Fräulein vom Amt – Der Tote im Kurhaus - Charlotte Blum - E-Book
SONDERANGEBOT

Fräulein vom Amt – Der Tote im Kurhaus E-Book

Charlotte Blum

0,0
12,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Alma Täuber ermittelt zwischen rauschenden Festen und Ägyptenfieber – der zweite Fall für das Fräulein vom Amt Baden-Baden 1924. Die ganze Stadt befindet sich im Ägyptenfieber, seit bekannt ist, dass im Kurhaus Verdis »Aida« aufgeführt wird. Die anschließende Premierenfeier unter dem Motto »Legenden des Nil« wird zum rauschenden Höhepunkt, der jedoch ein abruptes Ende findet, als der Tenor ermordet aufgefunden wird.  Das Fräulein vom Amt Alma Täuber ist entsetzt, war sie doch selbst Gast der Feier, zu der ihre Freundin Emmi die Ausstattung entworfen hatte. Und keine andere als Emmi wird nun Gegenstand der polizeilichen Ermittlungen. Alma, die kein Unrecht ertragen kann, streckt ihre Fühler aus, um Emmi zu helfen.  Dabei kommt sie hautnah in Berührung mit Eifersuchtsdramen, einem schwierigen Opernensemble und altägyptischen Artefakten. Und bringt sich trotz Warnung von Kriminalkommissar Ludwig Schiller selbst in höchste Gefahr.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 422

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Charlotte Blum

Fräulein vom Amt – Der Tote im Kurhaus

Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Baden-Baden in den Goldenen Zwanzigern – das Fräulein vom Amt Alma Täuber ermittelt

Baden-Baden 1924. Die ganze Stadt befindet sich im Ägyptenfieber, seit bekannt ist, dass im Kurhaus Verdis »Aida« aufgeführt wird. Die anschließende Premierenfeier unter dem Motto »Legenden des Nil« wird zum rauschenden Höhepunkt, der jedoch ein abruptes Ende findet, als der Tenor ermordet vor dem Eingang des Palais Hamilton aufgefunden wird. 

Das Fräulein vom Amt Alma Täuber ist entsetzt, war sie doch selbst Gast der Feier, zu der ihre Freundin Emmi die Ausstattung entworfen hatte. Ausgerechnet Emmis Freund und Verehrer August wird schnell zum Hauptverdächtigen. Emmi ist verzweifelt, und Alma kann nicht anders, als ihre Fühler auszustrecken.

Dabei kommt sie hautnah in Berührung mit Eifersuchtsdramen, einem schwierigen Opernensemble und altägyptischen Artefakten. Und bringt sich trotz Warnung von Kriminalkommissar Ludwig Schiller selbst in höchste Gefahr.

Der zweite Fall für das Fräulein vom Amt Alma Täuber

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Ein Foto von ihrer mit Kopfhörern vor einem Schaltschrank sitzenden Großmutter hatte es Regine Bott schon als Kind angetan. Dem Begriff des »Fräulein vom Amt« begegnete sie damals zum ersten Mal, und der Beruf der Telefonistin ließ sie nicht mehr los. Dorothea Böhme begegnete Regine Bott hingegen erst Jahrzehnte später. Und siehe da: Auch das Leben von Dorotheas Großmutter bot so einiges an Romanstoff, stellte sie doch die damaligen Geschlechterrollen auf den Kopf. Die Idee, gemeinsam als Charlotte Blum eine Serie um das Fräulein vom Amt Alma Täuber und ihre unkonventionelle Freundin Emmi zu schreiben, war geboren. Die beiden Autorinnen sind gemeinsam nicht nur schreibend unterwegs, sondern treten auch regelmäßig im Rahmen einer Lesebühne zusammen auf. Sie leben mit ihren Familien in Stuttgart und Kornwestheim.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Inhalt

[Widmung]

[Motto]

1924

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

Nachwort

Glossar

[Ankündigung Band 3]

Für Wilhelmine, ägyptenbegeisterte Künstlerin

»Schnell und hastig ist der Pulsschlag unserer Zeit – nur wer angeborenes Tempo besitzt und es auswirken läßt, kann diese Epoche beherrschen.«

 

Mara Herberg: Autofahrt mit Tilla Durieux, in: Sport in Bild, Nr. 22/1926

1924

1

Er würde nicht schreien. Kräftige Hände packten ihn, stießen ihn, vorwärts, hinab, hinein in sein Grab.

Dunkelheit. Der Geruch von Lehm umfing ihn. Staub reizte seine Lungen. Wie betrunken stolperte er die Stufen hinunter, stürzte, schlug hart auf dem festgetretenen Erdboden auf.

Eine Fackel hatte man ihm gelassen; sie warf ein schwaches Licht auf die Mauern um ihn. Eine einzige Fackel. Und es würde nicht lange dauern, bis sie herunterbrennen, nur noch glimmen würde. Er hörte, wie oben der letzte Gesteinsbrocken vor sein Gefängnis geschoben wurde, tief grollend wie eine wilde Kreatur, unüberwindbar. So unnachgiebig wie die Mauern. Es gab keine Möglichkeit zu entrinnen, keine Möglichkeit zur Flucht. Lebendig begraben. Wie lange würde es dauern, bis er dem Wahnsinn anheimfiel? Bis ihn die Dunkelheit des Todes gnädig empfangen würde?

Er hatte sich freiwillig dem Urteil gebeugt, der Liebe wegen, hatte sie schützen wollen, und so nahm er sein Schicksal in Kauf. Lange würde er nicht mehr warten müssen.

Trotzdem: Beinahe gierig nach Licht schob er sich in den feinen, flackernden Streifen am Boden, harrte dort aus, bis dieser völlig verschwunden war. Er kauerte sich auf dem kalten Boden zusammen, den leeren Blick auf die noch zart glimmende Fackel geheftet. Bald vorbei. Es war bald vorbei.

Plötzlich ein Seufzen. Ein Rascheln. Ein Schaben an der Wand. Ein Tier? Dann leise Schritte, kaum zu hören und doch zu erkennen. Was …? Trogen ihn seine Augen? Er zuckte zurück, sein Atem ging schneller. Langsam schälte sich eine Gestalt aus dem Schatten …

*

»Was für ein Ende!« Tosender Applaus brandete auf, Emmi griff nach Almas Arm und drückte zu. Im Schein der allmählich heller werdenden Saalbeleuchtung wandte sie ihrer Freundin das tränenüberströmte Gesicht zu und schluchzte über die Bravo-Rufe des Publikums hinweg: »Sie haben ihn eingemauert, sie haben ihn tatsächlich lebendig eingemauert!«

Alma, die selbst noch ganz im Gefühl des eben erlebten Schauspiels stand, konnte nur schwach nicken. Dann erhob sie sich und stimmte lauthals in die »Zugabe!«-Forderungen mit ein. Das eigens für diesen Anlass auf achtzig Musiker verstärkte Orchester verbeugte sich, und als der Musikdirektor die Bühne betrat, schwoll der Applaus noch einmal an.

»Eingemauert«, wiederholte Emmi. »Gemeinsam mit Aida. Sie ist ihm in den Tod gefolgt! Sein Gesichtsausdruck, als er sie im Halbdunkel gesehen hat!« Sie tat es Alma gleich, stand auf und warf Kusshände gen Ensemble, das jetzt gemeinsam die Bühne betrat und sich verneigte.

Alma stieß einen Seufzer aus, der dem der äthiopischen Königstochter zuvor auf der Bühne in nichts nachstand. »Romeo und Julia. Wie bei Romeo und Julia.«

 

Einige Minuten später eilte Emmi voraus und drängte sich zwischen dem Publikum hindurch Richtung Ausgang. Wie ein durch Wolken verschleierter Sternenhimmel erstrahlte das Licht der Kristalllüster an der gewölbten und mit goldenen Ornamenten verzierten Kassettendecke des Großen Bühnensaals. Den schimmernden Pailletten von Emmis Kleid mit den Augen zu folgen, glich dem schlafwandlerischen Streifzug durch einen orientalischen Traum. Nur kurze Zeit später verlor Alma den skandalös tiefen Rückenausschnitt ihrer Freundin – goldene Glasperlen und Pailletten glitzerten auf dem Stoff, blassgrüne und blaue Fransenschnüre an Taille und Saum schaukelten bei jeder Bewegung – im Gewimmel aus den Augen und machte sich dann selbst auf den Weg zum Ausgang. Vor dem Großen Bühnensaal angekommen, hielt sie erneut mit gerecktem Hals Ausschau nach »Wölkchen«, wie Emmi auch genannt wurde. Dabei blieb ihr Blick an einigen jungen, schlanken Männern hängen, jedoch ein bestimmter mit einer feinen Narbe im Gesicht war nicht unter ihnen. Kriminalkommissar Ludwig Schiller war offenbar nicht gekommen, um dem Ereignis des Kursommers beizuwohnen. Alma schalt sich, dass sie immer noch nach ihm suchte, ihn immer noch sehen wollte, war sie es doch gewesen, die …

Statt Ludwig hielt jedoch plötzlich Emmi von der einen und Almas Familie von der anderen Seite auf sie zu. Froh über die Ablenkung atmete Alma auf: Während ihre Freundin und Mitbewohnerin sich zwischen elegant gekleideten Grüppchen hindurchschob, die angeregt die letzten musikalischen Stunden Revue passieren ließen, schien sich die Masse vor Großmaman zu teilen wie das Rote Meer vor Moses. Emmi gab handwedelnd ein Erkennungszeichen und kam schließlich leicht außer Atem bei Alma an.

