Frei ohne Willensfreiheit - Fritz Kalberlah - E-Book

Frei ohne Willensfreiheit E-Book

Fritz Kalberlah

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Beschreibung

Das menschliche Bewusstsein ist ein Wunder: es ermöglicht das Nachdenken des Menschen über sich selbst und liefert kreative Handlungsoptionen. Das Bewusstsein ist aber auch ein vertracktes Instrument: Um vermeintlich dem Vorteil oder dem Schutz des Menschen zu dienen, fälscht es die Selbsteinschätzung, stellt fehleranfällige Vergleiche an und sorgt dafür, dass Menschen bei ihrer Willensbildung durch Illusionen motiviert werden. Im Ergebnis: der Mensch besitzt keinen freien Willen, weil er sein eigenes Bewusstsein nicht kontrollieren kann! Die meisten Menschen gehen jedoch davon aus, dass wir zumindest in gewissem Umfang über Willensfreiheit verfügen. Unser Rechtsstaat würde angeblich sonst nicht funktionieren, es würde keine Verantwortung mehr übernommen und ohne Willensfreiheit wären wir ohnmächtige Marionetten! Der Essay »Frei ohne Willensfreiheit« zeigt, dass diese Einordnungen keineswegs zwangsläufig sind und teilweise auf unglücklichen Definitionen basieren, was denn überhaupt unter Willensfreiheit zu verstehen sei. Ohne Zweifel verfügt der Mensch über ein gewisses Maß an Freiheit in seinem Handeln! Er kann freier werden, indem er durch Erfahrung, Selbstwahrnehmung und Selbstreflexion ein reiferes Bewusstsein entwickelt und in sich selbst »hineinzuhorchen« lernt. Wenn wir uns im Leben zunehmend von inneren und äußeren Zwängen loslösen, bedeutet das die Chance zu mehr Authentizität. Dieser Essay liefert ein neues Verständnis von Freiheit, das Respekt sowie Toleranz gegenüber den Bedingtheiten der Mitmenschen und gegenüber der eigenen Person beinhaltet. Mit zahlreichen Beispielen wird eine lebenspraxisnahe Philosophie vorgestellt, die sich als Lebenshilfe und nicht als akademisches Traktat versteht. Dennoch werden die erforderlichen theoretischen Überlegungen der Konzeption erläutert: der Zusammenhang mit der Denkschule des Determinismus wird aufgegriffen, die Ergebnisse der Hirnforschung werden eingeordnet, die Bedeutung der Vernunft und des moralischen Sollens, zum Beispiel des Kant'schen Kategorischen Imperativs und des Universalismus werden diskutiert und der Essay berührt das Thema, wie die Wahl des »Bösen« bei der Willensbildung in Bezug zum Freiheitsthema steht. Mit dieser Brücke zur philosophischen Fachdiskussion spricht der Essay auch Leserinnen und Leser an, die sich aus dem Blickwinkel einer ontologischen Einordnung mit der Thematik beschäftigen wollen.

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Inhalt

1 Wie alles anfing … und die Folgen

2 Meinen wir das Gleiche? – zur Begrifflichkeit in der Debatte zur Willensfreiheit

2.1 Was wir wollen und der „eigene“ Wille

2.2 Bewusstseinsfrage

2.3 Wir sprechen von Freiheit

2.4 Ist die Frage von Willensfreiheit verknüpft mit dem Determinismus?

3 Die Konzeption: Frei ohne Willensfreiheit

3.1 Paris und der Aphrodite-Apfel – Die Themenstellung

3.2 Das Konzept in einer Nussschale

3.3 Optionsräume

3.4 Unfreie Abwägung

3.5 Selbstreflexion, Selbstbestimmung und Autonomie

3.6 Freiheit des Geschöpfs

3.7 Handlungsfreiheit – mehr als die Freiheit des Bratenwenders

3.8 Willensfreiheit ist Illusion – warum auch nicht?

3.9 Spielräume und die Qualität der Willensbildung

3.10 Von Tieren und Menschen: Freiheit in der Evolution

3.11 Werte gehen einen Umweg!

3.12 Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden

3.13 Verantwortung, Zurechnung und Schuld

3.14 Befreiung von -Ismen

3.15 Alles anders mit geänderten Begriffsdefinitionen

3.16 Das Spezifische dieser Konzeption in zwölf Punkten

4 Der Praxistest – Was zeigen die Beispiele?

4.1 Über den Wolken

4.2 Das unerwünscht servierte Glas Wasser

4.3 Lust auf Schokolade

4.4 Unzureichend nachgedacht: Alkohol im Straßenverkehr

4.5 Bekennen Sie sich schuldig, Frau Merkel!

4.6 Mutige Iranerin trotzt dem Kopftuchverbot

4.7 Die Deformation des Kindersoldaten

4.8 Fußball fängt im Kopf an!

4.9 Die Kreation der Kreatur

4.10 Segnung gleichgeschlechtlicher Paare

4.11 Das Ich-Bewusstsein des Putzerfisches

4.12 Warum die Diskrepanz?

5 Ein wenig Weisheit

5.1 Warum das Thema überhaupt wichtig ist

5.2 Drei unerfüllbare Voraussetzungen

5.3 Gefahren- und Chancenabwägung

5.4 Kompetenzerwerb als Schlüssel zu Freiheit!

5.5 Ist der Mensch ein moralisches Wesen?

5.6 Eine Freiheit zum Bösen?

5.7 Ein Plädoyer für Vielfalt und Toleranz

5.8 Das Attribut der Freiheit als versteckter Vorwurf

5.9 Parabel vom gelungenen Leben – oder: das eigene Pilzgericht

5.10 Frei ohne Willensfreiheit

Nachwort

Danksagung

1 Wie alles anfing … und die Folgen

Das Glas Wasser

Es begann mit einem Alltagskonflikt des Beziehungslebens. Meine Frau stellte mir fürsorgend ein Glas Wasser auf den Tisch. „Du solltest mehr trinken!“ Ich bemerkte erstaunt, dass ich doch selbst auf mich achten und meine Trinkmenge selbst bestimmen wolle. Wenig später brachte sie wieder ein Glas Wasser. Ich fühlte mich zunehmend gefangen in der Fürsorge und machte ihr Vorwürfe.

