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Alma Täuber ermittelt zwischen illustren Kurgästen und illegalem Glücksspiel – der erste Fall für das Fräulein vom Amt Baden-Baden 1922. Das Fräulein vom Amt Alma Täuber liebt ihre Arbeit als Telefonistin und meistert sie mit Geschick und Energie. Gemeinsam mit ihrer besten Freundin Emmi genießt sie es, frei und unbeschwert zu sein und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Als Alma bei einer Telefonschalte zufällig den Bruchteil eines Gesprächs mithört, lässt sie die knarzige Stimme des Anrufers, die von einem erledigten Auftrag »bei den Kolonnaden« spricht, nicht mehr los. Alma stellt beherzt Nachforschungen an und findet heraus, dass genau dort eine Frau ermordet aufgefunden wurde. Doch bei der Polizei glaubt niemand an einen Zusammenhang zu dem Anruf – außer Kommissaranwärter Ludwig Schiller. In ihrer entschlossenen Art lässt Alma sich nicht beirren und begibt sich gemeinsam mit Schiller zwischen mondänen Bäderhotels und illegalen Casinos auf die Spur des Mörders.
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Seitenzahl: 481
Charlotte Blum
Roman
Baden-Baden in den Goldenen Zwanzigern – das Fräulein vom Amt Alma Täuber ermittelt
Baden-Baden 1922. Das Fräulein vom Amt Alma Täuber liebt ihre Arbeit als Telefonistin und meistert sie mit Geschick und Energie. Gemeinsam mit ihrer besten Freundin Emmi genießt sie es, frei und unbeschwert zu sein und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Als Alma bei einer Telefonschalte zufällig den Bruchteil eines Gesprächs mithört, lässt sie die knarzige Stimme des Anrufers, die von einem erledigten Auftrag »bei den
Kolonnaden« spricht, nicht mehr los. Alma stellt beherzt Nachforschungen an und findet heraus, dass genau dort eine Frau ermordet aufgefunden wurde. Doch bei der Polizei glaubt ihr niemand, dass es einen Zusammenhang zu dem Anruf gibt – außer Kommissaranwärter Ludwig Schiller. In ihrer entschlossenen Art lässt Alma sich nicht beirren und begibt sich gemeinsam mit Schiller zwischen mondänen Bäderhotels und illegalen Casinos auf die Spur des Mörders.
Der erste Fall für das Fräulein vom Amt Alma Täuber
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Ein Foto von ihrer mit Kopfhörern vor einem Schaltschrank sitzenden Großmutter hatte es Regine Bott schon als Kind angetan. Dem Begriff des »Fräulein vom Amt« begegnete sie damals zum ersten Mal, und der Beruf der Telefonistin ließ sie nicht mehr los. Dorothea Böhme begegnete Regine Bott hingegen erst Jahrzehnte später. Und siehe da: Auch das Leben von Dorotheas Großmutter bot so einiges an Romanstoff, stellte sie doch die damaligen Geschlechterrollen auf den Kopf. Die Idee, gemeinsam als Charlotte Blum eine Serie um das Fräulein vom Amt Alma Täuber und ihre unkonventionelle Freundin Emmi zu schreiben, war geboren. Die beiden Autorinnen sind gemeinsam nicht nur schreibend unterwegs, sondern treten auch regelmäßig im Rahmen einer Lesebühne zusammen auf. Sie leben mit ihren Familien in Stuttgart und Kornwestheim.
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Für Elisabeth, das Fräulein vom Amt
»Wer beim Telephonamt tätig ist, schafft Zauberwerke, deren sich die Scheherezade nicht einmal zu schämen braucht.«
Berliner Leben, Zeitschrift für Schönheit und Kunst, Dezember 1906
Sie war in Eile, ihr wadenlanger Rock raschelte bei jedem Schritt; doch trotz ihrer Hast bemühte sie sich, so leise wie möglich auf den unebenen Stufen aufzutreten und so den Widerhall zu dämpfen. Die im Mondlicht funkelnde Haube der Stiftskirche wies ihr den Weg, das Ziel war nicht mehr weit. Unbewusst zog sie die Schultern hoch, um sich vor der kühlen Brise, die aus dem nahe gelegenen Wald durch die laue Sommernacht pfiff, zu schützen.
Außer ihr war keine Menschenseele unterwegs.
Normalerweise genoss sie die Stunden kurz vor Sonnenaufgang; sie gaben ihr ein Gefühl von Überlegenheit. Sie meinte dann, die Welt in ihrer Hand zu halten, auf sie Einfluss zu haben, sie in ihrem Tun und Treiben lenken zu können. Jetzt jedoch trieb sie das Ticken der Zeiger an und hielt sie davon ab, den Wechsel der Nacht in den Tag, das Verblassen der Sterne zu genießen.
Sie erreichte den Marktplatz, eilte so leise wie möglich Richtung Schlossstraße, als plötzlich das Geräusch fremder Absätze auf dem Pflaster wie Kanonendonner in ihren Ohren erklang. Ihr Herz geriet aus dem Takt, stolperte für einen Augenblick, und sie meinte, einen Schatten hinter einen der Wandpfeiler der Stiftskirche huschen zu sehen. Abrupt blieb sie stehen. Sie legte eine Hand auf den Brustkorb, atmete kurz durch und spähte in die Dunkelheit. Nichts.
Einbildung?
Eilig setzte sie ihren Weg fort – das rhythmische Klackern der Schuhe kehrte zurück. Das war keine Sinnestäuschung. Jemand war dort, jemand, den sie hören, aber nicht sehen konnte.
Sie öffnete ihre Handtasche einen kleinen Spaltbreit, versicherte sich, dass alles in Ordnung war, indem sie mit den Fingerspitzen über das dünne Papier der Banknoten strich, und schloss den Clip wieder. Dann ging sie schneller.
Hinter ihr nahm das Klappern der Schuhe auf dem Pflaster an Geschwindigkeit zu, passte sich ihrem an.
Nach einer Weile achtete sie nicht mehr darauf, sich lautlos fortzubewegen. Sie fing an zu laufen, ein moderates Tempo, von dem sie glaubte, es auf Dauer durchhalten zu können. Dabei hielt sie den leichten Sommerhut fest, dessen breites Band bei jedem ihrer Schritte mitschwang.
Die fremden Schritte folgten ihr.
Licht. Sie brauchte Licht. Kurzentschlossen schlug sie den Weg Richtung Stadtmitte ein, hastete Treppenstufen hinunter, eilte zur Straßenbahnhaltestelle. Die Kandelaber auf dem Leopoldsplatz gaben ihr ein wenig Sicherheit, trotzdem tat ihr Herz einen Satz, als sie beinahe auf den Schienen ausglitt. Sie fing sich wieder und eilte weiter.
Genauso wie die fremden Schritte.
Als die Kolonnaden des Kurparks in Sicht kamen, hatte sich der Rhythmus in ihrem Rücken bereits zu einem Allegro gesteigert.
Jetzt rannte sie los, spürte die von der Nacht eiskalte Luft in ihren Lungen, in ihren Ohren rauschte es.
Das Allegro hinter ihr wurde zu einem immer lauter hallenden Presto und folgte ihr bis zu den Ladenzeilen, als sie über eine aus dem Kies ragende Baumwurzel stolperte. Mit der Spitze des Spangenschuhs blieb sie hängen, die Riemchen schnitten ihr in den Fuß, sie knickte um, schlug hin, fühlte im gleichen Augenblick, wie ihre Handflächen über den Splitt scheuerten, und versuchte, die wie Feuer brennenden Knie zu ignorieren und sich wieder aufzurichten. Atemhauch an ihrem Ohr. Ein urplötzlicher Schmerz an ihrem Hals hinderte sie daran aufzustehen. Entsetzt schnappte sie nach Luft.
»Ich habe Geld! Nehmen Sie das Geld!«, krächzte sie und presste gleichzeitig die Hand auf die verletzte Stelle.
Niemand antwortete. Irritiert stellte sie fest, dass sie außer ihrem eigenen Wimmern, dass sie jetzt zwischen kurzen flachen Atemzügen ausstieß, keinen anderen Laut mehr hörte.
Sie kniete auf dem Kies, die kleinen Steinchen bohrten sich in die Haut. Inzwischen hielt sie beide Hände auf ihren Hals gepresst, durch ihre Finger rann warmes Blut. Es hörte nicht auf. Ein kontinuierlicher Strom.
Sie brachte keinen Ton heraus. Das Atmen fiel ihr zusehends schwerer.
Warum? Sie spähte in die von den Laternen beschienenen Schaufenster. Suchte nach einem Spiegelbild, das nicht ihres war. Die Handtasche neben ihr verschwamm vor ihren Augen. Ihr Angreifer hatte sie nicht angerührt. Und jetzt war er verschwunden.
Blut sammelte sich in ihrer Mundhöhle, rann die Speiseröhre hinunter. Blut, das den Geschmack von Metall hatte. Noch nie hatte sie solche Angst gehabt. Und mit einem Mal wurde ihr klar, dass ihr Leben in wenigen Minuten vorbei sein würde.
