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Alma Täuber ermittelt zwischen Schachspiel-Begeisterung und mysteriösen Vorkommnissen – der dritte Fall für das Fräulein vom Amt Baden-Baden 1925. Die Kurstadt wird von begeisterten Schach-Anhängern überrannt und brummt wie zur Sommerfrische. Alle wollen das Internationale Schachturnier im prachtvollen Turniersaal des Kurhauses verfolgen. Auch das Fräulein vom Amt Alma Täuber und ihre Freundin Emmi hat das Schachfieber gepackt. Bis ein tragisches Unglück Almas gesamte Aufmerksamkeit fordert. Gertrude, die Cousine einer Kollegin, wurde tot in einer Wäschetrommel der Waschdampfanstalt gefunden. Die Polizei geht von Unfall oder Selbsttötung aus. Doch Alma erscheint beides eher unwahrscheinlich. Entgegen der Warnung ihres Freundes – Kriminalkommissar Ludwig Schiller – beginnt sie, Gertrudes Umfeld zu befragen. Und sieht im verruchten Tanzlokal Libelle etwas, das nicht für ihre Augen bestimmt ist. Wusste auch Gertrude davon? Und hat sie das das Leben gekostet?
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Seitenzahl: 416
Charlotte Blum
Roman
Baden-Baden in den Goldenen Zwanzigern – das Fräulein vom Amt Alma Täuber ermittelt
Baden-Baden 1925. Die Kurstadt wird von begeisterten Schach-Anhängern überrannt und brummt wie zur Sommerfrische. Alle wollen das Internationale Schachturnier im prachtvollen Turniersaal des Kurhauses verfolgen. Auch das Fräulein vom Amt Alma Täuber und ihre Freundin Emmi hat das Schachfieber gepackt. Bis ein tragisches Unglück Almas gesamte Aufmerksamkeit fordert. Gertrude, die Cousine einer Kollegin, wurde tot in einer Wäschetrommel der Waschdampfanstalt gefunden. Die Polizei geht von Unfall oder Selbsttötung aus. Doch Alma erscheint beides eher unwahrscheinlich. Entgegen der Warnung ihres Freundes – Kriminalkommissar Ludwig Schiller – beginnt sie, Gertrudes Umfeld zu befragen. Und sieht im verruchten Tanzlokal Libelle etwas, das nicht für ihre Augen bestimmt ist. Wusste auch Gertrude davon? Und hat sie das das Leben gekostet?
Der dritte Fall für das Fräulein vom Amt
Die »Fräulein vom Amt«-Serie bei FISCHER:
»Fräulein vom Amt – Die Nachricht des Mörders«,
»Fräulein vom Amt – Der Tote im Kurhaus«,
»Fräulein vom Amt – Spiel auf Leben und Tod«.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Ein Foto von ihrer mit Kopfhörern vor einem Schaltschrank sitzenden Großmutter hatte es Regine Bott schon als Kind angetan. Dem Begriff des »Fräulein vom Amt« begegnete sie damals zum ersten Mal, und der Beruf der Telefonistin ließ sie nicht mehr los. Dorothea Böhme begegnete Regine Bott hingegen erst Jahrzehnte später. Und siehe da: Auch das Leben von Dorotheas Großmutter bot so einiges an Romanstoff, stellte sie doch die damaligen Geschlechterrollen auf den Kopf. Die Idee, gemeinsam als Charlotte Blum eine Serie um das Fräulein vom Amt Alma Täuber und ihre unkonventionelle Freundin Emmi zu schreiben, war geboren. Die beiden Autorinnen sind gemeinsam nicht nur schreibend unterwegs, sondern treten auch regelmäßig im Rahmen einer Lesebühne zusammen auf. Sie leben mit ihren Familien in Stuttgart und Kornwestheim.
[Motto]
1925
PROLOG
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GLOSSAR
NACHWORT
»Möchte der altberühmten Bäder- und Sportstadt Baden-Baden, das große Verdienst, daß [sic!] sie sich um die Schachwelt erworben, mit großem Verdienst gelohnt werden!«
SIEGBERT TARRASCH, IN: INTERNATIONALES SCHACHTURNIER ZU BADEN-BADEN. HERAUSGEGEBEN VON DOKTOR TARRASCH, BERLIN 1925
Die Wäsche, dachte Gertrude. Wann bildeten sich eigentlich Stockflecken auf der Wäsche?
Bisher hatte sie sich noch niemals Gedanken darüber gemacht, es war schon fast komisch, dass ihr diese Frage ausgerechnet jetzt durch den Kopf schoss.
Wie feucht muss es sein, und wie lange muss diese Feuchtigkeit anhalten?
Schon vor einer Ewigkeit hatte Gertrude aufgehört zu schreien. Ihre Lungen schmerzten inzwischen vom vielen Rufen, das von anfänglich wütendem Gebrüll in leises Wimmern übergegangen war.
Mittlerweile hielt sie die Augen geschlossen, denn hinter ihren Lidern herrschte genau die gleiche Dunkelheit wie davor. Wenn sie die Arme ausstreckte, konnte sie die kalten Seitenwände der Wäschetrommel berühren. Die Luke aus Stahl, durch die die nassen Laken während der Arbeitszeiten hineingeworfen wurden, war jedoch so schwer, dass es ihr nicht gelungen war, sie hochzuschieben. Auch befand sich im Inneren der Trommel kein Griff, sie hatte deswegen die Handflächen an das Metall gepresst und versucht, die Tür hochzuschieben. Aber genauso wie das Schreien hatte sie es schließlich aufgegeben, die Vorrichtung öffnen zu wollen. Mit ihrem gesamten Gewicht hatte sie sich fluchend dagegengestemmt, gedrückt und letztlich resigniert, bevor sie vor Angst und Verzweiflung geweint hatte.
Jetzt nicht mehr. Jetzt war ihr angenehm leicht zumute. Seltsam.
Sie würde einfach warten. Warten, bis die Kolleginnen der Frühschicht in die Wäscherei kommen, ihr Klopfen an dem riesigen Kessel hören und sie daraus befreien würden. Es war ein wenig hart auf dem stählernen Boden, aber das war ihre Matratze zu Hause auch. Spätestens, wenn Irmgard oder Käthe aus der Frühschicht die Trommel öffnete, um sie zu befüllen, würde sie Gertrude entdecken.
Stockflecken, schoss ihr erneut durch den Kopf. Kleine und große, hässliche Stockflecken. Konnten eine Spitzenbluse für immer zerstören. War die Trommel, in der sie jetzt eingeschlossen war, eine der Brutstätten für diese unschönen Verfärbungen auf dem ansonsten blütenweißen Gewebe?
Gertrude atmete tief ein, spürte dem feuchten, mit Blütenessenz durchtränkten Geruch nach. Was war es noch gleich? Lavendel? Was für ein beruhigender Duft. Sie schloss die Augen – und da lag sie, im Gras, inmitten einer Lavendelwiese, lilafarbene Blüten wiegten sich im Wind und kitzelten ihre Wangen. Gertrude lächelte. Empfand keinen Hass, keine Angst, keinen Grund mehr für Rache. Stattdessen breitete sich die angenehme Welle eines Hochgefühls in ihr aus, das von einer bleiernen, aber nicht unangenehmen Müdigkeit begleitet wurde.
Die Frühschicht wird mich finden. Und bis dahin werde ich hier liegen und den sich im Wind wiegenden Lavendel auf meinem Gesicht spüren. Atmen … ja, das fiel ihr zusehends schwerer, aber das lag an der Feuchtigkeit, die sie umgab. Daran lag es doch, oder nicht? Natürlich tat es das.
Die Kolleginnen der Frühschicht … Irmgard … oder Käthe … würden sie finden …
»Der einzige Satz, den du auf Russisch brauchst, lautet: ›Ja tebja ljublju‹.«
Alma musste grinsen, als Ida sich nach dieser Aussage selbstzufrieden im Stuhl zurücklehnte.
»Und was heißt das?«, fragte Marianne.
Sie war die Jüngste unter den Kolleginnen, die allesamt wie Alma selbst als Telefonistinnen arbeiteten, als Fräulein vom Amt. Es gab wie immer genug zu tun, mehr als üblich eigentlich, aber ebenfalls wie immer fanden die Fräulein ein paar Minuten zwischen Klinkenstecken, Klinkenlösen und dem Herunterspulen ihres Sprüchleins: »Hier Amt, was beliebt?«, um ein paar Sätze untereinander zu wechseln.