Konnte sie denn nicht anders? Ich durfte ja davon ausgehen, dass sie mich nicht ärgern wollte. Und trotzdem! Offensichtlich obsiegte bei der Willensbildung meiner Frau ihr ausgeprägtes eingeprägtes Fürsorgeprogramm, nicht das Wissen um meine Allergie gegen freundliche Übergriffe, nicht das Vertrauen in meine Selbstverantwortlichkeit, nicht die Einsicht in die Ineffektivität ihrer Fürsorge, da ich oft tagelang, wenn wir uns nicht begegnen, ohnehin über die Trinkmenge allein entscheiden würde.

Diese Erfahrung (und einige ähnliche andere, bei denen ich mir auch selbst auf die Schliche kommen wollte, warum ich mich für jene und keine andere Handlung entscheide) brachte mich zum grundlegenden Nachdenken, wie es denn um unsere Willensfreiheit bestellt sein dürfte, wenn ein „handlungswirksames Wollen“ (als Ergebnis des Willensbildungsprozesses) entsteht.

Je mehr ich mich damit auseinandersetzte und auch die Gedanken in der philosophischen Literatur auf mich wirken ließ, desto mehr kam ich von der Idee der Existenz einer Willensfreiheit ab und erkannte, dass wir nur so unseren Willen bilden, wie unsere Bedingtheit uns das erlaubt (also unter anderem unsere Prägung mit der verinnerlichten Wertewelt).

Dies führte bei mir zu mehr Leichtigkeit, meine Bedingtheit und die meiner Frau und anderer Menschen anzunehmen. Der Vorwurf „Wie kannst du nur immer wieder übergriffig ein Glas Wasser auf den Tisch stellen?“ verblasste. Ich durfte lernen, mich einerseits deutlich von Verhalten, das ich nicht gut finde, abzugrenzen, andererseits der Person mit anderen Vorstellungen deshalb keine Vorwürfe zu machen, sie deshalb nicht abzuwerten und Respekt vor dem unterschiedlichen Wesen der anderen zu gewinnen. Denn das Argument: „Natürlich hättest du auch anders handeln können!“ hatte sich für mich als ein Irrtum erwiesen.

Bringt meine Frau nun manchmal ein Glas Wasser, weicht die Entrüstung öfter einem gemeinsamen Lächeln: „So sind wir, da begegnen wir uns mal wieder in unseren Unterschiedlichkeiten!“. Bisweilen fehlt mir geradezu unser Code „Trinkst du auch genug?“, wenn die Frage ausbleibt. Öfter lernen wir auch dazu und freuen uns dann daran, dass wir Gleiches oder Ähnliches wollen.

Ein Gedanke führte zum nächsten, bis ich mich schließlich entschloss, diesen Essay „Frei ohne Willensfreiheit“ zu schreiben, um die Gedanken zu teilen, vielleicht mit der Idee anzustecken und um weitere Anregungen zu einer verblüffend spannenden Thematik zu bekommen.

Ein übliches Gespräch

Als ich im Kaffeehausgespräch sagte, dass nach meiner Sicht kein freier Wille existiere, grinste mein Gegenüber mit ironischem Ton: „Und du hast dir natürlich nicht freiwillig ausgesucht, dass du heute mit mir hier an diesem Cafétisch plauderst und dass du gerade Kaffee und nicht Tee trinkst?!“ Mein Antwortlächeln war etwas süßsauer, weil diese Bemerkung mich in fast allen Diskussionen zum Thema schnell entwaffnen soll – nach dem Motto: „Es ist schon reichlich absurd, was du mir mit dieser These der fehlenden Willensfreiheit auftischen willst und somit allenfalls eine liebenswerte gedankliche Spielerei – das sagt uns doch schon der gesunde Menschenverstand!“.

Nachdem wir diese Hürde überschritten haben – ja, das kommt durchaus vor –, sind es oft Argumente zum Gerechtigkeitsempfinden, die mir entgegengehalten werden: „Und dann ist der Mörder nicht mehr schuld an seiner Tat – ohne freien Willen kann er ja nichts dafür und wird mit diesem Hinweis von der Anklagebank aufstehen und eine Strafwürdigkeit von sich weisen – er ist ja angeblich unfrei, also nicht verantwortlich für sein Handeln!“

Bisweilen gelingt es mir, auch bei dieser Thematik zumindest den Brustton der Überzeugung aus dem Gespräch aufzulösen, der etwa so klingt: „Ohne Willensfreiheit funktioniert schon unsere freiheitliche demokratische Grundordnung nicht mehr mit dem rechtsstaatlichen Prinzip der Anerkennung von Verantwortung, Schuld und Strafwürdigkeit!“

Wenn es also möglich wird, auch in diesem Punkt mehr Differenzierung und Nachdenklichkeit zu wecken, folgt bisweilen der Hinweis auf die (scheinbar) notwendige Konsequenz des Fatalismus: „Und wenn alles schon vorgegeben (determiniert) ist, dann sind wir ja alle nur Marionetten; dann kann ich mich auch aufs Sofa setzen und muss mich nicht mehr bemühen – es kommt ohnehin alles so, wie vorherbestimmt. Das ist doch keine nützliche Haltung zu den Herausforderungen des Lebens, selbst wenn ich natürlich zugebe, dass Willensfreiheit nicht beweisbar ist!“

Und wenn unser Gespräch, liebe Leserin/lieber Leser, nicht diesen üblichen Verlauf nehmen und nicht vorzeitig auf einer der skizzierten Stufen mit Grinsen, Kopfschütteln oder Resignation enden soll, dann wäre es aus meiner Sicht hilfreich, diesen Essay weiterzulesen. Denn diese häufigen, spontanen Reaktionen werden aufgegriffen und etwas genauer angeschaut. Ich freue mich auf dieses Gedanken-Gespräch mit Ihnen!