»Der von Lindner will mich anscheinend sprechen, deswegen muss ich mich jetzt eine Weile bei dir verstecken«, keuchte sie und drückte sich an Almas Rücken. »Menschenskind, der ist unglaublich angespannt wegen des Balls morgen Abend. Hat einen Spleen nach dem anderen.« Sie warf Almas Vater eine Kusshand zu und deutete vor seiner noch einige Meter entfernten Schwiegermutter einen Knicks an. »Es ist doch immer wieder eine Freude, Sie zu sehen«, tirilierte sie laut.

Almas Großmutter tat, als habe sie nichts gehört, und näherte sich majestätischen Schrittes. »Ist dem Modehaus der Stoff ausgegangen?«, war alles, was sie dann nach einem empörten Blick auf Emmis tief ausgeschnittenes, ärmelloses Chiffonkleid zu sagen hatte.

»Es ist wunderschön, wunderschön!«, entfuhr es Almas Mutter begeistert. Wie entschuldigend strich sie dabei über den dezent geblümten Stoff ihres schlicht geschnittenen Rocks. »Wie schade, dass wir nicht zusammensitzen konnten. War es nicht traumhaft?«

Ernst von Lindner, der Künstlerische Leiter des Baden-Badener Kurhauses, hatte nicht nur Verdis Oper in die Stadt geholt, sondern darüber hinaus ein Opernensemble gefunden, das seinesgleichen suchte.

»In ganz Europa werden sie herumkommen«, prophezeite Almas Vater schwärmerisch. »Und diese Sopranistin …«

»Es war wirklich traumhaft, Mama«, bestätigte Alma die zuvor gemachte Feststellung ihrer Mutter.

»Und so romantisch«, fügte Emmi hinzu.

»Großmutter hatte Pferde und eine Balletteinlage erwartet«, scherzte Almas Vater. »Ihr wisst schon. Wie in Verona. Vor dem Großen Krieg. Womöglich ist sie enttäuscht, dass kein Kamel auf der Bühne stand.«

Die alte Dame stieß entrüstet Luft aus. »Ich muss schon bitten, Egon!«

»Nein, nein, liebe Schwiegermama.« Vater Täuber hob übertrieben dramatisch die Hände. »Leugne es nicht.« Verschwörerisch beugte er sich zu Alma und Emmi. »Wir haben seit Tagen nichts anderes gehört. Außer Verdi natürlich. Verdi. Verdi. Verdi. Auf dem Plattenteller. Ohne Unterlass.« Er seufzte vielsagend.

Alma konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Du armer Mann, du. Siehst aber gut aus trotz zerrütteter Nerven. Neuer Anzug?«

»Mon Dieu, diese Sonderausgaben«, murmelte ihr Vater seine Schwiegermutter imitierend, dabei überzog ein schelmisches Lächeln sein Gesicht.

»Hat es dir denn trotzdem gefallen, Großmutter?«, erkundigte sich Alma laut. »Auch ohne Kamele, Palmen und eine mit Sand aufgeschüttete Bühne?«

»Ihr macht euch über mich lustig. Ihr alle!« Die Lippen der alten Dame wurden schmal. »Das Wetter könnte allerdings schon ägyptischer sein. Dieser Regen!«

»Ja, es ist furchtbar«, stimmte Almas Mutter, sichtlich erleichtert über den Themenwechsel, schnell zu. »Und wie läuft es denn mit den Vorbereitungen zu den Feierlichkeiten, Emmi? Die Legenden des Nil?«, erkundigte sie sich.

Auf Anregung von Ernst von Lindner sollte ein rauschendes Fest unter diesem Motto vonstattengehen. Und Emmi, die beim Blumenhändler Albert Baer als Dekorateurin arbeitete und deren Phantasie keine Grenzen kannte, war als Ausstatterin engagiert worden. Nachdem man von Lindner vor einigen Monaten in der Presse zitiert hatte, er würde die aktuellen Ausgrabungen Howard Carters im Tal der Könige zum Anlass nehmen, Verdis Aida dem Sommerprogramm hinzuzufügen, hatte es in Baden-Baden kein anderes Thema mehr gegeben. Aida! Die ganze Stadt befand sich seit von Lindners Äußerung im Ägypten-Rausch. Und Alma war ihm ebenfalls erlegen. Geschäfte verkauften exotische Fächer, Stoffe waren mit Hieroglyphen oder schillernden Skarabäen bedruckt. »Nilgrün« war die Farbe der Saison. Schaufenster zeigten Fotografien von Touristen in Reisekleidung auf Kamelen oder Männer, die mit Hilfe von Einheimischen auf Pyramiden kletterten. Eine der Fotografien hatte es Alma besonders angetan: Sie lag in der Auslage des Warenhauses Knopf und zeigte zwei junge Frauen mit Bubikopf, Spangenschuhen und gerade geschnittenen Kleidern auf der Spitze einer Pyramide. Neben den modisch gekleideten Frauen hockte ein Mann mit weißem Turban und in traditioneller Tracht im Schneidersitz. Im Hintergrund erstreckte sich unendlich weit die Wüste, im Sand verlief undeutlich ein geschlängelter Weg gen Horizont, und die Sonne ging in der rechten Ecke des Bildes unter. An diesem Foto konnte Alma niemals vorbeigehen. Jedes Mal verharrte sie, betrachtete es lange und wünschte sich, eine dieser Frauen zu sein.

»Die Vorbereitungen laufen gut, Frau Täuber.« Emmi nestelte in ihrer Handtasche, förderte einen Fächer zutage und entfaltete ihn mit einem Schlenker ihres Handgelenks derart ruckartig, dass Almas Großmutter aufgeschreckt zurückzuckte. »Alles wird fristgerecht geliefert, die Kapelle wird ein phantastisches Programm gestalten, die Dekorationen laufen auf Hochtouren. Der Lindner hat also eigentlich keinen Grund, nervös zu sein.«

»Herrvon Lindner«, murmelte Almas Großmutter von rechts, die eine altmodische Spitzenbluse mit hochgeschlossenem Kragen trug. »Fräulein Wolke, Sie sind in großer Gefahr, mit diesem Kleid, mit dem Sie sich noch einen Katarrh einfangen, die Etikette zu verletzen, wenn ich das anmerken darf. Von Ihrem Tonfall ganz zu schweigen.«

»Großmutter«, seufzte Alma. »Es ist todschick und entspricht der aktuellen Mode. Emmi sieht darin aus wie eine Pharaonin.«

»Wir alle sind hier und da in großer Gefahr«, mischte sich nun auch Almas Vater mit Bestimmtheit ein. Er holte Luft und zwinkerte seiner Schwiegermutter spitzbübisch zu. »Du zum Beispiel, Großmaman, bist in großer Gefahr, eines Tages von deinem Konservatismus erstickt zu werden. Oder liege ich da falsch?«

»Was erlaub…?« Bevor die Großmutter mit einer Entgegnung erst so richtig in Fahrt kommen konnte, packte Alma Emmi am Handgelenk und zog sie schnell mit sich in den Wandelgang. Auch hier war der Orient eingezogen. Neben kolorierten und gerahmten Fotografien von Fundstücken zierten Illustrationen ägyptischer Trachten die Wände, große Fächer aus Pfauenfedern hingen unter der Decke, und sogar Statuen hatte man zwischen den Säulen aufgestellt. Junge Mädchen verteilten Postkarten, auf denen derzeit beliebte Schnittmuster beworben wurden. Allem Anschein nach versuchten einige Kleiderstoffgeschäfte der Stadt hier Geld zu machen. Was nicht mit der Leitung des Hauses abgesprochen war, so vermutete Alma. Einige Gäste hatten es sich in Korbstühlen an der Fensterfront mit Blick in den Kurgarten bequem gemacht. »Von Lindner oder meine Familie … ich entscheide jetzt für dich, wie du siehst«, scherzte sie flüsternd und riss dann theatralisch die Augen auf. »Lass uns in der Menge untergehen!«