»Und sie war nackt!«
»Wer?«
»Die Berber!« Ida senkte die Stimme und beugte sich verschwörerisch vor, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass der Drache sie nicht beobachtete. Vor ihr blinkte ein Lämpchen, das sie jedoch ignorierte. »Am helllichten Tag. Unter ihrem Pelzmantel.«
Auch in Almas Schaltschrank leuchtete es an verschiedenen Stellen. Ihre Finger schwirrten durch die Luft wie die Flügel eines Kolibris, flatterten an diversen Kabeln vorbei, zielsicher auf das richtige zu. Innerhalb eines Flügelschlags hatte sie den Abfragestöpsel in die korrekte Klinke des gewünschten Teilnehmers gesteckt. Alma war stolz darauf, ein Fräulein vom Amt zu sein, und sie war gut. Sehr gut sogar, das hatte die Aufsicht nach dem letzten Heiligen Abend anerkennend gesagt, als es so viele Gesprächsanfragen gegeben hatte, dass Alma und ihre Kolleginnen sich die Telefonnummern hatten aufschreiben und die Anrufer zurückrufen müssen.
»Hier Amt, was beliebt? Mit welcher Nummer darf ich Sie verbinden?«, spulte sie ihr Sprüchlein mit freundlicher Stimme herunter. Zuvorkommende Sätze waren inzwischen von formelhaften, kürzeren Phrasen abgelöst worden, und Alma trug sie mit der Akkuratesse eines Armeeangehörigen vor. Sie bedeckte die Sprechmuschel mit der Hand, während sie den Kopf nach rechts zu Ida drehte, die mit einem lausbübischen Lächeln darauf wartete, dass sie weitere Ungebührlichkeiten aus dem Amüsierbetrieb wiedergeben konnte.
»Nackt?«, vergewisserte sich Alma.
Ihre Kollegin nickte eifrig. »Im Büro ihres Bankiers oder so. Stell dir das vor!«
»Das ist Berlin«, betonte Friederike zwei Stühle weiter, die Röte, die ihr dabei bis unter den blonden Pony kroch, verriet jedoch ihr Unwohlsein. »Vergnügungssüchtig. Das sind die. Die sind alle verrückt dort.«
Alma konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, nestelte eine rechthaberische Strähne, die sich aus ihrer Aufsteckfrisur gelöst hatte, unter den Kopfhörer, aktivierte den Gebührenzähler und verband ihren Anrufer ins Hotel Stephanie in der Schillerstraße. »Bitte sprechen Sie.« Die Nummer der oft genutzten Apparate, die der Kurhotels zum Beispiel, kannte sie auswendig, und die Abkürzungen der Ortsteile waren ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Das ging so weit, dass sie im Kopf Baden-Baden anhand seines öffentlichen Fernsprechnetzes kartographieren konnte.
Im Kasino Stephanie findet heute Abend wieder eine Tanzveranstaltung statt, dachte sie lächelnd. Mit Sicherheit aber ohne nackte Tänzerinnen, Kokain und Äffchen, die sich an die tiefen Ausschnitte ihrer Besitzerinnen klammerten.
Es war Sommer, die Kurhotels ausgebucht, deren internationale Gäste betucht und bereit, für ihren Erholungsurlaub zusätzlich etwas springen zu lassen. In aller Würde und mit Anstand.
Ein weiteres Gespräch und noch eins, überall tanzten die Lichter, blinkten auf und erloschen wieder, während Almas Finger über ihr Pult schwirrten. Ihre jungen Kolleginnen widmeten sich ebenfalls wieder ihren Aufgaben, würden nach dem Ende der Schicht allerdings gewiss weiterplaudern: Ida würde die im Delirium dahintaumelnden Besucher der Großstadt-Jazzclubs verteidigen, Friederike hingegen die lasterhafte Lebensweise der »Berliner Irren« anprangern. Jetzt aber mussten sie sich vorsehen. Jede Toilettenpause wurde von der Aufsicht – genannt »Der Drache« – überwacht, Rauchpausen wurden noch seltener genehmigt, Privatgespräche waren selbstverständlich verpönt.
Die Arbeit konnte nervenaufreibend sein, die Kopfhörer und die Mikrophone, die sie täglich stundenlang trugen, Kopfschmerzen oder sogar Hörschäden verursachen. Und die nervliche Belastung verkraftete nicht jede. Eine klare Aussprache war ebenso wichtig wie Schnelligkeit und ein zuverlässiges Gedächtnis. Dialekt war tabu, Freundlichkeit und Zuvorkommenheit das Credo. Das Fräulein vom Amt musste eine gehobene Bildung vorweisen, am besten eine Fremdsprache sprechen. Alma liebte es, auf die Frage eines internationalen Touristen nach ihrem Befinden mit »Thank you, very well, and how are you?« zu antworten. Mithören war verständlicherweise strengstens untersagt, aber bei Gesprächen, die überdurchschnittlich lange dauerten, schaltete sich Alma manchmal dazu, um zu überprüfen, ob die Verbindung nicht etwa zwischenzeitlich unterbrochen worden war, was natürlich auch passieren konnte. Davon abgesehen war es sehr verführerisch, heimlich das telefonische Liebeswerben von Männern zu verfolgen, die nicht von ihren Kurschatten lassen konnten. Besonders Ida war dafür äußerst empfänglich.
Alma hatte gerade das nächste Gespräch vermittelt, als links neben ihr ein leises Stöhnen erklang. Eigentlich kaum hörbar inmitten der sirrenden Frauenstimmen und zusätzlich gedämpft durch den Kopfhörer, doch die Fräulein saßen so eng nebeneinander, dass Alma sich unwillkürlich nach links drehte. Lichter blinkten ihr wütend entgegen. Vier, fünf, sechs Anrufer warteten gleichzeitig darauf, verbunden zu werden. Doch statt ihre Finger tanzen zu lassen, hielt Marianne, die sich schon am vorigen Gespräch nicht beteiligt hatte, ihre Hände auf den Bauch gepresst.
»Ist dir nicht gut?«, flüsterte Alma, als sie schon das nächste Gespräch annahm.
Kopfschütteln.
»Schnell, ich mach das für dich.« Alma warf einen Blick zum Drachen, der glücklicherweise am anderen Ende des Saals beschäftigt war, und bedeutete Marianne dann mit einem Kopfnicken, in die Waschräume zu verschwinden. Das Mädchen war erst kürzlich einem dreckigen, verschimmelten Loch entkommen, das die Wirtin Zimmer genannt hatte. Dort hatte Marianne gesessen, hungrig, ihre zerschlissene Kleidung ausgebessert, immer wieder aufs Neue. Stets die Hoffnung vor Augen, dass es irgendwann anders werden würde. Und das Schicksal hatte schließlich ein Einsehen gehabt. Alma konnte nicht zulassen, dass Marianne Ärger bekam und womöglich wieder in das Unglück zurückfiel, in dem sie so lange ausgeharrt hatte.
Die Lichter der Schalttafel flackerten wie wild, herrje, was für ein Durcheinander. Mit einem Blick sondierte Alma die Lage, nahm Mariannes Kopfhörer auf, um das erste Gespräch herzustellen. Dann widmete sie sich einem anderen Blinken, stutzte. Was war hier los? Eine falsche Verbindung? Sie drehte sich erneut zum Drachen um – Entwarnung – und schaltete sich zu, um schnell hineinzuhören.
Die Stimme, die sie da hörte, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Knarzig. Laut. Trotz der Wärme durch die technischen Instrumente stellten sich die Haare auf Almas Unterarmen auf.
»Ich wollte nur melden«, sagte der Mann, und es klang, als wenn man Nägel über eine Schiefertafel zog, »ich wollte nur melden, dass der Auftrag erledigt ist. Sie finden die Dame bei den Kolonnaden.«
Alma riss sich den Kopfhörer von den Ohren. Wie in Trance arbeitete sie weiter, geschickt fanden ihre Finger die entsprechenden Schnurpaare und Klinken, während sie mit den Gedanken ganz woanders war.
Marianne kehrte zurück, und der Rest der Schicht verlief reibungslos. Doch dieser eine Anruf ließ Alma dennoch nicht los. Welche Dame bei den Kolonnaden? Welcher Auftrag? Und warum hatte diese eigentümliche Stimme einen so drohenden Unterton gehabt?
Nach der Arbeit zog Alma als Erstes noch im Gehen den kratzigen Mantel aus, der zu ihrer Uniform gehörte. Da der Drache es sich nicht nehmen ließ, zu verschiedenen Gelegenheiten den Zustand der Mäntel zu überprüfen, hängte Alma ihn sorgfältig in den Spind und zog sich um. Dann verabschiedete sie sich von Friederike, die ebenfalls mit ihr Schichtende hatte, und eilte hinaus auf die belebte Sophienstraße.
Zum Glück hatte sie es nicht weit nach Hause, nur einige Stationen mit der Tallinie, die am Brahmsplatz in Lichtental endete. Friederike hingegen wohnte in Oos. Ihr wurde die Fahrt mit Straßen- und Stichbahn zu öde, neuerdings sprach sie deswegen des Öfteren mal von einem Automobil. Lächerlich! Als ob sie sich das von ihrem mageren Gehalt würde leisten können! Ein fahrbarer Untersatz war das Privileg der Reichen und Schönen. Der goldenen Taschenuhren und Pelzmäntel. Alarmiert blickte Alma auf ihren Mantelsaum, wo der Stoff schon ein bisschen dünner wurde. Von ihrem Lohn konnte sie sich gerade so Schminke, hin und wieder den Besuch in einem Tanzlokal und die kleine Dachwohnung leisten, die sie sich mit ihrer Freundin Emmi teilte. Das Strickjäckchen in einem frischen Veilchenviolett, das Alma morgens auf dem Weg zur Haltestelle in der Auslage eines Schaufensters gesehen hatte, musste ebenso warten wie der cremefarbene Teddy aus Seide, die momentan angesagte Verbindung aus Chemise und Unterhose, mit der sie auch schon eine Weile liebäugelte.