»Ja tebja ljublju«, probierte Alma leise den Klang der Worte aus.
»Na, was wird das heißen?«, sagte Friederike ungehalten und presste die Lippen aufeinander. »Sicher was Schweinisches, wenn es von Ida kommt.«
»Aber i wo, wo denkst du hin?« Ida klimperte mit den Wimpern. »Obwohl so ein schöner Russe gern was Schweinisches mit mir anstellen darf.« Sie kicherte, während Friederike bis unter die Haarspitzen ihres blonden Ponys errötete.
Russen gab es in den Sommermonaten in Baden-Baden immer einige, viele besaßen hier eigene Villen, und eines der Gründungsmitglieder des Internationalen Clubs, der die Rennen in Iffezheim ausrichtete, Fürst Menschikow, stammte ebenfalls aus Russland. Aber in diesem Frühjahr fand eine ganz besondere Veranstaltung in Baden-Baden statt, die einige seiner Landsleute in die Kurstadt ziehen würde: das Internationale Schachturnier. Der erste große Wettbewerb seit 1914. »Und wie jeder weiß, spielt man nur in Russland Schach«, warf Alma ironisch ein. Besonders der Name Alexander Alexandrowitsch Aljechin, der sich das Ziel gesetzt hatte, in wenigen Jahren Weltmeister zu werden, geisterte momentan durch die Badener Presse.
»Aber ich bin auf alles vorbereitet«, beeilte Ida sich zu sagen. »Ja tebja ljublju. Auf Französisch heißt es: Je t’aime.«
Jetzt musste Alma lachen. Sie schüttelte ihren dunklen Bob, und Erna neben ihr stieß ein bellendes Geräusch aus, das die Aufmerksamkeit der Aufsicht nach sich zog. Mit Fräulein Klinger – von den Telefonistinnen auch Drache genannt –, seit über zwanzig Jahren als Postbeamtin im Dienst, war nicht zu spaßen. Sie herrschte mit gnadenlosem Regiment, und so senkten die Kolleginnen schnell ihre Köpfe.
»Hier Amt, was beliebt?«, nahm Alma die nächste Verbindung auf.
Doch ihr Gespräch schien nicht unentdeckt geblieben zu sein. »Fräulein Weber«, dröhnte es durch den Saal.
Erschrocken fuhr Friederikes blonder Schopf in die Höhe.
Mit ernstem Blick schritt der Drache durch den Raum.
»Fräulein Klinger, da haben Sie nun aber wirklich die Falsche am Wickel«, sagte Ida resolut, als die Aufsicht zu ihnen trat. Trotz ihrer kleinen Reibereien mit Friederike hatte Ida das Herz am rechten Fleck.
»Sie müssen Frau Weber mit mir verwechselt haben«, mischte sich Alma ebenfalls ein. Auch wenn sie keine Rüge kassieren wollte, so doch besser sie als Ida, die schon einmal kurz vor der Kündigung gestanden hatte.
Aber die Klinger ignorierte sie beide und bedeutete stattdessen Friederike, ihr ins Büro zu folgen. Verwirrt stand die Kollegin auf und warf Alma einen Hilfe suchenden Blick zu. Alma erinnerte sich daran, wie es in Fräulein Klingers Büro gewesen war, damals, als es eine Beschwerde gegen sie selbst gegeben hatte, und sie hoffte, dass die Aufsicht Friederike gegenüber ebenso nachsichtig wäre. Denn bei all ihrer Strenge war die Klinger vor allem eines: gerecht. Die meisten der Fräulein hatten davon keine Ahnung, aber der Drache stellte sich – fauchend und Feuer speiend – auch gegenüber Höhergestellten vor ihre Schützlinge.
Die Bürotür schlug zu, die Fröhlichkeit von vorhin hatte ein jähes Ende gefunden.
»Hier Amt, was beliebt?«
Alma konnte den Kloß in Mariannes Hals förmlich hören.
Sie selbst bediente schnell Friederikes Schaltschrank mit, der sich neben ihrem befand. Auch bei Toilettenpausen sprangen die Fräulein füreinander ein. Flink tanzten ihre Finger über die Stecker, Klinken und Schalter, während Erna auf der anderen Seite immer noch nachdenklich die Bürotür anstarrte, hinter der die Klinger mitsamt Friederike verschwunden war. Sie zog die Nase kraus und wandte sich an Ida: »Und was heißt auf Russisch: ›Ich mach mit bei eurer Revolution?‹«
Der Bann war gebrochen, und auch Almas Mundwinkel zuckten.
Ida beugte sich vor und raunte: »Ein Gespenst geht um in Europa. Ein Gespenst namens Erna.«
Erneut brachen die Fräulein in Gelächter aus, gedämpfter diesmal, und noch etwas unsicher.
Erna deutete auf die Kopfhörer, die Mikrophone und die Schalttafeln. »Ist doch wahr«, sagte sie. »Wir buckeln uns hier krumm, und wofür? Die paar Kröten?«
Die männlichen Postbeamten verdienten das Doppelte, das wussten sie alle.
»Ein Streik«, flüsterte Marianne.
»Ach, Kinder, was ist denn mit euch los?«, sagte Ida seufzend, während sie die Klinke etwas heftiger steckte als notwendig. »Zu viele Romane gelesen? Zu viele Filme gesehen?« Sie schüttelte den Kopf. »Hier wird sich nichts ändern. Außer dass wir noch schneller, noch nutzbringender arbeiten müssen. Dass die Technik sich noch schneller und immer weiter entwickelt. Aber bessere Bezahlung? Weniger Arbeit?« Sie schnaubte. »Im Leben nicht.«
»Wir werden überflüssig.« Ohne richtig hinzusehen, fanden Almas Finger die richtige Buchse.
»Willy sagt …«, begann Ida, wurde jedoch von Marianne unterbrochen.
»Wer ist denn jetzt schon wieder Willy? Du hast einen Verschleiß an Liebhabern, den haben andere nicht mal an Zigaretten.«
Ida ließ sich jedoch nicht beirren. »Willy sagt«, begann sie erneut, bevor sie ein weiteres Mal unterbrochen wurde, diesmal von der Bürotür der Aufsicht, die sich in diesem Augenblick öffnete.
Mit ernster Miene trat die Klinger heraus, eine Hand auf Friederikes Schulter. Alma hob die Augenbrauen. Wollte der Drache ihre Kollegin trösten?
Im gleichen Moment drehte Friederike sich jedoch um und verschwand, beinahe im Lauftempo, aus dem Saal.
Stille herrschte, bis auf das Surren der Mikrophone.
»Was war denn das?«, flüsterte Ida. »Sie hat doch nicht … Hat sie …«
»Ist Friederike entlassen?«, vervollständigte Marianne schließlich ihrer aller Gedanken.
War das ein erster Schritt zur sogenannten »Optimierung«? Der technische Fortschritt war unaufhaltbar, das hatte man nicht nur im Krieg gemerkt, jeden Tag wurde es auch zu Hause deutlich: Almas Vater war bei weitem nicht mehr der einzige Mann, der seiner Frau eine Waschmaschine gekauft hatte, in den Wohnungen hielten Radios und Telefone Einzug, und Alma hatte gehört, dass man in Berlin schon beinahe alle Mietwohnungen mit elektrischen Klingeln ausgestattet hatte.
Die Fernmeldebeamtinnen würden durch Telefone mit Selbstwählscheiben ersetzt werden, wie es sie schon in Amerika gab. Man brauchte weniger Arbeitskräfte.
Alma blickte zu Fräulein Klinger, die immer noch in ihrer Bürotür stand. Ernst hatte sie ausgesehen, als sie Friederike die Hand auf die Schulter gelegt hatte, und mitfühlend. Ja, das wäre sie sicher auch bei einer Kündigung gewesen, war sie doch selbst ein stolzes Fräulein vom Amt. Und dennoch … Weshalb ausgerechnet Friederike? Alma konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es hier um etwas anderes ging. Aber was?
»Entschuldige, meine Taube, aber wie um alles in der Welt soll ich denn hier die verschiedenen Figuren auseinanderhalten?« Emmi hielt einen quadratischen schwarzen Stein zwischen den Fingern und wedelte damit vor Almas Nase herum. Mit der anderen Hand griff sie zur Spielschachtel und drehte sie so, dass sie die Aufschrift lesen konnte. »Das neue Schach.« Diese drei Worte stieß sie mit derartiger Inbrunst aus, dass die Flamme der Kerze auf dem Küchentisch erzitterte.
