf die andere verschwand die tatkräftige Frau mit den strahlenden Augen, die Viktoria durch ihre Kindheit begleitet hatte. Es blieb nur ihre äußere Hülle, die sich wie eine Schlafwandlerin bewegte. Als hätte sie sich tief in ihrem Inneren versteckt und die Tür hinter sich zugeschlagen. Selbst die Fragen des Alltags interessierten Claire nicht mehr. Es schien ihr egal zu sein, ob sie etwas zu essen bekam oder ob eine Bombe ihr Haus traf. Obwohl auch Viktoria trauerte, musste nun sie die Entscheidungen treffen. Und sie hatte entschieden, dass sie alle drei ihr Zuhause verlassen würden. Mithilfe des Familienanwalts fand sie einen Unterschlupf im Allgäu.
Auf dem Bauernhof der Hauslers kannte sie niemand. Claire nannte sich Clara, und niemand kam auf die Idee, sie könnte Französin sein. Zudem war die Wahrscheinlichkeit, dass in dem einsamen Tal, in dem der Hof lag, eine Bombe fallen würde, deutlich geringer als in der dicht besiedelten Gegend um den Starnberger See.
Was dort während der vergangenen Monate geschehen war, wussten sie nicht. Und sie mussten bangen, ob die Villa noch stand.
»Was sollen wir nur tun, wenn wir kein Zuhause mehr haben?«, fragte Mabelle.
Viktoria spürte ihren ängstlichen Blick. »Darüber denken wir nach, wenn die Villa tatsächlich bombardiert wurde. Jetzt glauben wir erst einmal ganz fest daran, dass es Rabenfels noch gibt.«
Claire schwieg, wie fast immer.
Villa Rabenfels, Juni 1945
Nach fast zwölfstündigem Fußmarsch, unterbrochen nur von drei kurzen Pausen unter tropfenden Straßenbäumen, erreichten sie den See. Mittlerweile war es so dunkel, dass man kaum die Hand vor Augen sehen konnte. Es gab keinen Mond und keine Sterne, nur einen tiefschwarzen Himmel, aus dem der Regen mit gleichmäßigem Rauschen auf sie herabfiel.
Claire war so müde, dass sie sich am liebsten am Straßenrand zusammengerollt hätte. Sie wollte einfach nur schlafen und nie wieder aufwachen. Dieses Gefühl verfolgte sie seit Monaten, und an diesem Abend war es besonders stark.
»Könnt ihr sehen, ob es noch da ist? Bitte, bitte, lass unser Haus noch stehen!« Die helle, aufgeregte Stimme ihrer Jüngsten drang durch die Nebel in ihrem Kopf nur langsam in ihr Bewusstsein vor. Sie bemerkte, dass der Weg unter ihren Füßen aufwärts führte, und blieb stehen.
»Komm, Mama. Wir sind gleich da.« Viktoria zog an ihrem Arm, sodass sie sich widerwillig in Bewegung setzen musste.
»Ich kann immer noch nichts erkennen«, jammerte Mabelle. »Wenn es nur nicht so dunkel wäre.«
»Wir sind gleich da«, wiederholte Viktoria, um sie zu beruhigen. »Ich bin nicht sicher, aber das da oben sieht aus wie dunkle Mauern. Wie unser Haus.«
Mabelle stieß einen Jubelschrei aus und stürmte fast im Laufschritt den Hügel hinauf. Woher nur nahm sie nach dem Gewaltmarsch noch die Kraft dazu? Normalerweise mochte es ihre schöne, zarte Jüngste eher bequem. Selbst Spaziergänge bei schönem Wetter durften nicht zu weit sein. Ganz anders als ihre Schwester, die fast den ganzen Tag in Bewegung war und niemals müde zu werden schien. Ohne Viktoria, die sie ständig angetrieben und ermutigt hatte, wären sie jetzt wahrscheinlich nicht einmal in der Nähe des Sees. Was sie selbst anging, hätte sie sich ohne Viktorias Drängen nicht einmal aufraffen können, den Bauernhof zu verlassen, der ihnen während der vergangenen Monate Unterschlupf geboten hatte.
Während ihre beiden Töchter vor ihr durch die Dunkelheit eilten, blieb Claire ein weiteres Mal stehen. Bis jetzt war die Rückkehr in die Villa Rabenfels nur eine vage Vorstellung für sie gewesen. Zwischen ihr und ihrem Zuhause hatte sich ein tagelanger Fußmarsch erstreckt. Und dann war da noch die Möglichkeit gewesen, dass die Villa nicht mehr stand. Doch nun erkannte auch sie die Mauern oben auf dem Hügel, und von dem Moment, in dem sie die vertraute Eingangshalle betreten würde, trennten sie nur noch Minuten. Ihre Kehle wurde eng, und sie bekam kaum noch Luft.
»Mama?«, rief Mabelle durch die Dunkelheit. »Hast du den Schlüssel für die Vordertür?«
Sie öffnete den Mund, um zu erklären, dass sie keine Ahnung hatte, wo der Schlüssel war, brachte aber keinen Ton hervor.