Aber für einen ausgelassenen Abend reichte es noch! Und morgen war ihr freier Tag. Ein paar Stunden voller Ausgelassenheit lagen vor ihr, und sie war bereit, sie mit offenen Armen zu empfangen.
Der Gedanke daran ließ ihren Schritt beschwingter werden, als sie auf den Leopoldsplatz trat, das Hauptverkehrszentrum der Stadt, von wo aus sie die Elektrische nehmen würde. Dass die nur einige Schritte vom Postgebäude entfernt hielt, war eine Annehmlichkeit, für die Alma wirklich dankbar war. Gemeinsam mit anderen Fahrgästen wartete Alma auf die Bahn. Stiftskirche und Schwarzwald ragten hinter dem grün berankten Haus Victoria in den Himmel; sie schienen dem wuseligen Treiben vor der Haltestelle mit Gelassenheit zuzuschauen. Das ehemalige Hotel Victoria hatte schon vor dem Großen Krieg seinen Betrieb einstellen müssen, der steigende Verkehr und die damit einhergehende Geräuschbelästigung hatte die Gäste vergrault. Das wusste Alma von Emmi, die gerne aus dem Nähkästchen plauderte; und als Floristin, die einige der beliebtesten Hotels Badens belieferte, hatte sie ein großes Repertoire. Das Gesumme der Stadt, der vielen Menschen, der Geräusche der Automobile und der Straßenbahn ließen Almas Magen jedoch in Vorfreude auf die schmissige Musik einer Kapelle hüpfen. Als ein junger Mann im Vorbeigehen seinen Hut lupfte, musste sie sich anstrengen, ihn nicht mit einem Lächeln zu belohnen, das ihn vergeblich ermutigt hätte. Stattdessen schenkte sie es der Statue des Landesvaters Großherzog Leopold, nachdem sich der junge Galan entfernt hatte.
»Die Presse! Die Presse! Die Badische Presse!« Ein müde wirkender Junge schwenkte lustlos seine Zeitung. »Mord in Baden«, rief er mit etwas mehr Elan, als er bemerkte, dass Alma zu ihm hinübersah. »Kaufen Sie jetzt die Presse! Aktuelle Abendausgabe, Mord in Baden!»
Etwa wieder ein Attentat? Hier in Baden? Vor ziemlich genau einem Jahr war der ehemalige Reichsminister Matthias Erzberger während seines Kurzurlaubs in Bad Griesbach einem politischen Anschlag zum Opfer gefallen, und es hatte Alma schwer mitgenommen. Sechs Mal hatte man auf den Mann geschossen. Sechs Mal! Und dann noch zwei Mal, als er schon am Boden lag. Die Mörder, die die junge Republik auf diese Weise erschüttern wollten, waren entkommen und bis zu diesem Tag unerkannt geblieben. Wenigstens hatte man den Mord an Rathenau rächen können, dessen Attentäter sich auf der Burg Saaleck verschanzt hatten. Einer der Männer war während des Feuergefechts getötet worden, der andere hatte sich selbst ins Jenseits befördert. Wie lange war das her? Etwa einen Monat? Und jetzt … etwa schon wieder?
Erschrocken suchte Alma in ihrer Handtasche nach dem Portemonnaie und trat zu dem jungen Zeitungsverkäufer. Ein Ehepaar blieb stehen, ebenso ein älterer Herr, der es bis gerade eben noch eilig gehabt hatte. Ein Mord, konnte man das glauben? Etwas wacher nun nickte der Zeitungsverkäufer, der kaum vierzehn Jahre alt sein mochte. »Jawohl, die Herrschaften, ein Mord. Hier!«
Er hatte den richtigen Köder gefunden und würde heute noch etwas verdienen, dachte Alma. Vielleicht konnte er sich dann ein Stück Seife kaufen. Der Schein, den sie dem Jungen in die Hand drückte, war vor einem Monat noch das Doppelte wert gewesen.
»Danke schön, die Dame«, rief der Junge und warf ihr keck einen Kuss zu. »Ein famoses Wochenende, die Dame!«
Alma lächelte und wollte gerade die Zeitung aufschlagen, doch dann kamen die cremefarbenen Wagen der Bahn in Sicht. Hastig stopfte sie die Badische Presse in ihre Handtasche zwischen Puderdose und Lippenstift, winkte dem Fahrer, dass er sie und ihre Mitwartenden mitnahm, anschließend sprang sie aufs Trittbrett.
Alma wohnte mit ihrer Freundin bei einer älteren Dame, der Witwe Meier, die zwei Zimmer unter dem Dach an alleinstehende berufstätige junge Frauen vermietete. Das Haus im Stadtteil Lichtental unweit des auf einer Anhöhe thronenden Erholungsheims gelegen, wurde von der Witwe, die sowohl den Gatten als auch einen Sohn im Krieg verloren hatte, mit dem Aplomb eines Feldherrn geführt. Da sich die Begeisterung Frau Meiers für Zucht und Ordnung auch auf Sauberkeit erstreckte, glänzte der Boden im Treppenhaus, und das Holzgeländer strahlte wie der junge Morgen. Nach eigener Aussage wollte die Wirtin durch hingebungsvolles Wienern und Bohnern auch dafür sorgen, das »Aroma der Armut« von ihrem Haus fernzuhalten. Dabei waren die Wohnungen zwar klein, aber ohne Makel, und alle Mieter gingen einer geregelten Beschäftigung nach.
Als Alma nach der ersten Besichtigung im Kurpark ihrer alten Schulfreundin Emmi Wolke über den Weg gelaufen war, die just in diesem Augenblick nach einem Platz zum Schlafen suchte, schien es ein Wink des Schicksals. Die Wohnung war klein, die Wände waren schräg, aber es gab nicht nur die kleinen Kammern – frühlingshaft geblümt tapeziert –, in denen Alma und Emmi schliefen; daneben verfügten sie über einen gemeinsamen Raum – Küche und Wohnzimmer in einem, in dem ein alter Herd mit Wasserschiff den meisten Platz einnahm. So stand ihnen jederzeit warmes Wasser zur Verfügung, außer Emmi vergaß wieder das Anheizen. Im Raum selbst waren zwei Schmuckstücke ihr ganzer Stolz: ein Sofa und ein Grammophon. Ersteres war aus dunklem Holz mit grünem Bezug, das die Witwe Meier nicht mehr brauchte, weshalb sie einen ihrer Söhne gebeten hatte, es heraufzubringen. Letzteres hatte der Vormieter aus Gründen, die Alma nicht bekannt waren (und die sie wahrscheinlich auch niemals verstehen würde) zurückgelassen. Schon der Kasten aus massiver Eiche allein war ein Hingucker, aber der Trichter in einem tiefen Rot hatte die beiden jungen Frauen vor Verzückung in die Hände klatschen lassen. Ihr Reich. Ihr eigenes Traumreich. Als Alma die Tür öffnete und einen Gruß in ihre Kammer rief, kam keine Erwiderung, Emmi war also noch nicht zu Hause. So konnte sie sich am Waschtisch frisch machen und ungestört ihre Haare hochstecken. Bisher hatte sie sich noch nicht getraut, das glatte dunkle Haar abzuschneiden, das ihr bis über die Schulter fiel. Die neue Mode jedoch hatte etwas an sich … Alma war immer schlank gewesen, »viel zu dünn, Kindchen«, wie ihre Mutter stets besorgt sagte. Aber hatte sie sich vor wenigen Jahren noch etwas mehr Körperfülle gewünscht, trug sie heute stolz ein Trägerkleid mit tiefer Taille. Wie für sie gemacht schien diese Mode, die sie ohne Mieder und Schnürungen tragen konnte. So fühlte sie sich frei und unbeschwert, und der tiefrote Lippenstift und ein Faux Bob sollten den Look der »neuen Frau« komplettieren. Dazu band sie ihre Haare im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammen, den sie dann nach innen einschlug und feststeckte. Männer entdeckten nur selten den Unterschied zwischen einem echten Bubikopf und einem falschen.
Zufrieden prüfte sie, ob die Klammern festsaßen, als sich die Tür öffnete.
»Endlich daheim!«, rief Emmi, warf die Tür schwungvoll hinter sich zu – auf die Hausordnungspredigten der alten Meier gab Almas Freundin keinen Pfifferling –, ließ ihre Handtasche an Ort und Stelle fallen und warf sich noch im Mantel auf das Sofa. Emmi war ein Wirbelwind, eine Naturgewalt, wilde blonde Locken krausten sich um ihren Kopf, die vollen Wangen glühten. »Der Baer hat mich heute getriezt, das kannst du dir nicht vorstellen!«, stöhnte sie. Dabei ließ sie ihre schlanken Finger durch die Luft tanzen.
Albert Baer, Inhaber des Blumenhandels, bei dem Emmi arbeitete, war Alma inzwischen als jemand bekannt, für den geregelte Arbeitszeiten seiner Angestellten so bedeutsam waren wie für den Drachen ein freundliches Wort. Nämlich gar nicht.
»Liebes Wölkchen, welch ein Fauxpas! Haben Sie denn etwa gar nichts gelernt?«, imitierte Emmi täuschend echt ihren Chef, dessen Markenzeichen es war, jeden seiner gestelzt vorgebrachten Sätze mit Handgewedel zu unterstreichen. »Weiße Lilien in einem Hochzeitsstrauß? Morituri salutant! Sind Sie von allen guten Geistern verlassen?« Theatralisch hielt Emmi sich eine Hand an die Stirn. »Die Giftspritze im Hotel Stephanie, die Gruber, ich hab dir ja mal von der erzählt …«, Emmi wartete einen Kommentar ihrer Freundin gar nicht erst ab, »die war nicht besser, kann ich dir sagen. Gegen die Lilien hatte sie eigentlich nichts, aber … Hochsaison. Extrawürste. Sonderlocken. Und dann kommen noch ein paar Pferdebesitzer daher, und du weißt, wie die Gruber mit Pferden ist! Im Endeffekt hat sie dann alles an mir ausgelassen.« Emmi stöhnte erneut, dann richtete sie sich auf. »Gut siehst du aus«, sagte sie zu Alma. »Wie ein echter flapper.«
Sie setzte, immer noch im Mantel, die Grammophonnadel auf eine Schallplatte, kurbelte, legte ihre Hände auf Almas Taille, und die beiden stürmten zum Rhythmus eines populären Gassenhauers durch die Wohnung.