»O du meine strahlende Retterin in schimmernder Rüstung! Apropos Rüstung: Hattest du nicht ein anderes Kleid herausgesucht? Das wollte ich dich vorhin schon fragen, aber ich hab’s glatt vergessen.«

In der Tat hatte Alma am Vormittag noch eine andere Wahl getroffen. »Ich hab mich umentschieden. Gefällt es dir?« Alma blieb stehen, trat einen Schritt zurück und wiegte sich leicht in den Hüften, so dass die Volants ihres hellblauen Kleids ins Schwingen kamen. »Ich wollte mich mit dem ägyptischen Stil noch bis zum großen Fest zurückhalten.«

»Ich finde es sensationell. Und nichts hält einen Mann länger bei dir als Hellblau oder Dunkelgrün.« Kaum hatte Emmi zu Ende gesprochen, schien sie zu merken, dass sie in eine Wunde gestochen hatte. »Tut mir leid. Aber Alma, Schätzchen, nur weil du Ludwig den Laufpass gegeben hast, musst du nicht das Dasein eines Mauerblümchens führen.«

»Schon gut, Emmi. Nichts passiert.«

»Richtige Einstellung. Übrigens erstaunlich, dass sich deine Großmutter gar nicht zur Milabran geäußert hat.«

Mary Milabran, die echt ägyptische Besetzung der Aida. Als die schwarze Sopranistin die Bühne betreten hatte, war ein erstauntes Raunen durch den Saal gegangen. Am Schluss war jedoch sie es gewesen, die den meisten Applaus erhalten hatte.

»Es hat mich auch gewundert, um ehrlich zu sein. Aber vielleicht hat Mary Milabran geschafft, was wir seit Jahrzehnten nicht zuwege bringen: Großmaman hat es die Sprache verschlagen.«

»Zu Recht. Sie ist eine Meisterin ihres Fachs und dazu noch elegant wie eine Tänzerin.« Emmi legte den Kopf schief. »Also, soweit ich es eben einordnen kann. Du weißt, normalerweise gehöre ich eher zu der Fraktion, die zu wilder Musik hüpft und nicht andächtig lauschend und gebannt auf einem Theatersitz festklebt.«

»Sie ist eine Meisterin. Und mir gefällt außerdem, wie sie die klassischen Kulturliebhaber allein durch ihre Hautfarbe aus dem Konzept gebracht hat. Als du vor Beginn der Vorstellung von einer möglichen Sensation erzählt hast, dachte ich, du sprichst von nackten Kunsttänzerinnen oder diesen Ausdrucksgymnastinnen …«

»Meine Blume«, fiel ihr Emmi ins Wort und wedelte mit ihrem Fächer. »Du weißt doch, dass es schon verflixt schwer ist, hier eine Lokalität zu finden, die eine moderne Kapelle engagiert. Da wird von Lindner sicherlich nicht mit einer Nackttänzerin ankommen. Wir sind in Baden-Baden. Und nicht in Berlin.«

Berlin. Fast wäre Emmi an die Metropole verloren gegangen. Die beiden Freundinnen sprachen nicht oft darüber, was Alma glauben ließ, dass Emmi ihren Entschluss, in der Kurstadt zu bleiben, bisher nicht bereut hatte.

Alma wollte eben berichten, wie ihre Großmutter auf den Begriff »Körperseele« reagiert hatte, der momentan im Bühnentanz groß herauskam, klappte aber den Mund wieder zu, als sie den Künstlerischen Leiter des Hauses schwer atmend auf sie zukommen sah. »In Deckung«, zischte sie Emmi zu. Doch es war schon zu spät.

»Fräulein Wolke!« Vor den beiden jungen Frauen angekommen, stemmte von Lindner die Hände in die Seiten. »Hier sind Sie!« Dem empörten Ausruf sollte wohl eine Standpauke folgen. Dann aber stellte er plötzlich fest, dass Emmi in Begleitung war. Etwas aus dem Konzept gebracht wandte er sich hilfesuchend an sie: »Und mit wem habe ich hier das … ähm … Vergnügen?«

»Herr von Lindner, das ist meine Freundin Alma Täuber. Alma, Herr von Lindner.«

Er nickte. »Sehr erfreut.« Und bevor Alma etwas erwidern konnte, sagte er: »Die Oper ist weiblich, wussten Sie das?«

Die beiden Frauen runzelten die Stirn.

»Entschuldigen Sie diese spontane Äußerung, aber angesichts dieser Eleganz vor meinen Augen und der eben zu Ende gegangenen Vorstellung … Ein Triumph, meinen Sie nicht auch? Was wollte ich sagen? … Weiblich. Die Oper, genau. Ich meine: Sie ist verwirrend, sinnlich mit schönen Stimmen. Im Gegensatz zum Drama, das doch vollkommen männlich ist, mit seiner straffen Struktur, dem logischen, konsequenten Aufbau.«

»Interessant«, sagte Alma langsam, die den Eindruck bekam, dass das Einzige, das komplett verwirrt war, vor ihr stand. Und dieses Etwas war männlich und nicht weiblich. »Vielleicht ist diese Ansicht jedoch ein wenig … überholt?«

»Wo denken Sie hin!« Von Lindner holte tief Luft, drauf und dran dabei vollkommen in seiner These aufzugehen.

Inzwischen hatten sich, von der enthusiastisch deklamierenden Stimme des Künstlerischen Leiters angelockt, weitere Gäste zu ihnen gesellt, die von Lindner wissbegierig an den Lippen hingen. Beifall heischend sah er in die Runde.

»Aida ist also weiblich«, stellte eine zierliche Frau mit einem eindrucksvollen Kopfputz trocken fest. Ihr Haar verbarg sie unter einem goldfarbenen Turban, in dem eine lange Feder steckte, ihre großen hellblauen Augen ließen sie fast kindlich wirken, und ihr Deutsch glich einer Melodie, mit weichen Konsonanten, was Alma vermuten ließ, dass sie aus England kam. »Ja, das ist mir gleich aufgefallen«, fügte die Frau dann mit unbewegter Miene, aber leicht ironischem Tonfall hinzu, und Alma verkniff sich angesichts dieser Flachserei ein Lachen.

»Herr von Lindner, können Sie uns etwas zu der Sopranistin sagen?«, warf ein leicht fülliger Mann im Frack ein, der die Dame begleitete. Er sprach mit demselben Akzent wie seine Ehefrau, die er um einen Kopf überragte. Alma nahm an, dass die beiden miteinander verheiratet waren. »Mary …«, begann er.

»Mary Milabran, Lord Norfolk«, ergänzte von Lindner. »Das ist ihr Name. Ist sie nicht eine offenbarende, eine bereichernde, eine wahrhaftig strahlende, originäre Aida?«

»Papperlapapp. Der Mann ertrinkt noch in Details«, flüsterte Emmi Alma ins Ohr, während von Lindner weiter schwadronierte. »Kannst du dir jetzt vorstellen, was ich seit Wochen mit dem durchmache? Laufend spricht er von seinem ›feinsinnigen künstlerischen Verantwortungsgefühl‹.«

»… aber Aida«, von Lindner warf erneut die Arme in die Luft, »ist es nicht!«

»Ist was nicht?«, hakte Alma nach, die durch Emmi abgelenkt worden war, sich aber prächtig über von Lindner amüsierte.

Von Lindner sah sie erstaunt an. »Nun, männlich, meine Liebe. Aida ist nicht männlich.«

»Was nicht ist, kann ja noch werden«, murmelte Emmi, und Alma schaffte es rechtzeitig, sich abzuwenden, damit von Lindner ihr breites Grinsen nicht sehen konnte.

 

Etwas später verabschiedete sich Alma von ihrer Familie und Emmi. Anschließend lief sie die breite Treppe zum Eingangsbereich hinunter und musste dabei etlichen Gästen ausweichen, die stehen geblieben waren, um sich eindringlich miteinander unterhalten zu können. Satzfetzen drangen an ihr Ohr, mit Begriffen wie »kultureller Pulsschlag des wiederemporsteigenden Deutschlands«, »künstlerische Mission« oder »erfolgreiche Emanzipation von Karlsruhe«. Allem Anschein nach hatte von Lindner begeisterte Anhänger.

