Modehaus Haynbach – Momente des Glücks - Elaine Winter - E-Book
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Modehaus Haynbach – Momente des Glücks E-Book

Elaine Winter

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Beschreibung

Die erfolgreiche Familiensaga geht weiter!

Deutschland, 1959: Gigi flieht vor einer unglücklichen Liebe zu ihrer besten Freundin Mabelle Haynbach. Diese versucht Gigi abzulenken, indem sie sie in die Arbeit im Modehaus einbindet.

Als die beiden Frauen Kleider in einem Filmstudio abliefern, begegnet Gigi Leo Fürst. Sie verfällt dem erfolgreichen Schauspieler mit Haut und Haar. Die beiden freunden sich an und verbringen ein paar schöne gemeinsame Stunden. Doch da Leo sie auf Abstand hält, zieht sie sich zurück. Nie wieder möchte sie unglücklich in einen Mann verliebt sein.

Stattdessen begleitet sie Viktoria Haynbach als Dolmetscherin auf eine Geschäftsreise nach Italien. Deren italienischer Geschäftspartner zeigt deutliches Interesse an Gigi. Sie fühlt sich geschmeichelt. Doch hat ihr Herz Leo Fürst wirklich schon vergessen?

Der 4. Band der mitreißenden Familiengeschichte um das Modehaus Haynbach.

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Seitenzahl: 460

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Inhalt

Cover

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Über dieses Buch

Titel

Impressum

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Über dieses Buch

Deutschland, 1959: Gigi flieht vor einer unglücklichen Liebe zu ihrer besten Freundin Mabelle Haynbach. Diese versucht Gigi abzulenken, indem sie sie in die Arbeit im Modehaus einbindet.

Als die beiden Frauen Kleider in einem Filmstudio abliefern, begegnet Gigi Leo Fürst. Sie verfällt dem erfolgreichen Schauspieler mit Haut und Haar. Die beiden freunden sich an und verbringen ein paar schöne gemeinsame Stunden. Doch da Leo sie auf Abstand hält, zieht sie sich zurück. Nie wieder möchte sie unglücklich in einen Mann verliebt sein.

Stattdessen begleitet sie Viktoria Haynbach als Dolmetscherin auf eine Geschäftsreise nach Italien. Deren italienischer Geschäftspartner zeigt deutliches Interesse an Gigi. Sie fühlt sich geschmeichelt. Doch hat ihr Herz Leo Fürst wirklich schon vergessen?

Über die Autorin

Elaine Winter ist ein Pseudonym der Autorin Ira Severin, die schon als Kind gerne Geschichten erfunden hat. Sie studierte Germanistik und Anglistik, probierte sich in verschiedenen Jobs in der Medienbranche aus und kehrte bald zum Geschichten erfinden zurück. Inzwischen ist sie seit mehr als zwanzig Jahren Autorin und hat den Spaß am Erdenken schicksalhafter Wendungen und romantischer Begegnungen bis heute nicht verloren. Sie schreibt auch unter dem Pseudonym Luisa von Kamecke.

ELAINE WINTER

Momente des Glücks

Originalausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Dr. Ulrike Brandt-Schwarze

Lektorat/Projektmanagement: Anna-Lena Meyhöfer

Covergestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de unter Verwendung von Motiven © iStock/Getty Images Plus: wernerimages | hansok | phatthanit_r | ChamilleWhite

eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 978-3-7517-1640-6

www.Be-heartbeat.de

www.lesejury.de

1

Rue de Passy, Paris, 16. Arrondissement, Mitte Mai 1959

Langsam tauchte Gigi aus einem tiefen, traumlosen Schlaf auf. Sie rekelte sich, spürte die glatte, kühle Seide des Lakens auf ihrer Haut und schlug mit einem tiefen Atemzug beide Augen weit auf. Etwas war anders als sonst.

Hastig strich sie sich mit der flachen Hand über Bauch und Brüste. Sie war nackt unter der Decke. Erst in diesem Moment kam die Erinnerung zurück. Ein heißes Glücksgefühl stieg in ihr auf. Ganz langsam wandte sie den Kopf, voller Angst, es könnte wieder nur ein Traum gewesen sein.

Aber sie hatte nicht geträumt. Neben sich auf dem Kissen sah sie den glänzenden dunkelbraunen Schopf und nahm gleichzeitig den vertrauten Duft nach seinem herben Rasierwasser wahr. Limone und frisches Holz – wie sehr sie dieses Aroma liebte!

Ganz still lag sie da, während sich das Glück in ihrem Körper ausbreitete wie ein Schwall sonnenwarmes Wasser. Endlich! Gigi zwinkerte die Freudentränen weg, die ihren Blick trübten. So lange hatte sie darauf gewartet und längst nicht mehr geglaubt, ihr Traum könne in Erfüllung gehen.

Es kribbelte sie in den Fingerspitzen, ihm die Haare aus der Stirn zu streichen, damit sie sein schlafendes Gesicht sehen konnte. Das Gesicht des Mannes, den sie schon so lange liebte und bewunderte und für den sie alles sein wollte und nicht nur ein biegsamer, schlanker Körper, an dem seine Kleider gut zu Geltung kamen.

Doch sie wollte ihn nicht wecken, sondern noch ein bisschen länger diese verzauberten Momente des Staunens genießen.

Ein kurzer Blick zum Wecker auf dem Nachttisch machte ihr klar, dass Luc wahrscheinlich noch ein oder sogar zwei Stunden schlafen würde. Er stand niemals vor neun Uhr auf, oft deutlich später, und im Atelier sah man ihn kaum jemals vor elf. Für ihn waren die Nachmittags- und Abendstunden die Zeit, wenn ihm die Ideen für seine wunderbaren Modelle kamen. Elegante Roben, in denen Frauen teure Restaurants, Theateraufführungen und Bälle besuchten. Edle Kleider, in denen jede Frau zur Königin wurde.

Langsam streckte Gigi einen Fuß unter der Decke hervor, dann den zweiten, richtete sich auf und schlüpfte aus dem Bett. Das Luc-Guérin-Modell, das sie am Abend zuvor getragen hatte, lag auf einem Cocktailsessel in der Ecke. Sie konnte sich nicht erinnern, ob Luc oder sie es so achtlos dorthin geworfen hatte.

Auf Zehenspitzen huschte sie durch den Raum, nahm vom Kleiderständer in der Ecke einen Bügel, hängte das mit schillernden Pailletten bestickte nachtblaue Kleid darüber und strich es zärtlich glatt. Dann erst schlüpfte sie in Lucs Morgenmantel. Sie schloss die Augen und genoss das Gefühl, dass er den seidengefütterten Mantel sicher schon auf der bloßen Haut getragen hatte. Nun umgab sie sein Duft von Kopf bis Fuß. Es war der Himmel! Fast so, als würde er sie mit seinen Armen und Beinen umschlingen – so wie in der vergangenen Nacht ...

Ein letzter Blick hinüber zum Bett, wo Luc immer noch ruhig schlief, dann verließ sie sein Schlafzimmer. Nebenan im Salon ging sie barfuß über den chinesischen Seidenteppich zu der kleinen Sitzecke, wo das elfenbeinfarbene Telefon stand. Dort ließ sie sich in einen der beiden Sessel fallen und schaute versonnen lächelnd hinüber zu der riesigen Couch. Sie war mit Leder in einem hellen Cognacton bezogen und wie alles, womit Luc sich umgab, von erlesener Schönheit.

Wie oft hatte sie neben ihm hier gesessen, um sich eine Fernsehsendung anzuschauen oder Musik zu hören. Manchmal hatten sie auch einfach nur geredet. Dann schwärmte Luc ihr von neuen Stoffen und Mustern vor und beschrieb ihr seine Ideen für die nächste Kollektion.

In mancherlei Hinsicht lebten sie schon lange wie ein Paar. Und nun endete ihre Beziehung nicht mehr vor der Schlafzimmertür, und sie würde auch keine traurigen Abende mehr verbringen, wenn Luc mit anderen Frauen ausging.

Sie griff zum Telefonhörer. Leise surrend drehte sich die Wählscheibe, als sie die Nummer wählte, die sie auswendig kannte. Dann lauschte Gigi dem Klingelzeichen im fernen Deutschland. Sie wusste, dass Mabelle um diese Zeit meistens allein am Frühstückstisch saß. Sylvie war schon auf dem Weg in die Schule, und wenn ihr Mann Claus seine Stieftochter nicht im Wagen mitnahm, fuhr er noch früher am Morgen in seine Schreinerwerkstatt.

Mabelle meldete sich nach dem dritten oder vierten Klingelzeichen. Es gab im Schloss ihrer Vorfahren immer noch Dienstboten, aber längst nicht mehr so viele wie in früheren Zeiten. Deshalb erwischte Gigi die Freundin häufig selbst am Telefon und musste sie nicht erst herbeiholen lassen. Sie konnte hören, wie Mabelle hastig schluckte, nachdem sie ihren Namen genuschelt hatte.