Alma wünschte sich in letzter Zeit mehr denn je elektrisches Licht, so wie es in ihrem Elternhaus in Oos eingerichtet worden war. Aber die Witwe Meier sah anscheinend keine Notwendigkeit, ihr Haus zu elektrifizieren. Zumindest hatten Alma und Emmi davon nichts läuten hören. Und wenn die Meier dennoch eines schönen Tages zu einer anderen Einstellung gelangte: Hoffentlich würde sie die kleine Dachwohnung nicht aussparen!
»Formgebung ist ja so ne Sache«, fuhr Emmi fort. »Reduziert ist gut und schön, wir sind ja froh, dass wir diese Schnörkelei nicht mehr überall sehen müssen. Aber das?« Wieder wackelte sie mit der Spielfigur. »Bauer oder Turm? Mir sind diese Klötze eindeutig zu modern. Woher hast du das noch mal?«
»Von unserer bunt geblümten Wirtin«, antwortete Alma mit Bezug auf den verspielten Schlafrock, den die Meier vormittags gern zu tragen pflegte. »Herr Schulze aus dem ersten Stock hat ihr das Spiel geschenkt, als er letzte Woche ausgezogen ist.«
»Da wird sie sich aber gefreut haben.« Emmi grinste schief. »Wetten, der Schulze konnte die Figuren auch nicht auseinanderhalten und war froh, dass er die Schachtel los war?« Sie warf den Kopf in den Nacken und prustete. »Er hat die Schachtel einer Schachtel vermacht!«
Das war zwar ein ausgemachter Kalauer, aber für eine Weile ersannen die beiden Freundinnen vergnügt einen Fachwortschatz für die ältere Witwe, die im Erdgeschoss über die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung wachte. Als sie ausgekichert hatten, griff Alma zu derselben Figur, die Emmi in der Hand hielt. »Wölkchen, das ist eindeutig ein Turm. Siehst du, hier. Der Bauer ist viel kleiner und hat außerdem keine Kerbe. Stell dir diese Rillen einfach als Zinnen vor, dann ist es doch ganz einfach.«
Emmi schüttelte stürmisch den Kopf, und ihre blonden Locken, die ein renommierter Friseurmeister in der Lichtentaler Straße letzte Woche auf zackig getrimmt hatte, kamen in Bewegung. »Nichts ist einfach! Mir brummt der Schädel wie bei dieser elektrischen Kopfmassage, die der Jenowe mir verpasst hat! ›Es wird Ihnen guttun, meine Teure‹, hat er behauptet. Pustekuchen!« Sie warf die Figur zurück in die Schachtel, stand auf und ging zum Herd der kleinen Wohnküche, wo inzwischen das Teewasser kochte. »›Als ob Roman Novarro Ihnen leibhaftig gegenübertritt und Ihre Hand in die seine nimmt‹«, fuhr sie fort zu zitieren, während sie zwei Tassen aus dem Schrank nahm. »Von wegen! Ich hatte Angst, mein Gehirn wird gekocht!« Emmi öffnete die Meßmer-Dose und löffelte resolut Teeblätter in die Tassen.
Alma konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Wölkchen hatte sich, gleich nachdem sie aus dem Salon nach Hause gekommen war, über das teure Zusatzprogramm erregt, das ihr Friseurmeister Jenowe hatte aufschwatzen wollen. Sauerstoffmassage, Gesichtsmassage und Maniküre. Bei dem Vorschlag, ihre Kopfhaut elektrisch zu kneten, war die neugierige Emmi letztendlich doch eingeknickt.
»Dafür bist du aber noch ganz gut mit Worten«, scherzte Alma und fügte hinzu, da Emmi nicht aufhörte, die Tassen mit Teeblättern zu füllen: »Wenn vielleicht auch nicht ganz bei der Sache.«
Ertappt hielt Wölkchen inne. »’Tschuldigung. Aber du magst ihn ja stark, oder?« Ohne die Antwort ihrer Freundin abzuwarten, nahm sie den Kessel vom Herd und goss ein. Zurück am Küchentisch griff sie im Stehen zu der Figur des Springers, der durch einen angedeuteten Pferdekopf gerade noch als solcher wiederzuerkennen war. »Und wie hüpft der?«
»Er zieht.«
»Nein, ziehen tut es, wenn du hier alle Fenster gleichzeitig offen stehen lässt«, erwiderte Emmi keck.
»Du hast eine hübsche Strickjacke in deinem Schrank hängen. Aber, um die Frage zu beantworten: Diese Figur hier kann als Einzige andere Figuren überspringen. Zwei Felder in eine Richtung und eines zur Seite.« Wie die verschiedenen Figuren beim Schach gezogen wurden, daran konnte sich Alma recht gut erinnern. Ihr Vater hatte sich an vielen Abenden damit beschäftigt und ihr die Grundlagen beigebracht. Ihr Wissen in dieser Hinsicht war lückenhaft, ging über das von Emmi trotzdem hinaus, denn Wölkchen hatte nicht den leisesten Schimmer davon, was »diese Steine auf dem karierten Muster eigentlich so tun sollen«.
»Hm.« Wölkchen, offenbar mit einem Mal vom Ehrgeiz gepackt, ließ das Spielbrett nicht aus den Augen, als sie ihren Stuhl zurechtrückte und sich langsam setzte. Nachdenklich stützte sie den Kopf in die Hände, die Figur des Springers noch zwischen den Fingern. »Dann haben die Ponys am Rand nichts verloren«, überlegte sie.
Überrascht zog Alma die Augenbrauen hoch. »Genau, so hat es mir auch mein Vater beigebracht: Springer am Rand – verbrannt. In der Mitte des Bretts aber können sie viel mehr bewegen.«
»Wir merken uns also Folgendes.« Emmi setzte das Pferd auf ein Feld in der Mitte. »Springer am Rand – verbrannt. Springer in der Mitte – ja, bitte!«
»An dir ist eine Poetin verlorengegangen«, japste Alma amüsiert. »Sehr eindrücklich, Frau Wolke. Jetzt brauchen wir noch etwas für den Läufer.« Sie deutete auf eine Figur mit einer diagonal verlaufenden Erhöhung. »Der zieht schräg, so weit er eben kann.«
»Du meinst, bis er auf eine andere Figur trifft?«
»Richtig.« Alma konnte an Emmis vor Eifer glühenden Wangen sehen, wie sich ihre Freundin in Gedanken bereits an die Formulierung eines weiteren Sprüchleins wagte.
Als Wölkchen mit »Diagonal ist kolossal« den Anfang machte, wurde sie von einem Klopfen an der Tür unterbrochen. »Wir kaufen nichts!«, rief sie, ohne vom Brett aufzusehen. »Um diese Uhrzeit, das ist sicherlich die Meier. Pass auf, die will ihr Schachspiel wiederhaben.«
»Das halte ich für recht unwahrscheinlich.«
»Na, das geben wir ja auch nicht wieder her!«
Alma lächelte. »Du hast also Lunte gerochen?«
»Und ob! Frauen ans Schachbrett! Oder erwartest du etwa Ludwig? Der überlistet die Lauscher unserer geblümten Schachtel aus dem Erdgeschoss ja immer besser. Dein Kommissar hat inzwischen wirklich den Dreh raus, was lautlose Bewegungen im Treppenhaus angeht. Hat das was mit seinem Beruf zu tun?« Emmi zwinkerte wissend.
Alma grinste. »Hast du was im Auge?«, fragte sie. Ludwig Schiller, der Kriminalkommissar, hatte vom ersten Augenblick ihrer Begegnung etwas in ihr ausgelöst: Aufregung, Glück und Wärme. Während des ersten Todesfalls, an dessen Aufklärung Alma nicht ganz gegen ihren Willen beteiligt war, hatten sie eine zarte Beziehung begonnen, die Alma aus Angst um ihre Anstellung jedoch wieder beendet hatte: Ein Fräulein vom Amt musste ledig bleiben, denn mit der Heirat erlosch auch ihr Pensionsanspruch.