Sie betrat den Kurgarten. Die Wolken kamen von Süden, mussten sich in der Zwischenzeit über dem Schwarzwald entladen haben und zogen nun mehr als graue Watte in einem fast schon nachtschwarzen Himmel über die Stadt hinweg. Nieselregen tröpfelte auf das Pflaster. Als ein paar Tauben zwischen den korinthischen Säulen der Trinkhalle heraus stoben und wild flügelschlagend ihren Weg in Richtung Kolonnaden nahmen, sah Alma ihnen kurz nach.

Wie sie so unbeschwert zwischen den Ladengeschäften hindurch fliegen, dachte sie. Nichts ahnend, was dort geschehen ist.

Seit dem Mord im Spätsommer vor zwei Jahren – den sie gemeinsam mit Ludwig Schiller, der damals noch Kriminalkommissarsanwärter gewesen war, aufgedeckt hatte –, vermied sie es, den Kurpark von den Kolonnaden aus zu betreten. Zu schwer lastete die Erinnerung noch auf ihrem Gemüt. Ganz unbeschwert würde sie wohl nie wieder zwischen den Ladengeschäften flanieren können.

Alma ließ den Blick über den erleuchteten Kurpark schweifen, ein Lichtermeer aus farbigen Lampions, die im Wind schaukelten und so die blühenden Rabatten mit einem schillernden Funkenreigen eindeckten. Vor der Kurmuschel schritt die englische Lady mit dem Turban gemeinsam mit ihrem Mann interessiert hin und her. Allem Anschein waren sie nicht das erste Mal in der Stadt, den Gesten nach zu urteilen schienen sie sich auszukennen und über architektonische Neuerungen im Park zu sprechen, bevor sie ihren Heimweg in eines der hochpreisigen Hotels antreten würden. Hotels wie den Europäischen Hof mit seinem schönen Garten, fließendem Wasser und Telefon in allen Zimmern. Oder dem Stephanie-Hotel, das in ruhiger Lage an der Lichtentaler Allee lag. Vielleicht aber logierten sie sogar in einer der vielen Villen, die russischen oder englischen Adligen gehörten, die hier in Baden-Baden ruhige Sommermonate verbrachten.

Alma fiel auf, dass sich die Engländerin ein wenig schwankend bewegte, schaukelnd, wie ein kleines Boot, das von kleinen Wellen vorsichtig an einen Steg gestupst wurde. Aber was sie auf den ersten Blick dem Champagner zuschrieb, stellte sich auf den zweiten als Gehbehinderung heraus. Ob sie diese Einschränkung seit ihrer Geburt mit sich trug? War sie im Kindesalter an Infantiler Paralyse erkrankt? Hier in Deutschland war man von Epidemien noch weitestgehend verschont geblieben, aber in den Vereinigten Staaten oder auch in Schweden hatte es schlimme Ausbrüche dieser Krankheit gegeben, die im Fachjargon, wie ihr Cousin Walter ihr erklärt hatte, Poliomyelitis genannt wurde.

Alma verscheuchte ihre trüben Gedanken, setzte ihren Weg fort und schlug den durch Lampions und Laternen beleuchteten Kiesweg zur Trinkhalle ein. Am Leopoldsplatz, wo sich die Berg- und Tallinien schnitten, würde sie die Straßenbahn Richtung Lichtental nehmen. In Gedanken schon bei einer Tasse Tee auf dem Nachttisch und einem Roman in der Hand – sie wollte vor dem Schlafengehen noch ein wenig lesen –, blieb sie wie vom Donner gerührt stehen, als sich eine Person aus der Menge der Opernfreunde löste, die gemeinsam mit ihr die Kaiserallee überquerte, um unter dem nur wenige Meter entfernten Lichtkegel einer Straßenlampe stehen zu bleiben.

»Alma.« Kriminalkommissar Ludwig Schiller lüpfte seinen Hut und presste ihn dann wie ein Schild vor die Brust. »Schöne Vorstellung, nicht wahr?« Seine Finger spielten unruhig mit der weichen Krempe seines Homburg, aber seine Stimme war fest wie immer. Einer Stimme, der Alma immer noch gern zuhörte, wie sie in diesem Moment feststellte. Genauso wie sie die feine Narbe in Schillers Gesicht immer noch äußerst aufregend fand.

Sie atmete einmal tief durch und antwortete knapp: »Ja. Sehr schön.«

»Ich habe dich neben Emmi sitzen sehen. Erste Reihe.«

»Durch von Lindner hat sie enorm gute Karten bekommen.« Almas Zehen verkrampften sich in ihren Spangenschuhen. Schienen festen Kontakt mit dem Boden aufnehmen zu müssen. »Dadurch bin ich ebenfalls in den Genuss eines so erstklassigen Platzes gekommen.«

»Gut. Gut.« Ludwig nickte. »Der Ball nicht? Wie heißt er noch gleich … ›Legenden des Nils‹?«

Jetzt nickte auch Alma. Sagte jedoch nichts. Sie wollte die Begegnung mit Ludwig Schiller so kurz wie möglich halten. In der Vergangenheit hatte sie ihre Liaison – wenn sie denn so benannt werden konnte – unschlüssig hin und her gewendet. Es lag nicht wirklich an der Meinung der Familie Täuber, dass das Leben einer Kriminalkommissarsgattin kein Zuckerschlecken und aus diesem Grund nicht erstrebenswert sein sollte: oft allein gelassen und in ständiger Angst um den Mann. Der Grund lag vielmehr darin, dass Alma einer festen Arbeit als Telefonistin der Hauptpost nachging. Eine Arbeit, die ihr Vergnügen bereitete. Eine Arbeit, die sie nach ihrer Heirat sofort hätte aufgeben müssen. Hin und her gerissen hatte Alma nach einem Ausweg gesucht, aber keinen gefunden. Liebe oder Freiheit, so hatte Emmi es dramatisch zusammengefasst. Und so hatte Alma schließlich eine Entscheidung getroffen und Ludwig mitgeteilt, dass sie ihn nie würde heiraten können. In den letzten Monaten war sie ihm beharrlich ausgewichen, und der Schmerz war jetzt leichter zu ertragen. Eine Liebelei kam bei Alma auf Dauer nicht in Frage, dafür war sie nicht gemacht. Auch in dieser Hinsicht unterschied sie sich von ihrer Freundin Emmi. Auf der anderen Seite war Alma jedoch wie Wölkchen der Ansicht, dass eine Ehefrau nicht dazu da war, ihren Ehemann vergessen zu lassen, was dieser den Tag über im Büro Schlimmes durchgemacht hatte. Sie wollte ihrem Ehemann von ihrem eigenen Bürotag erzählen können. Doch das war so nicht möglich, und Alma würde angesichts dieser Ungerechtigkeit oft am liebsten ihren Groll laut hinausschreien.

Manchmal wünschte sie, sie hätte sich anders entschieden. Aber … es war doch der richtige Weg. Oder nicht? Erneut atmete Alma tief ein. Das Leben war kompliziert, die Liebe vertrackt. Im Gegensatz dazu war die Lösung, die Radamès und Aida gewählt hatten, geradezu unkompliziert. Aber lebendig einmauern lassen, das wollte sich Alma nun auch wieder nicht.

Langsam setzte Ludwig den Hut wieder auf und tippte an den Rand. »Du kommst allein zurecht, nehme ich an?« Seine Hand fuhr vage durch die Luft in Richtung Haltestelle. »Wenn du willst, könnte ich dich …«

»Ja, sicher. Ich meine, nein, danke. Ich komme allein zurecht. Richtig. Und die Straßenbahn müsste auch gleich da sein.« Ihre Zehen fingen an zu schmerzen.

»Nun gut, dann …« Er brach ab, zögerte, setzte dann neu an. »Gute Nacht, Alma.«

»Gute Nacht, Ludwig.« Sie setzte sich in Bewegung, eilte mit gesenktem Kopf an ihm vorbei, die Lippen fest aufeinandergepresst.

2

Hier Amt, was beliebt?«

Es war später Vormittag. Bereits seit vier Stunden saß Alma neben ihren Kolleginnen vor einem der Schaltschränke der Hauptpost, den Arm in Richtung Klinken gereckt, um auf Wunsch des Teilnehmers flugs die nächste Verbindung stecken zu können. Heute war die Hölle los: Der bevorstehende Ball ließ ganz Baden-Baden aufgeregt zum Hörer greifen. Eine Verbindung ins Warenhaus, zur Schneiderin, zum Coiffeur … Und Alma selbst musste sich zur Konzentration zwingen; denn immer und immer wieder schmetterte ein hartnäckiges Blasorchester in ihrem Kopf die ersten Takte des Triumphmarsches aus Aida – eine Melodie, die Alma einfach nicht abstellen konnte. Die Tonfolge hatte sie die ganze Nacht hindurch begleitet. Das Orchester in ihrem Kopf wurde und wurde jedoch nicht müder. Im Gegensatz zu ihr selbst.

