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Ein bibliophiler Lyrikband mit 19 bislang unveröffentlichten Gedichten
Man kennt Sarah Kirsch als Dichterin der Pappeln und Gräser, des Sommerwindes und der Rauchschwalben, als Naturdichterin im emphatischen Sinne, die ihre Leser in freien Versen neu sehen und staunen lehrt. Neu sehen lernen und staunen sollte nun auch, wer Sarah Kirsch für eine apolitische Dichterin gehalten hat. Denn das war sie keineswegs. Das zeigt ein Glücksfund von neunzehn bislang völlig unbekannten Gedichten, entstanden noch in der DDR. Sie zeigen die Büchner-Preisträgerin als eine eminent politische Stimme, frei von Reim- und Denkzwängen, frei von politischer Bevormundung.
Der von Moritz Kirsch, dem Sohn der Dichterin, herausgegebene Auswahlband «Freie Verse» enthält neunundneunzig Gedichte, in denen die Idylle fern ist, aber das Zeitgeschichtliche nah und in jeder noch so harmlos scheinenden Gedichtzeile präsent. Die poetische Beschwörung Sarah Kirschs gilt in diesem Band nicht nur der Natur, sondern auch der menschlichen Umwelt, dem gesellschaftlichen System, das uns prägt und – ob wir es wollen oder nicht – bis in den hintersten Weltwinkel verfolgt. Von besonderem Wert sind in diesem Zusammenhang neunzehn erst kürzlich auf dem Dachboden wiederentdeckte Gedichte. Ausschlaggebend, dass Sarah Kirsch sie seinerzeit zurückhielt, waren offensichtlich politische und nicht literarische Gründe. Im Lichte des unveröffentlichten lassen sich auch dem bereits veröffentlichten Werk nun noch einmal ganz neue Facetten abgewinnen. Weit entfernt vom aufrührerischen, agitatorischen Ton eines Wolf Biermann oder vom zupackenden Gestus eines Volker Braun findet die Dichterin eine ganz eigene Form- und Bildsprache in der Auseinandersetzung mit ihrer Gegenwart, mit dem jeweiligen System und den Herrschenden.
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Seitenzahl: 71
Die Entdeckung der politischen Dichterin Sarah Kirsch – mit neunzehn bislang unveröffentlichten Gedichten, einem Glücksfund ihres Sohns Moritz Kirsch. Der von ihm herausgegebene bibliophile Band versammelt insgesamt neunundneunzig Gedichte, in denen die Idylle fern ist, aber das Zeitgeschichtliche nah und in jeder noch so harmlos scheinenden Gedichtzeile präsent. Die poetische Beschwörung der Büchner-Preisträgerin gilt in «Freie Verse» nicht nur der Natur, sondern auch der menschlichen Umwelt, dem gesellschaftlichen System, das uns prägt und – ob wir es wollen oder nicht – bis in den hintersten Weltwinkel verfolgt.
Von besonderem Wert sind in diesem Zusammenhang neunzehn erst kürzlich auf dem Dachboden wiederentdeckte Gedichte. Ausschlaggebend, dass Sarah Kirsch sie seinerzeit zurückhielt, waren offensichtlich politische und nicht literarische Gründe. Im Lichte des unveröffentlichten lassen sich auch dem bereits veröffentlichten Werk nun noch einmal ganz neue Facetten abgewinnen.
Die Autorin
Sarah Kirsch
Freie Verse
99 Gedichte
Herausgegeben und mit einem Nachwortvon Moritz Kirsch
MANESSE
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Jubiläumsausgabe
zum 85. Geburtstag Sarah Kirschs
am 16. April 2020
Den Umschlag gestaltete das Münchner Favoritbüro.