»Die Meier wird wieder einen Wutanfall bekommen!«, japste Alma während einer Kehrtwende kurz vor dem Waschbecken. »Die hört da unten jeden Schritt!«
Emmi stieß sie spielerisch von sich und zog sie dann wieder zu sich heran. »Ach was! Hab dich nicht so. Wir testen den Sitz deiner Frisur, weiter nichts.«
Alma lachte, wand sich unter dem Arm ihrer Freundin hindurch. Lauthals sangen die beiden mit:
»Wir versaufen unser Oma ihr klein Häuschen,
Ihr klein Häuschen, ihr klein Häuschen.
Wir versaufen unser Oma ihr klein Häuschen
Und die erste und die zweite Hypothek!«
Irgendwann war das wütende Klopfen von unten nicht mehr zu ignorieren.
Der Faux Bob hatte gehalten.
Ein echter flapper. Alma musste immer noch schmunzeln, als sie bei Emmi untergehakt das Tanzcafé Riegel betrat. Das Licht war schummriger als in den Cafés für die Kurgäste, die Besucher weniger gutbetucht. Für Emmi war dieser Umstand das Tüpfelchen auf dem i, nahm es Baden doch ein wenig den Provinzmief. Denn wie Ida schwärmte sie von Berlin. Berlin, Berlin, Berlin. Baden war ein Nest, dem sie so schnell wie möglich den Rücken kehren wollte. Allerdings sprach Emmi schon seit zwei Jahren davon, und Alma war froh, dass ihre Freundin immer noch an diesem Luftschloss baute und es nicht zu beziehen gedachte.
Zigarettenrauch hing wie undurchdringlicher Nebel in der Luft, die schummerige Beleuchtung des Raumes spielte darin Verstecken. Der Körpergeruch schwitzender Menschen paarte sich mit dem Odeur parfümierter Seife. Die Kapelle spielte einen flotten Twostepp, und fast ein Dutzend Paare zuckten auf der Tanzfläche. Lange Perlenketten hüpften, schlugen rhythmisch auf den Brustkorb ihrer Trägerinnen. Alma verspürte sofort das aufgeregte Ziehen in ihrer Brustgegend, ein Verlangen nach Tempo und Vergnügen.
»Meine Güte, da wimpelt ja die komplette Galanterieausstattung von Anstetts Kurzwaren herum!«, kommentierte Emmi beim Anblick der Haarbänder, Federn und dem anderen Schmuck auf den Köpfen der Frauen. Auf ihrem Gesicht zeigte sich die Ungeduld eines kleinen Mädchens, das in wenigen Minuten Karussell fahren durfte.
Der Takt dominierte vor der Melodie. Die Tanzenden schüttelten ihre Schultern, eine voluminöse, schon etwas ältere Dame wackelte luderig mit dem Allerwertesten.
»Auf ins Vergnügen!«, rief Emmi und zwinkerte einem in der Nähe stehenden jungen Mann zu.
»Na, damit bekommst du sicher den ersten Cocktail des Abends spendiert«, kommentierte Alma.
»Ich warte auf Karl Kappler«, erwiderte ihre Freundin, während ihre Augen den schummrigen Saal absuchten.
»Auf wen?«
Emmi nahm sie am Arm und zog sie zu sich. »Der Rennfahrer!«, raunte sie ihr ins Ohr. »Schlank, jung, attraktiv. Rasant.« Eine Locke streifte Almas Wange, als sie den Kopf erneut in Richtung Tanzfläche drehte und einen Hauch von Jasmin hinterließ. »Der will heute hier sein. Ich habe die Pagen drei und fünf vom Brenners miteinander reden hören. Charlie Kappler ist wohl die neue heiße Nummer des Automobilrennens. Fuhr auch im Juli hier mit und gewann den Wanderpokal in der Gesamtwertung. Du weißt schon.«
Alma wusste es eigentlich nicht so genau, was sie aber wusste: Das Badener Automobilturnier, das seit letztem Jahr von der lokalen Zigarettenfabrik Batschari ausgerichtet wurde, hatte sich mit seinem Berg- und Flachrennen, einem Geschicklichkeitsturnier vor dem Kurhaus und einer Schönheitskonkurrenz schon weit über die Stadt hinaus einen Namen gemacht. In diesem Jahr hatte das Turnier im Juli stattgefunden und war wie immer sehr gut besucht gewesen. Alma konnte sich jedoch an den Namen Karl Kappler nicht erinnern, sondern nur an eine Frankfurterin namens Ines Keil-Folville, die zu Almas großer Freude in der Damenkonkurrenz den ersten Preis erlangt hatte. Wie das süffisante Lächeln auf einigen Männergesichtern erstarb, als Frau Keil-Folville über die Zielgerade gefahren war, hatte Alma in vollen Zügen genossen.
»Anscheinend hat er sein erstes Rennen mit süßen fünfzehn Jahren gewonnen. Drei und Fünf waren total enttäuscht, dass er sich während seines Abstechers nach Baden-Baden nicht für eins der großen Hotels entschieden hat, aber … das wird noch.« Emmy hob bedeutungsvoll die Augenbrauen. »Er hat einen eigenen Rennwagen gekauft, für 140000 Reichsmark, munkelt man. Und dazu soll er noch phantastisch aussehen!«
Wenn dieser Kappler aber wirklich so aussah wie von Emmi beschrieben und das »rasant« sich auch auf seinen Tanzstil bezog, dann würde er aus der Masse der sich Amüsierenden sicherlich herausstechen. »Dann wird er mir also sofort auffallen?«
»Auffallen? Darauf kannst du wetten, meine Blume! Er geht immer elegant an den Start: Binder, gestärktes Oberhemd, Jackett. Da wird er sich heute Abend auch nicht lumpen lassen.« Mit einem Lächeln, das ihre strahlend weißen Zähne zeigte, ließ Emmi ihren Mantel von den Schultern gleiten, und sogleich stand der Mann, dem sie vorhin zugezwinkert hatte, neben ihr, um ihn ihr abzunehmen. Er bestand darauf, ihr ein Getränk zu bestellen. »Und Ihrer bezaubernden Freundin natürlich ebenfalls.«
»Nun ja«, wisperte Emmi, so dass nur Alma es hören konnte. »In der Zwischenzeit nimmt man halt, was man kriegen kann, nicht?«
So hielt Alma keine zehn Minuten später einen Pink Gin in der Hand und schnipste im Takt zur Musik. Die Kapelle war zu einem Tango gewechselt, dem Tanz, den Almas Großmutter als wild und anstößig verurteilte. So verstört mussten sich vor über hundert Jahren die Damen der Gesellschaft gefühlt haben, als der Walzer das Parkett erobert hatte und die Herren ihre Hände plötzlich um die Taillen der Damen legen durften. Heutzutage war da sehr viel mehr im Spiel als nur die Körpermitte einer Frau.
Alma sah sich um, ob nicht vielleicht ein geeigneter Herr in ihrer Nähe stand, der ihren Taillenumfang ertasten wollte. Ihretwegen musste es ja nicht gleich der rasante Charlie sein. Hauptsache, er trat ihr nicht auf die Füße, sondern riss sie mit seinen eleganten Bewegungen mit. Männer waren Mangelware, und manchmal, und vor allem im Ozelot, wo sie ab dem späten Abend immer den neuen Jazz spielten, den Alma so sehr liebte, tanzte sie einfach mit Emmi, die übrigens hervorragend führen konnte. Im Ozelot war es egal, wer sich in wessen Arme fallen ließ, ob ein Mann mit einem Mann oder eine Frau mit einer Frau über die Tanzfläche glitt. Stets im Visier der Sicherheits- und Sittenpolizei, die das anrüchige Lokal als Brutstätte des Verbrechens und als Schauplatz des Verlustes von Kontrolle und Anstand betrachtete, verhieß ein Besuch im Ozelot Leben am Rande des Vulkans. Alma verließ diese Abende immer mit einem aufgeregt pochenden Herzen, das auch bis spät in die Nacht hinein den Rhythmus der Freiheit beibehielt.
»Alma! Neuigkeiten!« Emmi, die zurückgekehrt war und aufgeregt neben ihrem Tisch stand, stupste sie an und deutete auf ihren Galan, der sich schwer atmend eine verschwitzte Locke aus der Stirn schob. Vielleicht hätte man ihm sagen sollen, was es bedeutete, mit jemandem wie Wölkchen zu tanzen, dachte Alma amüsiert.
»Rate mal, was Willy von Beruf ist«, fuhr Emmi fort, griff nach Almas Glas, trank es in einem Zug aus und schenkte ihrer Freundin über den Rand hinweg ein vielsagendes Augenzwinkern.