»Das Lokal Krokodil, Fräulein.«

»Das Warenhaus Knopf, bitte.«

»Die 453, es ist dringend.«

Alma verband, steckte, der Triumphmarsch schmetterte seine letzten Töne, und sie hielt inne. Die 453? Hatte sie gerade die 453 gesteckt? Oder …

»Hören Sie, Fräulein«, dröhnte es in diesem Moment aus ihrem Kopfhörer. »Sie haben mich vorhin falsch verbunden.«

»Das tut mir leid, könnten Sie …«

In ihrem Ohr schnaubte es. »Der Herr in der Leitung war recht ungehalten, als ich ihm sagte, ich komme später zum Essen.« Der Anrufer erhob die Stimme. »Sie mögen das für lustig halten, aber ich nicht! Bitte verbinden Sie mich mit meiner Frau!«

»Ich kann mich nur erneut entschuldigen. Wenn Sie mir die Nummer noch einmal nennen würden, bitte?«, erkundigte sich Alma freundlich.

»453! Und zwar ein bisschen plötzlich, Fräulein! Und zuverlässig!«

Sie rieb sich die Schläfe, atmete tief durch. Ja, sie hatte einen Fehler gemacht, war nicht recht bei der Sache gewesen. Aber es war nun mal auch ein geschäftiger Samstagvormittag. Ganz Baden-Baden schien sich in der einen oder anderen Art in letzter Minute auf die »Legenden des Nil« vorzubereiten.

Sie straffte die Schultern.

»Zwei Herzen haben sich gefu-hun-nd-eeen! Das nennt man heute Dienst am Ku-hun-deeen!«, trällerte Ida sarkastisch leise links von Alma und verdrehte dabei die Augen. Von rechts wisperte Marianne: »Mach dir nichts draus. Du weißt doch: Der Teilnehmer hat immer recht.«

»Selbstverständlich, der Herr«, schmetterte Alma daraufhin brav ins umgehängte Brustmikrophon, während sie erneut den Arm langmachte, um die gewünschte Verbindung herzustellen. Es brachte nichts, wenn sie ihre Anspannung an anderen ausließ. Da hatte Marianne schon recht. Außerdem wollte sie keine Reklamation riskieren. Jeder Teilnehmer hatte das Recht, sich mit der Aufsicht verbinden zu lassen, um Beschwerde einzureichen. Und Fräulein Klinger, genannt »Der Drache«, war Mitgefühl in der Regel so fremd wie einem Anrufer ein von Herzen gemeintes »Dankeschön«.

»453«, wiederholte Alma. »Einen sonnigen Tag noch, der Herr.« Seufzend lehnte sie sich in ihrem Drehstuhl zurück, nur um im Bruchteil einer Sekunde später wieder vorzuschnellen – der nächste Teilnehmer wartete.

Marianne legte ebenfalls einen der unzähligen Schalter um, steckte Kabel ein und aus, ihre Hand sicher wie die eines Schützenkönigs. Mit der anderen schirmte sie das Mikrophon an ihrer Brust ab, als sie zu Alma meinte: »Die sind heute alle unmöglich. Viel schlimmer als sonst. Eben hat einer zu mir gesagt, ich wäre eine alte Schraube.« Sie schien zu überlegen. Kräuselte die Stirn. »Findest du, ich klinge wirklich wie eine?«

Gegen ihren Willen musste Alma lachen. »Entschuldige«, sagte sie glucksend. »Heute ist so ein Tag …« Hilflos schüttelte sie den Kopf und rückte ihre Ärmelschoner zurecht, die heruntergerutscht waren. »Ich kann dich beruhigen. In diesem Fall hat der Teilnehmer absolut nicht recht.«

»Es ist heute furchtbar, nicht?«

»Das kannst du laut …«, Alma unterbrach sich. »Hier Amt, was beliebt?«, deklamierte sie mit ihrer Fräuleinstimme. »Ja, die Dame. Ich verbinde.«

»Eine alte Schraube?« Jetzt war es wieder Ida, die sich zu Alma beugte. »Zuerst wollen sie mit einem ausgehen, und dann ist man ’ne alte Schraube, wenn man die Verbindung nicht schnell genug herstellt. Männer können mir so langsam gestohlen bleiben.«

»Und das von dem Fräulein Ida Engler«, scherzte Alma. »Du lässt doch sonst nichts anbrennen.«

»Mit mir hat sich letzten Dienstag einer getroffen, den ich am Draht hatte. Der hatte viel Herz«, offenbarte Marianne gehetzt von rechts zwischen zwei Anrufern.

Ida prustete los. »Herz? Die, die viel Herz haben, sind meist arm wie die Kirchenmäuse … Hier Amt, was beliebt? 15? Ich verbinde, der Herr.«

»Aber er war der netteste Mann, den ich jemals getroffen habe«, protestierte Marianne. »Wir waren bummeln.«

»Bummeln? Na, das ist auch kein Beruf, der Geld abwirft«, flachste Ida.

»Siehst du ihn noch?«, wollte Alma wissen.

Marianne zuckte mit den Schultern. »Er ist verheiratet …«

»Herr im Himmel, Marianne!« Ida rollte die Augen gen Decke. »Bist du wieder auf einen dieser Hengste reingefallen, die ständig den Frauen nachwiehern? Hier Amt, was beliebt? Jacoby Damenmoden? Das ist die 109. Ich verbinde, die Dame.«

Alma seufzte. Marianne hatte in letzter Zeit nicht viel Glück in der Liebe gehabt. Nun, da waren sie ja schon zu zweit, fuhr es ihr durch den Kopf, als sie an ihre Begegnung mit Ludwig am vorigen Abend dachte.

 

Nach Dienstschluss hängte Alma ihren Arbeitskittel an die Garderobe, verabschiedete sich und verließ das Gebäude in Richtung Leopoldsplatz, der beinahe unmittelbar bei der Hauptpost lag. Vor ihr lief Ida, und Alma beschleunigte ihren Schritt, um sie einzuholen. »Ida, warte!«, rief sie und wich im letzten Moment einem älteren Herrn aus, der mit einem Hund an der Leine die Sophienstraße hinuntereilte. Wie ein Automobil, bei dem die Bremsen versagten, so schien die ganze Kurstadt das Tempo angezogen zu haben. Die gestern noch müßig flanierenden Gäste lieferten sich heute beinahe schon ein Rennen.

»Armes Mädel«, begann Ida, nachdem Alma Atem schöpfend neben ihr angekommen war. »Nicht einmal frei bekommen hat sie. Dabei würde ihr dieser Abend heute wirklich guttun.«

Ohne Zweifel war mit dem Mädel Marianne gemeint, die mit anderen bemitleidenswerten Fräulein die Spätschicht übernehmen musste. Um den freien Samstagabend war zwischen den Kolleginnen ein Streit entbrannt, den Alma so noch nicht einmal von Weihnachten kannte. Unter anderem Marianne hatte ihn verloren.

»Manchmal wünscht man dem Drachen einen Schuss vor den Bug«, stimmte Alma zu. Fräulein Klinger gehörte zu der Spezies Mensch, die sie gerne einmal in ihren eigenen vier Wänden sehen würde. Wahrscheinlich ging die Klinger auch dort zum Lachen in den Keller.

Ida nickte. »Wenigstens hält das Wetter«, wechselte sie das Thema und schaute in den wolkenlosen blauen Nachmittagshimmel. »Kopfbedeckung kommt für mich heute Abend nicht in Frage. Obwohl ich mir erst kürzlich einen neuen Strohhut gekauft habe, du weißt schon, einen von diesen in Lavendelblau mit den gleichfarbigen Ripsbändern … Ah!«, ihr Zeigefinger schnellte vor, als der Triebwagen Richtung Weststadt in Sicht kam. »Da kommt meine.« Sie hauchte Alma einen Kuss auf die Wange und hüpfte dann auf die andere Seite der Schienen. »Wir treffen uns beim Nil!«, rief sie heiter, und Alma sah sie winken, bis die Holzverkleidung der Elektrischen ihre Kollegin vollends verschluckt hatte.