»Ich habe den Ring mit allen Schlüsseln.« Das war die gut organisierte Viktoria, die zur Unterstreichung ihrer Worte den Schlüsselbund klirren ließ.
Vor sich am Rande der Auffahrt erkannte Claire in der Nähe der Hainbuchenhecke die Bank, auf der sie so oft mit Helmut gesessen hatte, wenn sie von ihrem Abendspaziergang zurückgekehrt waren. Im Sommer hatten sie von hier aus den Sonnenuntergang bewundert, im Winter die funkelnden Sterne über dem See.
Mit einem unterdrückten Schluchzen ließ sich Claire auf die Bank sinken. Es spielte keine Rolle, dass der Regen über das lackierte Holz perlte. Ihre Kleidung war ohnehin schwer vom Wasser und ihre Haut eiskalt und feucht. Wäre es nicht so gewesen, hätte es sie auch nicht interessiert.
Nie wieder, dröhnte es in ihrem Kopf. Nie wieder werde ich ihn sehen, mit ihm reden, ihn berühren. Mit klammen Fingern streichelte sie den leeren Platz an ihrer Seite. Sie konnte nicht weinen, hatte es von jenem schrecklichen Augenblick an nicht gekonnt, in dem sich die Angst, die sie seit Wochen gelähmt hatte, in eine tonnenschwere Traurigkeit verwandelt hatte. In eine nachtschwarze Trauer, die auf ihren Schultern und ihrer Brust lastete wie ein Felsen.
»Ich weiß, es ist nicht richtig, doch jetzt wünsche ich mir fast, du hättest es damals nicht aus dem Rollstuhl geschafft«, hatte sie unter Tränen gesagt, nachdem der Einberufungsbefehl gekommen war, von dem sie so sehr gehofft hatte, er würde ausbleiben.
Schließlich hatte Helmut beim Gehen ein Bein nachgezogen. Eine Spätfolge jenes schweren Unfalls mit seinem ersten Automobil, dem Steyr. Damals war er viel zu schnell die gewundene Straße entlanggerast, um bei der Geburt ihres ersten Kindes an ihrer Seite zu sein.
Richard war zur Welt gekommen, und sein Vater hatte ihn erst mehr als zwei Wochen später begrüßen können. So lange hatte Helmut nach dem Unfall im Koma gelegen. Als sich nach seinem Erwachen herausgestellt hatte, dass er seine Beine nicht bewegen konnte, war für ihn eine Welt zusammengebrochen. Er war für mehrere Monate aus Claires Leben verschwunden und erst zurückgekehrt, als er begriffen hatte, dass auch ein Mann im Rollstuhl seine Frau und sein Kind unterstützen und beschützen konnte.
Durch ungeheure Willensanstrengung und jahrelange Heilgymnastik hatte er es schließlich geschafft, zunächst an Krücken und später sogar ohne Stock zu laufen. Nur jenes leichte Hinken war ihm als Erinnerung geblieben. Eine Behinderung, die bei Ausbruch des Krieges zunächst seine Einberufung verhindert hatte. Richard, ihr Ältester und einziger Sohn, war bereits im Frühjahr 1941, kurz nach seinem achtzehnten Geburtstag, eingezogen worden. Claire hatte genügend Zeit gehabt, sich auf diesen schweren Tag vorzubereiten. Aus irgendeinem Grund schaffte sie es, sich einzureden, dass Richard unversehrt nach Hause zurückkehren würde. Er war jung und stark, klug und mutig – es würde ihm gelingen, den Krieg zu überleben.
Und dann, Jahre später, als die Ostfront wie ein gefräßiges Monster zigtausende Soldaten in den Tod riss, wurden alle Männer eingezogen, die zwei Beine und zwei Arme besaßen, die sie irgendwie benutzen konnten. Helmut erhielt den gefürchteten Brief im Sommer 1944.
Im Nachhinein schien es Claire, als hätte sie schon in jenem Moment, in dem sie Helmut am Zug zum Abschied geküsst hatte, gewusst, dass es der letzte Kuss sein würde.
Von jenem Augenblick an hatte sie stündlich auf die Hiobsbotschaft gewartet. Sie fuhr jedes Mal zusammen, wenn es an der Tür läutete, und wenn sie vom Fenster aus sah, wie der Postbote auf seinem Fahrrad den Hügel zur Villa hinauffuhr, begann ihr Herz zu rasen. Selbst das Klingeln des Telefons versetzte sie in Panik, obwohl sie wusste, dass die wirklich schlimmen Mitteilungen niemals fernmündlich gemacht wurden.
Als es schließlich geschah, traf es sie in einem der wenigen Augenblicke, in denen sie nicht damit rechnete. Sie war im Park hinter der Villa damit beschäftigt, Astern zu schneiden und zu dicken Sträußen für die Halle und das Speisezimmer zu binden. Zunächst hatte sie nach Helmuts Abreise die Gewohnheit aufgegeben, vom Frühling bis in den Herbst jeden Samstag und Mittwoch frische Blumen ins Haus zu holen. Es erschien ihr sinnlos, weil er die bunten Blüten nicht sehen konnte. Viktoria übernahm daraufhin stillschweigend die Aufgabe, das Haus mit Blumen zu schmücken.