Doch war er zunächst aus ihrem Leben verschwunden, aus ihrem Herzen hatte sie Ludwig nicht verbannen können. Und als sich später ihre Wege erneut gekreuzt hatten, musste sie sich eine Wahrheit eingestehen: Sie liebte ihn. Schlicht und einfach. Ihre Beziehung, wie sie sie im Augenblick gestalteten, wurde nicht benannt: Alma sah keine Veranlassung zu einer vorschnellen Hochzeit, die ihre Stellung gefährdet hätte. Sie sah jedoch ebenfalls keine Veranlassung dazu, sich und Ludwig unglücklich zu machen. Und so schwebten sie in einem Zustand der Gegenwärtigkeit, trafen sich, sooft sie konnten, tauschten Blicke, Küsse, Umarmungen.
Jetzt drang gedämpft eine Stimme in die kleine Dachzimmerwohnung. Es war definitiv nicht die eines Mannes. »Alma? Alma, bist du da?«, kam es aus dem Hausflur. »Hier ist Friederike!«
Deine Kollegin?, formten Emmis Lippen lautlos.
Mit gerunzelter Stirn stand Alma auf und öffnete die Tür, bevor Friederike zum vierten Mal klopfen konnte. Den Glockenhut tief in die Stirn gezogen, so dass man von ihrem blonden Pony nichts mehr sah, stand die Kollegin wie ein vergessenes Gepäckstück auf dem Schuhabstreifer.
»Guten Abend, Alma. Entschuldige mein Eindringen, ich weiß, es ist schon spät, aber ich …«, weiter kam Friederike nicht. Die Luft, die sie für diese Erklärung aufgespart zu haben schien, entwich in einem tiefen Seufzer. Schließlich senkte sie den Kopf, um ihre geröteten Augen zu verbergen.
»Ach du meine Güte«, stieß Alma entsetzt aus. »Komm doch bitte herein!«
Da ihre Besucherin keine Anstalten machte, einen Fuß vor den anderen zu setzen, griff Alma sie behutsam am Arm und führte sie durch den kurzen Flur in die überschaubare Küche, wo sie die jetzt hemmungslos weinende Kollegin auf das durchgesessene Sofa unter dem kleinen Fenster bugsierte. Emmi nahm Friederikes tränenverhangenen Blick zu den neben der Spüle stehenden Tassen auf und sagte: »Ich mache dir neuen Tee. Dieser hier zieht schon derart lange, der macht dir den Garaus, bevor du auf drei zählen kannst.«
»Danke. Emmi, nicht?« Ein zartes Lächeln breitete sich auf Friederikes Gesicht aus, das aber sogleich von einem weiteren Schluchzer abgelöst wurde.
Alma nahm ihr die Handtasche ab, stellte sie auf die Kommode in den Flur und kehrte in die Küche zurück, um von Emmi den frisch aufgebrühten Tee entgegenzunehmen. Zusammen mit einem Keks auf der Untertasse drückte sie ihrer weinenden Kollegin den Darjeeling in die Hand. »Jetzt trink erst mal einen Schluck und dann erzählst du, warum du hier bist. Und das hier kannst du gerne nehmen.« Aus dem Armbündchen ihres Jumpers förderte sie ein blütenweißes, gebügeltes Taschentuch zutage, das sie Friederike bestürzt reichte. Solche Gefühlsäußerungen hatte sie von ihrer doch immer so disziplinierten Kollegin niemals erwartet. Und das war schon die zweite heute.
»Wir haben keine Eile«, bekräftigte Emmi, deren neugierige Miene jedoch das Gegenteil verkündete.
Friederike nahm einen Schluck Tee und vergrub ihre Nase tief in das Taschentuch. Sie schnäuzte zuerst zurückhaltend und behutsam, dann ein weiteres Mal laut und deutlich. Als sie wieder aufblickte, tief durchatmete und Alma dabei ansah, hatten sich ihre Gesichtszüge entspannt. Mit fester Stimme fragte sie: »Hast du schon die Abendzeitung gelesen?«
»Die Abendzeitung?«, wiederholte Alma überrascht. »Nein. Die haben wir heute gar nicht gekauft.«
»Ich habe eine Ausgabe in meiner Handtasche.« Friederike wollte aufstehen, doch Emmi war schneller. In Windeseile hatte sie die Handtasche aus dem Flur geholt und Almas Kollegin in die Hand gedrückt.
»Danke schön.« Friederike öffnete den Verschluss und zog eine herausgerissene Zeitungsseite hervor. »Hier.« Mit dem Zeigefinger tippte sie auf eine kleine Notiz unten links. »Du kannst es ruhig laut vorlesen.«
Alma legte die Seite auf ihren Schoß und glättete das Papier. »Baden-Baden«, begann sie dann. »In der Nacht zum Dienstag ist die sechzehn Jahre alte Gertrude Weber …« Hier stockte sie überrascht und sah aus den Augenwinkeln zu Friederike, die ihrerseits den Blick wieder gesenkt hielt. »Gertrude Weber«, wiederholte Alma, »durch ihre eigene Hand in einer Waschanstalt in der Aumattstraße zu Tode gekommen.« Wieder unterbrach sie sich. »Meine Güte!« Sie legte eine Hand auf Friederikes Arm. »Bist du etwa mit diesem armen Mädchen verwandt?«
»Lies weiter«, bat ihre Kollegin mit fester Stimme.
Almas Finger strich über die letzten beiden Zeilen des kurzen Artikels. »Die Leiche der jungen Frau wurde in einer Wäschetrommel gefunden«, fuhr sie fort. »Offenbar nahm sie sich auf diese Weise das Leben.«
Jetzt entfuhr Friederike ein ersticktes Geräusch. »Lügen!«, stieß sie mit bebender Unterlippe hervor. »Das sind nichts als Lügen!«
»Eine Wäschetrommel?«, entfuhr es Emmi. »Das ist doch …«
»Absoluter Unsinn! Wie alles in diesem Artikel«, vervollständigte Friederike, jetzt hörbar wütend. Die Teetasse balancierte auf ihrem Schoß, und Porzellan klirrte, als sie mit den Händen an Almas Taschentuch zog, als wolle sie es erwürgen.
»Eine Wäschetrommel«, begann Emmi, die aufsprang und geistesgegenwärtig das Geschirr vor dem Aufprall auf den Küchenboden bewahrte. Sie stellte es auf den Tisch und drehte sich zum Schrank, um die Teedose wieder herauszuholen. »Wer um alles in der Welt beendet sein Leben freiwillig in einer Wäschetrommel?«, fragte sie über ihre Schulter.
»Wie ich schon sagte«, zischte Friederike, nun wieder ganz die Frau, die Alma vom Amt kannte. »Himmelschreiender Humbug ist das.« Jetzt sah sie Alma geradewegs ins Gesicht. »Ich möchte dich … wie sagt man … anheuern?« Dankbar nahm sie die zweite Tasse Tee entgegen und rührte daraufhin wie abwesend mit dem Löffel darin herum, bevor sie fortfuhr: »Es tut mir leid, dass ich vorher so laut geworden bin.«
»Ich bitte dich, das macht doch nichts«, meinte Alma, ein wenig beunruhigt von dem, was ihre Kollegin eben mit »anheuern« gemeint hatte. »Die Polizei ermittelt also schon?«, wollte sie von Friederike wissen.
»Pah, von wegen. Die Ermittlungen sind für beendet erklärt worden«, kam es gepresst zurück. »Einen Selbstmord schließen sie nicht aus, es könnte sich aber auch um einen unglücklichen Unfall gehandelt haben: Gertrude hat beim Herausnehmen der letzten Wäschestücke des Tages aus der Trommel das Gleichgewicht verloren, ist unglücklich gefallen, hat einen Ohnmachtsanfall durch die hohe Luftfeuchtigkeit erlitten et cetera pp und so weiter, die Luke ist zugefallen und sie wurde eingesperrt. Niemand habe den Vorfall bemerkt, weil sie die Letzte im Raum war. Du kannst dir die Varianten vorstellen.« Friederike presste die Lippen zusammen. »Das kann ich nicht akzeptieren. Es stimmt einfach nicht!«
»Verständlich.« Emmi nickte zustimmend.
Alma bedachte Wölkchen mit einem warnenden Blick. Friederike war ihre Kollegin. Sie sah sie fast täglich im Amt. Alma spürte, wie Unbehagen bei dem Gedanken in ihr aufstieg, ihre Fühler auszustrecken, wenn es derart persönlich war. Was, wenn sie nicht weiterkäme? Und was, wenn sie den Todesfall aufklärte? Was, wenn ihre Bemühungen eine Erklärung ergäben, mit der ihre Kollegin nicht leben konnte?