»Ich störe dich beim Frühstück«, stellte Gigi fröhlich fest. Die Freundschaft mit Mabelle war im Laufe der Jahre so eng geworden, dass jede von ihnen die andere jederzeit anrufen konnte, ohne sich entschuldigen zu müssen.

»Hmhm«, machte Mabelle, die im Gegensatz zu Gigi keine Frühaufsteherin war. »Du klingst seltsam. Ist alles in Ordnung?«

Gigi lachte hell auf und presste sich gleich darauf die Hand vor den Mund. Sie wollte Luc nicht wecken. Aus Erfahrung wusste sie, dass er schlecht gelaunt war, wenn er nicht genug Schlaf bekam. Und da dies ein wundervoller Tag für sie beide werden sollte – ihr erster Tag als richtiges Paar –, wünschte sich Gigi, dass es Luc so gut ging wie nur irgend möglich.

»Es ist alles in allerschönster Ordnung«, sagte sie mit gesenkter Stimme in die Muschel des Telefonhörers. »Und wenn ich nicht sofort darüber sprechen kann, platze ich vor Glück.«

»Dann bestehe ich darauf, dass du auf der Stelle redest.« Offenbar hatte Gigis Ankündigung die Freundin munter gemacht, jedenfalls klang ihre Stimme so.

»Luc und ich ...«, fing Gigi an und wusste plötzlich nicht weiter.

»Du bist mit ihm im Bett gelandet«, sagte Mabelle nach einer Weile. Sie klang kein bisschen begeistert. »Nach all den Jahren ist es nun also doch passiert.«

»Woher weißt du das?«

»Ich weiß, dass du es dir schon immer heimlich gewünscht hast. Da du mich nun also zu früher Stunde mit einer aufregenden Nachricht über dich und Luc anrufst ...« Den Rest des Satzes ließ die Freundin in der Luft hängen.

»Freust du dich denn nicht für mich?« Aus dem Fenster sah Gigi hinaus in den kleinen Garten, den man durch die hohen Glastüren von Lucs luxuriöser Erdgeschosswohnung aus betreten konnte.

Eine Weile herrschte Schweigen in der Leitung. »Natürlich freue ich mich, wenn du glücklich bist, Gigi. Allerdings weiß ich auch, dass Luc dir seit fünf Jahren erklärt, er sei kein Mann für eine feste Beziehung, aber du wärst seine eine und einzige Muse. Mehr wollte er dir nicht geben. Und mehr brauchtest du angeblich nicht.«

»Aber jetzt hat er es getan. Wir waren gestern Abend zusammen aus und haben anschließend eine märchenhafte Nacht miteinander verbracht.« Unvermittelt stieg Angst in Gigi auf, und sie schluckte heftig, um das unbehagliche Gefühl zurückzudrängen.

Mabelle schwieg ein bisschen zu lange, bevor sie sagte: »Luc hat schon sehr viele Nächte mit sehr vielen Frauen verbracht.«

»Das mit ihm und mir ist etwas anderes«, erwiderte Gigi, nachdem sie den Kloß in ihrem Hals hinuntergeschluckt hatte. »Die anderen sind immer nur für eine Nacht da. Nur selten für zwei oder drei, dann verschwinden sie auf Nimmerwiedersehen. Ich dagegen bin schon sehr lange in Lucs Leben und werde auch bleiben. Deshalb ist es vollkommen anders.«

Mehr als fünf Jahre, seit er sie nach ihrer Flucht vor ihm und ihren Gefühlen aus Deutschland zurückgeholt hatte, lebte Gigi in ihrer kleinen, eleganten Wohnung ein Stockwerk über Lucs Zuhause. Täglich sahen sie sich im Atelier, oft war sie zu Gast in seinem Wohn- und Esszimmer. Manchmal hatte er sie eingeladen, ihn zu einer Abendeinladung oder einem Restaurantbesuch zu begleiten. Sie teilte sein Leben, und deshalb hatte es etwas zu bedeuten, dass sie zum ersten Mal eine Nacht miteinander verbracht hatten.

»Es ist nur so, dass er dir immer wieder und wieder erklärt hat, er wolle keine feste Beziehung.« Während sie sprach, war Mabelles Stimme immer leiser geworden, so als würde sie das, was sie sagte, am liebsten nicht aussprechen.

Warum ließ sie es dann nicht? Gigi fand es vollkommen überflüssig, dass die Freundin sie an diese Dinge erinnerte. Sie wickelte sich das Telefonkabel so fest um den Zeigefinger der linken Hand, dass es wehtat.

»Entschuldige«, sagte Mabelle nach einer Weile, als Gigi immer noch schwieg. »Ich möchte nur nicht, dass er dich wieder verletzt.«

»Ich weiß, dass du es gut meinst.« Gigi unterdrückte einen Seufzer. »Aber es war so romantisch und schön in dem kleinen Tanzlokal – wie sollte das keine Bedeutung haben? Nur wir zwei, ohne irgendwelche Bekannten. Wir haben Champagner getrunken und getanzt. Eng und langsam. Und dann hat er mich geküsst ...«

»Du musst mich nicht überzeugen, Gigi«, sagte Mabelle leise. »Ich hoffe von Herzen, dass dieser Abend und diese Nacht genau das bedeuten, was du dir so sehr wünschst.«

»Danke.« Das leise Summen in der Leitung dröhnte in Gigis Ohren. Doch dann richtete sie sich mit einem Ruck auf, ließ die Luft bis tief in ihre Lunge strömen und lächelte. »Ich werde jetzt ein schönes Frühstück zubereiten. Dann können Luc und ich gemütlich den Tag beginnen, bevor wir gemeinsam zur Arbeit fahren. Sonst stürzt er ja immer nur im Atelier eine Tasse Kaffee hinunter.«

»Das klingt gut.« Plötzlich hörte Gigi wieder den müden Unterton in der Stimme der Freundin.

»Und wie geht es dir, Mabelle?«, wechselte sie das Thema. »Alles in Ordnung?«

»Es geht mir gut, aber ... ich habe Angst, wenn ich auch versuche, es nicht zuzulassen. Der Doktor sagt, ich solle mich entspannen und viel ruhen. Er hat gut reden. Wie soll ich mich entspannen, nachdem ich das Kind beim letzten Mal ...« Mabelle stockte. Sie musste ihre Sorge nicht erklären und schon gar nicht aussprechen, was ihr solche Angst machte. Ihre beste Freundin wusste auch so Bescheid.

»Dieses Mal geht alles gut«, erklärte Gigi energisch. »Bei dir ... und bei mir auch.«

Sie lachten gleichzeitig – ein wenig verhalten, aber dennoch hoffnungsvoll. Für einen Moment schien die Entfernung, die sie trennte, nicht vorhanden zu sein.

Bevor sie sich verabschiedeten, versicherten sie einander, dass sie sich unbedingt bald sehen müssten. Seit Gigis letztem Besuch auf Schloss Haynbach waren fast sechs Monate vergangen. Und Mabelles kurze Stippvisite in Paris lag noch länger zurück.

»Nächste Woche ist die Aufzeichnung unserer Sendung«, erklärte Mabelle mit einem unterdrückten Seufzer.

»Solltest du das nicht lieber ausfallen lassen und dich schonen? Ich weiß, die Sendung ist sehr erfolgreich, und du liebst die Arbeit beim Fernsehen, aber ...«

Wieder ein Seufzer. »Auf keinen Fall werde ich Viktoria im Stich lassen. Vor allem kann ich nicht die ganze Zeit auf dem Sofa liegen, die Decke anstarren und mich sorgen. Dann werde ich wahnsinnig. Das Problem ist nur, dass mir praktisch alle fünf Minuten schlecht wird. Es ist ein Wunder, dass ich die ganze Zeit mit dir reden konnte, ohne zwischendurch ins Bad zu rennen. Doktor Stark sagt, die Übelkeit wäre ein gutes Zeichen.«

»Ach, Mabelle, meine Süße. Es tut mir so leid, dass ich dir nicht beistehen kann! Aber wie du weißt, arbeitet Luc intensiv an der neuen Kollektion, und da braucht er mich.«

Obwohl es sie zu Mabelle zog, wollte Gigi auch wegen der vergangenen Nacht Luc nicht ausgerechnet jetzt allein lassen. Sie tröstete sich damit, dass die Freundin genügend Unterstützung hatte. Immerhin gab es ihren Mann Claus und ihre zwölfjährige Tochter Sylvie, die mit ihr auf Schloss Haynbach lebten. Und in der Umgebung von München, nicht direkt in Mabelles Nähe, aber auch nicht unerreichbar weit entfernt, wohnten ihre beiden Geschwister Richard und Viktoria mit ihren Familien.