»Wir dürfen nicht im Trübsinn versinken«, erklärte sie mit fester Stimme, als Claire ihr dabei zusah, wie sie in die Mitte eines großen Margeritenstraußes eine einzelne rote Rose schob. »Alles soll so sein wie immer. Stell dir vor, Papa oder Richard kommen auf Heimaturlaub, und wir sitzen abends ohne Blumen und Kerzen bei Tisch.«
Daraufhin hatte Claire genickt, ihr die Blumenschere aus der Hand genommen und die übrigen Bouquets selbst zusammengestellt. Seltsamerweise war die Zeit, die sie jede Woche mit dem Schneiden und Arrangieren der Blumen verbrachte, von diesem Tag an eine Atempause für sie. In diesen Minuten gelang es ihr, sich vorzustellen, dass sich die Tür öffnete, Helmut ins Zimmer trat und die schönen Sträuße bewunderte.
Selbst als an jenem strahlenden Septembertag der NSDAP-Ortsgruppenleiter in Begleitung seines Sekretärs die Terrasse überquerte und die Stufen hinunter in den Park nahm, dauerte es einige Momente, bis die Kälte von ihren Füßen aufstieg. Sekunden später presste eine eisige Faust ihr Herz zusammen, und ihr stockte der Atem.
Leonore, die die Gäste zu ihr geführt hatte, war mit wenigen Schritten an ihrer Seite und stützte sie. Seit der Einberufung des Butlers war sie für das Öffnen der Tür und das Bedienen bei Tisch zuständig. Zunächst hatten sie versucht, Lohmann zurückzuholen, der vor einigen Jahren in Rente gegangen war, doch er lebte inzwischen bei seiner Tochter in Frankfurt. Ohnehin hatte Claire es von Anfang an recht angenehm gefunden, statt des steifen Butlers die junge, umsichtige Frau in ihrer Nähe zu haben. Doch an diesem Tag spielte auch das keine Rolle. Claire war innerlich wie erstarrt, während sie die Hand an ihrem Arm spürte, die sie zum Pavillon führte. Dort sank sie stumm auf den Stuhl, den jemand ihr von hinten gegen die Kniekehlen schob.
Sie legte den Kopf in den Nacken und blinzelte gegen die tief stehende Herbstsonne. Der Ortsgruppenführer schlug die Hacken zusammen und grüßte militärisch. Für die Überbringung von Todesnachrichten hatte Hitler persönlich schon vor Jahren genaue Anweisungen erteilt. Sie mussten von Amtsträgern der Partei übermittelt werden. Claire hatte davon in der Zeitung gelesen, aber sie war nicht sicher gewesen, ob man sich in jedem Fall daran hielt. Zudem war sie geborene Französin und wenn sie dem Ortsgruppenführer im Dorf begegnete, übersah er sie geflissentlich.
»Wer?«, brachte sie mühsam heraus und presste die Lippen zusammen, um ihre Zähne daran zu hindern, klappernd aufeinanderzuschlagen.
»Mein herzliches Beileid, Frau von Haynbach«, begann der Mann in der grauen Uniform.
Claire starrte die rote Armbinde mit dem Hakenkreuz darauf an. Sie wollte schreien, wollte sich die Ohren zuhalten. Und gleichzeitig wollte sie endlich wissen, ob es ihr Mann oder ihr Sohn war, den sie nie wiedersehen würde. Sie musste es hinter sich bringen, damit der feiste Kerl und sein Sekretär, der so klein und schmal war, dass er in Gegenwart seines Vorgesetzten kaum auffiel, endlich gingen.
»Leider habe ich die traurige Pflicht, Sie vom Heldentod Ihres Mannes in Kenntnis zu setzen«, begann der Ortsgruppenleiter mit einer Rede, die er offensichtlich nicht zum ersten Mal hielt. Der Rest seiner Worte ging in dem lauten Schrei unter, den Claire ausstieß.
Der Schmerz wäre ebenso scharf, ebenso unerträglich gewesen, hätte man ihr vom Tod ihres Sohnes berichtet. Doch weil diese Mitteilung eine Bestätigung dessen war, was sie erwartet hatte, erschien ihr die grausame Wahrheit seltsamerweise besonders schrecklich. War es ihre Schuld, dass Helmut nicht zurückkam? Hatte sie wegen seines Alters und seiner Behinderung nicht genug Hoffnung gehabt? Hatte er gespürt, dass sie ihm ein Überleben an der Front nicht zutraute?
Von der im näselnden Tonfall vorgetragenen Rede des Ortsgruppenleiters drangen nur einzelne Worte zu ihr durch. Von Pflichterfüllung für Führer und Volk war die Rede. Und davon, dass Helmut bei einem wichtigen Einsatz mit seiner Kompanie mutig vorangegangen sei und ein Granatsplitter sein Leben beendet habe.
»Ein schneller Tod«, schnarrte der Uniformierte, und sie wusste, dass er das nur sagte, um sie zu trösten. Als hätte es einen Trost geben können. Denn auch das wusste sie: Keiner Mutter und keiner Ehefrau eines Gefallenen wurde jemals von einem langen, qualvollen Tod berichtet. Alle Gefallenen waren angeblich mutig im Einsatz vorangegangen und rasch, fast schmerzlos gestorben.