»Friederike …«, begann sie langsam, wurde aber sofort von einem entzückten Wölkchen unterbrochen.
»Alma kann sich gerne einmal für dich umhören, das ist überhaupt kein Problem«, begann sie und sah Friederike durchdringend an, wie um Almas entrüstetem Blick auszuweichen. »Die Waschanstalt in der Aumattstraße … das ist in Oosscheuern, nicht?«
Friederike nickte heftig. »Der Weiler gehört auch nicht zu Baden-Baden, sondern zu Oos. Was sich die Presse beim Schreiben der Artikel denkt? Das ist von vorne bis hinten aus dem Stegreif herunterfabuliert! Verklagen sollte man diese Schmierfinken!«
»Die Schreiberlinge scheinen eben denselben Weg zu gehen wie die Polizei«, bekräftige Wölkchen jetzt mit einem bedeutungsvollen Seitenblick auf Alma. »Den bequemsten.«
Wieder bejahte Friederike wortlos. Dann saugten sich ihre Augen an Alma fest. »Du hilfst mir doch? Es … Sie war meine Cousine und hat bei mir gewohnt, kam nicht nach Hause. Überstunden, habe ich gedacht. Überstunden. Wer konnte ahnen … Wer …?« Sie hielt inne, hielt weiterhin Almas Blick fest. »Nicht nur ich möchte wissen, was wirklich passiert ist! Nicht nur ich möchte gegebenenfalls an die Wäscherei herantreten, um Genugtuung zu fordern, falls Gertrude durch einen Fehler zu Tode gekommen ist, für den die Waschanstalt verantwortlich zu machen ist. Meine Familie steht hinter meinen Entscheidungen, auch wenn ich sie noch nicht informiert habe, dass ich Nachforschungen in der Sache anstellen lassen möchte.«
»Es tut mir so furchtbar leid, Friederike. Was für eine schreckliche Angelegenheit! Ich kann mir nicht im Geringsten vorstellen, was du gerade durchmachen musst.« Alma geriet ins Stocken. Wie sollte sie ihrer verzweifelten Kollegin klarmachen, dass ihr in dieser Sache vielleicht die Hände gebunden waren? Sie wollte Friederike doch nicht enttäuschen? »Aber, was genau soll ich in dieser Sache unternehmen?«, fuhr Alma schließlich leise fort. Plötzlich hatte sie eine Vermutung, warum die Presse von Selbstmord geschrieben hatte. Möglicherweise hatte die Wäscherei Angst, dass man sie bei der Erwähnung eines Unfalls belangen könnte, also hatte man mit der Journaille eine kleine Abmachung getroffen. »Du musst verstehen, dass ich keine Expertin in Sachen Fabrikanlagen bin«, gab Alma zu bedenken. »Nehmen wir einmal an, deine Cousine ist zum Beispiel durch einen Fehler im Schließmechanismus oder eine andere technische Finesse ums Leben gekommen, so werde ich das mit Sicherheit nicht erkennen können. Du hast einen schrecklichen Verlust erlitten, aber bitte verlange nichts Unmögliches von mir.«
Emmi schnalzte mit der Zunge. »Papperlapapp. Das klingt nach einem Kinderspiel. Das Hotel de Hollande arbeitet mit der Wäscherei zusammen. Ich kenne den Fahrer, der Laken, Handtücher, Bettzeug und den ganzen Rest regelmäßig nach Oos und zurück in die Kurstadt fährt. Der kann dich sicher mitnehmen.«
Alma widerstand dem Verlangen, einen tiefen Seufzer der Verzweiflung auszustoßen. Wen kannte Wölkchen eigentlich nicht?
Friederike, die nach Emmis Worten vor Zuversicht rote Wangen bekommen hatte, sah Alma eindringlich an. »Ich selbst kann nicht nachhaken. Das verstehst du doch? Und ich möchte einfach nur wissen, was passiert ist. Frag ein wenig herum. Unterhalte dich mit Gertrudes Kolleginnen.«
Friederikes flehentlich blickende Augen taten Alma in der Seele weh. »Nun gut«, stimmte sie schließlich zu. Denn zu ihrem eigenen Erstaunen spürte sie plötzlich eine Art Rastlosigkeit. Etwas, was sie von den beiden letzten Fällen her nur zu gut von sich kannte. Und sie war, während sie Friederikes Bitte mit zwei kleinen Worten angenommen hatte, bereits damit beschäftigt gewesen, in Gedanken die ersten Schritte zu planen. »Ich werde mich dort gern einmal für dich umsehen.«
Der abnehmende Mond schien nur schwach in ihr Zimmer, und so hatte Alma sich nicht bemüht, die dichten Vorhänge zuzuziehen. Unruhig hatte sie eine ganze Weile Überlegungen gewälzt, wie sie vorgehen könnte, hatte an die arme Gertrude gedacht, die viel zu jung aus dem Leben gerissen worden war. An Friederike, die mit ihrer Trauer kämpfte. Zunächst war an Einschlafen nicht zu denken gewesen, doch mittlerweile, ihre Gedanken drehten sich nur noch gemächlich im Kreis, fielen ihr die Augen zu.
Im Halbschlaf, diesem Zustand, in dem die Realität schon zerfloss und die Träume sich ihren Weg bahnten, drang ein Geräusch in ihr Bewusstsein, ganz leise nur. Die Tür zu ihrer Kammer wurde geöffnet. Als sie den vertrauten Geruch der Pomade wahrnahm, ließ sie ihre Augen wieder zufallen. Ludwig stieg zu ihr ins Bett und schlang seine Arme um sie.
»Schlimmer Tag?«, wisperte Alma. Es kam nicht häufig vor, dass Ludwig sich so spät in ihre Kammer schlich, es war ihm wichtig, sie auszuführen, aber manchmal, wenn er zu viel Tod und Elend an einem Tag mitansehen musste, dann wollte er nicht alleine schlafen. Und so hatte Alma ihm gezeigt, in welcher Nische sie ihren Ersatzschlüssel versteckten. Als Polizist hatte er die Stirn gerunzelt, etwas von »gefährlich« gemurmelt und schließlich doch nichts weiter gesagt.
Jetzt strich er ihr das Haar aus der Stirn und küsste ihre Schläfe. »Ich hatte Sehnsucht nach dir«, flüsterte er.
Alma wollte dem, was sie hatten, keinen Namen geben, obwohl sie wusste, dass sich in Ludwigs Junggesellenbude eine kleine Schachtel mit einem Ring befand. Er war kein Mann für Liebschaften, so wie sie keine Frau dafür war. Aber noch war sie nicht bereit, ihre Selbständigkeit aufzugeben. Die Fräulein vom Amt hießen nicht von ungefähr genau so, Fräulein. Als Frau Schiller würde sie nicht mehr als Postbeamtin arbeiten dürfen. Schon einmal hatte sie zwischen ihrem Beruf und Ludwig gewählt, und damals hatte sie sich für die Anstellung entschieden. Sie glaubte nicht, dass sie diese Entscheidung noch einmal treffen konnte.
Eng schmiegte sie sich an ihn, spürte die Bartstoppeln auf seinen sonst glatt rasierten Wangen.
»Die tote Wäscherin?«, fragte Alma, jetzt schon etwas wacher.
Überrascht atmete Ludwig ein. »Was weißt du darüber?«
»Eine junge Frau, sie ist die Cousine meiner Kollegin Friederike.«
»Friederike.« Ludwig suchte nach einer Verknüpfung, die er schon recht bald fand. »Friederike Weber. Blond, groß.« Er seufzte. »Es tut mir von Herzen leid. So ein junges Ding, diese Gertrude Weber, und niemand hat sie rechtzeitig gefunden. Aber nein, ich war heute mit einem anderen Einsatz beschäftigt. Dieses Schachturnier, jeder Kleinkriminelle der Stadt wittert seine Chance.«
»Was meinst du?«
»Wir haben verstärkt Diebstahlmeldungen während des Turniers. Die Zuschauer sind abgelenkt, und jemand erleichtert die oberen Zehntausend um ihre Schmuckstücke. Wir hatten heute ein prominentes Opfer. Der Kriminalrat musste erneut beim Bürgermeister antanzen.«
»Eine Diebstahlserie hat dich so durcheinandergebracht?« Beinahe hätte Alma gelächelt, doch als Ludwig nicht selbst lachte, merkte sie, dass es noch mehr gab. Er zögerte, doch schließlich seufzte er. »Nicht nur die Langfinger, auch die Braunhemden stecken wieder ihre Köpfe aus der Ecke, in die sie gekrochen waren. Es gab eine Schlägerei in Oos.«
Vor gerade einmal zwei Monaten hatte sich die NSDAP nach ihrem Verbot erneut gegründet. Hitler war im Dezember 1924 frühzeitig aus der Haft entlassen worden, wie Ludwig es – zu seinem Leidwesen – vorhergesagt hatte, und seitdem verloren dieser Verschwörer und seine Freunde keine Zeit, ihre alten Seilschaften wieder erstarken zu lassen.