»Du musst wirklich kein schlechtes Gewissen haben. Genieß dein Glück, und mach dir um mich keine Sorgen. Alles wird gut.«

»Alles wird gut«, wiederholte Gigi und spürte ihren raschen Herzschlag, als sie den Hörer auflegte.

Eine Weile saß sie noch still da, lauschte in sich hinein und spürte das Kribbeln in ihrem Magen wie Champagner. Dann sprang sie auf und eilte in die Küche, die blitzblank aufgeräumt war. Nadine, Lucs Haushälterin, kam immer erst gegen Mittag, damit er ungestört ausschlafen konnte. Seine Mahlzeiten nahm er ohnehin meistens außer Haus ein. Heute jedoch würde er im Bett frühstücken, beschloss Gigi. Gemeinsam mit ihr.

Sie öffnete den üppig gefüllten Kühlschrank und entschied sich für Eier, Käse und Weißbrot. Das Brot würde sie toasten und dazu Rührei, eine kleine Käseplatte und etwas von dem Obst servieren, das in einer Schale auf dem Küchentisch stand.

Leise vor sich hin summend füllte sie den Wasserkessel und stellte ihn auf den Herd. Dann verquirlte sie die Eier und schnitt das Brot in Scheiben. Anschließend zerließ sie ein Stück Butter in der Pfanne und goss die flüssigen Eier hinein.

Es war ein wunderbares Gefühl, für Luc Essen zuzubereiten. Das hatte er ihr bisher nie erlaubt. Wenn sie gelegentlich gemeinsam gegessen hatten, war stets etwas auf den Tisch gekommen, das Nadine für ihn vorbereitet hatte.

Gleich heute hatte sie vor, ihn zu überzeugen, wie schön es war, den Tag in liebevoller Zweisamkeit zu beginnen. Der Kessel zeigte mit einem durchdringenden Pfeifton an, dass das Wasser kochte. Während die Eier in der Pfanne stockten, hatte sie eine großzügige Portion Kaffeebohnen gemahlen und in den Filter gelöffelt. Nun goss sie das Wasser hinein, und sofort breitete sich das köstliche Aroma frischen Kaffees in der Küche aus.

Als sich hinter ihr die Tür öffnete, rührte sie gerade wieder in der Pfanne. Sie wandte sich um und schaute direkt in seine wunderschönen Augen, die sie in der Nacht so zärtlich betrachtet hatten, dass es sich wie eine weitere Umarmung angefühlte hatte. Prompt blieb ihr bei dieser Erinnerung vor lauter Liebe die Luft weg. Am liebsten hätte sie sich sofort in seine Arme gestürzt, aber sie musste sich um die Rühreier kümmern. Sie sollten perfekt werden.

»Guten Morgen, mein Liebster. Geh schnell wieder ins Bett. Ich bringe gleich ein Frühstückstablett für zwei«, rief sie, wandte sich hastig wieder um, schob das fast fertige Rührei in der Mitte der Pfanne zusammen und salzte ein wenig nach.

Als sie hörte, wie er mit raschen Schritten zu ihr kam, schloss sie für einen winzigen Moment die Augen. Gleich würde er sie umarmen, würde ihr einen guten Morgen wünschen und sie küssen.

Aber er fasste sie nicht an, blieb nur neben ihr stehen, ohne dass ihre Körper sich berührten. Gigi schielte aus dem Augenwinkel in seine Richtung und rührte weiter in der Pfanne.

»Wenn du nicht gern im Bett frühstückst, können wir auch gleich hier in der Küche essen. Oder nebenan im Esszimmer. Es gibt ja Menschen, die ein Frühstück im Bett eher unbequem finden. Obwohl ich der Meinung bin, man sollte es ausprobiert haben. Deshalb ...« Sie plapperte immer weiter, weil sie mit einem Mal Angst vor dem hatte, was Luc gleich sagen würde.

Irgendwann nahm Luc sie sanft bei den Schultern und drehte sie zu sich herum, sodass sie ihn ansehen musste.

»Es tut mir leid, Gigi«, sagte er, als sie ihn stumm anstarrte. »Das hätte nicht passieren dürfen.«

»Was meinst du?« Sie bekam keine Luft mehr.

»Du weißt, was ich meine. Ich habe es dir immer wieder gesagt: Ich bin kein Mann für eine feste Beziehung. Ich kann das nicht, und ich will es auch nicht. Das mit dir war immer etwas ganz Besonderes, und das wird es auch bleiben. Du bist die Frau, die ich vor Augen habe, wenn ich meine Modelle entwerfe. Du bist diejenige, die ich als Erste in diesen Kleidern sehen will. Du bist meine Muse. Aber vergangene Nacht ... Das war falsch. Ich kann es nur mit viel zu viel Champagner entschuldigen.«

Gigi öffnete den Mund, um zu protestieren. Doch sie wusste längst, dass es sinnlos war. Was hätte sie auch sagen sollen? In ihrer Kehle lauerten verzweifelte Schluchzer, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Hastig wandte sie sich ab. Luc sollte nicht sehen, dass sie weinte. Sie stürzte zu Tür. Gleichzeitig nahm sie den Geruch von verbranntem Rührei wahr. Es kümmerte sie nicht. Sollten die Eier ruhig verkohlen. Ihretwegen konnte die ganze Küche abbrennen.

Erst draußen im Flur kam ihr die Erkenntnis, dass sie Luc immer noch viel zu sehr liebte, um ihn in Gefahr zu bringen.

»Nimm die Pfanne vom Herd«, rief sie. Dann lief sie weiter ins Treppenhaus und hinauf in ihre eigene Wohnung. Obwohl Luc niemals dorthin kam, schloss sie zwei Mal hinter sich ab.

2

Fernsehstudio München-Freimann, München, Ende Mai 1959

Vom Beifahrersitz aus beobachtete Mabelle, wie ihre Schwester den schneeweißen Jaguar schwungvoll in eine Parkbucht in der Nähe des Studioeingangs lenkte. Sie waren spät dran, weil Viktoria in ihrem Modehaus noch eine wichtige Kundin beraten hatte. Die füllige Dame hatte sich nicht zwischen einem grünen Cocktailkleid und einer mit Pailletten bestickten Abendrobe entscheiden können. Mit sanftem Nachdruck war es Viktoria am Ende gelungen, sie zum Erwerb eines schlichten schwarzen Kleids mit eleganter Linienführung zu animieren, in dem sie fast schlank wirkte.

Amüsiert hatte Mabelle in einer Ecke des großen Vorführraums gesessen und ihre Schwester bei der Arbeit beobachtet. Da sie selbst lange Zeit als Vorführdame bei Haynbach-Moden gearbeitet hatte, war sie nicht zum ersten Mal Zeugin von Viktorias besonderem Talent geworden. Als Eigentümerin des Modehauses und erfolgreiche Modeschöpferin beriet Viktoria von Haynbach nur noch sehr wichtige Kundinnen persönlich. Und auch bei ihnen gelang es ihr meistens überraschend schnell, dafür zu sorgen, dass das am Ende ausgewählte Kleid die attraktiven Seiten seiner Trägerin unterstrich und ihre figürlichen Schwächen kaschierte.

Auch das machte Viktoria als Modeschöpferin so begehrt: Sie sorgte dafür, dass Frauen in ihren Kleidern stets so attraktiv wirkten, wie es nur eben möglich war.

»Was ist heute das Thema von Schick und schön?«, fragte Mabelle, während die Schwestern aus dem Wagen stiegen und nebeneinander zum Eingang des Fernsehstudios gingen. Hier fand jeden Monat die Aufzeichnung von Viktorias Modesendung statt.

Darin diente Mabelle, die als Mannequin schon auf internationalen Laufstegen Erfolge gefeiert hatte, als Modell. Viktoria erklärte die Kunst, einen Schal zu knoten, und die passenden Schuhe zu jedem Stil zu finden, zudem führte sie vor, wie mit einem Gürtel und ein paar kleinen Änderungen ein schlichtes Kleid zu etwas Besonderem wurde. Das alles geschah während eines munteren Zwiegesprächs zwischen den Schwestern. Da sie sich gut kannten und beide ihr halbes Leben mit Mode verbracht hatten, improvisierten sie, scherzten miteinander oder zeigten, wie man es nicht machen sollte. Die Sendung war von Anfang an erfolgreich gewesen und gewann langsam, aber stetig neue Zuschauerinnen hinzu.