Wochen später öffnete sie den Brief, den der Sekretär ihr überreicht hatte. Sie stellte fest, dass fast dieselben Worte, die der Ortsgruppenleiter salbungsvoll gesprochen hatte, auch in dem Schreiben zu lesen waren. Doch das alles interessierte sie nicht. Nur das Bild, das dem Schreiben beilag, starrte sie stundenlang an. Es zeigte einige Soldaten und Offiziere in langen Mänteln. Laut Notiz auf der Rückseite handelte es sich um eine Fotografie von Helmuts Bestattung in Russland, die zum Trost seiner Hinterbliebenen von seiner Einheit übersandt worden war.
Den Namen des Ortes, wo er begraben lag, hatte sie noch nie gehört. Sie sehnte sich danach, die Erde zu berühren, die seinen toten Körper bedeckte. Aber so, wie sie sich seit der Todesnachricht fühlte, ging allein der Gedanke daran, irgendwann nach Russland zu reisen, über ihre Kräfte.
Als sie nun auf die Villa Rabenfels blickte, war sie vor Trauer wie gelähmt. Wie oft hatte sie Helmut in der Tür des Hauses, in dem sie über zwanzig Jahre glücklich miteinander gelebt hatten, zur Begrüßung oder zum Abschied geküsst? Wie oft waren sie von dort aus gemeinsam ins Speisezimmer gegangen, um im Kreise ihrer Familie zu essen, zu reden und zu lachen? Wie oft hatte Helmut abends im Salon, nachdem sie ein Glas Wein vor dem Kamin getrunken hatten, ihre Hand genommen und sie ins Schlafzimmer geführt?
Natürlich durfte sie es nicht sagen und nicht einmal denken, aber insgeheim hatte sie gehofft, das Haus würde nicht mehr stehen. Wenn ihr ehemals so glückliches Zuhause nur noch ein Haufen Schutt wäre, hätte es zu ihrem Leben gepasst, das mit Helmuts Tod wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen war.
»Mama? Wo bleibst du denn?«
Viktorias Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Sie kniff die Augen gegen den Regen zusammen, der über ihr Gesicht rann, und spähte hügelaufwärts. Das Haus, das sie sich zu betreten fürchtete, war von hier aus nur als riesige dunkle Masse ohne feste Konturen zu erkennen.
»Ich …« Ich komme, wollte sie rufen, aber ihre Stimme war ebenso schwach und müde, wie sie sich fühlte. Sie konnte nicht aufstehen und zu ihren Töchtern gehen, die sich so sehr freuten, dass ihr Zuhause noch da war. Und doch musste sie es tun. Sie durfte nicht aufgeben. Die Mädchen hatten zu viel durchgemacht, zu viel erlitten, um noch einen Verlust zu verkraften. Und Richard … Vielleicht kam er bald wieder. Oder er war sogar schon da.
Als vor ihr in der Dunkelheit Mabelle auftauchte, riss sie sich zusammen und stand auf.
»Ist alles in Ordnung, Mama?« Ängstlich sah ihre Jüngste sie an.
Sie nickte und ließ zu, dass Mabelle sie unterhakte und mit sich zog. Claire setzte einen Fuß vor den anderen und sah dabei zur Seite, um das Haus, in dem sie einmal glücklich gewesen war, nicht bedrohlich vor sich aufragen zu sehen.
Viktoria stand vor der Eingangstür und hielt den Schlüssel in der Hand. Den Handwagen hatten die Schwestern schon gemeinsam die Treppe hinaufgetragen. Claire erkannte seine Umrisse neben Viktoria auf der breiten obersten Stufe. »Ich wollte nicht allein reingehen. Es ist ein großer Moment für uns alle drei. Der Krieg ist zu Ende, und wir kehren nach Hause zurück.« Sie stockte. »Wenn auch, natürlich … Aber vielleicht sehen wir Richard bald wieder. Eine Vermisstenmeldung heißt nichts. Und weil sie erst so kurz vor Kriegsende gekommen ist, wurde er wahrscheinlich gefangen genommen. Das heißt zumindest, er ist nicht gefallen.«
Natürlich waren Viktorias Worte wie das Pfeifen im Walde. Gerade während der letzten Kriegsmonate waren Abertausende von Männern an der Front gestorben. Claire schluckte krampfhaft. Nicht er auch noch. Doch seltsamerweise war ihre Angst nicht mehr so überwältigend wie früher, als sie noch um zwei Menschen bangen musste. Als würde auch dafür ihre Kraft nicht mehr reichen.
Sie hörte, wie Viktoria den Schlüssel im Schloss drehte, dann öffnete sich die Tür mit einem lauten Knarren.
»Die Tür war gar nicht richtig zu«, stellte Viktoria verwundert fest. »Kann sein, dass sie aufgebrochen wurde. Ich habe gehört, dass die Besatzungssoldaten leere Häuser durchsucht haben. Aber immerhin scheinen sie das Haus nicht besetzt zu haben. Sonst würden wir etwas hören, und es wäre Licht zu sehen.«
»Vielleicht haben wir einfach nur nicht richtig abgeschlossen, als wir gegangen sind«, mutmaßte Mabelle unbekümmert.