Widersprüchliches Interesse

Ja – es ist wahrlich kein brandneues Thema, das ich aufgreifen möchte. Die vorliegenden philosophischen Betrachtungen haben auch nach Jahrhunderten kein abschließendes Ergebnis gebracht und jedes Jahr erscheinen neue Publikationen zur ungelösten Fragestellung: Gibt es nun einen freien Willen oder doch nicht?

In einer interdisziplinären Analyse zur Willensfreiheit fand ich einen bezeichnenden Satz aus dem dreizehnten (!) Jahrhundert, der bereits die Unauflösbarkeit des Problems für alle Zeiten prognostizierte:

„Es gibt einen Disput [der weitergehen wird] bis die Menschheit von den Toten aufersteht, zwischen den Necessitariern und den Partisanen des freien Willens“, Dschalal ad-Din Rumi1.

Für mich sind drei Gründe erkennbar, warum dieser Diskussion heute bei uns im Lebensalltag einerseits in der Regel keine hohe Bedeutung zugemessen, andererseits aber dann, wenn sie denn geführt wird, zumeist heftig und polemisch geführt wird:

Erstens haben sich viele Menschen innerlich bereits entschieden, dass sie die Existenz von „Willensfreiheit“ annehmen, weil sie ein festgelegtes Freiheitsgefühl in ihrem Weltbild verankert haben, zum Beispiel: „Ich kann in die Berge oder ans Meer zum Urlaub fahren, also bin ich frei“ oder „jede Person hat, wenn sie nicht krank ist, natürlich den inneren freien Spielraum, unsere Gesetze einzuhalten oder zu verletzen“. Diese scheinbare Bestätigung einer Willensfreiheit ist tief in unserem kulturellen Verständnis verankert. Damit empfinden viele eine Diskussion zu diesem Thema als reichlich akademisch. Für das praktische Leben werden philosophische Grundsatz-Fechtereien als irrelevant eingeordnet. Die Sache ist doch klar! Genervte Reaktionen oder Desinteresse am Thema können die Folge sein. Wir werden sehen, dass die Sache ganz und gar nicht „so klar“ ist, und zwar auch konkret – nicht nur akademisch!

Zweitens: wenn aber doch diskutiert wird, liegen die Heftigkeit wie auch die häufige Unterbewertung der zentralen Bedeutung des Themas Willensfreiheit in der aktuellen Debatte daran, dass wir alle es gewohnt sind, unsere eigenen Denkgewohnheiten für selbstverständlich oder natürlich anzunehmen und nicht darauf zu achten, dass beim Anderen bisweilen eine konträre Position ebenso als selbstverständlich und natürlich angesehen wird. Oft ergibt sich ein Streit, bei dem den jeweils anderen vorgeworfen wird, sie würden „zu kurz“ denken, „geradezu absurde“ Annahmen treffen, sollten einmal ihren „gesunden Menschenverstand“ anwenden, und die anderen würden zu wenig Mühe aufwenden, bestimmte Argumente zu hinterfragen. All diese Anwürfe finde ich auch in Fachbüchern professioneller philosophischer Autoren. Es wird also keine Schlussfolgerung daraus gezogen, dass es bei solchen philosophischen Fragestellungen oft mehrere Wahrheiten gibt, die alle Respekt verdienen und vielleicht – bei Verlassen der gewohnten, eigenen Denkgewohnheit – wertvolle Bereicherungen für unser eigenes Verständnis der Anderen und von uns selbst bedeuten könnten.

Und drittens: Wenn jemand von Willensfreiheit spricht, steht in der Wahrnehmung meist der Begriff „Freiheit“ im Vordergrund, wobei recht unterschiedliche Definitionen dieses Begriffs vorliegen und in unseren gedanklichen Assoziationen verankert sind. So lässt sich trefflich aneinander vorbeireden und wahlweise streiten oder die Thematik als irrelevant abtun, weil wir jeweils über unterschiedliche Dinge, unterschiedliche Freiheiten sprechen, ohne dies uns klarzumachen. Und auch wenn wir über den Begriff „Willensfreiheit“ sprechen, so gibt es weit auseinander liegende Definitionen, zu denen meist nicht vorab eine Verständigung herbeigeführt wird. Das muss dann schief gehen!

Und was folgt?

Deshalb möchte ich in diesem Essay die Fragestellung „Gibt es nun einen freien Willen oder doch nicht?“ auf folgende Weise aufnehmen:

Zunächst möchte ich einige zentrale Definitionen beschreiben und abgrenzen, damit wir uns einig sind, wovon wir sprechen!

Dann möchte ich den Begriff der Willensfreiheit in ein erweitertes Gedankengebäude einordnen, das explizit die menschliche Fähigkeit zum Lernen einschließt, was gegenüber vielen bestehenden Ansätzen den Blickwinkel verändert und vielleicht den Zugang zu meinem Verständnis der Willensbildung (und der fehlenden Willensfreiheit dabei) öffnet.