»Heute geht es um das Thema Rock und Bluse oder lieber Kleid«, antwortete Viktoria, stieß energisch die Tür auf und eilte in das große Gebäude, in dem das Fernsehstudio untergebracht war. »Hast du den Textentwurf nicht bekommen?«

»Schon, aber momentan habe ich Schwierigkeiten mit dem Gedächtnis. Muss an der Schwangerschaft liegen.« Da ihr ständig übel war, hatte Mabelle es nicht geschafft und auch keine Lust gehabt, das Skript zu lesen. Sie improvisierten ohnehin. Falls ihr das in ihrem Zustand überhaupt noch gelang. Momentan hatte sie schon Mühe, ihrer Schwester den Flur entlang zu folgen.

Plötzlich blieb Viktoria wie angewurzelt stehen, als wären erst jetzt die Worte ihrer Schwester in ihrem Kopf angekommen, in dem sie ständig mit zahllosen Fragen und Fakten jonglierte, wie Mabelle wusste.

»Ist alles in Ordnung?« Sie schaute Mabelle besorgt an. »Du weißt, dass ich dir angeboten habe zu pausieren. Du solltest dich schonen, und ich könnte ...«

»Ist schon gut«, unterbrach Mabelle und wischte mit der Hand durch die Luft, als könne sie damit auch ihre eigenen Sorgen vertreiben. »Zu Hause auf dem Sofa werde ich verrückt. Heute habe ich zum ersten Mal seit Wochen das Gefühl, nicht auf der Stelle mein Frühstück von mir geben zu müssen. Das kommt von der Ablenkung. Es tut mir gut, mal rauszukommen.«

»Aber wenn es dir zu viel wird, musst du es sofort sagen. Versprich mir das!« Jetzt war Viktoria ganz die strenge ältere Schwester. Dabei war sie ziemlich ahnungslos, was Mabelles Problem betraf. Sie selbst hatte mittlerweile drei gesunde Kinder, die sie ganz nebenbei zur Welt gebracht hatte. Jedes Mal war sie höchstens zwei Monate dem Modehaus ferngeblieben, dann hatte sie sich mit neuem Elan in die Arbeit gestürzt. Die Kinder waren manchmal bei ihr im Atelier, wenn keine Kundinnen erwartet wurden und Viktoria nicht allzu viel Arbeit hatte. Das kam jedoch nur selten vor, und so wurden sie meistens von einer Kinderfrau betreut. Oder von ihrem Vater Lukas, wenn Viktoria bis in die Abendstunden im Modehaus zu tun hatte. Dieses Arrangement schien hervorragend zu funktionieren. Die drei Kleinen waren entzückend, und Mabelle musste sich zusammennehmen, um nicht manchmal leisen Neid auf ihre Schwester zu verspüren.

»Es geht mir gut«, behauptete sie und ignorierte auch weiterhin das kaum merkliche Ziepen, das sie seit dem Vortag in ihrem unteren Bauch spürte. Das war beim letzten Mal nicht so gewesen, also hatte es wohl nichts zu bedeuten.

Die Schwestern traten in den kleinen Raum, in dem die Maske untergebracht war, und ließen sich in zwei der bequemen Sessel nieder, die jeweils vor einem großen Spiegel standen. Aus dem Nebenzimmer eilte Fräulein Lieselotte herbei, begrüßte erst Viktoria, dann Mabelle, arrangierte ihr Handwerkszeug in Form von zahllosen Tiegeln, Tuben, Stiften und Pinseln auf der Platte unter dem Spiegel und begann ihr Werk bei Viktoria.

Mabelle war froh, noch ein bisschen Ruhe zu haben, bevor Fräulein Lieselotte auf sie losgehen und sie ständig auffordern würde, die Lippen zu spitzen, die Augen zu schließen, zu lächeln, zu blinzeln. Sonst machte ihr das nichts aus, sie genoss es sogar, aber momentan war ihr einfach alles zu viel.

Ihr war wieder ziemlich übel, bleischwere Müdigkeit lag auf ihren Lidern, und das Ziehen in ihrem Bauch war mittlerweile so stark, dass es schon fast als Schmerz zu bezeichnen war. Das machte ihr Angst, und die wiederum sorgte dafür, dass ihre Übelkeit heftiger wurde. Vielleicht hätte sie die Aufzeichnung absagen und zu einem Arzt fahren sollen, sie fürchtete sich jedoch allzu sehr vor einer neuerlichen schlechten Nachricht. Sicher verging das Ziehen gleich wieder. Vielleicht lag ihr das Essen vom Vorabend im Magen. Es war ein wenig schwer und zu fett gewesen. Oder es war auch einfach nur die ständige Sorge, die ihr diesen vagen Schmerz vorgaukelte.

Sie bemühte sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen und dabei dem munteren Geplauder von Fräulein Lieselotte zu lauschen. Die junge Kosmetikerin war ein unerschöpflicher Quell von Klatsch und Tratsch. Sie wusste alles, was im Studio vor sich ging. Wer in wen verliebt war, wer sich zerstritten hatte und wer demnächst eine wichtige Position bekleiden würde.

»Ingrid Brockmann kommt nachher ins Studio«, erzählte sie soeben. »Für ein Interview, das in der Münchner Abendschau gesendet werden soll. Weil in ein paar Wochen hier in München die Aufnahmen für ihren nächsten Film anfangen. Mit der Brockmann und mit Leo Fürst.« Den Namen von Ingrid Brockmanns Filmpartner sprach Fräulein Lieselotte aus, als ließe sie sich einen Löffel Sahneeis auf der Zunge zergehen.

»Hmhm«, machte Viktoria, weil die Kosmetikerin gerade ihre Lippen dunkelrot bemalte.

»Und wie finden Sie Leo Fürst?«, wandte Fräulein Lieselotte sich prompt an Mabelle. »Ist er nicht ein unglaublich gut aussehender und charmanter Mann?«

»Ich kenne ihn nicht persönlich«, stieß Mabelle aus enger Kehle hervor. Dort lauerte ein bitterer Geschmack. Sie schluckte krampfhaft, und ihr Blick huschte zu der Tür, hinter der sich die Damentoilette befand.

»Ich leider auch nicht.« Lieselotte zwinkerte ihr zu. »Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Vielleicht begleitet er die Brockmann zum Interview, oder er wird irgendwann später mal interviewt. Dann landet zwangsläufig auch er zum Abpudern in einem meiner Sessel.« Ein zartes Rot glitt über ihre Wangen.

»Man weiß nie, wie prominente Persönlichkeiten im wahren Leben sind«, warf Viktoria ein. Die Kosmetikerin hatte mittlerweile die Arbeit an ihrem Mund beendet. »Neulich war eine Dame, deren Namen ich selbstverständlich nicht nennen werde, bei mir im Modehaus. Ich kannte sie aus den Zeitungen und hatte im Rundfunk ein Interview mit ihr gehört. Da wirkte sie sehr freundlich und höchst sympathisch. Als Kundin fand ich sie ziemlich ... unausstehlich.« Sie pustete missbilligend die Wangen auf.

»Leo Fürst ist ganz bestimmt auch in Wirklichkeit sehr nett«, beteuerte Lieselotte. »So sehr kann man sich nicht verstellen.«

»Nun ja, er ist Schauspieler.« Viktoria beugte sich vor, um sich im Spiegel zu betrachten.

In diesem Moment brach Mabelle kalter Schweiß aus, und ein Schmerz durchfuhr sie, als würde jemand ein Messer in ihren Bauch stoßen und mehrmals umdrehen. Ein schriller Ton gellte in ihren Ohren. Er klang, als wäre ein wildes Tier verletzt worden. Starr vor Angst klammerte sie sich an die Armlehne des Sessels.

Ihre Schwester und Fräulein Lieselotte starrten sie aus weit aufgerissenen Augen an. Viktoria öffnete den Mund und sagte etwas, aber Mabelle konnte sie nicht verstehen. Zu laut das Pfeifen in ihren Ohren, zu heftig der Schmerz in ihrem Unterleib.

Nun passiert es wieder. Claus wird untröstlich sein. Was soll ich nur tun? Ich kann nichts tun. Niemand kann etwas dagegen tun. Es wird wieder und wieder geschehen.

Die Gedanken huschten wie im Nebel vorübergaloppierende Pferde durch ihren Kopf. Mit donnernden Hufen, aber zu flüchtig, um sie genau zu betrachten.

Viktoria beugte sich über sie und schaute ihr ängstlich ins Gesicht. »Was ist es? Schmerzen im Bauch?«

Außer einem erstickten Klagelaut kam nichts aus Mabelles Mund.

»Rufen Sie einen Krankenwagen, Fräulein Lieselotte«, herrschte Viktoria die Maskenbildnerin an.