Während ihre Töchter in die Dunkelheit traten, die noch schwärzer war als die mondlose Nacht, tastete Claire mit der Fußspitze vorsichtig nach der Schwelle.
Der Lichtschalter neben der Tür klickte, aber es wurde nicht hell.
»Stromsperre?« Selbst die Aussicht, sich auf der Suche nach Kerzen und Streichhölzern durchs finstere Haus zu tasten, schien Viktoria nicht weiter zu stören.
Machte der Gedanke ihr gar keine Angst, dass die Familie fortan ohne Vater würde zurechtkommen müssen? Wovon sollten sie leben, nun, da es keine Näherei mehr gab? Helmut hätte einen Ausweg gewusst, er hätte ihr Mut gemacht und ihr gesagt, was sie tun sollte. Vielleicht hätte sie sogar selbst Ideen gehabt, wie sie von vorn anfangen konnten, wenn er an ihrer Seite gewesen wäre. Doch er war fort. Für immer.
»Auf dem Schränkchen rechts von der Treppe«, rief Viktoria ins Dunkel der Eingangshalle, wo Mabelle herumtappte. »Der dreiarmige Leuchter. Streichhölzer liegen in der obersten Schublade.«
Im selben Augenblick hob Claire den Kopf und sah einen schwachen, flackernden Lichtschein in einem der Flure, die von der Galerie im ersten Stock abgingen, zu der die Treppe hinaufführte.
Jemand bewegte sich dort oben mit einer Kerze in der Hand den Gang entlang.
»Richard?«, rief sie und wunderte sich, dass ihre Stimme plötzlich kräftig und klar war.
Das Licht erlosch. Es kam keine Antwort.
Villa Rabenfels, Juni 1945
Erschrocken fuhr Viktoria zusammen, als ihre Mutter direkt hinter ihr den Namen ihres Bruders rief. Bildete sie sich in ihrer Sorge um Richard ein, ihn im Dunkeln zu sehen?
Viktoria wusste, dass Claire auf einem schmalen Grat balancierte, wenn es darum ging, ihren Verstand zu bewahren und irgendwie weiterzumachen. Sie hatte auch bemerkt, wie schwer es ihrer Mutter fiel, nach Hause zurückzukehren – wohl, weil sie hier so viele glückliche Jahre mit ihrem Mann verbracht hatte. Im Grunde wollte Claire ohne Helmut nicht leben. Viktoria wusste, dass ihre Mutter sie und ihre beiden Geschwister von Herzen liebte. Doch ihre Liebe zu Helmut, die sie gegen so viele Widerstände errungen und all die Jahre bewahrt hatte, war durch nichts zu ersetzen.
Viktoria versuchte vergeblich, im Dunkeln den Gesichtsausdruck ihrer Mutter zu erkennen. »Was ist denn, Mama? Hier ist niemand. Oder hast du etwas gesehen?«
»Ein Licht«, stieß Claire atemlos hervor. »Oben, bei den Schlafzimmern.«
»Hast du das auch gesehen, Mabelle?«, rief Viktoria in die Dunkelheit der Halle, in der ihre Schwester noch immer auf der Suche nach dem Kerzenleuchter herumtappte.
»Nein. Wie soll ich das, im Dunkeln?« Mabelle schien sich nichts weiter daraus zu machen, dass ihre Mutter plötzlich nach Richard rief. »Aber gleich hab ich‘s.«
Viktoria hörte das Zischen eines Streichholzes und sah kurz darauf Mabelles Gesicht im flackernden Licht. Wenig später brannten auf dem niedrigen Schrank drei Kerzen.
»Macht die Tür zu, sonst gehen sie wieder aus.« Mabelle trug den silbernen Leuchter stolz vor sich her durch den großen Raum.
Nachdem sie den Handkarren über die Schwelle gezerrt hatte, schob Viktoria mit dem Absatz die Haustür hinter sich zu. Im unruhigen goldgelben Schein erkannte sie die vertrauten Möbel, die schweren Bilderrahmen an den Wänden und die geschwungene Treppe nach oben. Das Licht reichte nur die unteren Stufen hinauf. Doch als sie ihren Blick weiter nach oben wandern ließ, meinte sie, am Geländer der Galerie schemenhaft eine Gestalt wahrzunehmen. Sie lief zu Mabelle, riss ihr den Leuchter aus der Hand und streckte ihren Arm weit in die Höhe, um dort oben etwas zu erkennen. Der Raum war jedoch zu hoch und das Kerzenlicht zu schwach. Vielleicht bildete sie sich auch nur etwas ein, so wie ihre Mutter meinte, Richard gesehen zu haben.
Viktoria atmete tief durch und stieg langsam die Treppe hinauf, den Leuchter immer noch über ihrem Kopf haltend. War das eine Bewegung am Geländer gewesen? Ein Huschen durch die Dunkelheit?
Viktoria wurde schneller, lief die restlichen Stufen so rasch hinauf, dass eine der Kerzen erlosch. Als sie oben war, erkannte sie endlich, wer dort stand. Bleich und zitternd, mit gesenktem Kopf, in abgetragener Kleidung.