Alma hatte so viele Hoffnungen, Träume und Wünsche in die junge Republik gelegt, damals 1918 nach dem Krieg. Das Kaiserreich war Vergangenheit, und nie mehr sollte es solche Zwänge geben: Freiheit und Demokratie, ein gutes Leben für alle. Aber dann folgten Inflation, Straßenkämpfe in Berlin, schließlich sogar Putschversuche in München. Immer wieder verirrte sich das Gedankengut dieser Volksverführer in die Köpfe der Menschen, sie ließen sich von den Versprechungen blenden. Und auch Ludwigs Vorgesetzter, der Kriminalrat Berchtold, schien den Nationalsozialisten nicht abgeneigt. Wollten die alle ihren Kaiser zurück? Das alte Reich hatte nichts als Repressionen und Zwangsjacken für die Gedanken bereitgehalten!
»Mach dir keine Sorgen, Alma.« Ludwig schien ihre Anspannung zu spüren. »Es wird alles gut gehen. Wir haben den längeren Atem. Wie oft haben sie es versucht und sind schon gescheitert?«
Hier, in der Wärme ihres Bettes, geborgen in seinen Armen, glaubte sie ebenfalls, dass alles gut gehen würde, wollte es glauben.
»Und auf dem Amt?«, fragte Ludwig nun. »Hat deine Kollegin dort erfahren, dass ihre Cousine gestorben ist?«
»Von der Aufsicht«, bejahte Alma. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihm mehr erzählen wollte. Aber früher oder später würde er es ohnehin erfahren.
»Sie war am Abend hier. Friederike«, präzisierte sie.
»Weshalb war sie …«, begann Ludwig verwirrt, dann stockte er. »Alma, die Sache ist bei der Polizei in besten Händen. Lass dich nicht wieder in so etwas hineinziehen.«
»Friederike fühlt sich verantwortlich, sie wollte die junge Cousine unter ihre Fittiche nehmen und jetzt hat sie das Gefühl, versagt zu haben«, sagte Alma leise. »Es hat ihr geholfen, hierherzukommen und mit mir zu sprechen. Mit jemandem, den sie kennt. Und von Frau zu Frau.«
Sie spürte, wie Ludwig nickte. »Das verstehe ich«, sagte er. »Trotzdem …«
»Weißt du, wie es passiert ist?«, unterbrach Alma ihn schnell.
»Es war Selbstmord, habe ich gehört. Wenn es nicht ein tragischer Unfall war.« Er wirkte ehrlich betroffen. »Vor zwei Wochen ist bei Batschari einer in eine Maschine gefallen. Letzte Woche gab es in Karlsruhe einen Toten im Bahnhof, als der Zug einfuhr.« Er seufzte. »Es müsste viel mehr für die Sicherheit der Menschen an ihrem Arbeitsplatz getan werden. Ein Augenblick der Unachtsamkeit hat sie das Leben gekostet.«
»Furchtbar«, bestätigte Alma. Sie war keine Technikfeindin, nein, dank ihres Vaters hatte sie durchaus eine Vorliebe für die modernsten Errungenschaften gewonnen. Elektrizität, Automobile, sie war fasziniert von den immer schnelleren, immer besseren Erfindungen. Doch am Arbeitsplatz boten die Maschinen auch immer neue Wege, sich zu verletzen, zu Tode zu kommen.
»Er hatte eine Frau und zwei Kinder, weißt du? Der Mann bei Batschari. Sie haben noch den Tageslohn bekommen. Und was folgt jetzt?«
Was für ein schrecklicher Abend, was für eine schreckliche Welt. Alma drehte sich, schlang die Arme um Ludwigs Hals.
»Ein Unfall, ja …« Sie dachte nach. »Aber ein Selbstmord? Bist du dir sicher?« Als Ludwig nicht antwortete, hakte sie nach: »Wer war denn heute dort? Wer untersucht Gertrudes Tod?«
»Kollege Franck. Berchtold pocht darauf, dass er auch wieder Außeneinsätze übernehmen muss.«
Alma kannte den Beamten mit Leidenschaft für kalten Kaffee. Sie wusste, dass weder Ludwig noch sein Vorgesetzter allzu große Stücke auf ihn hielten, und ihr selbst war er noch nie besonders pfiffig vorgekommen.
»Alma, versprich mir, dass du nur deine Kollegin beruhigst und den Rest der Polizei überlässt«, kam Ludwig erneut auf seine Bitte zurück.
Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Sei ganz beruhigt«, flüsterte sie. »Ich werde mich nicht in Gefahr bringen.«
Kollege Franck, dachte Alma zweifelnd. Wahrscheinlich war es doch ganz gut, wenn sie sich der Umstände um Gertrudes Tod einmal annahm.
Zwei Tage später stieg Alma am frühen Morgen vor ihrer Schicht in einen Lastkraftwagen mit der Aufschrift Dampfwaschanstalt, A. Ilse, Baden-Baden GmbH, der vor dem Hotel de Hollande bei laufendem Motor den Verkehr blockierte. Sie trug die gestärkte Schürze eines Zimmermädchens, die Wölkchen besorgt hatte. Der Fahrer, Ohren wie Bahnwärtertafeln, würdigte Alma keines Blickes, als sie umständlich den Beifahrersitz erklomm. Emmi hatte ihm tags zuvor »im Auftrag der Hausdame Frau Weißhaupt« mitgeteilt, das neue Mädchen solle ihn zur Wäscherei und zurück begleiten, um sich mit den Abläufen des Hotels vertraut zu machen. Überhaupt schien er von der schweigsamen Sorte zu sein, erwiderte ihren Morgengruß nicht, schien sich womöglich nur in Grunzlauten zu verständigen. Alma war das nur recht, somit musste sie keinen neugierigen Fragen ausweichen. Darüber hinaus vermutete sie, dass der nach Tabak stinkende Mann auf dem Fahrersitz Frau Weißhaupt vom Hollande genauso großen Respekt zollte, wie die Hotelbelegschaft es tat. Die stocksteife Dame war für ihren Kasernenhofton bekannt und duldete in der Regel keine Widerrede. In der Vergangenheit war Alma ebenfalls schon in den Genuss einiger ihrer Befehle gekommen, die sie mit stoischem Nicken entgegengenommen hatte. Wenn die Hausdame des Hotels also meinte, das neue Mädchen solle in die Wäscherei mitfahren, dann meldete man diesbezüglich lieber keine Bedenken an.
Der Fahrer wendete, und sie rumpelten über den Leopoldsplatz in Richtung Bahnhof. Es war das erste Mal, dass Alma in einem Lastwagen mitfuhr, und sie genoss aus erhöhter Perspektive das emsige Morgentreiben der Kurstadt. Ein wenig fühlte sie sich wie die Königin der Fahrbahn, wie sie von oben auf die anderen Automobile hinabsah, und sie beobachtete erheitert, wie Fußgänger beim Anblick des heranrauschenden Transportwagens ihre Schritte beschleunigten, um die Straße rechtzeitig zu überqueren. Hinter sich meinte sie, die in Bewegung geratenen Wäschesäcke hören zu können, die hin und her geworfen wurden, was natürlich Unsinn war, so laut wie der Dieselmotor röhrte. Zusammengefasst betrachtete Alma die kurze Fahrt in die Wäscherei allein jetzt schon als ein kleines Abenteuer.