»Jaaa«, kam es langgezogen zurück, aber die junge Frau rührte sich nicht von der Stelle. »Was soll ich denn sagen?«

»Meine Schwester erwartet ein Kind. Und es stimmt etwas nicht.« Vorsichtig legte Viktoria ihre Hand auf Mabelles Bauch. »Ganz ruhig atmen, meine Süße. Alles wird gut. Du musst dich entspannen.«

Durch den roten Schleier, den die Schmerzen in ihrem Kopf flattern ließen, sah Mabelle, wie die Kosmetikerin endlich zur Tür eilte, um in einem der Büros zu telefonieren. Wie lange würde es dauern, bis jemand kam? Zu lange.

Mabelle glitt vom Sessel und klammerte sich an Viktorias Schultern fest, weil sie sich nicht aufrichten konnte. Im selben Moment spürte sie das warme, klebrige Rinnsal, das an ihrem Bein hinablief.

Zu spät. Es war längst zu spät.

3

Schloss Haynbach, Wallburg, Baden-Württemberg, Anfang Juni 1959

Während der Zugfahrt vom Pariser Gare de l'Est zum Bahnhof Ettenheim in Baden-Württemberg hatte Gigi die meiste Zeit mit den Tränen gekämpft. Es war nicht gerade so, dass sie während der vergangenen vier Wochen nicht schon ausgiebig getrauert, geweint und mit ihrem Schicksal gehadert hätte. Und nun hatte der Entschluss, Paris zu verlassen, ohne auch nur mit Luc zu sprechen, eine neue Quelle der Tränen in ihr erschlossen. Es war eine schrecklich schmerzhafte Erkenntnis, dass sie – vielleicht irgendwann in einer fernen Zukunft – nur dann wieder glücklich werden konnte, wenn sie der Stadt an der Seine, dem Modeatelier und seinem Besitzer, für immer den Rücken kehrte. Viel zu lange hatten sich ihr Leben, ihr Denken und Fühlen um einen Mann gedreht, der unerreichbar für sie war. Unerreichbar und ohne jede Ahnung, wer sie wirklich war und was sie für ihn hätte sein können. Vernünftig betrachtet, gab es keine andere Lösung, als ihn niemals wiederzusehen. Aber seit wann hatte Liebe etwas mit Vernunft zu tun?

Nach jener Nacht, die sie erst so glücklich gemacht hatte, um sie dann in umso größeres Unglück zu stürzen, war Gigi mehrere Tage in ihrer Wohnung geblieben, ohne einen Fuß vor die Tür zu setzen. Im Atelier hatte sie sich mit einer Sommergrippe entschuldigt. Das Klingeln des Telefons hatte sie ignoriert, und die drei oder vier Mal, die Luc vor ihrer Wohnungstür aufgetaucht war, hatte sie ihm zugerufen, sie brauche Ruhe und sei sicher ansteckend.

Irgendwann – sie wusste nicht, ob inzwischen drei, vier oder fünf Tage vergangen waren –, hatte sie das Haus verlassen müssen, weil ihr das Essen ausgegangen war.

Zunächst hatte sie in dem kleinen Bistro an der Ecke ein halbes Dutzend Croissants verspeist – das Einzige, worauf sie in ihrem Elend Appetit gehabt hatte. Dann war sie, wenn nicht getröstet, so doch gestärkt, in ihre Wohnung zurückgekehrt und hatte sich sorgfältig geschminkt, sodass die Spuren der durchweinten Nächte kaum noch zu erkennen gewesen waren. Anschließend war sie ins Atelier gegangen, um die Kleider anzuprobieren, die in der Zwischenzeit nach Lucs Entwürfen genäht worden waren. Schließlich war es ihre vorrangige Aufgabe, ihm vorzuführen, wie seine Modelle an ihr wirkten, damit er abschließende Änderungen vornehmen lassen konnte.

Bei Lucs Anblick waren ihr sofort wieder Tränen in die Augen gestiegen, irgendwie hatte sie es jedoch geschafft, sich zu beherrschen. Er sollte sie nicht weinen sehen. Das verbot ihr der Stolz. Mit hocherhobenem Kopf war sie wieder täglich im Atelier aufgetaucht. Wenn jemand sie fragte, warum sie so blass wäre, behauptete sie, das seien die Nachwirkungen der Grippe.

Luc fragte nicht, er wusste, was mit ihr los war. Aber er schwieg, ebenso wie sie. Manchmal fragte sie sich allerdings, ob nicht auch er ihr die Sache mit der Sommergrippe abkaufte. Hatte er auch nur die leiseste Ahnung, was sie fühlte und dachte?

Dann kam der Morgen, an dem Gigi erwachte und wusste, so konnte und wollte sie nicht weitermachen. Sie hatte genug von der Zurückweisung, die jedes Mal, wenn sie Luc sah, aufs Neue wie eine frische Wunde pochte. Die Last der Enttäuschung drückte sie nieder wie ein Felsbrocken, den sie durch jeden Tag schleppen musste.

Sie hatte einen Zipfel vom Glück erhascht, nun konnte sie nicht mehr zurück und sich wieder mit der Rolle der Muse bescheiden, die nur, wenn ihr Herr und Meister Lust dazu hatte, aus der Ecke geholt und betrachtet wurde, um gleich darauf wieder in die Dunkelheit zurückgeschickt zu werden.

An einem grauen Pariser Morgen packte sie einen großen Koffer und nahm ein Taxi zum Bahnhof. Über das Ziel ihrer Reise musste sie nicht nachdenken. Es gab nur einen Menschen, bei dem sie jetzt sein wollte. Einen Menschen, der sie verstehen würde: ihre Freundin Mabelle. Bisher hatte sie nicht die Kraft gehabt, mit Mabelle über ihren Kummer zu sprechen. Am Telefon war das schwierig. Doch wenn sie beieinander sein würden, konnte sie sich alles von der Seele reden, und Mabelle würde sie zum Trost in die Arme nehmen.

Gigi erreichte Schloss Haynbach am späten Nachmittag. Die Sonne stand schon tief und brachte die vergoldeten Spitzen der weit offenstehenden Flügel des schmiedeeisernen Tors am Beginn der Auffahrt zum Leuchten. Im oberen Teil des eisernen Rahmens war das Wappen derer von Haynbach zu erkennen. Es zeigte einen Bach, einen Baum und ein Hirschgeweih.

»Fahren Sie weiter bis zum Gebäude«, wies Gigi den Taxifahrer an. »Es gibt hier an der Einfahrt weder eine Kamera noch eine Klingel oder eine Sprechanlage. Die von Haynbachs sind gastfreundlich. Wir fahren bis zur Tür, und ich klopfe an.«

Der Mann murmelte etwas vor sich hin und gab Gas. Die Bäume neben dem kiesbestreuten Weg huschten wie grüne Riesen an ihr vorbei. Dann tauchte das Schloss mit seinen Türmchen und der breiten Freitreppe auf. Unmittelbar vor der untersten Stufe bremste der Fahrer. Gigi bezahlte und stieg aus.

Sie hatte sich nicht angemeldet, denn sie wusste, dass sie bei Mabelle jederzeit willkommen war. Als sie wenig später in der Eingangshalle Mabelles Mann Claus gegenüberstand und seinen Blick sah, überkam sie das Gefühl, es wäre doch besser gewesen, wenigstens vom Bahnhof aus anzurufen.

Seit Mabelle und Claus geheiratet hatten und gemeinsam auf Schloss Haynbach lebten, hatte Gigi die meisten ihrer Urlaube hier bei der Freundin verbracht. Durch die zahlreichen Aufenthalte sprach sie mittlerweile sehr gut Deutsch. Sie war begabt für Sprachen und hatte zusätzlich Abendkurse in Paris besucht, sodass sie bis auf den leichten französischen Akzent, den viele Deutsche »sooo charmant« fanden, kaum jemals nach Worten suchen musste.

»Komme ich ungelegen?«, erkundigte sie sich angesichts seiner versteinerten Miene unsicher bei Claus.

»Entschuldige.« Mit einer müden Bewegung strich er sich über die Stirn. »Als Mabelles beste Freundin bist du uns natürlich jederzeit willkommen. Es ist nur so ... Ich weiß nicht, ob Mabelle in der Verfassung ist, mit dir zu reden.«

Ein eisiger Schreck durchfuhr Gigi. Sie starrte Claus entsetzt an. »Was ist denn mit ihr?«

»Du weißt es nicht? Ihr telefoniert doch so oft miteinander. Ich dachte, wenigstens mit dir hätte sie gesprochen.«

»In letzter Zeit ... Es war schrecklich viel los.« Sie stockte.

»Mabelle hat vergangene Woche das Kind verloren.« Sie konnte sehen, wie schwer es Claus fiel, die Worte auszusprechen. »Am Ende des dritten Monats. Wie beim ersten Mal. Seitdem verlässt sie kaum noch das Bett, redet mit niemandem und isst viel zu wenig.« Er zuckte hilflos mit den Schultern.