Unauffällig betrachtete Alma die Finger des jungen Mannes. Kräftig, sehnig, mit Dreck unter den Nägeln. Die Hände eines Handwerkers. »Mechaniker …«, begann sie langsam, dachte an Emmis Begeisterung und ihre Erzählung vom rasanten Charlie und fügte schnell »… für Automobile!« hinzu. Dieses Mal mit einem Ausrufezeichen. »Automobilmechaniker? So wie in Autorennen?«
Emmi hob das Glas und prostete ihr enthusiastisch zu. »So wie in Automobilrennen!«, bestätigte sie übermütig.
»Wir testen momentan ein paar Fahrzeuge«, murmelte Willy, senkte bescheiden den hochroten Kopf, wischte sich den Schweiß mit dem Ärmel seines Jacketts von der Stirn und zog dann die kichernde Emmi erneut auf die Tanzfläche. Alma blieb allein mit ihrem leeren Pink Gin zurück. Gerade wollte sie sich um Nachschub kümmern, da riss ein Pärchen, das an ihrem kleinen Tisch vorbei zur Kapelle stürzte, Almas Handtasche zu Boden.
»Darf ich Ihnen helfen, Fräulein?« Ein blonder junger Mann, kaum ein paar Jahre älter als sie, beugte sich hinunter, um die Tasche aufzuheben, noch bevor sie selbst reagierte. Neben Puderdose und Lippenstift glitt die Badische Presse auf das Parkett. Die Zeitung hatte sie ja völlig vergessen. Der Mord! Schneller, als ihr Kavalier handeln konnte, kniete Alma sich hin, um den Inhalt vor den Sohlen der Tanzwütigen in Sicherheit zu bringen.
»Steht denn was Interessantes drin heute?«, fragte der Blonde.
»Vielleicht.« Alma setzte sich und breitete die Zeitung vor ihnen aus. Die Tischlampe mit dem grünen Schirm erhellte die Seiten nur unzureichend, aber die Schlagzeile ließ sich deutlich entziffern.
»Ein Mord! Alle Wetter!« Der Blonde zog die Augenbrauen zusammen. Für einen Moment wirkte er verunsichert. Er griff in die Tasche seines Jacketts, entblößte dabei einen weißen Überschwupper, wie sie gerade in Mode waren, und zog ein Zigarettenetui hervor. »Ich weiß nicht, ob Sie das wirklich lesen sollten … Möchten Sie eine?«
Doch Almas Augen wanderten schon die Zeilen hinab. Kein politisches Attentat, ein Frauenmord. In den frühen Morgenstunden war es passiert, sie war erstochen worden, ein Stich in den Hals, von einem unbekannten Täter. Man hatte sie gefunden, blutend und schon nicht mehr bei Bewusstsein. Die Polizei ging von einem Mord im »Milieu« aus, die Tote sei eine Prostituierte gewesen. Dann zitierte der Zeitungsreporter einen Geschäftsbesitzer, der es unvorstellbar fand, dass man »diese Dame« ganz in der Nähe des exklusiven, einladenden Tors zur Stadt, nämlich bei den Kolonnaden, ermordet hatte.
»Sie sind ja ganz blass«, rief der Blonde, und die Zigarette, die er sich gerade anzünden wollte, wippte zwischen seinen Lippen. »Das sehe ich sogar bei dieser Beleuchtung. Ich wusste, dass das nicht die richtige Lektüre für ein Fräulein wie Sie ist! Soll ich Ihnen ein Glas Orangeade bestellen?« Schon hob er die Hand, um einen der Kellner zu rufen.
Aber Alma antwortete ihm nicht. Ohrenbetäubend laut hörte sie die Worte des Anrufers mit der knarzenden Stimme in ihrem Kopf: Ich wollte nur melden, dass der Auftrag erledigt ist. Sie finden die Dame bei den Kolonnaden.
»Erbarmen«, stöhnte Emmi dumpf. »Mach das Licht aus. Bitte, mach das Licht aus.« Sie hielt ihr Gesicht fest in die Daunen gepresst und versuchte, die Zipfel des Kopfkissens über ihren Hinterkopf zu ziehen.
»Dein Kater muss wirklich schlimm sein, Wölkchen, wenn du dich nicht einmal daran erinnern kannst, dass diese Wohnung keinen Strom hat.« Ruckartig zog Alma am Kissen, was ihrer Freundin ein erneutes Jammern entlockte. »Das ist die Morgensonne. Du musst aufstehen.«
»Kann nicht«, kam es aus den Daunen.
Mit einem vorwurfsvollen Zungenschnalzen zog Alma die Decke zurück. »Stell dich ans Fenster und atme tief ein. Die Temperaturen sind jetzt noch erträglich. Ein bisschen frische Luft, danach geht es dir gleich besser. Du kannst es dir nicht leisten, krankzufeiern. Sei froh, dass du in diesen Zeiten eine Anstellung hast.«
»Ich feiere nicht. Ich feiere sowieso nie mehr.«
»Unsinn. Mach dich fertig, Wölkchen.«
»Bin krank.«
»Reiß dich zusammen.«
»Bin krank!«
»Ach Wölkchen.« Alma strich ihrer Freundin sanft über das Haar, nahm eine ihrer blonden Locken auf und drehte sie sich um den Finger. »So schlimm?«
»Schlimmer.«
Dass der Beginn des neuen Arbeitstages für ihre Freundin ein Waterloo werden würde, hatte sich schon in den frühen Morgenstunden angekündigt; denn Alma hatte kolossale Mühe gehabt, Emmi unfallfrei und lautlos – die Meier hatte nun mal Ohren wie ein Luchs – die Stiege hinaufzubugsieren. Genauso große Mühe hatte es Alma gekostet, ihre Freundin von Kapplers Automobilmechaniker zu lösen, der die Spendierhosen angehabt und Emmi immer wieder »seine Gertrude Hoffmann« genannt hatte. Alma errötete immer noch, wenn sie daran dachte, dass ihre Freundin gestern Nacht nicht weit davon entfernt gewesen war, Loïe Fullers berühmten Schleiertanz aufs Parkett zu legen.
Im Gegensatz zu Alma musste Emmi heute jedoch arbeiten, was unter anderem darin bestand, im Hotel de Hollande mit der Hausdame die Tischdekoration für die Veranstaltungen der kommenden Woche zu besprechen.
Emmi hob das Kissen an und lugte mit zusammengekniffenen Augen hervor. »Kopf … tut weh. Du musst für mich … gehen«, flüsterte sie undeutlich. Eine Haarsträhne klebte ihr im Mundwinkel, und sie bewegte kaum die Lippen.
»Du siehst schrecklich aus«, konstatierte Alma.
»Danke«, krächzte Emmi. Abrupt hielt sie ihre Hand vor den Mund. Mit aufgerissenen Augen stürzte sie Richtung Waschtisch; und während Alma ihr über den Rücken strich und die Haare aus dem Gesicht hielt, versprach sie Emmi mit lauter Stimme hoch und heilig, ihr Bestes zu tun, um die Mamsell im Hotel de Hollande davon zu überzeugen, dass das Fräulein Wolke heute leider unabkömmlich sei und daher ihre Vertretung habe schicken müssen.
Dass Alma allerdings nicht die geringste Kompetenz in Sachen Tischdekorationen vorweisen konnte, würde sie selbstverständlich verschweigen. Sie hatte vor, das Ganze schnell und begleitet von zustimmendem Kopfnicken zu absolvieren. Denn Almas Tagesplan sah einen weiteren Termin vor, den sie sich verbot, wegen des körperlichen Zustands ihrer Freundin zu verschieben. Emmi war wichtig. Sicher war sie das.
Die Tote bei den Kolonnaden trotz alledem auch.
Zu Almas großer Überraschung hatte die Hausdame Frau Weißhaupt, eine hochgewachsene Frau mit durchgedrücktem Kreuz und einer Frisur, die schon seit zwanzig Jahren aus der Mode war, nicht einmal mit der Wimper gezuckt, nachdem sie von Emmis »wichtigem Termin bei der Konkurrenz« erfahren hatte. Den Namen des vermeintlichen Rivalen hatte Alma im Gespräch gekonnt umschifft, genauso wie sie es meisterte, ihre eigenen, nicht vorhandenen Referenzen in Sachen Dekoration zu verschweigen. Während aus dem Nebenraum, dem Gelben Salon, die abgehackten Klänge einer übenden Kapelle herüberrumpelten, erging sich Frau Weißhaupt in Details über Blütenkelche, Stiellänge und Farbexplosionen, während Alma sich fleißig Notizen machte, ab und zu ein zustimmendes »Exakt!« oder ein »Sie haben ein hervorragendes Auge!« ausrief und ansonsten nur nickte. Die ganze Angelegenheit kostete sie fast eine Stunde, aber ein Gutes hatte es jedenfalls: Alma hatte ihrer Freundin die Anstellung gerettet, und da das Hotel in der Sophienstraße lag, konnte sie ohne großen Umweg ihren Tagesplan fortsetzen und auf direktem Weg zur Otto-von-Vincenti-Straße laufen.
Denn dort stand das Gebäude des Amtsgerichts, in dem neben dem Gerichtsarzt, den Rechtsanwälten, Dolmetschern, Notaren und Gerichtvollziehern auch die Kriminalpolizei zu finden war. Alma wollte Nägel mit Köpfen machen und nicht erst den Umweg über die Polizeihauptwache im Amtshaus gehen.
Als sie vor dem Eingang stand, bekam sie automatisch ein schlechtes Gewissen. Ein Haus voller Leute, die Finger in tiefe Wunden legten, in die Seelen von Menschen leuchteten, deren geheimes Inneres offenlegten. Da sie in letzter Zeit aber nicht ein einziges Mal die Straßenbahn ohne Fahrschein benutzt hatte, holte sie tief Luft, grüßte freundlich einen Herrn, der ihr entgegenkam und seinerseits den Hut lupfte, nahm die fünf Stufen so selbstsicher wie irgend möglich und trat ein.