Nur wenige Minuten später hatten sie den Bahnhof passiert und folgten dem Verlauf der Oos, bis der schweigsame Fahrer links abbog. Mit gedrosseltem Tempo ließen sie eine kleine Ansammlung von Häusern hinter sich, zuckelten weiter und hielten schließlich vor zwei frei stehenden großen Gebäuden mit in den Himmel aufragenden Kaminen. Durch die Windschutzscheibe erblickte Alma auf einer Anhöhe die Umrisse des Jesuitenschlösschens. Dahinter erstreckte sich nichts als Wald, über dem sich dunkle Wolken türmten.
Der hustende Motor erstarb, und der Fahrer sah Alma herausfordernd an, was sie als Zeichen verstand auszusteigen. Also kam sie seinem wortlosen Befehl nach und kletterte aus dem Führerhaus. Eine Hecke umzäunte das Wäschereigelände, die aber niedrig genug war, um den Haupteingang zu erspähen, der im vorderen, größeren Gebäudetrakt lag. Auch ihr Fahrzeugführer war ausgestiegen, die hintere Ladetür des Lastwagens stand inzwischen offen, und als der Mann mit weit ausholenden Schritten auf den größten Kamin zustapfte, womöglich, um sich bei der Belegschaft anzukündigen, folgte ihm Alma ungefragt. Noch als sie fieberhaft darüber nachdachte, wie sie die Sache am besten angehen könnte, kamen ihr zwei junge Frauen in weißen Kittelschürzen entgegen. Schlichte, zweckmäßige Kleidung ohne jegliche Borten oder Spitzen. Die Ärmel ihrer ebenso einfach geschnittenen Blusen waren hochgerollt. Die Kleinere von beiden, mit einer Stupsnase und roten Wangen, blieb stehen und sah Alma fragend an.
»Bist du ne Neue?«, wollte sie wissen.
»Käthe, wir müssen ausladen«, drängte die Größere sie zum Weitergehen. »Ich schaff das allein ja wohl kaum.«
»Lass dir derweil doch mal vom Greiner helfen«, entgegnete Käthe, den Blick weiter neugierig auf Alma geheftet. »Der kann auch mal was anderes tun, als nur dabeistehen, paffen und herumgrunzen. Ich komm gleich nach.«
Beim Greiner handelte es sich offensichtlich um Almas Chauffeur, denn die Größere stellte sich jetzt zu ihm und redete auf ihn ein, während der Mann gelangweilt in den Taschen seines Jacketts kramte.
»Ich soll mich hier nur mal umschauen«, meinte Alma an die junge Frau mit der Stupsnase gewandt. »Meinst du, ich kann einen kurzen Blick in die Maschinenwäscherei werfen?«
Käthe runzelte die Stirn. »Wozu denn das?«
Alma zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ein neuer Spleen von der Weißhaupt.«
»Das ist der Feldwebel vom Hollande, nicht?« Käthe grinste. »Na, dann geh mal da hinten rein.« Sie zeigte auf eine offen stehende Tür direkt unter einem der großen Kamine. »Da weichen wir die Wäsche in den Bottichen ein und so.« Während sie mit Alma sprach, hielt sie den Blick auf die Größere gerichtet. »Hier werden keine Fisimatenten gemacht, so spannend ist das ja alles wirklich nicht.« Jetzt sprang sie eilig auf ihre Kollegin zu, die sich abmühte, einen der Wäschesäcke aus dem Laderaum auf den Kiesweg zu bugsieren. Der grunzende Greiner stand qualmend mit aus dem Mundwinkel hängender Zigarette daneben, rührte keinen Finger und beobachtete das angestrengte Treiben der jungen Frauen gleichgültig. Kurz entschlossen ging Alma hinüber und packte mit an, was die Stupsnase mit einer überraschten, aber äußerst dankbaren Miene kommentierte.
»Glauben Sie, Sie könnten vielleicht auch mal helfen?«, rief Alma gepresst über ihre Schulter, als sie gemeinsam mit Käthe einen Sack, der schwerer war, als sie vermutet hatte, in Richtung des hinteren Gebäudetrakts schleppte.
»Zehn Minuten!«, brüllte Greiner zurück. Was sich, so vermutete Alma, offenbar nicht auf die Dauer seiner sich plötzlich anbahnenden Unterstützung, sondern auf die Zeitspanne von Greiners Pause bezog, bevor er wieder zurück in die Stadt fuhr.
»Auf dem seine Hilfe kannst du lange warten«, meinte Käthe, ebenfalls keuchend unter dem Gewicht ihrer Last. »Und die Wäschekarren lassen sich hier draußen nicht schieben. Aber da du nun schon mal mit mir hier bist«, sie ließen den Sack in eine der besagten Karren plumpsen, die in einem Vorraum hinter dem Eingang standen, »kann ich dir kurz den Maschinenraum zeigen.« Sie bat eine weitere Frau, die im Vorraum stand und die sich eben die beschlagene Brille an der Schürze abwischte, beim Abladen zu übernehmen, und wandte sich dann wieder an Alma. »Maschinenraum«, fuhr sie grinsend fort. »Klingt wie auf einem Schiff, nicht? Aber ich wette, die Geräte machen dort nicht halb so viel Krach wie unsere hier.«
»Und ich wette, es riecht dort auch anders.« Ein Gemisch aus Lauge, undefinierbarem Blütenduft und erhitzter Luft erfüllte den Vorraum. Alma fragte sich, wie stark er wohl in der Wäscherei selbst sein musste.
Nur wenig später wusste sie es: Er nahm ihr glatt den Atem. Der Lärm allerdings hielt sich noch in Grenzen, denn als Erstes führte Käthe sie in den Raum, in dem Gardinen, Decken, Laken und Bezüge gespannt und danach auf elektrisch betriebenen Drehrollen geplättet wurden. Begleitet von kurzen Beschreibungen durchmaß die klein gewachsene Käthe mit überraschend großen Schritten den Raum und führte Alma durch die nächste Tür in die Handwäscherei, »für sehr empfindliche Stücke«, wo Frauen Wäsche durch große Bottiche zogen. Auf ihrem Weg zur nächsten Tür umrundeten sie Körbe, Wäschestapel und lange Tische, auf denen Kleidung zusammengelegt und verschnürt wurde. Jetzt allmählich nahm der Geräuschpegel zu, und die Unterhaltung der Frauen wurde von einem rhythmischen Dröhnen überlagert. Zuerst liefen sie an großen, aufrecht stehenden Fässern vorbei, in denen laut Käthe die Wäsche in einer speziellen Lauge ruhte, damit hartnäckige Schmutzteile »losgeweicht« wurden, dann blieb Almas Führerin vor einer großen Trommel in einer Reihe von vier weiteren stehen. Jede von ihnen ruhte auf einem gusseisernen Gestell und war mit einem Riemenantrieb ausgerüstet, der über große, an der Decke angebrachte Rollen verlief.
»Der Maschinenraum!«, brüllte Käthe über das Rattern hinweg und grinste schief. »Momentan laufen drei, da hinten stehen die Zentrifugen, in denen die Wäsche vortrocknet.«
»Eine steht also still?«, schrie Alma zurück. Ihre Mutter würde bei diesem Gedröhne mit Sicherheit sofort Reißaus nehmen, sie ertrug nicht einmal das laute Rumpeln ihrer eigenen kleinen Waschmaschine.
Käthe nickte und führte sie zur letzten der Reihe, die offen stand. In der Mitte der Trommel klaffte eine große Öffnung, ein aufgerissenes Maul, bereit, etwas zu verschlucken. Oder jemanden, dachte Alma, deren Magen sich verkrampfte.
»Hier ist jemand gestorben«, sagte Käthe, und Alma zuckte zusammen. Die junge Frau war dicht an sie herangetreten, um nicht schreien zu müssen. »Vielleicht hast du’s in der Zeitung gelesen?«
Alma schwieg bedrückt. Sie konnte Friederikes Cousine förmlich in der offenen Trommel liegen sehen. Sich vorstellen, wie die schwere Klappe sich senkte, die junge Frau einsperrte.