»Leonore«, sagte Viktoria erleichtert und ließ den Leuchter sinken, während sie weiter auf ihr ehemaliges Stubenmädchen zuging.
»Ich … wusste nicht wohin. Mein Vater ist gefallen, die Wohnung meiner Eltern ist ausgebombt, und bei meiner Tante, wo meine Mutter jetzt wohnt, ist kein Platz mehr für mich. Sie schlafen schon zu dritt in einem Bett. Ich bin hergekommen, und die Tür war aufgebrochen. Das machen die Amerikaner, um die Häuser nach versteckten Nazis zu durchsuchen. Ich habe nichts kaputtgemacht und nichts genommen. Bis auf ein oder zwei Gemüsekonserven … Natürlich gehe ich …«
»Es ist alles in Ordnung, Leonore«, unterbrach Viktoria das Gestammel ihrer ehemaligen Angestellten. »Das hier war doch auch mal Ihr Zuhause. Wir schicken Sie nicht fort, auch wenn wir natürlich vorerst kein Personal brauchen werden. Aber hier ist sicher mehr Platz als bei Ihrer Tante.«
»Danke. Vielen Dank.«
Hilflos sah Viktoria zu, wie die Tränen über das blasse Gesicht liefen. Selbst während der schweren Kriegsjahre hatte Leonore meistens ein Lächeln auf den Lippen gehabt, und auf dem schwarzen Kleid, das sie unter ihrer kleinen weißen Schürze getragen hatte, war nie ein Stäubchen zu sehen gewesen. Jetzt wirkte sie verhärmt und abgerissen. Selbst im flackernden Kerzenlicht konnte Viktoria erkennen, dass der Saum des grauen Kleides ausgefranst war und vorn ein Knopf fehlte.
Leonore hatte ihren Vater und ihr Zuhause verloren. Und war da nicht auch ein Verlobter gewesen? Sie würde sie nicht fragen. Jedenfalls nicht jetzt.
»Kommen Sie«, forderte sie das ehemalige Stubenmädchen auf. »Wir gehen alle zusammen in die Küche und machen uns etwas zu essen. Sie kennen sich sicher besser aus als wir.«
Leonore hörte auf zu schluchzen, wischte sich mit dem Handrücken die Wangen trocken und zögerte. »Ich hab keinen Hunger. Außerdem ist es nicht richtig … Mein Platz ist nicht am Familientisch.«
»Das ist nicht Ihr Ernst!« Das Lachen fühlte sich in Viktorias Kehle ungewohnt an. Sie würde erst wieder lernen müssen, fröhlich zu sein. Wobei Leonores Bemerkung sie eher unsicher machte als heiter stimmte. Denn in diesem Moment spürte sie, wie sehr die Welt sich geändert hatte. Es war wirklich lachhaft, in einer Zeit, in der auch die Familie von Haynbach kaum wusste, woher sie die nächste Mahlzeit nehmen sollte, auf den Schranken zwischen Personal und Arbeitgeber zu bestehen.
Wortlos nahm sie Leonore beim Arm und zog sie zur Treppe, an deren Fuß Claire und Mabelle im Dunkeln warten. Sie hatten die Szene oben auf der Galerie wie eine Theatervorführung verfolgen können, wenn auch anstelle von Scheinwerfern flackernde Kerzen die Bühne beleuchtet hatten.
Mabelle begrüßte Leonore überschwänglich. Claire nickte nur und quälte sich ein Lächeln ab, das kaum als solches zu erkennen war. Sie zündeten die dritte Kerze wieder an, und mit dem Leuchter in der Hand führte Viktoria die kleine Gruppe auf dem Weg in die Küche an.
Ihren Handkarren ließen sie in der Halle stehen. Darin war ohnehin nichts mehr zu essen, nur noch die wenigen Kleider, die sie während ihres Aufenthalts auf dem Bauernhof der Hauslers nicht gegen zusätzliche Lebensmittel eingetauscht hatten. Obwohl sie alle drei tropfnass waren, äußerte keine von ihnen den Wunsch, sich zuerst umzuziehen. Der Hunger war größer.
Die Küche lag im Souterrain, und früher hatte Viktoria sie nur selten betreten. Als sie noch ein Kind gewesen war und ihr Großonkel Ludwig noch lebte, hatte es beim Umgang mit dem Personal strenge Regeln gegeben. Vor allem hatte es geheißen, dass das Souterrain den Dienstboten vorbehalten war. Natürlich hatte es sich manchmal nicht vermeiden lassen, dass jemand von den von Haynbachs ins Untergeschoss ging, wenn es um eine eilige Besprechung mit der Köchin oder dergleichen ging. Dennoch gehörte die Küche zu den Räumen in der Villa, die Viktoria am wenigstens vertraut waren.
Sie stellte den Leuchter auf den langen Arbeitstisch in der Mitte des großen Raumes und schaute sich suchend um. Die wenigen verderblichen Lebensmittel, die noch vorhanden gewesen waren, als sie in den Allgäu aufgebrochen waren, hatten sie damals mitgenommen. Aber in der Speisekammer hatte noch fast ein Dutzend Gläser mit eingemachten Bohnen und Weißkohl gestanden.