»Ich möchte zur Abteilung der Kriminalpolizei«, teilte sie dem Beamten am Tresen mit, der einige Formulare vor sich liegen hatte, die er akribisch zu studieren schien. Unwillkürlich umfasste sie ihre Handtasche fester, als zwei Polizisten an ihr vorbeigingen, die einen nach Alkohol stinkenden Mann abführten.
»Ihr werdet es alle noch sehen!«, rief der Betrunkene. »Ihr werdet es bereuen, mir nicht geglaubt zu haben!«
Alma sah ihm hinterher und fragte sich, ob der Mann nur ausnüchtern musste oder ob er nach Illenau in die Heilanstalt gehörte.
»Worum geht es?«, unterbrach der Beamte am Empfang ihre Gedanken, ohne jedoch aufzublicken. Die Spitzen seines Oberlippenbartes zeigten zackig nach oben, aus seinem Tonfall jedoch troff die Langeweile.
»Die Tote bei den Kolonnaden.«
Jetzt erst sah er zu ihr auf. Er legte seinen Stift zur Seite und musterte Alma von Kopf bis Fuß. »Was haben Sie denn mit einem Kriminalfall zu tun, Fräulein?«, fragte er.
Nun waren sie beim unangenehmen Teil ihrer Meldung, sie hatte gehofft, ihre vage Zeugenaussage erst vor einem Mitarbeiter der Kriminalpolizei machen zu müssen.
»Sagen Sie nicht, Sie haben die Dame gekannt«, sagte der Beamte jetzt und grinste. Die Bartspitzen zitterten anzüglich, dieses Mal korrespondierend zu seiner Stimme.
Alma erinnerte sich an den Artikel; die Polizei vermutete, dass die Tote eine … Käufliche war. Hättest du wohl gern, dachte sie bei sich, erwiderte aber laut: »Nein, Sie denn?«
»Also … ich … natürlich nicht!«, stotterte der Beamte indigniert.
»Ich denke, es wäre am besten, Sie würden mir ins Büro folgen, Fräulein«, hörte Alma in diesem Moment jemanden amüsiert sagen. Sie drehte sich zur Seite; den Mann, der dort stand, hatte sie gar nicht kommen hören. Er war jung, höchstens fünf Jahre älter als sie, und trug keine Uniform. Seine dunklen Haare waren in einem ordentlichen Seitenscheitel frisiert, die Weste über dem Hemd sauber gebügelt, aber nicht mehr neu. Kein reicher Schnösel, allem Anschein nach hatte er sich seine Stellung erarbeitet. Eine feine Narbe kroch als dünne Linie auf seiner rechten Gesichtshälfte vom Mundwinkel bis zur Augenbraue. Er schien also im Krieg gewesen zu sein.
Er nickte dem Beamten an der Anmeldung zu, dann wandte er sich an Alma. »Hier entlang, bitte.«
Als er ihr dabei kurz in die Augen sah, machte etwas in ihrem Bauch einen kleinen Satz. Nur eine kaum merkliche Bewegung, aber trotzdem nicht zu ignorieren. Verlegen rückte sie ihren perfekt sitzenden Sommerhut zurecht, wusste aber nicht, was sie sagen sollte. Nicht einmal ein Dank kam ihr über die Lippen. Das war neu. Sie würde das beobachten müssen.
»Entschuldigen Sie bitte meinen Kollegen, aber dass jemand einfach so hereinspaziert, noch dazu ein so hübsches Fräulein«, an dieser Stelle verhaspelte er sich kurz, »ist mehr als nur ungewöhnlich«, beendete er seinen Satz, führte sie weiter die Treppe hinauf in den zweiten Stock und öffnete schließlich eine Tür am Ende des bescheiden ausgeleuchteten Korridors. »Willkommen in Zimmer 5.« Abgestandene, warme Luft waberte in den Flur. Allem Anschein nach wurde hier nicht oft gelüftet.
Sechs Schreibtische standen in dem großen Raum, einen weiteren vermutete Alma hinter einer hohen Trennwand, in der man eine Tür angebracht hatte. Fünf der Tische überquellend mit Papieren und Akten, einer sauber aufgeräumt. Dieser war als einziger besetzt.
»Guten Tag, die Dame!«, grüßte ein gedrungener Mittvierziger, der gerade einen Stapel Akten auf einen Rolltisch legte und danach mit dem Finger prüfend über die Schreibtischplatte fuhr.
»Bitte, setzen Sie sich doch.« Hastig rückte Almas Begleiter einen Stuhl für sie heran, schob einige der Akten vom überquellenden Schreibtisch in das Regal daneben, ignorierte den bestürzten Blick seines Kollegen, der diese Art aufzuräumen offenbar für ein Sakrileg hielt, und setzte sich dann mit Stift und Papier ihr gegenüber.
Alma strich ihren Rock glatt, nahm Platz und schlug die Beine unter. Ihre Handtasche hielt sie im Schoß mit beiden Händen umklammert; ihr Rettungsboot auf einer ungewissen Fahrt ins Innere einer Behörde.
»Wie ist denn Ihr Name?«, fragte der junge Beamte. Im gleichen Moment schien er sich an seine Manieren zu erinnern und schob schnell hinterher: »Schiller, Ludwig Schiller mein Name. Kriminalkommissarsanwärter.«
»Alma Täuber. Ich bin Fräulein vom Amt.«
»Oh. Na, dann wissen Sie sicher alles, was hier in der Stadt vorgeht.« Er lächelte über seinen Scherz.
Sie erwiderte sein Schmunzeln, wurde aber gleich wieder ernst. »Genau deshalb bin ich hier.«
In den folgenden Minuten holte Alma bei ihrer Beschreibung aus, sie brauchte etwas Zeit, um ihm die Situation zu erklären, was normalerweise nicht ihre Art war; sie kam, was vielleicht ihrem Beruf geschuldet war, immer schnell zum Punkt. Aber diesmal gab es einfach so viel drum herum zu verdeutlichen, weshalb sie in das Gespräch hineingehört hatte, von welchem Apparat der Anruf gekommen war, weshalb ihr die Stimme aufgefallen war und was sie gedacht hatte, als sie den Zeitungsartikel gelesen hatte.
»Würden Sie die Stimme wiedererkennen?«, fragte Schiller.
»Jederzeit.« Da war sich Alma sicher. »Es war, als würden Reißnägel über eine Schiefertafel gezogen.«
»Haben Sie auch den Gesprächspartner gehört?«
Alma schüttelte den Kopf. Sie hatte sich nicht gewundert, dass der andere auf die Mitteilung nicht geantwortet hatte. »Es schien nur eine Nachricht gewesen zu sein. Eine Mitteilung, gedacht als Telegramm.« Nur hätte man bei einem tatsächlichen Telegramm den Namen des Empfängers angeben müssen. Die Anonymität eines Anrufs von einem öffentlichen Apparat an einen öffentlichen Apparat wäre nicht gegeben gewesen.
Die Tür öffnete sich, und ein älterer Mann trat ein. Der Duft von parfümierten englischen Zigaretten umgab ihn, was aber nicht so recht zu seiner Erscheinung passen wollte, wie Alma fand. Seine Haare waren ungepflegt, einige hatten sich offenbar beim hastigen Kämmen gelöst und glänzten auf dem Rücken seiner dunkelbraunen Anzugjacke. Ein beträchtlicher Bauch ragte über seinen Hosenbund hinaus und drückte die Knöpfe des Hemdes etwas auseinander.
Ludwig Schiller war aufgestanden und begrüßte den Mann mit den Worten: »Es geht um die Tote bei den Kolonnaden, Herr Kriminalrat. Möglicherweise haben wir einen Hinweis, dass die Tat geplant war.« Dabei deutete er auf Alma.
Der Kriminalrat, den Alma sich nie und nimmer so vorgestellt hätte, ließ das Etui, das er in der Hand hielt, aufschnappen, nahm eine Zigarette heraus und steckte sie sich zwischen die Lippen. »Geplant?«, nuschelte er. »Der Mord an einer Dirne? Unsinn, Schiller.« Er machte eine unwirsche Handbewegung, als wolle er den Einwand wegfegen, wandte sich dann an den Kollegen, der dem Alten zuerst huldvoll eine Akte reichte und ihm dann die Zigarette anzündete.
»Ich habe es selbst gehört.« Alma entließ ihre Handtasche in die Freiheit, stellte sie kommentarlos auf den Schreibtisch und stand dann auf. »›Ich wollte nur melden, dass der Auftrag erledigt ist. Sie finden die Dame bei den Kolonnaden‹«, wiederholte sie die Worte des unbekannten Anrufers.
Der Alte legte den Kopf leicht in den Nacken und pustete süßlichen Rauch gen Zimmerdecke. »Ach? Und Sie sind?«
»Fräulein vom Amt!«
Schiller stellte sich halb vor Alma, es schien, als wolle er sie vor dem wütenden Blick seines Vorgesetzten beschützen. Erneut machte sich eine seltsame Mischung aus Sprachlosigkeit und Wärme in Alma breit. »Sie hat die Meldung in der Zeitung gelesen, ich habe ihre Zeugenaussage aufgenommen.«
Der Kriminalrat warf nicht einmal einen Blick auf das Papier in der Schreibmaschine. »Von einer Dame hat der Anrufer gesprochen, ja?«, fragte er. »Sehen Sie, dann kann er unsere Tote ja nicht gemeint haben.«
»Woher wissen Sie, dass sie eine … eine …« Alma war keine Frau, der bestimmte Begriffe nicht über die Lippen kamen, aber hier in diesem Raum mit drei fremden Männern, die sie alle anblickten, wusste sie nicht, welcher Ausdruck der Richtige war.