Und dann bestätige ich, dass uns (trotz fehlender Willensfreiheit) eine bestimmte Art von Freiheit durchaus gegeben ist. Was hat es damit in diesem Gedankengebäude auf sich?

Ich bemühe mich ausdrücklich darum, den Fokus der Diskussion mit zahlreichen Beispielen auf die Alltagsrelevanz des Themas zu lenken und keine rein akademische Debatte zu führen. Ein gewisses philosophisches Theoriegebäude ist bei der Thematik allerdings unvermeidlich – rechnen Sie also bitte mit einem Stück anspruchsvoller Wegstrecke!

Für diejenigen, die die Debatte gegenüber bestehenden Aussagen von Philosophen von z.B. Aristoteles über Immanuel Kant, Friedrich Nietzsche und Arthur Schopenhauer zu z.B. Peter Bieri, Ernst Tugendhat, Harry Frankfurt oder Geert Keil einordnen wollen, sage ich keine erschöpfende Erörterung zu, weil eben dies zu einer von mir nicht erwünschten, akademischen Theoriearbeit führen würde, berücksichtige diese aber dort, wo mir dies für eine abgewogene Betrachtung erforderlich oder spannend scheint.

Ich werde mich nicht davor drücken, auch auf die Kritikpunkte an den Skeptikern der Willensfreiheit einzugehen. Dabei sind natürlich insbesondere die Themen der Demotivation, der strafrechtlichen Relevanz und Verantwortlichkeit bei fehlender Willensfreiheit einzuschließen.

Abschließend will ich beschreiben, weshalb das hier dargestellte Verständnis Freiheit ohne Willensfreiheit mein Alltagserleben und mein Menschenbild verändert hat. Insofern soll die Diskussion daran gemessen werden, ob sie Nützliches für die Lebensbewältigung bietet.

1 Eine interdisziplinäre Analyse der Willensfreiheit (socrethics.com); besucht 2.4.2024

2 Meinen wir das Gleiche? – zur Begrifflichkeit in der Debatte zur Willensfreiheit

2.1 Was wir wollen und der „eigene“ Wille

Der Begriff Wille ist nicht eindeutig definiert. Ich greife auf die Brockhaus-Begrifflichkeit zurück: „[Wille bedeutet] allgemein das Umsetzen von Vorstellungen oder Zielen in die Realität durch Handlungen.“2 Auch in diesem Essay wird Wille im Einklang mit dieser Skizzierung benutzt.

Bei der Charakterisierung des menschlichen Willens sind Zusätze hilfreich, die weitgehendem Konsens in der philosophischen Diskussion entsprechen dürften:

Willensbildung kann als

Abwägungsprozess

beschrieben werden, mit dem Willen als Ergebnis. Dieses Ergebnis entspricht dem

handlungswirksamen Wollen

am Ende des Prozesses

3

und manifestiert sich als

Entscheidung

zur Umsetzung.

4

Willensbildung und damit der Wille stehen unter dem Einfluss des

Bewusstseins

.

5

Mit der Willensbildung ist eine gewisse zeitliche Ausdehnung und Begrenzung verbunden, die auch im Begriff

Prozess

zum Ausdruck kommt: durch Abwägungsschritte ergibt sich eine zeitlich nicht näher zu spezifizierende Abgrenzung gegenüber einem ersten, spontanen Handlungsimpuls. Der Prozess der Willensbildung endet in seiner zeitlichen Begrenzung mit der Entscheidung zur Umsetzung.

Frühe mögliche Vorstufen zum Willen können z.B. Impuls, Bedürfnis, Begehren, Sehnen, und – auf späterer Prozessstufe – Absicht und Vorsatz sein, indem diese in den Abwägungsprozess bei der Willensbildung einbezogen sind. Diese möglichen Vorstufen sind jedoch selbst nicht mit dem Ergebnis, also dem handlungswirksamen Wollen / dem Willen, zu verwechseln

6

.

Der Text in Wikipedia zur Willensdefinition formuliert schärfer und spricht – zumindest missverständlich – abgrenzend von einer Unterscheidung: „… Der Wille ist zu unterscheiden vom Wollen, dem meist triebgesteuerten Verlangen nach etwas (siehe auch Bedürfnis, Wünschen, Begehren, Sehnen oder Tanha).“7, 8

Indem ich auch triebhaften Motiven (wie Begehren) eine mögliche Funktion innerhalb der Willensbildung zugeordnet habe, stelle ich nicht die Abgrenzung, sondern den Zusammenhang dieser Vorstufen mit dem späteren Willen in den Vordergrund und charakterisiere die Willensbildung als nicht rein bewussten oder intelligiblen Prozess.

Die Rolle des Bewusstseins bei der Willensbildung wird jedoch z.B. in der Psychologie besonders betont und dafür ein spezifischer Begriff gewählt: Volition. „Volition bezeichnet die bewusste, willentliche Umsetzung von Zielen und Motiven in Resultate (Ergebnisse) durch zielgerichtete Steuerung von Gedanken, Emotionen, Motiven und Handlungen.“9 Dem Bewusstsein wird in dieser Definition eine entscheidend-steuernde Funktion bei der Volition zugeordnet, so dass unklar bleibt, ob alle anderen triebhaften Motive als vollständig vom Bewusstsein steuerbar angesehen werden.10

Die Kennzeichnung des Willens als „eigener“ Wille wird begrifflich in diesem Essay dann verwendet, wenn das handlungswirksame Wollen von willensbildenden Menschen als Ergebnis der Abwägung mit Hilfe der Selbstreflexion (als Bewusstseinsfunktion; vgl. Abschnitt 2.2) beschrieben werden kann. Dann ist es der „eigene Wille“ – es ist die Meinigkeit11 des Willens angesprochen, was wiederum erfordert, dass eine Person von einem Selbst – ihrem Selbst – ausgeht und den Willen als dem Selbst zugehörig wahrnimmt. Diese Wahrnehmung kann verzerrt, ungenau oder gar falsch sein, stellt jedoch eine individuelle Annäherung an die Authentizität des Willens dar.