*

Als Alma die Tür ihrer kleinen Mansardenwohnung hinter sich ins Schloss fallen ließ, war es dort ungewohnt still. Normalerweise wirbelte eine unbekümmert vor sich hinträllernde Emmi zu irgendeinem schmissigen Schlager durch den Flur, aber die hatte sich schon Richtung Kursaal aufgemacht, um die Tisch- und Saaldekoration zu überwachen. Nicht nur ihre ungestüme und oft hartnäckige Art hatte Emmi zu dieser Aufgabe verholfen, um die sich nicht wenige Blumenhändler der Stadt gerissen hatten. Auch wusste sie ganz genau, was in Mode war und was angetauter Schnee von gestern, und sie arbeitete zuverlässig und fleißig. Tatsache jedoch war vor allem: Das Fräulein Wolke wies man nicht so leicht ab. Kraftvoll wie ein Sturm fegte sie durch den Raum, in dem sie sich aufhielt. Es kam nicht oft vor, dass sie Trübsal blies, aber wenn doch, dann tat sie dies mit dem gleichen Engagement.

Alma legte ihren Mantel auf einen Küchenstuhl und schlüpfte aus den Schuhen. Danach öffnete sie das kleine Fenster Richtung Straße, um den Mansardenmuff hinauszulassen, so wie sie es immer tat, wenn sie von der Arbeit kam. Emmi konnte die Finger nicht von den Zigaretten lassen. Und seit sich die Erbin eines amerikanischen Tabakkonzerns in Brenners Stephanie-Hotel einquartiert hatte, war Emmis Drang, ganz kess einen dieser Glimmstängel zwischen den Fingern zu halten, noch größer geworden. Das einst verpönte Qualmen in der Öffentlichkeit gehörte schon seit einigen Jahren zum guten Ton. Nicht nur einmal hatte Alma ihre Freundin dabei beobachtet, wie sie vor dem Spiegel eine möglichst laszive Art und Weise einübte, die Zigarette anzuzünden und zu halten. Ein Teil von Alma verstand Emmi gut: Wenn sie selbst den Geschmack von Tabak nicht so abscheulich fände, dann würde sie womöglich auch Gefallen daran finden, den Mief und die Traditionen der Kaiserzeit sowie die Entbehrungen des Krieges in Rauch aufgehen zu lassen.

Während sie das Feuer im Herd kontrollierte, anschließend Tee aufsetzte und dann die Marmelade aus dem Küchenschrank und eine Scheibe Brot aus der Emailledose nahm, wanderten Almas Gedanken zu dem gesellschaftlichen Ereignis, das unmittelbar bevorstand. Es war das erste Mal, dass sie sich mitten unter die mondäne Gästeschar der Kurstadt mischte. Mit ihnen feiern, tanzen, den Abend genießen würde. Natürlich begegnete man den feinen Damen und Herren fast überall, natürlich riefen auch sie im Amt an. Nannten die gewünschten Nummern in ihrer Heimatsprache, weswegen den Fräuleins Fremdsprachen flink von der Zunge gehen mussten. Mieteten sich in Hotelsuiten ein, bewohnten für mehrere Monate prachtvolle Häuser in den Villenvierteln oder ließen sich ihre Sommeranwesen herrichten.

Alma stand auf und ging in ihre kleine Kammer. Betrachtete das Kleid, das sie sich für den Abend auf dem Bett zurechtgelegt hatte. Wochenlang hatte die Nähmaschine gesurrt. Der Schnittmusterbogen war per Post gekommen, den Stoff hatte Alma in der Stadt besorgt, lange bevor die Ankündigung in der Zeitung erschienen war. Emmi hatte mit der Neuigkeit, dass sie als Floristin vom ägyptenbegeisterten Künstlerischen Leiter des Kurhauses für einen extravaganten Motto-Abend engagiert worden war, nicht lange hinterm Berg halten können; und so war die Auswahl an orientalischen Mustern noch groß gewesen, weil Alma früher als der Rest der Stadt vom Ball gewusst hatte. Sie hatte sich für einen Stoff in Dunkelrot entschieden, auf dem sich geometrische Muster in Orange- und Blautönen tummelten. Im Gegensatz zu Emmi bevorzugte Alma aber schlichtere Schnitte. Infame Ausblicke auf Dekolleté oder Rücken überließ sie gerne ihrer Freundin, die damit meisterhaft und dennoch auf eine halbwegs schickliche Art zu turteln wusste. Ohne Strass-Stickerei, glitzernde Perlfransen, Stahlperlen und Straußenfedernabschluss war die aktuelle Abendmode fast nicht mehr vorstellbar, aber das alles war Alma zu viel des Guten. Zudem wurden die Kleider durch die Verzierung ungemein schwer, was auf der anderen Seite jedoch die angesagte Linie unterstrich. Denn dadurch schmiegten sich die Stoffe fester an die Frauenkörper und wurden gleichzeitig nach unten gezogen. Bekamen so den erstrebten Charakter einer zweiten Haut.

Almas Garderobe für diesen Abend war ärmellos, wie es der Mode entsprach, an den Seiten unter der Brust gerafft und wadenlang. Das Fehlen von Pailletten und Schmucksteinen plante Alma mit Accessoires auszugleichen. Sie wandte sich zur wackeligen Kommode neben dem Bett, musste ein paarmal an der Schublade rütteln, bevor die sich rührte, und nahm die Kette mit dem Phoenix-Anhänger heraus. Wer genauer hinsah, würde erkennen, dass es sich weder um echtes Gold noch um originale, rote Korallen handelte, trotzdem war der Schmuck ein Hingucker. Vor dem Spiegel im Flur hielt sie ihn an ihren Hals. Die gespreizten Schwingen des Phoenix breiteten sich direkt auf ihren Schlüsselbeinen aus, als wollte er sie mit seinen Flügeln beschützen.

An ihrem Spiegelbild fand Alma nichts auszusetzen. Zufrieden lächelte sie.

*

Genauso zufrieden stand sie zwei Stunden später im inzwischen umgeräumten Saal des Kurhauses. Die Stuhlreihen hatte man entfernt, so dass eine große Tanzfläche entstanden war, auf der Bühne war der schwere Vorhang zurückgezogen, und die Kapelle griff bereits zu ihren Instrumenten. Es hatte einige Beschwerden gegeben über zu ausgelassene Tanzveranstaltungen in Baden-Baden, aber heute wollte die Stadt großzügig sein und einen richtigen Ball wagen.

Die Bühnenbeleuchtung wechselte von Rot über Grün zu einem tiefen Blau, die Lüster im Saal spendeten helles Licht. Damen und Herren drängten sich an den Büfetttischen, Absätze überschritten den Spalt zwischen der Tanzfläche in der Mitte und dem Bereich an den Seiten, der mit Teppich ausgelegt war. Die Gäste schlingerten, kämpften sich durch die nah beieinanderstehenden Besucher, strebten den Obern zu, die mit vollen Tabletts bereitstanden. Griffen lachend nach den schlanken Stielen der Sektflöten, ließen sich zurücktreiben in die Mitte des Kursaales, wo sie sich zur jetzt einsetzenden Musik hin und her warfen, die Gläser immer noch in der Hand. Federn und Boas wurden durch jede Bewegung, durch jeden Luftzug in aufgeregtes Flattern versetzt. Immer wieder zuckten die grellweißen Funken der von Fotografen in die Luft gereckten Blitzstäbe durch den Saal. Lokale und regionale Presse war anwesend, Stative wurden auf der Suche nach dem besten Bildausschnitt, dem extravagantesten Kostüm durch die Menge bugsiert.

Mary Milabran, die Sopranistin, trug ein exquisites Spitzenkleid. Das Creme des Chiffons harmonierte mit ihrer dunklen Haut, und Alma konnte sehen, wie sich mehr als ein Herr nach der Sängerin umdrehte, die jedoch alle mit gelangweiltem Gesichtsausdruck ignorierte. Eine echte Diva, dachte Alma schmunzelnd, von der man sich eine Scheibe abschneiden konnte. Die aktuelle Mode täuschte oft über den Status einer Person hinweg, konnte einen gesellschaftlichen Aufstieg suggerieren, und in dieser Hinsicht war sie vielleicht sogar als demokratisch zu bezeichnen. Doch wer genau hinsah, der erkannte hinter den identischen Schnittmustern die Verschiedenartigkeit. Klassenunterschiede machten sich nun durch die Verwendung edlen Materials, der exzellenten Fertigung und einer perfekten Passform bemerkbar. Die Kleidung der Sopranistin zeugte von Luxus und Wohlstand. Dieses Ensemble war nicht billig gewesen. Kurz überlegte Alma, dass sie es sich geliehen haben könnte, denn die Höhe ihrer Gagen ließ eine solche Anschaffung sicherlich nicht zu. Auf der anderen Seite musste Mary Milabran repräsentieren. Sich selbst, ihre Kunst und das ganze Ensemble.