»Wir haben Jetons in ihren Taschen gefunden.«
Jetons? Das hatte nicht in der Zeitung gestanden! Woher hatte die Frau Jetons gehabt? Die Spielbanken waren doch schon lange geschlossen. Außer …
»Das illegale Glücksspiel floriert«, erklärte Schiller. »Wer sein Glück mit den Pferden herausfordert, will sich bald auch am Roulettetisch versuchen. Und Baden bietet seinen Gästen alles, was das Herz begehrt.«
»Das Spielerherz«, ergänzte sein Vorgesetzter. Dann wandte er sich wieder an Alma. »Gehen Sie zurück zu Ihren Schalttafeln«, sagte er. »Und Sie, Franck«, herrschte er Schillers Kollegen an, der unter dem Blick seines Vorgesetzten ein paar Zentimeter zu schrumpfen schien, dann aber wie ein Pennäler den wurstigen Zeigefinger in die Luft streckte.
»Hier, Herr Kriminalrat.«
»Sie kümmern sich um die gestohlene Brosche der englischen Gräfin.«
Lady, verkniff Alma sich die Korrektur. Sie wollte den Mann nicht noch mehr gegen sich aufbringen.
»Im Deutschen Kaiser gab es gestern eine Schlägerei, Schiller, das bringen Sie in Ordnung. Wir haben hier Prioritäten zu setzen. Die Große Woche wirft schon jetzt ihre Schatten voraus. Pferdeverrückte mit absurden Anliegen in jedem Hotel. Anzeigen wegen Diebstahl, Ehrverletzung … Sie erinnern sich an letztes Jahr? Katastrophe!«
»Jawohl.«
»Und der Mordfall? An der Prostituierten?« Das konnte Alma sich nun doch nicht verkneifen.
»Wenn dann noch Zeit ist, jagen wir Phantomen am Telefon nach.« Er schnaubte. »Glauben Sie mir, Fräulein, das Leben einer Hure« – bei der Erwähnung des Wortes beobachtete er Alma genau, erwartete wohl eine exaltierte Reaktion, die jedoch ausblieb – »bringen vor allem zwei Menschen in Gefahr: ihr Zuhälter und ihr Freier. Keiner von beiden spricht darüber am Telefon.«
Ganz von der Hand weisen ließ sich die Argumentation nicht. »Ich habe gehört, was ich gehört habe.«
»Das glaube ich Ihnen.« Der Alte nickte gütig, betrachtete skeptisch die Spitze seiner Zigarette und sah sich suchend um. »Aber meinen Sie nicht, es könnte sich um einen bloßen Zufall gehandelt haben?« Er aschte dankbar in den Kaffeebecher, den der aufmerksame Beamte Franck von irgendwo hergezaubert hatte.
Zufall. Das hatte Alma sich auch gefragt. Natürlich konnte etwas ganz anderes gemeint gewesen sein. Aber der Zeitpunkt, am Morgen nach dem Mord, der Ort des Verbrechens … Da sie jedoch keine Entgegnung wusste, die ihn überzeugen würde, schwieg sie.
Selbstzufrieden nickte der ungepflegte Kriminalrat und durchstapfte ohne ein weiteres Wort das Büro bis zur Trennwand, öffnete deren Tür und ließ sie hinter sich ins Schloss knallen. Zurück blieb ein starker Duft von Anis.
»Was werden Sie jetzt tun?«, fragte Alma Ludwig Schiller, der sie nach draußen begleitete.
»Sie haben Kriminalrat Ketterer ja gehört. Eine Schlägerei im Deutschen Kaiser.«
»Ich meine die Tote.«
Er wusste genau, was sie meinte, das zeigte allein schon, dass er ihrem Blick auswich.
»Vielleicht war es ja wirklich nur ein Zufall«, sagte er schließlich, als sie am Fuß der Treppe angelangt waren.
»Vielleicht aber auch nicht«, erwiderte Alma.
Ludwig Schiller versuchte sich an einem tröstenden Lächeln. »Es war nett, Sie kennenzulernen, Fräulein Täuber.«
Als Alma sich umdrehte und das Amtsgericht verließ, konnte sie sich des Gefühls nicht erwehren, dass er noch etwas hatte sagen wollen.
Mit gemischten Gefühlen trat Alma hinaus ins gleißende Sonnenlicht. Ihre Befürchtung, nicht ernst genommen zu werden, hatte sich vor wenigen Minuten bewahrheitet, und wütend eilte sie davon, um das Potpourri aus Zorn und Hilflosigkeit, das in ihr hochstieg, besser ertragen zu können. Der vorwurfsvolle Blick einer Kinderwagen schiebenden Mutter, in die sie um ein Haar hineingerannt wäre, ließ sie innehalten, denn die leidende Miene ihrer Freundin kam Alma wieder in den Sinn. Jetzt hieß es erst einmal das Problem eines dicken Schädels und rumorenden Magens zu lösen. Emmi lag ganz gewiss noch immer im Bett und jammerte vor sich hin. Und so wie Alma die Meier kannte, stand diese in ihrer guten Stube und lauschte hingebungsvoll auf jeden einzelnen Klagelaut, um ihren beiden Mieterinnen bei Gelegenheit wieder eine Gardinenpredigt über die liederlichen Weibsbilder von heute zu halten.
Zurück in der Sophienstraße trat Alma nur wenige Minuten später durch die von Pilastern eingerahmte Tür der Apotheke. Wie jedes Mal, wenn sie hier in Dr. Rösslers Hofapotheke stand, atmete sie den angenehmen Duft von Salben und Essenzen tief ein. Der Inhaber höchstpersönlich fertigte Tinkturen nach in- und ausländischen Rezepten an, und man konnte sich die Bestellungen auch nach Hause liefern lassen. Große und kleinere Vorratsgefäße, einige davon aus Porzellan oder geschliffenem Glas, und bauchige Flaschen, mit schwungvoller Handschrift klassifiziert, standen rechts und links in meterhohen Regalen. Wie immer in den Sommermonaten ging es international zu. Ein Mann mit amerikanischem Akzent verlangte ein Mittel gegen Magenschmerzen, ein französischer Tourist klagte über Sodbrennen – und beide wurden in ihrer Landessprache bedient. Alma war die vierte Kundin in der Reihe, und nur wenige Minuten später, nachdem ein russischer Kunde zufrieden den Laden verlassen hatte, bat sie den jungen Mann hinter der Theke um ein leichtes Schmerzmittel. Sie verließ die Apotheke mit dem guten Gefühl, zumindest ein Problem an diesem Tag gelöst zu haben.
Das Empfinden hielt dennoch nicht lange an.
Alma erreichte rechtzeitig den Leopoldsplatz, um in die abfahrende Straßenbahn zu springen, löste ein Billett und wollte sich eben einen Platz suchen, als aufgewühltes Stimmengewirr durchs Abteil schwappte. Zuerst waren einzelne Worte nicht zu verstehen, es war eher der Strom überschnappender Klangfarben, der Alma alarmierte. Schrill ausgestoßene Vokale, wütend hervorgestoßene Satzfetzen. Nur wenige Sekunden später erblickte Alma die Ursache der allgemeinen Erregung. Im hinteren Bereich des Abteils hatten zwei Männer eine junge Frau ergriffen, die sich mit Tritten zur Wehr setzte. Ihr dunkles Haar war kinnlang geschnitten, die schwarz umrandeten Augen saßen wie Kohlen in einem ansonsten kalkweiß geschminkten Gesicht, aus dem die Wangenknochen hervortraten wie Vogelschwingen. Als sie erneut nach einem der Männer austrat, der versuchte, sie Richtung Ausstieg zu manövrieren, traf sie ins Leere, und ein silberglänzender Schuh mit hohem Absatz segelte durch das elegant ausgestattete Abteil, um im Schoß einer älteren Dame zu landen, die das Flugobjekt mit spitzen Fingern und zusammengepressten Lippen wegfegte, als könne es augenblicklich explodieren.
Der ausgemergelte Körper der jungen Frau krümmte sich wie unter starken Schmerzen, dann gelang es ihr, sich loszureißen und aus der Straßenbahn zu springen, die sofort nach dem Anfahren wieder angehalten hatte. Durch eines der drei großen Abteilfenster sah Alma sie mit nur einem Schuh davonhumpeln, während alle Passanten, die ihr begegneten, der geisterhaften Gestalt auswichen.
Der Fahrer, der sich inzwischen mit beruhigenden Worten seinen Weg nach hinten gebahnt hatte, nahm die Mütze ab und fuhr sich mit den Händen durchs Haar. »Danke, meine Herren, das war schon die zweite diese Woche.« Er nickte den Männern mit einer Mischung aus Anerkennung und Mitleid zu. »Abscheuliche Kreaturen.«
»Dieses Fähnchen«, flüsterte eine Frau mittleren Alters neben Alma empört. »Haben Sie dieses Fähnchen gesehen? Trug sie denn überhaupt etwas darunter?«
»Das sind die Touristen. Die Kurgäste.« Es war ein Herr, der sich mit dieser gewagten These nun einschaltete. »Die sind für dieses Schlamassel verantwortlich zu machen!«
Die Frau wandte den Kopf. »Die Kurgäste brauchen wir«, warf sie ein.
»Ja, aber doch nicht solche!«
Alma entschuldigte sich und stieg aus, bevor sich die Straßenbahn in Bewegung setzte. Erst als sie mit beiden Füßen auf dem Bürgersteig stand und ein paarmal tief durchgeatmet hatte, war sie wieder in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen.