»Bringst du mal den Leuchter her, Mabelle?« Viktoria stand in der Tür der Vorratskammer und spähte im flackernden Schein der auf dem Tisch stehenden Kerzen in den kleinen, fensterlosen Raum.
Als ihre Schwester mit dem Leuchter in der Hand neben sie trat, änderte sich an ihrem ersten Eindruck nichts: Die Regale waren leer.
Viktoria unterdrückte zusammen mit einem aufsteigenden Seufzer die Wut, die in ihrem leeren Magen brannte. Sie wandte sich um und sah Leonore an, die in der Nähe der Tür stehen geblieben war. Die Frau starrte stumm zurück. Natürlich hatte sie Hunger gehabt, und natürlich hatte sie gegessen, was sie gefunden hatte. Dennoch war es eine furchtbare Enttäuschung, die leeren Regale zu sehen. Viktoria hatte sich sehr auf einen Teller voller Möhren gefreut, vielleicht als Suppe zusammen mit Weißkohl.
Noch vor fünf Jahren wäre sie lieber mit leerem Magen zu Bett gegangen, als ein solches Abendessen zu akzeptieren. Und heute war sie verzweifelt, weil sie keine wässerige Gemüsesuppe ohne Fleisch bekam.
»Ist wirklich gar nichts mehr da?« Mabelle sah sich suchend in der Küche um. In ihrem Augenwinkel schimmerte eine Träne.
»Ich habe oben noch ein geöffnetes Einmachglas mit Weißkohl. Die Hälfte habe ich heute Mittag kalt gegessen«, sagte Leonore leise. »Der Herd geht nur während der Stromstunden. Die sind zurzeit von zwölf bis drei Uhr nachts. Da schläft man ja sowieso.«
Mit einem halben Glas Weißkohl würden sie nicht weit kommen. Selbst wenn sie bis Mitternacht warteten und das gehobelte Gemüse als Suppe kochten. Niemand wurde von ein paar Löffeln Wasser mit Kohl und Gewürzen satt.
Leonore stand immer noch mit unglücklichem Gesicht neben der Tür. »Wenn ich gewusst hätte, dass Sie kommen, hätte ich nicht …«
»Natürlich hätten Sie«, unterbrach Viktoria sie energisch. »Niemand verhungert freiwillig vor einem Regal voll mit eingemachtem Gemüse.«
Eine Weile standen sie alle unschlüssig in der Küche herum. Claire hatte sich auf einen der Stühle am Tisch fallenlassen und starrte vor sich hin. Wahrscheinlich hätte es ihr nicht einmal etwas ausgemacht, mit leerem Magen zu Bett zu gehen.
Plötzlich hatte Viktoria einen Einfall. »Das Küchenmädchen hat doch voriges Jahr hinten im Park Kartoffeln angebaut.«
Leonore nickte zögernd. »Aber die sind alle ausgebuddelt und gegessen worden. Letztes Jahr.«
»Ich kann mich erinnern, dass damals irgendjemand, der sich mit so etwas auskannte, gesagt hat, im nächsten Jahr würden an derselben Stelle von allein wieder ein paar kleine Kartoffeln wachsen, selbst wenn man keine in den Boden steckt. Wir sollten nachsehen gehen.«
»Aber es regnet. Und es ist stockdunkel.« Mabelle warf ihrer Schwester einen finsteren Blick zu.
»Du kannst gerne hungern, bis es aufhört zu regnen. Ich für meinen Teil glaube, dass ich ohnehin nicht mehr nasser werden kann. Wir müssen nur etwas finden, womit wir draußen leuchten können.« Batterien für die Taschenlampen hatten sie schon seit zwei Jahren nicht mehr.
»Ich habe ein Einmachglas ausgewaschen und benutze es mit einer Kerze drin als Lampe. Wenn man ein Stück Stoff mit kleinen Löchern drüber deckt, geht die Flamme auch bei Regen nicht aus. Ich bin neulich abends damit ins Dorf gelaufen, weil es hieß, dass es am nächsten Morgen beim Krämer Strümpfe geben sollte. Als er das letzte Mal welche hatte, waren die aber morgens schon weg. Und diesmal habe ich auch keine mehr bekommen, obwohl ich abends um elf da war.« Das Reden schien Leonore zu beruhigen. Sie wirkte nicht mehr ganz so zerknirscht.
Wenige Minuten später verließen sie das Haus. Leonore ging mit dem Glas in der Hand vorweg, Viktoria und Mabelle folgten ihr. Claire hatten sie zurückgelassen. Sie sollte sich schon trockene Kleider anziehen und den Leiterwagen auspacken.
Der Regen rauschte immer noch gleichmäßig vom dunklen Himmel, tropfte von den Blättern der Bäume im Park und machte die Wege rutschig. Einmal wäre Viktoria fast lang hingeschlagen, wenn sie sich nicht im letzten Moment an einem niedrigen Ast festgehalten hätte.