Der Schweizer Philosoph Peter Bieri verwendet den Begriff des „angeeigneten Willens“, um den „eigenen Willen“, den Willen, der mit Meinigkeit verknüpft ist, zu charakterisieren. Die Aneignung bestehe a) in der Artikulation: es müsse Klarheit darüber gewonnen werden, was man genau will, b) im Verstehen: Dann müsse man gegebenenfalls den Eindruck der Fremdheit des eigenen Willens auflösen, und c) in der Bewertung: der eigene Wille müsse dann noch gutgeheißen werden.12

2.2 Bewusstseinsfrage

Es erscheint mir nicht erforderlich, im Zuge der Diskussion von Freiheit und Willensfreiheit auch eine differenzierte Lösung des „neurobiologischen Rätsels Bewusstsein“13 zu entwickeln. Da jedoch in der Definition des menschlichen Willens das Bewusste zu berücksichtigen ist und da ein hier zentraler Freiheitsbegriff eng an das Bewusstsein gekoppelt ist, muss der Terminus eingegrenzt werden.

Mir gefällt die Einordnung von Thomas Metzinger (2009): „Bewusstsein ist kein Alles-oder-Nichts-Phänomen, sondern tritt graduell auf. Bewusstsein ist zudem kein einheitliches Phänomen, sondern hat verschiedene Aspekte:

Wahrnehmung der Außenwelt

Aufmerksamkeit

Gedächtnis

Gefühle, insbesondere das Ich-Gefühl

Reflexionen höherer Ordnung, insbesondere das Wissen um die eigene Existenz“

14

.

Der Neurowissenschaftler António R. Damásio definiert Bewusstsein wie folgt: „Bewusstsein ist ein Geisteszustand, in dem man Kenntnis von der eigenen Existenz und der Existenz einer Umgebung hat“15 und hebt somit ebenfalls die Selbstwahrnehmung als Bewusstseinselement hervor. Ich möchte der Selbstwahrnehmung und der damit verbundenen Selbstreflexion mit Blick auf die Voraussetzungen für Freiheit eine zentrale Bedeutung zuordnen (vgl. Abschnitt 2.3).

Der Selbstreflexion entspringt auch die Wahrnehmung einer (bestehenden oder fehlenden) Meinigkeit des gebildeten Willens – ob also ein Wille als der eigene identifiziert wird (vgl. Abschnitt 2.1).

Es ist jedoch wichtig, dass menschliche kognitive Vorgänge nicht vornehmlich im Bewusstsein, sondern dominierend im Unbewusstsein und Unterbewusstsein stattfinden (vgl. Abschnitt 3.4). Die begriffliche Abgrenzung zwischen dem Unterbewussten und Unbewussten ist fließend. In diesem Essay werde ich beide Begriffe zusammen (als Wortkombination „Unterbewusstsein und Unbewusstsein“; auch „das Unbewusste und das Unterbewusste“) verwenden, sofern der Kontext es nicht erforderlich macht, nur auf einen der Begriffe Bezug zu nehmen, da eine Differenzierung für die Thematik der Willensfreiheit nicht erforderlich ist.

2.3 Wir sprechen von Freiheit

Freiheit! Auch wenn das Wort isoliert ausgerufen wird, führt es bereits zu intensiven Emotionen. Aber so allein in den Raum gestellt ist ziemlich unklar, worum es hierbei geht. Es scheint erforderlich, dass wir zunächst präzisieren, welche Freiheit wir meinen, welches Frageadverb beim Begriff Freiheit steht, bevor wir Diskussionen über Freiheit führen und vertiefen. In der folgenden Abbildung 1 habe ich verschiedene Frageadverbien und jeweils Beispiele für Antworten angefügt.

Es ergeben sich also nach Abbildung 1 fünf Aspekte, die das Verständnis konkretisieren, was jeweils in unserem Themenzusammenhang mit Freiheit gemeint ist. Ich spreche von fünf statt vier Aspekten, weil die „positiven Voraussetzungen für Freiheit“ zwei miteinander verbundene Aspekte betreffen, die Freiheit durch Kompetenz und die Freiheit durch Selbstreflexion. Diese fünf Aspekte sind also:

Freiheit von Einschränkung

Freiheit durch Kompetenz

Freiheit durch Selbstreflexion

Freiheit bei der Willensbildung („Willensfreiheit“)

Handlungsfreiheit.

Abbildung 1: Verschiedene Aspekte von Freiheit(Voraussetzungen für Freiheit, Kriterien für einen als frei geltenden Prozess, Zweck der Freiheit mit Kriterium für erreichte Freiheit)

Alle diese Freiheitsaspekte sind hier mit Blick auf das Ziel der Willensbildung ausgewählt und beispielhaft erläutert (z.B. Antwort). Es besteht kein Anspruch auf eine vollständige oder auch nur umfassende Systematik von Definitionen zum Freiheitsbegriff

Im Folgenden wird näher beschrieben, was mit den jeweiligen Begrifflichkeiten im Zusammenhang mit diesem Essay gemeint ist. Ich belasse es zunächst bei diesen fünf Freiheitsbegriffen (einige Ergänzungen folgen in Abschnitt 3.6).