Neben Mary Milabran tanzte eine junge Frau, die sehr vertraut mit der Sopranistin umging, Alma vermutete, sie gehörte ebenfalls zum Ensemble, konnte sich aber nicht an ihr Gesicht erinnern. Sie trug ein Kleid aus Goldlamé, und Alma musste zugeben, dass beide Frauen ein Gespür für Mode hatten, um das Ida sie beneiden würde. Apropos, ihre Arbeitskollegin hatte sie noch nicht ausfindig machen können. Alma reckte den Hals. Schmuck schillerte, Pailletten blitzen, die hohen Turbane der Damen schaukelten, der ganze Saal vibrierte. Alma erblickte ein Paar Silberbrokatschuhe an den Füßen einer Dame, sie stand neben einer jungen Frau, deren Absätze mit Strass besetzt waren. Bei den Herren dominierten Cutaway und Smoking. Einige wenige trugen noch Gehrock.

Was für eine Pracht, was für eine Zurschaustellung von Extravaganz und Reichtum! Dieser Ball schien die Stimmung des gesamten Reichs einzufangen, das die bedrückende wirtschaftliche Lage, die Strapazen der Inflation langsam hinter sich ließ. Ja, das vergessen zu haben schien, dass noch letztes Jahr Geldscheine in Umlauf gewesen waren, deren Wert man ausgeschrieben auf die Noten drucken musste, weil die vielen Nullen keinen Platz mehr darauf gefunden hatten.

Emmi wirbelte durch den Saal. Zwar in Kunstseide, aber nichtsdestoweniger wie immer auffallend mondän. Und schlank wie eine Tanne. Da nicht jede Frau die Korsettlosigkeit mitmachen konnte, sorgte bei einigen ein Gummigürtel dafür, dass die figurbetonten Kleider saßen. Ida schwor auf den Gummigürtel. Er war außerordentlich geeignet, um als Formbeherrscher zu wirken; er gestattete jede Bewegung.

Alma war laut ihrer Mutter schon immer viel zu dünn gewesen, konnte ihr Gewicht mühelos halten und musste sich die geforderte Körperlinie nicht erst erarbeiten. Und Emmi … Sie war sowieso ständig in Bewegung, und dank kleiner Hanteln und Gymnastik am Abend blieb sie schlank. Emmi liebte alles, was man »neue Mode« nennen konnte, und natürlich war sie auch begeistert dabei, als Körperertüchtigung endlich im weiblichen Teil der Gesellschaft angekommen war.

Sie schoss mal hierhin, bald dahin, drückte dabei jedermann behutsam aus dem Weg und schien eifrig darauf bedacht, dass die Gäste den Blumenarrangements auf den Tischen, den großen Bodenvasen in den Ecken und den Bouquets aus Lilien und hohen Halmen vor der Bühne nicht zu nahe kamen. Almas Blick huschte etwas unentschlossen zwischen den Tanzenden und ihrer Freundin hin und her, bis Emmi sie entdeckte und auf sie zusteuerte.

»Die Leute sind wie ausgehungert!«, keuchte sie. »Mir hat schon jemand einen Schein in die Hand gedrückt! Als Dank für die Ausstattung!« Mit roten Wangen deutete sie auf den tiefen Ausschnitt ihres Kleides, in dem die Geldnote wohl von ihr versenkt worden war.

Alma lachte. »Da hat wohl jemand Angst zu sparen.«

»Was bringt das auch, wenn deine Bank wieder pleite geht?«

»Zum Glück haben du und ich das alles recht gut überstanden.«

»Wo nix ist, kann auch nix verschwinden.«

»Wo ist er denn? Der edle Spender?« Alma sah sich um und fing den Blick eines gut aussehenden Mannes in mittleren Jahren auf, der Alma vage bekannt vorkam und dessen breites Lächeln in Kontrast zu seinem huldvollen Nicken in ihrer Richtung stand. »Ist er das?«, fragte sie, ohne den Blick von dem Mann abzuwenden. »Jemine, jetzt winkt er auch noch!«

Emmi sah nicht hin. »Ist er klein, bärtig und hat krumme Beine?«, fragte sie. »Wehe, du winkst zurück!«

»Eher groß und schlank.«

»Zeig mal.« Emmi drückte sich an ihre Freundin und spähte in die Menge. »Ach der«, sagte sie wie nebenbei. »Das ist mein Feldherr.« Trotz des beiläufigen Tonfalls sandte sie ein strahlendes Lächeln in Richtung des Mannes und hob die Hand wie eine Fürstin.

»Moment mal …« Jetzt plötzlich fiel Alma ein, woher sie denn Mann kannte. »Ist das etwa … Radamès?«

»Herr Josef Wittich, meine Blume. Mein aktueller Kavalier. Mein Pyramidenkavalier, sozusagen.«

»Wölkchen! Du bandelst mit dem Tenor der Kompanie an?«

»Entschuldige mal!« Emmi warf sich in Pose, dass die Pailletten ihres Kleides nur so blitzten. »Er hat sich mir genähert.«

»Genähert?« Alma kam sich inzwischen vor wie eine Mischung aus einem Papagei und ihrer antiquierten Großmutter. Aber es war genauso typisch wie unfassbar, dass Emmi schon wieder eine neue Liebschaft an Land gezogen hatte.

»Genaueres erfährst du morgen früh.« Ihre Freundin kicherte.

»Ja, ist es denn etwa aus mit August?« Der heißblütige und äußerst eifersüchtige Vorführer des Lichtspieltheaters im Kaiserhof hatte einen Narren an Emmi gefressen und nicht nur einmal versucht, unbeschadet an Leib und Seele an ihrer Wirtin, der energischen Witwe Meier, vorbeizukommen.

»Puuuuh, Almaaaaa!« Emmi zog eine Schnute. »Jetzt sei doch nicht so fade. Komm!« Sie packte ihren Arm und stürmte los. Alma blieb nichts übrig, als mitzustolpern. »Ich muss dir was zeigen«, rief Wölkchen. »Von Lindner hat diese Kopien mitgebracht. Der war doch tatsächlich in Ägypten! Bei den Ausgrabungen!« Sie blieb kurz stehen und drehte sich ihrer Freundin zu. »Glaubst du, mein Pyramidenkavalier nimmt mich da auch mal mit hin?«

»Ich glaube eher, du verwechselst da was.« Alma hatte jetzt wieder Mühe Emmi zu folgen, die sie erneut durch die Menge der Tanzenden zog und danach zielstrebig zu einem der Tische am Rand des Saals führte, auf dem allerlei golden blitzende Skulpturen standen, hinter denen sich Ernst von Lindner steif wie die Sphinx aufgebaut hatte. »Dein Pyramidenkavalier kommt aus Augsburg und nicht aus Kairo und …« Beim unmittelbaren Anblick der ägyptischen Schätze auf dem Tisch hielt Alma inne. »Meine Güte, sind die schön!«, stieß sie hervor, als sie beim Künstlerischen Leiter angekommen waren.

»Habe ich zu viel versprochen?«, fragte Emmi und nahm derart energisch die Skulptur einer Katze in die Hand, dass von Lindners Gesichtszüge entglitten.

»Bei Isis!«, keuchte er. »Fräulein Wolke, so passen Sie doch auf! Lassen Sie Bastet nicht fallen!«

»Herr von Lindner, jetzt atmen Sie mal tief durch«, schnappte Emmi leicht beleidigt zurück und stellte die Replik unsanft wieder an den angestammten Platz.

»Die Göttin der Fruchtbarkeit und der Liebe«, mischte sich nun eine alte Dame neben ihnen ein, deren Gesicht in genauso viele Falten gelegt war wie das um ihren Kopf gewickelte Tuch aus tiefblauem Samt.

Alma grinste. »Aber nein, das ist nur das Fräulein Wolke«, widersprach sie und bemühte sich dabei ernst zu bleiben.

»Haha«, machte Emmi leise.