Die junge Frau war ein leichtes Mädchen gewesen, möglicherweise ohne Fahrschein. Allenfalls betrunken. Wahrscheinlich hatte sie auch Kokain konsumiert, wie so viele Menschen, die den Krieg oder ihre aktuelle Notlage vergessen wollten. Vielleicht aber hatte die Frau auch einfach nur von A nach B fahren wollen und dabei mit ihrer puren Anwesenheit die anderen behelligt. So wie die Kriegsversehrten, die ihre verstümmelten Gliedmaßen in der Hauptstraße präsentierten, oder die Kinder in ihren schmutzigen Kleidchen und zerrissenen Kniehosen, die ihre kleinen Hände zu Schalen formten und ausstreckten.
Während sie auf die nächste einfahrende Straßenbahn wartete, fasste Alma einen Entschluss. Sie würde nicht wegschauen, sie würde dafür sorgen, dass der toten Prostituierten unter den Kolonnaden Gerechtigkeit widerfuhr. Sie würde sich von der Polizei nicht kleinkriegen lassen, sie würde beharrlich bleiben.
Alma hatte die Klinke der Haustür schon in der Hand, als sich die Witwe im Flur vor ihr aufbaute. Sie trug einen schwer fallenden geblümten Morgenmantel, dessen bessere Tage in der fernen Vergangenheit lagen. Offenbar hatte die Alte mit dem Ohr an der Tür geklebt und darauf gewartet, dass ihre Mieterin sich zur Arbeit aufmachte. Über Almas Dienstplan war sie normalerweise so gut informiert, dass Emmi einmal vermutete hatte, die Alte und der Drache wären Duz-Freundinnen. Heute jedoch würde Alma ihre Schalttafeln links liegen lassen – der Drache hatte ihr das ganze Wochenende freigegeben, denn auch die Aufsicht der Fräulein war nicht unempfänglich für Familienwerte. Und an diesem Sonntag lud Almas Mutter zum Geburtstagsessen. Ein »Runder« wurde gefeiert, ins Detail wurde nicht gegangen, schon Wochen vorher hatte die unausgesprochene Aufforderung in der Luft gelegen, den Lauf der Zeit nicht mit einer Zahl zu beziffern.
Die Witwe Meier, die diese Zahl schon seit schätzungsweise einem Jahrzehnt hinter sich gelassen haben musste, warf die Arme in die Luft, die weiten Ärmel des Morgenrocks rutschten hinab, und wackelndes Fleisch kam zum Vorschein. »Dies ist ein anständiges Haus!«, deklamierte sie ohne Einleitung.
»Ihnen auch ein Grüß Gott.«
»Anständig! Warum muss jeder Mieter meinem Haus seinen Stempel aufdrücken? Warum?« Sie wartete nicht auf eine Antwort, Alma fiel auch gar keine ein. »Herr Schröder lief immer der Füller aus – haben Sie den Fleck unterm Fenster gesehen? Da hat er geschrieben, auf der Fensterbank. Der Fensterbank!«
»Frau Meier, ich …«
»Und dann das Fräulein Klingel. Hübsches Mädchen. Große Kuhaugen, Unschuld vom Lande, aber auch ein Trampel wie vom Lande! Hatte ihre Gliedmaßen nicht unter Kontrolle. Überall verschüttete sie was.«
»Frau Meier, ich muss …«, setzte Alma erneut an.
»Nicht jetzt!«
Alma seufzte leise, schloss die Haustür und sah ihre Wirtin so entspannt wie möglich an. »Was ist passiert, Frau Meier?« Eine überflüssige Frage, aber die Witwe erwartete Aufmerksamkeit, Einfühlungsvermögen, und Alma war nun mal auf die Frau angewiesen. Eine solche Wohnung zu diesem Preis würden sie und Emmi nicht mehr finden, und um der Wahrheit die Ehre zu geben: Die Schicksalsschläge, die Frau Meier während des Großen Kriegs mit aller Wucht getroffen hatten, ließen Alma nicht gänzlich kalt. Da mussten Mutters Badische Schäufele eben warten.
Die Hauswirtin funkelte sie in sittlicher Entrüstung verständnislos an. »Was passiert ist? Das Fräulein Wolke lief heute Nacht ständig hin und her. Unruhe. Unruhe! Über meinem Kopf! Vom Bett zum Waschbecken. Und zurück. Ständig! Nein … Sagen Sie nichts, Fräulein Täuber, sagen Sie nichts. Ich bin nicht verblödet, ich weiß, was los ist mit euch jungen Dingern. Lassen Sie mich ausreden.« Sie holte tief Luft. »Wenn auch nur ein Fleck, nur ein Fleck, ein einziges, winziges Fleckchen …«
»Sie sorgen sich umsonst«, unterbrach Alma den Redefluss freundlich.
Die Witwe erstarrte. »Wirklich?«
»Wirklich.« Alma lächelte, drehte sich um und öffnete die Tür. Ein Sonnenstrahl fiel in den Flur und setzte die Witwe spektakulär in Szene. Wie eine aufgedunsene Germania mit Schnurrbartansatz stand sie da, aber statt des Lorbeerkranzes kringelten sich verzweifelt festgesteckte Haarsträhnen auf ihrem Kopf, und in ihrer Miene stand keine wilde Entschlossenheit, sondern die pure Verblüffung.
»Formidabler Morgenrock, übrigens. Lilien? Einen schönen Tag noch, Frau Meier!«
Mit der Stichbahn war Alma von Baden-Baden nach Oos gefahren, das letzte Stück gelaufen und hatte anschließend bei ihren Eltern geklingelt. Auch wenn sie einen Schlüssel besaß, wollte sie sich dem heutigen Anlass angemessen ankündigen. Ihr Vater arbeitete beim Städtischen Betriebsamt, und neben elektrischem Licht hatte er natürlich auch eine elektrische Klingel eingebaut. Wilhelmine Täuber fuhr immer noch jedes Mal zusammen, wenn sie betätigt wurde.
Nachdem ihre Mutter ihr geöffnet hatte, ertrug Alma das übliche Lamento, dass sie schon wieder dünner geworden sei und so blass – sie solle doch bitte dieses Kraftpulver aus dem Anzeigenteil der Badischen Presse probieren! Alma, die eindeutig die Figur ihres schlanken und groß gewachsenen Vaters geerbt hatte, war ihrer Mutter nach drinnen gefolgt und hatte zum wiederholten Mal bekräftigt, dass sie genug esse und kein Geld übrig habe, um es Quacksalbern in den Rachen zu werfen.
Nun saßen sie alle zusammen um den Esstisch, Mutter, Vater, Großmutter, Almas kleiner Bruder Karl und Onkel Georg mit seinem Sohn Walter, dessen schwarze Locken und etwas dunklere Gesichtsfarbe er von seiner spanischen Mutter geerbt hatte. Von Tante Anna kannte Alma kaum mehr als eine Handvoll Fotografien, sie erinnerte sich vor allem an zwei Jahre während ihrer Kindheit, in der ein verschreckter Walter viel Zeit bei den Täubers verbracht hatte.
Alma hatte sich extra unter das Schlachtengemälde platziert, ein Hochzeitsgeschenk der Brauteltern, das sie Almas Eltern vor dreißig Jahren gemacht hatten. Almas Großmutter schätzte es noch heute, kein Familienmitglied traute sich, die in Öl festgehaltene Scheußlichkeit zu entfernen. Sich aufbäumende Pferde, im Dreck liegende Soldaten, die noch im Sterben irgendeinem Popanz zuwinkten, der stocksteif und mit einem arroganten Zug um den Mund auf seinem weißen Gaul hockte und das Elend um sich herum zu ignorieren schien. Wenn sie direkt unter dem Verbrechen an der Kunst saß, so Almas Gedanke, musste sie es wenigstens nicht die ganze Zeit ansehen. Krieg über dem Esstisch, diese Geschmacklosigkeit hatte sie schon in ihrer Jugend irritiert. Reichte es doch, wenn er draußen vor der Tür gestanden hatte.
Almas Mutter, mit roten Wangen und glänzenden Augen, saß am Kopfende des Tisches und trug ein wenig peinlich berührt die langen, filigranen Ohrhänger, die Alma ihr mitgebracht hatte. Jetzt, da die modernen Schmuckstücke neben den runden Wangen ihrer Mutter schaukelten, musste Alma zugeben, dass sie das Präsent ein wenig vorschnell nach ihren eigenen Vorlieben ausgesucht hatte. Sie nahm sich vor, die Ohrringe im Laufe der nächsten Woche in etwas umzutauschen, das dem traditionellen Geschmack ihrer Mutter entsprach und auch zu ihr passte. Denn von Almas Vater war Schmuck wie Ohrringe oder Ketten als Geschenk nicht zu erwarten. Egon Täuber hatte ihr wie üblich eine der neuesten technischen Errungenschaften überreicht, ein englisches Koffergrammophon mit schwarzem Kunstlederbezug, etwas, das ihre Mutter die nächsten Monate mit wachsendem Misstrauen bis hin zu offener Feindseligkeit betrachten würde. Alma hingegen hatte es sich nicht nehmen lassen, gemeinsam mit Walter den absenkbaren Plattenteller zu inspizieren. »Grandios! Ich nehm es sofort, wenn deine Mutter es nicht anrühren will«, hatte Almas Cousin ihr ins Ohr geflüstert.
Die Badischen Schäufele ließen sich alle schmecken, und für einige Zeit waren nur genüssliche Kaugeräusche und das Klappern von Besteck auf Porzellan zu hören.