Die Freiheit von Einschränkungen

Die Freiheit von Einschränkungen wird oft auch als negative Freiheit („Freiheit von …“16) bezeichnet. Einschränkungen können außerhalb einer Person liegen (z.B. durch Gefängnis, Pressezensur, elterlichen Zwang, gesetzliche Auflagen oder kulturelle Normen) oder innerhalb einer Person (z.B. durch Erkrankungen, Phobien, Hemmungen, verinnerlichte moralische17 Tabus). Fehlen solche Einschränkungen (keine äußeren oder inneren Zwänge), sind diese Einschränkungen nicht relevant für das Wollen einer Person oder handelt es sich, statt um Zwänge, um überwindbare Hindernisse, sind wir nach dieser Definition frei.

Der Begriff „Freiheit von Einschränkungen“ hat somit eine ontologisch-philosophische18 und eine psychologische Basis. Ontologische Aussage: Der Mensch ist frei von Einschränkungen (wenn bestimmte äußere oder innere Einschränkungen entfallen). Psychologische Aussage: der Mensch fühlt sich frei, wenn diese Einschränkungen entfallen.

Das Bild „Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein“ beschreibt entsprechend das Gefühl, von den Einschränkungen des Alltags und der Schwerkraft entbunden zu sein. Der Gefangene kommt nach Verlassen des Gefängnishofes ans Licht der Freiheit. Nachdem das Lampenfieber verebbt war, spielte die Pianistin befreit auf.

Die Freiheit von Einschränkungen ist Voraussetzung für eine noch nicht näher spezifizierte Freiheit („Freiheit wofür?“). Wenn die Kreuzbandverletzung verheilt ist, hat die Person die Chance, wieder Sport zu machen. Auf diesen Zweck der Freiheit (z.B. „um Sport machen zu können“) gehe ich im fünften Freiheitsbegriff ein.

Freiheit durch Kompetenz

Die Freiheit durch Kompetenz wird auch oft als positive Freiheit („Freiheit zu …“19) bezeichnet. Ich möchte diese Freiheit durch Kompetenz mit identischer Bedeutung auch als „Freiheit durch Potenziale“ bezeichnen – es ist die Freiheit des Könnens.

Potenziale für Freiheit können außerhalb einer Person begründet sein (z.B. durch Pressefreiheit) oder innerhalb einer Person (z.B. durch Erfüllung beruflicher Qualifikationsanforderungen, kreative Eigenschaften, moralische Kompetenz, soziale Kompetenz, emotionale Kompetenz, sportliche Fitness und Erfahrung). Der Terminus „Freiheit durch Kompetenz“ hebt in erster Linie auf das innere Potenzial ab, während in meiner ergänzenden Terminologie inneres oder äußeres Potenzial im Freiheitsbegriff „Freiheit durch Potenziale“ vereinigt sind. Diese Begriffe (Freiheit durch Kompetenz, Freiheit durch Potenziale) betreffen die grundsätzlichen Möglichkeiten, die eine Person zu einem bestimmten Zeitpunkt besitzt. Ob diese Freiheit in jedem Moment besteht, ob also die grundsätzlich vorliegende Kompetenz situativ abrufbar ist, kann nicht vorausgesetzt werden und ist somit unsicher. Freiheit durch Kompetenz kann durch bewusstes und unbewusstes Lernen verbessert werden und beinhaltet unter anderem auch eine kompetenzsteigernde Informiertheit.

Der Begriff „Freiheit durch Kompetenz“ hat somit eine ontologisch-philosophische und eine psychologische Basis. Ontologische Aussage: Der Mensch erweitert seine Möglichkeiten durch Kompetenz, gewinnt also zusätzliche grundsätzliche Optionen, was seine Chance erhöht, bei seinen Willensentscheidungen eine bessere Wahl zu treffen. Psychologische Aussage: Der Mensch mit hoher Kompetenz fühlt sich freier in einem Auswahlprozess, bei dem er seine Kompetenz einbringen kann, ohne überfordert zu sein.

Mit dem guten Abiturzeugnis „stand ihr die Welt offen“ – sie fühlte sich also frei in ihrer Berufswahl. Die „freie demokratische Grundordnung“ ist eine der Grundfesten der deutschen Verfassung, wonach Jede(r) seine Potenziale als Mensch frei entfalten könne. Potenzial gibt Freiheit!

Mit dem Beispiel der Freiheit durch Kompetenz aufgrund des Abiturzeugnisses ist also schon ein klein wenig eine Freiheit „wofür“ einbezogen (z.B. um einen gewünschten Beruf wählen zu können und dabei nicht überfordert zu sein). Damit ist jedoch das übergreifende Charakteristikum einer „Freiheit wofür“ noch nicht übergreifend definiert (siehe dazu: fünfter Freiheitsbegriff).

Und es ist auch offensichtlich, dass einer negativen Freiheit (einer Freiheit von Einschränkungen) in der Regel eine positive Freiheit (eine Freiheit durch Potenzial) gegenübersteht. Wer frei von Hemmungen ist, kann z.B. sein Potenzial in der Kommunikation möglicherweise besser ausnutzen, um in den gewünschten Kontakt mit anderen Personen zu treten. Die Abgrenzungsdebatte zwischen negativer und positiver Freiheit wird hier nicht vertieft aufgegriffen.

„Denken macht frei“, sagte Wilhelm Griesinger, Begründer der modernen, naturwissenschaftlich orientierten Psychiatrie und Arzt an der Berliner Charité (1817–1868). So steht es auf dem Sockel seines Denkmals bei der Berliner Charité geschrieben. Auf der anderen Seite der Büste steht: „Die großen Gedanken kommen aus dem Herzen“. Schöne Sätze zur Freiheit durch Kompetenz – durch mentale und emotionale Kompetenz!