»Die haben geschrieben, sie hat das absichtlich getan. Das ist völliger Blödsinn«, zischte Käthe. »Man kann die Trommel nur von außen schließen. Wie soll sie das Ding denn zubekommen haben? Und so eine war sie sowieso nicht.«
»Die Klappe kann aus Versehen zugefallen sein«, mutmaßte Alma, immer noch das Bild einer panischen Gertrude vor Augen, die verzweifelt versuchte, sich zu befreien. Eingeschlossen. Lebendig begraben. Wie in den Geschichten von Edgar Allan Poe. Trotz des Dampfes, der tropisch warm in der Luft lag, wurde Alma kalt. Sie schlang die Arme um die Schultern. »Ist das möglich? Dass die Klappe von allein zufällt?«
Käthe zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ist noch nie zuvor passiert. Kann vielleicht mal vorkommen. Wenn die Halterung kaputt ist oder so.«
»Und war die Halterung kaputt?«
Käthe zuckte mit den Schultern. »Also, ich weiß nicht … weswegen sollte Gertrude …« Sie geriet ins Stocken, presste die Lippen aufeinander und schloss kurz die Augen. Dann öffnete Käthe sie wieder und sah Alma mit einem tiefen Ausdruck der Trauer an. »Die Polizei meint auch, das sei wahrscheinlich Selbstmord gewesen.«
»Und du? Was glaubst du denn, was sich hier abgespielt hat?«
Bedauernd schüttelte Käthe den Kopf. »Ich weiß nur, dass Irmgard die arme Gertrude morgens gefunden hat. Denn normalerweise sind alle Trommeln offen, um auszulüften, verstehst du? Da darf sich kein Schimmel bilden oder so was. Aber die hier war eben zu.«
Um sich besser konzentrieren zu können, atmete Alma einmal tief durch. Der Schlund der offenen Trommel lag auf Brusthöhe. Man musste nicht klettern, um hineinzugelangen. Und wenn man sich hineinbeugte, zu tief hineinbeugte …
»War die Trommel denn verriegelt? Als Irmgard sie morgens geöffnet hat, musste sie die Trommel richtig entriegeln?«
»Weiß ich nicht.« Käthe betrachtete Alma misstrauisch. »Willst du damit andeuten, jemand hat sie hineingeschubst und die Trommel verschlossen?«
»Nein. Oder … Glaubst du?« Mit gespieltem Entsetzen blickte sie Käthe an.
»Wer sollte denn so etwas tun?«, fragte die Wäscherin und schüttelte den Kopf.
»Und das alles geschah, als niemand mehr in der Wäscherei war?«
Jetzt nickte Käthe. »Irgendwann schließen die dann mal hier ab, aber kontrolliert wird nichts mehr. Die gehen nicht rum, oder so. Schauen nicht mehr, ob noch jemand im Gebäude ist. Rufen ab und zu noch mal in die Räume.«
Alma nahm an, dass mit »die« die Verwaltung der Dampfwaschanstalt oder die Geschäftsführung selbst gemeint war. »Du kennst dich gut aus, Käthe. Das kann ich Frau Weißhaupt auch gern ausrichten, wenn du willst.«
»Ach, das musst du doch nicht.« Die Wangen der jungen Frau mit der Stupsnase wurden noch eine Spur röter. »Was will denn die Weißhaupt mit mir anfangen? Außerdem isses hier gar nicht so schlecht.«
»Bist du schon lange hier? Länger, als es Gertrude war?«
»Gertrude hat erst vor ein paar Monaten angefangen.« Sie biss sich auf die Unterlippe.
»Vorher sagtest du: ›Und so eine war sie sowieso nicht‹. Was war sie denn für eine?«, fragte Alma und warf einen schnellen Blick auf ihre schmale Armbanduhr, als Käthe sich zur Trommel drehte und geistesabwesend in deren Inneres starrte. Zehn Minuten hatte Greiner gesagt. Alma stellte entsetzt fest, dass die Zeit längst abgelaufen war. Zu Fuß zurück würde sie viel zu lange brauchen. Sie hatte pünktlich zu ihrer Schicht auf dem Amt zu erscheinen, und – Alma dachte an die dunklen Wolken, die über dem Stadtwald gehangen hatten – nass werden wollte sie auch nicht. Sie würde versuchen, die Sache hier zu beschleunigen, oder womöglich noch einmal herkommen. Käthe kannte sie jetzt, daran konnte sie beim nächsten Besuch anknüpfen.
»Eine ganz Nette«, antwortete Käthe, aus ihrer Starre erwacht. »Aber immer in Bewegung und ein wenig brauseköpfig, du weißt, was ich meine?«
Eine leicht aufbrausende junge Frau. Voller Energie. »Sie ging also gern tanzen? War gern mit Menschen zusammen, ein geselliger Mensch.«
»Ja, genau. Gesellig«, bestätigte Käthe. »Und zielstrebig. Sie wollte hier nicht ewig bleiben, hatte andere Pläne.«
»Ach?« Alma horchte auf. »Welche denn?«
Käthe senkte den Blick. »Weiß nicht«, meinte sie ausweichend. »Irgendwelche Pläne halt. So genau hat sie nicht darüber gesprochen.«
»Fräulein!«
Die brüllende Stimme ließ Alma zusammenfahren, und Käthe erschrak derart, dass sie die Hände vor die Brust schlug. Aufgeschreckt starrten die Frauen Richtung Tür, in der sich ein erzürnter Greiner aufgebaut hatte. Die abstehenden Ohren rot wie ein Feuermelder, stand er da und drohte mit erhobenem Zeigefinger: »Fräulein, wenn Sie in zwei Minuten nicht neben mir im Wagen sitzen, lass ich Sie draußen stehen! Und es gießt wie aus Kübeln. Haben Sie mich verstanden? Von mir aus holen Sie sich dabei den Tod. Und du, Käthe, was meinst du eigentlich, was du hier bist? Die Frau Leiterin? Die wichtige Kunden herumführt?«
Eifrig strich sich Käthe eine Strähne aus der Stirn. »Sie ist schon weg, Herr Greiner, schon unterwegs, sitzt praktisch schon neben Ihnen«, beteuerte sie.
Aber Greiner hatte sich bereits umgedreht und stapfte in den angrenzenden Raum zurück.
»Du musst jetzt wirklich gehen.« Käthe sah Alma beschwörend an. »Ich will hier keinen Ärger bekommen.«
Alma nahm ihre Hand und drückte sie. »Danke. Es war wirklich sehr nett, dir Zeit für mich zu nehmen.« Sie lächelte freundlich, warf einen letzten Blick in den leeren Schlund der Maschine und eilte Greiner hinterher.
Voller Energie. Eine junge Frau, die Pläne für ihre Zukunft schmiedete. Die gern Menschen um sich hatte und tanzen ging. Eine Trommel, die sich von innen nicht schließen ließ. Eine Maschine ohne Fehlfunktion.
Nein, auch Alma glaubte weder an einen Selbstmord noch an einen Unfall. Kriminalwachtmeister Franck hatte leider schludrig ermittelt.
Zurück in der Hauptpost in der Sophienstraße eilte Alma in die Vorhalle zu den öffentlichen Münzsprechapparaten, erwischte ein freies Telefon, zählte ihr Kleingeld ab, warf es hastig hinein und wählte die Nummer des Sanatoriums, in dem ihr Cousin Walter neuerdings Patienten betreute. Kurz vor der Beendigung seines Medizinstudiums hatte er eine Probe-Anstellung in der Kurstadt erhalten. Eine Chance, die er nach einigem Hin und Her ergriffen hatte, denn eigentlich zog es Walter in die Rechtsmedizin. Da Almas Onkel nach dem Tod seiner Frau plötzlich Gefallen an einer anderen fand, die er umgarnte, suchte Walter, dem der Umstand unheimlich vorkam, dass sein Vater in Liebesdingen wieder aktiv geworden war, dann und wann bei seiner Cousine Alma Unterschlupf. Dabei meldete er sich stets jedes Mal persönlich mit folgenden Worten bei der Wirtin an: »Es ist für eine Stunde ein hier nicht residierender Mann in Ihrem Haus, verehrte Frau Meier.« Und die Witwe hatte an ihm inzwischen einen echten Narren gefressen.
Wenn ihr Cousin sie spontan überfallen konnte, dann – so fand Alma – war es nur recht, wenn sie ausnahmsweise Walter einmal aus seinem Tagesgeschäft riss.
»Walter«, sagte sie, nachdem sie weiterverbunden worden war. »Gut, dass ich dich erreiche.«
»Cousinchen«, kam es verdutzt aus dem Hörer. Dann wechselte Walters Tonfall zu besorgt. »Es ist doch nichts mit Großmama?«
»Nein …«
»Tante Wilhelmine?«