»Oh Gott! Das tut mir schrecklich leid.« Gigis Entsetzen wuchs. Wie hatte sie sich nur derart in ihren Kummer um Luc vergraben können, während ihre Freundin furchtbar litt? Sie hätte anrufen müssen. Schließlich hatte sie von Mabelles Schwangerschaft gewusst und davon, dass sie schon einmal eine Fehlgeburt erlitten hatte. Bittend schaute sie Claus an. »Kann ich zu ihr?«

»Sylvie und ich wollen gerade zu Abend essen. Du hast sicher auch Hunger. Möglicherweise ist es besser, wenn du erst morgen früh zu Mabelle gehst.«

»Du glaubst doch nicht, dass ich auch nur einen Bissen hinunterbringe, wenn ich weiß, dass meine Freundin elend und todtraurig ist«, unterbrach Gigi ihn energisch. »Wenn überhaupt, werde ich mit Mabelle zusammen essen.«

»Sei nicht zu enttäuscht, wenn sie sich weigert, mit dir zu sprechen«, bat Claus. »Auch mir gelingt es kaum, zu ihr durchzudringen.«

Gigi ließ ihren Koffer mitten in der Halle stehen und lief mit raschen Schritten die breite Treppe zur Galerie hinauf.

»Ist sie in eurem Schlafzimmer?«, rief sie Claus über die Schulter zu, als sie schon fast oben war.

Sein »Ja« hörte sie erst, als sie bereits die Tür erreicht hatte. Sie klopfte an, drückte, ohne zu warten, die Klinke herunter und trat ein.

Die dichten Vorhänge waren zugezogen, sodass nicht einmal das schwache Licht des scheidenden Tages durchs Fenster fiel. Gigi machte zwei Schritte und blieb stehen, weil sie Angst hatte, im Dunkeln gegen ein Möbelstück zu laufen.

»Mabelle?«, flüsterte sie. »Ich bin's. Darf ich Licht machen?«

Irgendwo raschelte Bettwäsche. »Gigi?« Mabelles Stimme klang furchtbar matt.

»Ja, ma chère.« Gigi machte einen Schritt rückwärts und tastete neben der Tür nach dem Lichtschalter, konnte ihn aber nicht finden.

Inzwischen hatten sich ihre Augen ein wenig an die Dunkelheit gewöhnt, und sie erkannte die Umrisse des Fensters, weil an den Kanten der Vorhänge schwaches Licht hereinfiel. Sie ging auf die grauen Streifen zu, griff nach den schweren Samtvorhängen und zog sie auf. Draußen war die Dämmerung hereingebrochen, doch sie sah nun das breite Bett in der Mitte des Zimmers und konnte auch die kleine Lampe auf dem Nachttisch erkennen. Ein paar Schritte, ungeduldiges Tasten nach dem Schalter – endlich war das Zimmer in mildes Licht getaucht.

»Mach das aus!«, kam es unter der Decke hervor, die Mabelle sich über den Kopf gezogen hatte.

»Es ist über ein halbes Jahr her, seit ich dich zuletzt gesehen habe. Zeig mir dein Gesicht. Ich habe dich schrecklich vermisst.« Gigi ließ sich auf die Bettkante sinken und zupfte am feinen Damast.

»Ich sehe schrecklich aus.« Das unterdrückte Schluchzen, das auf diese Worte folgte, zerriss Gigi fast das Herz.

»Glaubst du wirklich, es interessiert mich, ob du rot geweinte Augen und zerzaustes Haar hast?«, fragte Gigi streng. »Außerdem sehe ich auch nicht gerade blendend aus. Seit zwei Wochen weine ich mich jeden Abend in den Schlaf. Und zwischendurch heule ich auch bei jeder Gelegenheit.«

Sie hatte Mabelle, die schließlich genug eigene Sorgen hatte, eigentlich erst einmal nichts von dem Desaster mit Luc erzählen wollen. Doch nun war es heraus, denn es schien eine Möglichkeit zu sein, die Freundin hervorzulocken. Tatsächlich ging unter der Decke ein Ruck durch Mabelles schmalen Körper. Schließlich tauchte erst ein Schopf wirrer goldblonder Haare auf, dann ein blasses, schmales Gesicht mit zwei riesigen blauen Augen, die in Tränen schwammen.

»Luc, nicht wahr? Warum hast du nicht angerufen?« Unter ihren geschwollenen Lidern hervor sah Mabelle sie erschrocken an.

»Du hast mich wegen deines Kummers ja auch nicht angerufen. Es tut mir schrecklich leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe. Mir fehlte einfach die Kraft, und wahrscheinlich war es bei dir auch so. Der Gedanke, es am Telefon auszusprechen, ist schrecklich, ich weiß. Aber ich weine nun nicht mehr.« Die letzte Behauptung stellte Gigi so energisch auf, dass sie es fast selbst glaubte. »Die leidige Geschichte ist so gut wie vergessen, und Luc auch. Ich weiß jetzt, dass ich all die Jahre auf einem Weg war, der genau zu diesem Punkt führen musste. Aber lassen wir das. Darüber können wir später irgendwann sprechen. Jetzt geht es erst mal um dich.«

»Es gibt nichts zu sprechen. Es ist sinnlos und tut schrecklich weh«, flüsterte Mabelle, und im milden Licht der Nachttischlampe sah Gigi eine große Träne über ihre Wange laufen.

Sanft zog sie die Freundin in die Arme. »Es tut mir so furchtbar leid. Es ist einfach ungerecht, dass dir das nun schon zum zweiten Mal passiert ist. Du bist eine wunderbare Mutter und ein wunderbarer Mensch und hast so viel Leid nicht verdient.«

Lange saßen sie eng umschlungen da. Gigi spürte, wie ihre Bluse von Mabelles Tränen feucht wurde. Da weinte sie ebenfalls. Aber dieses Mal vergoss sie keine Tränen um Luc, sondern Tränen des Mitleids mit ihrer Freundin.

»Es fühlt sich so gut an, dass du da bist«, sagte Mabelle schließlich, hob den Kopf von Gigis Schulter und wischte sich mit dem Handrücken die Wangen trocken. »Mit Claus kann ich nicht über meinen Kummer sprechen. Er ist selbst so traurig.« Ein Schluchzen brachte ihre Schultern zum Beben.

»Claus liebt dich, das kann ein Blinder sehen«, erklärte Gigi mit Nachdruck. »Natürlich trauert auch er um das Kind, das ihr nicht in die Arme schließen durftet. Aber mindestens so sehr leidet er, weil es dir so schlecht geht.«

»Er liebt Sylvie und ist ihr ein wunderbarer Vater, aber er wünscht sich schon lange ein eigenes Kind. Und ich bin nicht in der Lage, ihm diesen Wunsch zu erfüllen.« Von den unterdrückten Tränen war Mabelles Stimme gepresst.

»Er liebt sein Leben mit dir und Sylvie, das kann jeder sehen, der Augen im Kopf hat. Er liebt dich so sehr, dass man neidisch werden kann. Denk nur mal an Frieda. Sie hat sich aus freien Stücken für deinen Bruder entschieden, obwohl nach seiner Kriegsverletzung klar ist, dass sie niemals eigene Kinder mit ihm haben wird. Ich sehe die beiden zwar nicht oft, aber auf mich wirken sie sehr glücklich. Und bei Claus und dir besteht die große Hoffnung, dass ihr eines Tages ein gemeinsames Kind haben werdet.«

»Frieda konnte sich entscheiden, weil sie es vorher wusste. Claus hatte diese Chance nicht. Wie sollte er ahnen, dass er ohne eigenes Kind bleiben wird? Schließlich habe ich schon eine Tochter von einem anderen Mann. Wenn man bedenkt, dass ich damals fast sofort in anderen Umständen war und Sylvie ohne jedes Problem zur Welt kam ...« Mabelle starrte in die Luft.

Mit einer sanften Geste strich Gigi ihrer Freundin ein paar zerzauste Locken aus der Stirn. »Jetzt verrate mir, wann du zuletzt etwas gegessen hast«, wechselte sie das Thema.

»Ich habe keinen Hunger.«

»Du musst zu Kräften kommen. Weil du schon sehr bald dieses Bett verlassen und wieder am Leben da draußen teilnehmen wirst. Deine Tochter braucht dich, dein Mann braucht dich, und ich brauche dich auch.«

»Erzähl mir, was passiert ist«, forderte Mabelle sie auf. »Ist es nach deiner Nacht mit Luc nicht so weitergegangen, wie du es dir erhofft hast?«

Gigi biss sich auf die Unterlippe. »Du solltest keinen Gedanken an alberne Frauen wie mich verschwenden, die Träumen nachhängen, die sie schon längst hätten begraben sollen, wenn sie mit offenen Augen durchs Leben gehen würden.«

»Erzähl mir, was passiert ist«, forderte Mabelle sie erneut auf.