Freiheit durch Selbstreflexion

„Freiheit durch Selbstreflexion“ ist ein von mir hier eingeführter, sonst wenig üblicher Freiheitsbegriff, der jedoch mit ähnlicher Bedeutung als „Freiheit durch Selbstbestimmung“ oder „Freiheit durch Autonomie“ etabliert ist. Dabei nehme ich auf das „Selbst“ Bezug und ordne dem Selbst eine zentrale Bedeutung als Referenzpunkt für Freiheit zu. Dass beim Menschen ein Selbst existiert, wird als wesensmäßige Realität angenommen, die untrennbar mit dem Bewusstsein verbunden ist (vgl. Abschnitt 2.2). Es ist als Freiheit zu verstehen, wenn der Mensch die Chance hat, nach seinem eigenen Willen – nach dem Willen, der mit Meinigkeit verknüpft ist – zu handeln (vgl. Abschnitt 2.1).

Wenn keine relevanten grundsätzlichen Einschränkungen im Potenzial (in der Kompetenz) bei einer Willensbildung vorliegen und zusätzlich keine konkreten inneren oder äußeren Einschränkungen als solche erlebt werden, dann fühlt sich das Ergebnis der Willensbildung „stimmig“ oder authentisch an. „Ein authentischer Mensch kennt seine Stärken und Schwächen ebenso wie seine Gefühle und Motive für bestimmte Verhaltensweisen. Dies setzt Selbsterkenntnis durch Selbst- und Fremdwahrnehmung und Selbstreflexion voraus, um sich seiner selbst und seines Handelns bewusst zu werden.“20 Insofern bedeutet „Freiheit durch Selbstreflexion“ eine spezifische „Freiheit durch Kompetenz“, nämlich durch die Kompetenz in der Selbstreflexion.

Allerdings ist die Wahrnehmung als „authentisch“ nicht abgesichert: eine Selbsttäuschung kann bei diesem Freiheitsgefühl nicht ausgeschlossen werden, auch ein manipulierter Mensch kann sich möglicherweise als authentisch oder als „frei durch Selbstreflexion“ erleben.

Eine Freiheit durch Selbstreflexion fehlt, wenn z.B. ein Kind noch weitgehend in „seinem“ handlungswirksamen Wollen den Willen der Eltern ausführt, ohne eine Abwägung vorzunehmen, ob das „eigene“ Wollen nur das Wollen der Eltern übernimmt. Aber auch Erwachsene erleben es immer wieder: wir tun etwas, obwohl wir uns nicht wohl fühlen beim Ergebnis unserer Abwägung, vielleicht ein „schlechtes Gewissen“ haben, z.B. indem wir innerlich nicht akzeptierte Kompromisse eingehen, indem wir aus Sorge, nicht zu gefallen, unser authentisches Wollen im Handeln verleugnen, bis hin zur Akrasie21.

Die eher gebräuchlichen Freiheitsbegriffe, die ich hier nicht verwenden möchte, betreffen in ähnlicher Weise das Selbst, nämlich „Freiheit durch Autonomie“ oder „Freiheit durch Selbstbestimmung“. Je nach Definition von Autonomie und Selbstbestimmung können diese Begriffe ähnlich verstanden werden wie Freiheit durch Selbstreflexion, sind jedoch aus meiner Sicht zu missverständlich; dazu mehr in der späteren Diskussion (Abschnitt 3.5).

Der Begriff „Freiheit durch Selbstreflexion“ hat somit eine ontologisch-philosophische und eine psychologische Basis. Ontologische Aussage: Der Mensch erweitert seine Möglichkeiten durch die Selbstreflexions-Kompetenz, erhält also die zusätzliche Chance, bewusst die Kriterien angemessener in die Abwägung einzubeziehen, die seinem Selbstverständnis entsprechen. Dies erhöht seine Möglichkeit, die bessere Wahl bei der Entscheidung zu seinem handlungswirksamen Wollen zu treffen. Diese „bessere Wahl“ wird in Kapitel 3 auch als „höhere Qualität der Willensbildung“ bezeichnet (Abschnitt 3.9). Psychologische Aussage: Durch die Erfahrung der Selbstwahrnehmung und -reflexion fühlt sich der Mensch freier in einem Auswahlprozess – er vertraut darauf, seinen eigenen Willen authentisch wahrzunehmen und danach zu handeln – er fühlt sich „bei sich“.

Auch wenn es sich bei der „Freiheit durch Selbstreflexion“ um eine bestimmte „Freiheit durch Kompetenz“ handelt, sollte dem besonderen Aspekt der „Freiheit durch Selbstreflexion“ explizit Rechnung getragen werden, da sich das besondere Verhältnis zwischen dem Bewusstsein, dem Selbst und der Freiheit gegenüber sonstiger „Freiheit durch Kompetenz“ unterscheidet: Eine aus physischer, mentaler, emotionaler oder moralischer Kompetenz resultierende Handlungsoption kann erst zur bewussten Option bei der Willensbildung werden, wenn diese Kompetenz auch wahrgenommen und über Selbstreflexion der eigenen Person zugeordnet wird.

Willensfreiheit

Henrik Walter (1999) liefert eine Definition von Willensfreiheit, die hier (mit einer kleinen Klarstellung) übernommen werden soll. Sie besteht aus drei miteinander verknüpften Prinzipien:

„1. Alternativität: Der Handelnde hätte sich auch anders verhalten können, also im Moment der Entscheidung anders wollen können. Das Kriterium des Andershandelnkönnens oder Prinzip der alternativen Möglichkeiten … nimmt in der klassischen Willensfreiheitsdebatte eine zentrale Stellung ein.