Zunächst machten sie bei dem Schuppen halt, in dem der ehemalige Gärtner seine Gartengeräte aufbewahrt hatte. Die Hütte war jedoch nur noch ein ungeordneter Haufen aus Wellblechplatten und Holzstücken. Irgendwo in der Nähe musste eine Bombe heruntergekommen sein, und der Luftdruck der Detonation hatte den Schuppen zum Einsturz gebracht. Es war aussichtslos, zwischen Latten und Blechen nach einer Schaufel zu suchen. Also waren sie gezwungen, mit bloßen Händen in der matschigen Erde zu wühlen. Sogar Mabelle überwand sich nach einigem Zögern, als sie sah, wie Viktoria eine ansehnliche Kartoffel fand und notdürftig vom Dreck befreite. Offenbar war Mabelle wirklich hungrig.
Als sie nach einer guten Viertelstunde ihre Ausbeute betrachteten, waren sie recht zufrieden. Im zuckenden Licht der Kerze, die tatsächlich noch brannte, zählte Viktoria ein gutes Dutzend Kartoffeln, an denen trotz aller Bemühungen immer noch dicke Erdklumpen klebten. Einige waren ziemlich klein, zwei jedoch fast so groß wie Äpfel und die meisten von mittlerer Größe.
»Davon werden wir heute satt«, befand Viktoria und stand vom Boden auf, wo sie ohne Rücksicht auf Rock und Strümpfe gekniet hatte. Den Versuch, einigermaßen sauber zu bleiben, hatte sie schon nach ein oder zwei Minuten aufgegeben.
Stolz trugen sie ihre Kartoffelernte ins Haus. Die Küche war leer, und als sie sich auf die Suche nach Claire machten, stand sie mit hängenden Armen mitten in der Halle. Neben ihr auf der Kommode brannten die drei Kerzen im Leuchter. Sie trug immer noch ihre nassen Kleider.
»Ist etwas passiert, Mama?« Mabelle lief zu ihr und schlang die Arme um sie.
Claire deutete müde die Treppe hinauf. Dann fuhr sie mit der Hand durch die Luft, als wollte sie auch das ganze Erdgeschoss in ihre Geste mit einbeziehen. Sie schluckte und stieß dann hervor: »Die Schlafzimmer … Und auch hier unten. Bis auf die Halle und ein oder zwei Zimmer … Alles nass. Das Dach …«
»Das stimmt. In den meisten Zimmern oben ist die Decke zumindest zum Teil zerstört und man kann bis hinauf zum Himmel sehen. Eine Bombe hat fast das ganze Dach weggerissen.« Leonore senkte den Kopf, als sei auch das ihre Schuld. »Ich habe im Salon auf einem der Sofas geschlafen, weil die Dienstbotenmansarden … Sie sind vollkommen eingestürzt. Und in der Gesindestube unten neben der Küche ist ein großer Riss in der Wand, und es tropft von dem Zimmer drüber durch die Decke.«
Unvermittelt brach Claire in Tränen aus. »Ich habe mir heimlich gewünscht, nie wieder das Zimmer betreten zu müssen, in dem ich mit eurem Vater geschlafen habe. Weil ich dachte, diesen Schmerz halte ich nicht aus«, schluchzte sie. »Es ist meine Schuld!«
Viktoria legte ihre Arme um ihre Mutter. War es ein gutes Zeichen, dass Claire wieder weinen konnte? Aber wie kam sie auf die seltsame Idee, es sei ihre Schuld, dass eine Bombe die Villa getroffen hatte?
»Du kannst nichts dafür, Mama! Das waren die Amerikaner. Sie haben in den letzten Kriegsmonaten auch die ländlichen Gebiete in Bayern bombardiert. Deshalb sind wir doch in die Berge gezogen.«
Claire löste sich stumm aus Viktorias Umarmung, wankte zum kalten Kamin und ließ sich in einen der beiden Lehnstühle davor sinken.
»Bei Tageslicht sehen wir uns alles genau an. Wenn ein oder zwei Zimmer trocken sind, es in der Halle nicht durchregnet und wir auch noch das Souterrain haben, ist das eine Menge Platz.« Viktoria versuchte nicht nur ihre Mutter, ihre Schwester und die ebenfalls ratlos wirkende Leonore zu beruhigen, sondern auch sich selbst. Die Zukunft kam ihr vor wie eine Steilwand, die sie erklimmen musste, obwohl sie keine Ahnung vom Bergsteigen hatte. Sie musste für Essen sorgen und dafür, dass ihnen das Haus nicht über dem Kopf einstürzte. Sie würden Geld brauchen oder Gegenstände zum Tauschen, um das zu bekommen, was sie dringend benötigten. Und wie es aussah, war sie wieder diejenige, die allein Entscheidungen treffen und Pläne schmieden musste. Im Kerzenlicht ruhten Mabelles und Leonores Blicke hoffnungsvoll auf ihr, während ihre Mutter in sich zusammengesunken im Sessel saß und wie so oft vor sich hin starrte. Ihre Tränen waren versiegt.
Entschlossen schob Viktoria das Kinn vor. »Jetzt waschen wir uns, ziehen uns trockene Sachen an, und dann dürfte es Mitternacht sein. Wenn der Strom eingeschaltet wird, kochen wir uns einen wunderbaren Eintopf aus Weißkohl und Kartoffeln.«