Doch Gigi schüttelte den Kopf. »Ich will jetzt nicht über ihn reden. Seit ich hier angekommen bin, gelingt es mir zum ersten Mal seit Wochen, nicht ununterbrochen an ihn und meine verflixte Dummheit zu denken. Das ist ein Fortschritt.«

Lange sahen sie einander schweigend an. Dann lächelten sie gleichzeitig. Gigi griff nach Mabelles Hand und drückte sie. Die Freundin erwiderte den Druck.

»Ich schlage vor, du wäschst dir das Gesicht, kämmst dir die Haare und wirfst dir einen Morgenmantel über. Ich gehe inzwischen nach unten und hole uns etwas zu essen«, sagte Gigi schließlich.

Fast war sie erstaunt, als Mabelle nickte und die Bettdecke zurückschlug. Bevor Gigi sich auf den Weg in die Küche machte, öffnete sie einen der Fensterflügel. Zwischen den hohen Bäumen des weitläufigen Parks um Schloss Haynbach lag silbrig die Dämmerung. Im Wipfel einer Tanne zwitscherte eine Amsel ihr Abendlied und klang dabei verhalten, als sänge sie schon halb im Schlaf.

Eine Weile lehnte Gigi im Fenster, atmete tief durch und genoss die klare Luft, das frische Grün und die Ruhe. Zu ihrem eigenen Erstaunen rührte sich tief in ihrem Inneren etwas, das sich fast wie Freude anfühlte – wie eine winzige Flamme, die im sanften Wind zuckte, aber nicht verlosch.

Sie wandte sich um und schaute Mabelle an, die sich soeben auf den Weg ins nebenan liegende Bad machte.

»Eines Tages wird alles gut sein«, verkündete Gigi mit Nachdruck. »Wir werden den Schmerz nicht vergessen, den das Leben uns zugefügt hat, doch er macht uns stärker. Daran müssen wir glauben und uns die Hoffnung bewahren, dass das Schicksal sich wendet.«

Mabelle blieb stehen, kniff die Augen zusammen und schaute die Freundin lange stumm an. »Ich weiß nicht, ob ich das kann«, sagte sie schließlich.

Mit diesen Worten verschwand sie hinter der Tür zum Bad, und Gigi machte sich auf den Weg in die Küche. Es wurde höchste Zeit, denn inzwischen hatte sie großen Hunger.

4

Schloss Haynbach, Wallburg, Anfang Juni 1959

Drei Tage später hatte Gigi die Freundin immerhin dazu gebracht, jeden Morgen ihr Bett zu verlassen, sich anzuziehen und nach unten zum Frühstück zu gehen. Allerdings machte Mabelle dabei häufig den Eindruck, nur körperlich anwesend zu sein. Wie schlecht es ihr immer noch ging, drückte sich auch darin aus, dass sie sich zwar noch zwei oder drei Mal nach Luc und den genauen Gründen für Gigis unangekündigten Besuch auf Schloss Haynbach erkundigt hatte, sich jedoch stets rasch überzeugen ließ, das Thema fallenzulassen.

Gigi wollte nicht über die Geschichte sprechen. Noch nicht. Sie wusste, dass sie nicht länger in Lucs Nähe leben durfte, wenn sie nicht wieder und wieder verletzt werden wollte. Obwohl ihr das vollkommen klar war, tat ihr der Gedanke, ihn nicht wiederzusehen, so weh, als würde jemand ihr Herz mit einem scharfen Messer zu Ragout verarbeiten. Darüber sprechen konnte sie schon gar nicht, denn sie hatte das Gefühl, wenn sie ihre Gedanken und Gefühle in Worte fasste, würde sie erneut anfangen zu weinen und nie wieder aufhören.

Mehrmals schon hatte sie in der Halle von Schloss Haynbach vor dem Telefonapparat gestanden und mit sich gekämpft. Einmal hatte sie sogar die ersten Ziffern seiner Nummer gewählt. Aber dann hatte sie den Hörer zurück auf die Gabel fallen lassen, als hätte sie sich daran verbrannt. Sie musste ihm sagen, dass sie nicht zurückkommen würde. Dass er sich ein neues Hausmannequin, eine neue Muse suchen sollte. Doch sie fand einfach nicht die Kraft, mit ihm zu reden. Sie brauchte noch etwas Zeit. Vielleicht würde sie aber auch einfach ohne ein Wort aus Lucs Leben verschwinden. Ein bisschen gönnte sie es ihm, sich zu fragen, wohin sie verschwunden war, und ob sie jemals wieder in Paris auftauchen würde. Ob er sich Sorgen um sie machte? Er besaß einen Zweitschlüssel zu ihrer Wohnung und konnte problemlos feststellen, dass ein Teil ihrer Garderobe fehlte. Also würde er wissen, dass sie verreist war.

Falls er sich auch nur das geringste bisschen für sie interessierte, wusste er dann auch, wohin sie wahrscheinlich gefahren war. Warum hatte er noch nicht auf Schloss Haynbach angerufen? Wieder ein Schmerz, der sie zusammenzucken ließ. Wieder ein Grund, rasch an etwas anderes zu denken. Sie musste sich um Mabelle kümmern, musste dafür sorgen, dass die Freundin neuen Lebensmut fasste. Wenn ihr das gelungen war, konnte sie sich immer noch mit dem Problem Luc beschäftigen.

Die Nächte waren und blieben schwierig. Sobald sie die Lider schloss, sah sie Luc vor sich und fuhr in den Kissen hoch. Dann knipste sie die Nachttischlampe an, griff nach ihrem Buch, las so lange, bis sie die Augen kaum noch offenhalten konnte, löschte das Licht – und alles ging wieder von vorn los.

Als Gigi an diesem Morgen die Treppe hinunterging, fühlten sich ihre Beine bleischwer an. Auf dem Weg nach unten hatte sie in Mabelles Schlafzimmer geschaut und festgestellt, dass die Freundin offenbar bereits beim Frühstück war. Tatsächlich traf sie im nach Osten gelegenen Frühstückszimmer die ganze Familie an: Mabelle, Claus und Mabelles zwölfjährige Tochter Sylvie. An der Wand, nicht weit entfernt von der Schmalseite des Tisches, hingen zwei Porträts in schweren goldenen Rahmen. Sie zeigten Mabelles Großeltern, den Grafen und die Gräfin von Haynbach. Der Graf war bereits vor drei Jahren gestorben, Gräfin Eveline im vergangenen Herbst. Gigi beobachtete, wie Mabelle einen raschen Blick zum Bild der vornehm dreinblickenden silberhaarigen Dame hinaufwarf, während sie in ihrer Tasse rührte.

Mabelle hatte ihre Großeltern erst als junge Frau kennengelernt. Es war ihr nicht leichtgefallen, den alten Leuten zu verzeihen, dass sie ihren Sohn, Mabelles Vater, wegen seiner nicht standesgemäßen Ehe mit Claire, der Mutter der drei Geschwister Haynbach, verstoßen hatten. Doch Graf und Gräfin bereuten ihr Handeln und schlossen besonders ihre jüngste Enkelin sofort ins Herz. Sie vermachten Mabelle ihr Schloss und ihre Ländereien, und Gigi wusste, dass Mabelle ihren Großvater und ihre Großmutter immer noch betrauerte und vermisste. Vielleicht hätte die Gräfin Mabelle helfen können, über den Verlust ihres ungeborenen Kindes hinwegzukommen. Gräfin Eveline hatte in ihrer vornehmen Art unbeugsamen Willen mit einem fühlenden Herzen verbunden und konnte auch Gigi noch in der Erinnerung als Vorbild dienen.

Wie fast immer während der gemeinsamen Mahlzeiten saß Mabelle stumm auf ihrem Platz und aß sehr wenig. Wenn sie angesprochen wurde, antwortete sie einsilbig, und nur ihrer Tochter zuliebe quälte sie sich gelegentlich ein Lächeln ab. Ihr Verhalten hatte zur Folge, dass auch die anderen Familienmitglieder mit gesenkten Stimmen sprachen.

Gigi war der Meinung, dass es Mabelle am meisten helfen würde, wenn das Leben um sie herum weiterging und trotz des traurigen Ereignisses ab und zu gelacht würde. An diesem Morgen plauderte sie heiter über Paris, was ihr nicht leichtfiel, weil die Stadt für sie gleichbedeutend mit Luc war. Als sie nun Montparnasse und Montmartre beschrieb, die Seine bei Nacht mit ihren beleuchteten Ausflugsdampfern und den Blick vom Eiffelturm über die Dächer der Stadt, gelang es ihr für eine Weile sogar, nicht an sein Lächeln und seine Augen zu denken.