2. Autonomie und Intelligibilität: Die Handlung ist autonom, d.h. unterlag der Kontrolle des Handelnden und war frei von äußeren oder inneren Zwängen, beruhte insbesondere auf selbstbestimmten, prinzipiell verständlichen Gründen – und nicht auf Zufall.

3. Urheberschaft: Der Handelnde allein und nur er muss Urheber seiner Willenswahl und damit dieser Handlung sein.“22

Im Punkt 2 (Autonomie und Intelligibilität) muss eine Unschärfe zum Begriff der Intelligibilität angesprochen werden. Walter grenzt den Begriff in seinen weiteren Ausführungen ein: „Im Alltag wird dieses Prinzip daran deutlich, dass als freie Handlungen vor allem solche angesehen werden, die durch überlegte, abgewogene und reflektierte Entscheidungen gekennzeichnet sind“ und ergänzt: „auf Grund bewusster Reflexion … (Intelligibilität)“23. Dieser Intelligibilitätsbegriff ist somit bei Walter offener verstanden als die Definition etwa durch die platonische Ideenlehre oder die Sichtweise von Immanuel Kant, wo die geistige Welt einschließlich des Bewusstseins und der Vernunft unabhängig von der sinnlichen Welt eine übergeordnete Rolle einnimmt. Ich interpretiere den Begriff der Intelligibilität hier vergleichbar mit dem Terminus der „bewusstseinsbegleiteten Abwägung“ in anderen Definitionen. Die Unschärfe des Autonomiebegriffs wird in Kauf genommen (vgl. jedoch Abschnitt 3.5 zur Problematik).

Die vorgestellte Definition von Willensfreiheit bezeichnet Henrik Walter als die Willensfreiheit „in starkem Sinne“. Der Freiheitsbegriff betrifft den Prozess der Willensbildung. Diese Begrifflichkeit entspricht dem Verständnis, wie ich Willensfreiheit in diesem Essay einordne.

Es gibt auch die Begrifflichkeit von „Willensfreiheit im schwächeren Sinne“ oder der „bedingten Willensfreiheit“, die verschiedene Einschränkungen gegenüber der oben genannten Definition beinhaltet24. Ich greife diese Thematik abgrenzend in Abschnitt 3.15 auf und begründe dort, weshalb mir eine Definition von Willensfreiheit in diesem schwächeren Sinn (oder als „bedingte Willensfreiheit“) als wenig hilfreich erscheint.

Es bleibt anzumerken, dass die vorgestellte Definition der Willensfreiheit auf das Ergebnis der Willensbildung, die Handlung, fokussiert, jedoch nicht mit dem Begriff der Handlungsfreiheit verwechselt werden sollte: bei der Willensfreiheit steht die Frage im Vordergrund, ob der Prozess frei ist, der in einem Ergebnis (der Umsetzung in der ausgewählten Handlung) mündet.

Handlungsfreiheit

Bei der Handlungsfreiheit wird nun das Ergebnis der Willensbildung dahingehend betrachtet, ob dieses Ergebnis eine Freiheit für die Umsetzung, also für die nun anstehende Handlung, beinhaltet. Die Abgrenzung wird in Abbildung 2 nochmals verdeutlicht.

Die Abbildung soll auch andeuten, dass die Handlungsfreiheit zwar die Willensbildung voraussetzt, dass aber die Handlungsfreiheit nicht notwendigerweise die Willensfreiheit voraussetzt.

Für die Handlungsfreiheit liefert Wikipedia eine erste Definition: „Das Handeln einer Person gilt als frei, wenn es ihr möglich ist, das zu tun, was sie will, also ihrer Natur nach eigenen Interessen und Motiven zu folgen. Wenn durch äußere oder innere Umstände die gewollten Handlungen nicht durchgeführt werden können, ist die Handlungsfreiheit eingeschränkt.“

Abbildung 2: Abgrenzung zwischen Willensfreiheit und Handlungsfreiheit (schematisch)

Diese Begrifflichkeit wird ähnlich für diesen Essay übernommen, jedoch aufgrund der Erkenntnisse zu den Voraussetzungen der Handlungsfreiheit im Folgenden modifiziert:

Handlungsfreiheit liegt vor, wenn für einen Mensch unter den gegebenen inneren und äußeren Bedingungen seiner Lebenssituation die Chance besteht, seinen eigenen Willen ins Handeln umzusetzen.

Je weniger innere und äußere Einschränkungen bestehen (Freiheit von Einschränkungen),

je umfassender die mentale, physische, emotionale und moralische Kompetenz (Freiheit durch Kompetenz),

je ausgeprägter die Selbstreflexion entwickelt (Freiheit durch Selbstreflexion),

desto größer ist die Chance, dass das handlungswirksame Wollen dem eigenen Willen zum Handeln entspricht. Der Freiheitsbegriff betrifft also das Ergebnis der Willensbildung: eine Prüfung des handlungswirksamen Wollens auf die daraus erwachsende Freiheit im Handeln. Der Mensch ist (graduell) unfrei, soweit sein eigener Wille wegen Einschränkungen, Kompetenzmangel, wenig entwickelter Selbstwahrnehmung geringe Chancen auf Umsetzung ins Handeln besitzt. Die Begriffe: „authentisches Wollen“ und „eigener Wille“ werden im Folgenden synonym verwendet.

Die veränderte Begrifflichkeit von Handlungsfreiheit gegenüber der Definition in Wikipedia wird in Abschnitt 3.7 und 3.15 erläutert.

2.4 Ist die Frage von Willensfreiheit verknüpft mit dem Determinismus?