Der Mund der Frau hingegen kräuselte sich zu einem leichten Lächeln. »Bastet ist auch Göttin der Freude, des Tanzes, der Musik und der Feste, Fräulein Wolke. Insofern passend für den heutigen Abend.« Die Pfauenfeder, die in ihrem Kopfputz steckte, begann zu wackeln, als sie mit brüchiger Stimme fortfuhr: »Diese anderen Repliken«, ein blutrot lackierter Fingernagel schoss vor und beschrieb einen Bogen vor den restlichen Skulpturen. »Tell el-Amarna, Herr von Lindner?«

Die Augenbrauen des Künstlerischen Leiters hoben sich erstaunt. »Sie waren ebenfalls dort?«, fragte er aufgeregt.

»Nun, in der Tat, ich war dort. Schon vor dem Nofretete-Fund. Ich bin mit dem Archäologen bekannt, der dort die Kopien der Inschriften an den Felsengräbern anfertigte.«

Von Lindners Mund öffnete sich. Schloss sich wieder. Öffnete sich erneut. »Norman de Garis Davies?«, hauchte er. »Der Leiter der Sammlung im Metropolitan?«

Alma musste zugeben, dass sie von Lindners Verblüffung genoss. Diese Seite an ihm unterschied sich ganz und gar von dem plappernden Geck, der ihnen am Abend zuvor weiszumachen versucht hatte, die Oper sei weiblicher Natur.

»Nun, Leiter der Graphischen Abteilung der Ägypten-Expedition des Metropolitan, um exakt zu sein. Aber ja, derselbe.« Die alte Dame drehte sich etwas zur Seite, was die Feder auf ihrem Kopf wieder in einen wilden Tanz versetzte, und zog eine zierliche blasse Dame, die etwas abseits gestanden hatte, näher zu ihnen. »Hier ist übrigens noch jemand, der in Ägypten war.«

Sofort erkannte Alma die Engländerin mit den blassblauen Augen und dem schwankenden Gang. Sie hatte den goldfarbenen Turban gegen einen nilgrünen ausgetauscht und trug ein prachtvoll silbern glitzerndes Abendkleid unter einer mit Pailletten besetzten Stola, die locker über ihren Schultern lag.

»Ich habe sie bei einem meiner letzten Besuche dort getroffen«, fuhr die Dame fort. »Wir wohnten im gleichen Hotel.« Ihre Hände tätschelten den Arm der deutlich Jüngeren. »Lady Norfolk.«

»Äußerst angenehm, Lady Norfolk«, brachte von Lindner die Begrüßung schnell hinter sich, der seine Gesprächspartnerin vom gestrigen Abend offenbar nicht erkannt hatte, nur um gleich verzückt und aufgeregt wie ein Kind vor der Bescherung fortzufahren: »Die Ausgrabungen vor zwölf Jahren …«

»Mein verstorbener Mann war Mitglied der Deutschen Orient-Gesellschaft«, unterbrach ihn die alte Dame verschnupft.

Statt einer der Sitte üblichen Beileidsbekundung entfuhr von Lindner ein Euphorisches: »Nein! Das bin ich auch!«

»Ach.« Die Frau schien unbeeindruckt. »Das sind ja so viele neuerdings, nicht wahr? Scheint in Mode gekommen zu sein.«

Alma unterdrückte ein Glucksen. In der Zwischenzeit war sie respektvoll einige Schritte zur Seite getreten, konnte das Gespräch jedoch ohne weiteres mitverfolgen. Emmi hatte sich davongemacht und war nirgends zu sehen, wahrscheinlich riefen ein paar Lilien oder der Pyramidenkavalier um Hilfe. Beeindruckt widmete Alma ihre Aufmerksamkeit einer goldfarbenen Platte auf dem Tisch, verlor dabei dann doch den Faden des verbalen Schlagabtauschs neben ihr. Auf dem goldenen Relief war ein Paar zu sehen, das sich gegenübersaß. Niemand protestierte, als sie das Stück behutsam in die Hand nahm und mit der Fingerspitze über die runde Scheibe der Sonne strich, deren Strahlen die Szenerie von oben wie mit einem Dreieck beleuchtete.

»Die königliche Familie«, flüsterte unerwartet die Stimme der blassen Lady Norfolk in ihr Ohr.

Alma zuckte zusammen. »Bitte?«

»Sie halten ein Klappaltarbild in der Hand, meine Liebe«, sagte die schaukelnde Pfauenfeder. Die leuchtenden Fingernägel der alten Dame umgriffen den Rahmen. Sie nahm Alma die Platte jedoch nicht aus der Hand. »Fein ziseliert, nicht?«

»Die beiden scheinen recht bequem zu sitzen. Fast lässig.«

Die Finger verringerten den Druck, die Hand der Frau löste sich von der Replik. »Eine intime Szene. Wie aus dem Alltag, die beiden Eheleute, in ein Gespräch vertieft …«, sie brach ab, denn ein anderer Gegenstand hatte ihr Interesse geweckt. »Herr von Lindner, was sehe ich da? Hochinteressant.« Sie beugte sich über den Tisch, um die Skulptur näher in Augenschein nehmen zu können. »Ein Salbungsgefäß aus Alabaster?«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu dem Künstlerischen Leiter. Ihr Tonfall klang, als sei sie sich nicht sicher. Die Statuette vor ihr war ungefähr so hoch, wie Almas Arm lang war. Der Löwe stand auf einer Art Podest oder Hocker, reckte eine Pranke in die Höhe und streckte recht eindrucksvoll die Zunge heraus.

»Darf ich?« Sie wollte eben danach greifen, als von Lindner wie von einer Maschine auf das Band ausgespuckt hinter seinem Tisch hervorschoss und das Handgelenk der Frau umklammerte, bevor ihre Finger den Löwen ergreifen konnten.

»Was erlauben Sie sich?«, fragte sie empört.

»Frau Doktorin Hinrichs, mit allem nötigen Respekt«, setzte von Lindner nervös an und ließ dann ihre Hand los. »Die Repliken aus der Werkstatt des Thutmosis sind sehr kostbar. Aber bitte sagen Sie mir doch: Ist die Büste der Nofretete nun gefälscht oder nicht?«

Was für ein Themenwechsel. Alma legte die Stirn in Falten. »Sie soll gefälscht sein?«

Die ausgegrabenen Schätze von Tell el-Amarna wurden momentan in Berlin im Neuen Museum gezeigt. Die Ausstellung zeigte auch die Büste der Nofretete, die aus der Werkstatt des Thutmosis stammte und die Berlin zugesprochen worden war. Zeitgleich hatte der britische Archäologe Howard Carter mit der Entdeckung eines prachtvollen Pharaonengrabs für eine noch größere Sensation gesorgt. Die Ausgrabungsarbeiten waren wegen Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Grabungskonzession mittlerweile zum Erliegen gekommen. Aber Alma verfolgte die Neuigkeiten rund um die Ausgrabungen nicht nur im Tal der Könige mit Interesse. Dass die Büste der Nofretete eine Fälschung sein sollte, hatte sie jedoch in diesem Zusammenhang noch nie gelesen.

»Humbug«, zischte die Witwe. »Eine infame Lüge, die man dem damaligen Grabungsleiter vorgeworfen hat. Mein Gemahl, Gott sei seiner Seele gnädig, war dabei, als er zum Fundort reiste. Er und der Grabungsleiter kamen erst nach der Auffindung der Büste dort an. Und zwar am 6. Dezember 1912, mein sehr geehrter Herr von Lindner! Zuvor waren die Herren gemeinsam in Kairo. Die Büste kann also gar nicht gefälscht worden sein.«

Zumindest nicht vom Grabungsleiter, dachte Alma. Das waren ja spannende Neuigkeiten!

»Das ist sicher?«, hakte von Lindner nach.

Die Empörung stand der Witwe ins faltige Gesicht geschrieben. »Natürlich ist das sicher! Unterstehen Sie sich, hier Lügengeschichten zu befeuern!«

Was von Lindner zu diesen Fakten zu sagen hatte, bekam Alma nicht mehr mit, denn in diesem Moment schwebten die ersten Takte von In der Bar zum Krokodil durch den Kursaal, von den Gästen sogleich mit begeistertem Applaus kommentiert. Die Tanzfläche füllte sich, Emmi stürmte auf Alma zu, ihren vormaligen Galan August neben sich herschiebend, den sie neben Alma abstellte wie ein altes Gepäckstück, mit dem sie nicht zu reisen gedachte. Dann fegte sie auf die Tanzfläche zurück, um wenig später in den Armen des Tenors Wittich zu liegen.

»August, schön, dass du auch da bist«, begrüßte Alma den hageren Mann, dessen Augen vor Empörung blitzten.

»Sie hat mich einfach an den Rand bugsiert, Alma«, schnaubte er, und seine blassen Wangen färbten sich rot.

»Zu mir, genau.«