»Und wie ist es, bei einem berühmten französischen Modeschöpfer zu arbeiten?«, erkundigte sich Sylvie. »Ich finde es schon bei Tante Viktoria so toll. Aber in Paris – das muss noch viel aufregender sein.«

Gigi schnappte nach Luft und spürte, wie das Blut aus ihren Wangen wich.

»Bitte, Sylvie, mein Schatz. Gigi ist hier, um sich von ihrer Arbeit zu erholen«, mischte sich zu ihrem Erstaunen Mabelle ein.

Das Mädchen nickte, aber Gigi sah, dass sie nur mühsam ein Augenrollen unterließ. »Großmama hat immer deinen Teint bewundert, Gigi«, sagte sie unvermittelt. »Es ist der Teint einer Rothaarigen, hell und zart wie Sahne.«

Sylvie imitierte den leicht näselnden Tonfall ihrer Großmutter. Sie tat es auf freundliche, liebevolle Art. Dennoch sah Gigi, dass Mabelle den Mund öffnete, um sie zu tadeln, die Lippen dann aber wieder schloss.

»Aber heute«, fuhr Sylvie fort, »hast du ganz blaue Schatten unter den Augen.«

»Sylvie!«, sagte Mabelle nun doch, während Claus, der in die Lektüre der Zeitung vertieft war, nichts von der Unterhaltung mitzubekommen schien.

»Sie hat ja recht.« Mabelle lächelte Sylvie an. »Ich schlafe zurzeit schlecht und bin ein bisschen nervös. Die Ruhe hier wird mir guttun. Vorerst sollte ich vielleicht einfach ein bisschen mehr Schminke benutzen.«

Kichernd stocherte Sylvie in ihrem Rührei herum.

»Wir könnten nach dem Frühstück einen Spaziergang im Park machen«, schlug Gigi ihrer Freundin vor. »Die frische Luft wird uns beiden guttun.«

»Ich könnte euch begleiten«, sagte Sylvie hoffnungsvoll. »Wenn es euch beiden nicht gut geht, braucht ihr jemanden, der euch stützt und auf euch aufpasst.«

Ihr selbstloser Vorschlag löste verhaltenes Gelächter aus. Immerhin, dachte Gigi. Es war das erste Mal, dass sie Mabelle wieder lachen hörte, wenn auch sehr leise und nur ganz kurz.

»Das ist wirklich nett von dir, Sylvie. Aber wir zwei setzen uns gleich ins Auto und fahren in die Stadt. Ich muss in die Werkstatt, und du hast heute Schule, wie du dich sicher erinnerst.« Claus faltete die Zeitung zusammen, legte sie neben seinen Teller und stand auf.

»Aber ...«, setzte Sylvie erneut an, begriff dann jedoch offenbar, dass es keinen Zweck hatte. Sie erhob sich widerwillig, küsste ihre Mutter zum Abschied auf die Wange, winkte Gigi zu und folgte Claus zur Tür.

»Gehen wir in den Park?«, sagte Gigi, nachdem die beiden verschwunden waren.

Mabelle reagierte nicht, sondern zerbröselte gedankenverloren ein Stück Toast auf ihrem Teller.

Als Gigi ihre Frage wiederholte, sagte sie: »Das Stückchen blauer Himmel ist trügerisch. Es wird regnen.«

»Wir könnten einen Schirm mitnehmen.« Gigi hatte sich vorgenommen, Mabelle an diesem Tag endlich aus dem Haus zu locken. Auch wenige Minuten im Park würden ein Fortschritt sein. Von Claus wusste Gigi, dass Mabelle seit ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus nicht im Freien gewesen war.

Wieder reagierte die Freundin nicht. Gigi unterdrückte einen Seufzer und wechselte das Thema: »Heute Abend läuft Was bin ich?. Und heute Nachmittag wird in der Frauenstunde Schick mit Charme ausgestrahlt.«

Mit einem Ruck hob Mabelle den Kopf und starrte Gigi überrascht an. »Tatsächlich? Wie kann das sein?«

»War es nicht von Anfang an so, dass Viktoria und du an jedem zweiten Donnerstag im Monat jeweils um sechzehn Uhr die Sendung gemacht habt? Heute ist Donnerstag.«

»Das ist die Zeit, zu der die Schau gesendet wird. Es sind Aufzeichnungen. Und die letzte Aufzeichnung, die ich mit Viktoria gemacht habe, müsste vor zwei Wochen gelaufen sein. Ich verstehe nicht, was sie heute zeigen könnten. Eine Wiederholung?« Ratlos sah Mabelle die Freundin an. Dann stand sie auf und lief aus dem Zimmer.

Gigi stellte das Geschirr zusammen, weil sie immer ein schlechtes Gewissen hatte, alle Arbeit den Hausangestellten zu überlassen. Ihre Kindheit in bescheidenen Verhältnissen und die Jahre im Heim nach dem Tod ihrer Eltern hatten sie geprägt. Ebenso wie Mabelle und ihre Geschwister es von Kindheit an gewohnt gewesen waren, dass alle Arbeiten im Haus von Angestellten erledigt wurden. Daran hatten auch die harten Nachkriegsjahre nichts geändert, in denen die Haynbach-Schwestern gehungert und mit bloßen Händen Kartoffeln ausgegraben hatten. Sie waren in der Lage, hart zu arbeiten, aber es machte ihnen nichts aus, sich von Menschen, die dafür bezahlt wurden, bedienen zu lassen.

Nachdem sie das Geschirr auf das große Tablett gestellt hatte, sodass das Hausmädchen es nur noch in die Küche tragen musste, machte Gigi sich auf die Suche nach Mabelle. Sie fand die Freundin im großen Salon. Sie stand mitten im Raum und hielt eine aufgeschlagene Illustrierte in der Hand. Gigi erkannte den Aufdruck Hör Zu! auf dem Titelblatt. Offenbar studierte Mabelle das Fernsehprogramm. Als sie den Kopf hob, war ihr Gesicht ebenso blass wie zuvor, ihre Augen funkelten jedoch lebhaft.

»Es ist keine Wiederholung, sondern eine Direktübertragung«, stieß sie hervor. »Und hier steht, dass Viktoria die bekannte Schauspielerin Ingrid Brockmann zu Gast hat, die eines der Haynbach-Modelle in mehreren Varianten vorführen wird. Ich bin einfach ersetzt worden. Und Viktoria hat mir nicht mal etwas davon gesagt.«

»Seit ich hier bin, hat Viktoria mehrmals angerufen und wollte mit dir reden«, sagte Gigi vorsichtig. »Erst gestern mindestens zwei Mal. Du hast jedes Mal gesagt, dass du dich später bei ihr melden wirst. Soweit ich weiß, hast du es nicht getan.«

»Ich konnte ja nicht wissen, worum es ging.« Achtlos warf Mabelle die Zeitschrift auf eines der niedrigen Tischchen. »Ich muss nach München. Begleitest du mich?«

Erstaunt sah Gigi die Freundin an. »Wenn du willst.«

Eine gute Stunde später saßen sie im Zug. Seit sie von der Modesendung im Nachmittagsprogramm erfahren hatte, war Mabelle wie verwandelt. Ihre gedrückte Stimmung war nervöser Anspannung gewichen. Sie schaute aus dem Fenster, zupfte an ihrer Kleidung, schlug die Beine übereinander und stellte gleich darauf beide Füße auf den Boden.

»Wir werden wahrscheinlich nicht vor Beginn der Sendung dort sein«, sagte Gigi nach einer Weile. Sie hatte bis jetzt nicht gefragt, was Mabelle vorhatte. Glaubte die Freundin, sie könnte die bekannte Schauspielerin in letzter Minute wieder ausbooten? Das würde sicher nicht funktionieren, zumal Ingrid Brockmanns Auftritt bereits in den Programmzeitschriften angekündigt worden war.

»Wenn der Zug pünktlich ist und wir am Bahnhof sofort ein Taxi bekommen, könnte es klappen.«

»Und dann?«

»Entschuldigen Sie bitte«, unterbrach in diesem Moment eine Frau in mittleren Jahren das Gespräch. Ihre blondierten Haare waren sorgfältig in Wellen gelegt, auf denen ein graues Hütchen balancierte. »Ich kenne Sie aus dem Fernsehen. Sie sind Mabelle von Haynbach, nicht wahr?«

Mabelle nickte und nahm das Büchlein entgegen, das die Frau ihr hinhielt. »Für wen?«, erkundigte sie sich routiniert.

»Für Josefine bitte. Meine Freundinnen werden nicht glauben, dass ich Sie im Zug getroffen habe. Wir alle sehen uns jede Ihrer Sendungen an. Sie sind so elegant, und die Kleider, die Ihre Schwester entwirft, sind so wunderschön.«

»Es freut mich, dass Schick mit Charme Ihnen gefällt.« Mabelle kritzelte etwas in das Büchlein und gab es zurück.