ISBN978-3-641-26595-3V001
www.manesse-verlag.de
Fahrt II
1
Aber am liebsten fahre ich Eisenbahn
Durch mein kleines wärmendes Land
In allen Jahreszeiten: der Winter
Wirft Hasenspuren vergessene Kohlplantagen
Durchs Fenster, ich seh die Säume der kahlen Bäume
Zarte Linie ums Geäst sie fahren heran
Drehn sich verlassen mich wieder
2
Im Frühjahr schreitet der Fasan vorbei
Seine goldenen Löwenzahnfedern
Machen ihn kostbar ich fürchte für ihn
Schon ist er verschwunden, zerbrochne Erde
Liegt schamlos am Bahndamm aber
Beim Schrankenhäuschen wird sie geebnet
Von Stiefmütterchen Pfingstrosenbüschen und Veilchen
Ich seh schon den Sommer, da
Wird das geflügelte Rad rotgestrichen
Der Schrankenwärter legt aus Steinen
Den Reisenden gute Wünsche
3
Arme Erde rußschwarz und mehlig
Schöne Gegenfarbe von Schwertlilien, die blau
Und mit seidig geäderten Blüten
In letzter Sonne stehn, das geht vorbei
Neue Bilder drehn sich der Zug ist so langsam
Daß ich die Pflanzen benennen kann
Jetzt die Robinien Weißes und Grünes Duft
Oder liegt auf den Pfennigblättern
Geriesel vom Kalkwerk
4
Die Fahrt wird schneller dem Rand meines Lands zu
Ich komme dem Meer entgegen den Bergen oder
Nur ritzendem Draht der durch Wald zieht, dahinter
Sprechen die Menschen wohl meine Sprache, kennen
Die Klagen des Gryphius wie ich
Haben die gleichen Bilder im Fernsehgerät
Doch die Worte
Die sie hörn die sie lesen, die gleichen Bilder
Werden den meinen entgegen sein, ich weiß und seh
Keinen Weg der meinen schnaufenden Zug
Durch den Draht führt
Ganz vorn die blaue Diesellok
Trauriger Tag
Ich bin ein Tiger im Regen
Wasser scheitelt mir das Fell
Tropfen tropfen in die Augen
Ich schlurfe langsam, schleudre die Pfoten
Die Friedrichstraße entlang
Und bin im Regen abgebrannt
Ich hau mich durch Autos bei Rot
Geh ins Café um Magenbitter
Freß die Kapelle und schaukle fort
Ich brülle am Alex den Regen scharf
Das Hochhaus wird naß, verliert seinen Gürtel
(ich knurre: man tut was man kann)
Aber es regnet den siebten Tag
Da bin ich bös bis in die Wimpern
Ich fauche mir die Straße leer
Und setz mich unter ehrliche Möwen
Die sehen alle nach links in die Spree
Und wenn ich gewaltiger Tiger heule
Verstehn sie: ich meine es müßte hier
Noch andere Tiger geben
Der Schnee liegt schwarz in meiner Stadt
Der Schnee liegt schwarz in meiner Stadt
Die Hunde gehn voll Schlamm und Rauch
Die Menschen sind um diese Zeit
Auf ihrem breiten Chaiselongue
Und essen warmes Brot
Nur Tauben brüllen auf dem Dach
Die suchen in den Schuppen Schutz
Sie denken schon ans nächste Nest
Und rupfen eine Feder los
Und legen sie ins Ziegelfach
Ich gehe aus im schwarzen Pelz
Ich red den Hunden freundlich zu
Da heulen sie und wedeln matt
Und zeigen mir den weißen Schnee
Der auf dem Judenfriedhof ist
Eines Tages
Eines Tages werde ich gewissenlos glücklich sein, da
Wird mich die Nachricht erreichen, ich weiß nicht
Ob Sommer ob wässriger Schnee ist, kann sein
Ich schäle Kartoffeln (versuch ohne
Das Messer zu lösen ein Band)
Einer wird es vor mir erfahren, er sagt es am
Telefon, möglich ich antworte nicht
Lege den Hörer zurück, rauch eine Zigarette
Schalte das Radio ein, gieße Blumen
Oder ich geh auf die Straße in Läden auf Plätze
Um zu bemerken, daß alles wie immer geschieht
Die Leute drängen sich vor, anderswo
Wird eine Kundgebung organisiert, Mikrofonprobe
Der Redner schreibt eine langweilige Rede
An diesem Tag
Werde ich Marschmusik lieben und Schalmein
Ich warte auf ihn wenn mich die Nachricht erreicht
Der Krieg ist vorbei, die ich nicht meine Brüder nenne, falln
Ein Schwarm Fliegen, mit ihren Flugzeugen, Schiffen, Kanonen
Zurück in ihr Land
Legende über Lilja
1
Ob sie schön war ist nicht zu verbürgen zumal
Die Aussagen der überlebenden Lagerbewohner
Sich widersprechen schon die Farbe des Haars
Unterschiedlich benannt wird in der Kartei
Sich kein Bild fand sie soll
Aus Polen geschickt worden sein
2
Im Sommer ging Lilja barfuß wie im Winter und schrieb
Sieben Briefe
3
Sechs drahtdünne Röllchen wandern
Durch Häftlingskittel übern Appellplatz kleben
An müder Haut stören den Schlaf erreichen
Den man nicht kennt (er kann nicht
Zeuge sein beim Prozeß)
4
Das siebente gab einer gegen Brot
5
Lilja in der Schreibstube Lilja unterwegs Lilja im Bunker
Schlag mit der Peitsche den Namen warum sagt sie nichts wer weiß das
Warum schweigt sie im August wenn die Vögel
Singen im Rauch
6
Einer mit Uniform Totenkopf am Kragen Liebhaber
Alter Theaterstücke (sein Hund mit klassischem Namen) erfand
Man sollte ihre Augen reden lassen
7
Durch die gefangenen Männer wurde eine Straße gemacht
Eine seltsame Allee geplünderter Bäume tat sich da auf
Hier sollte sie gehen und einen verraten
8
Nun brauch deine Augen Lilja befiehl
Den Muskeln dem Blut Sorglosigkeit hier bist du oft gegangen
Kennst jeden Stein jeden
Stein
9
Ihr Gesicht ging vorbei
Sagten die Überlebenden sie
Hätten gezittert Lilja wie tot ging ging
Bis der Mann dessen Hund Hamlet hieß
Brüllte befahl genug
10
Seitdem wurde sie nicht mehr gesehen
11
Andere Zeugen sagten sie habe auf ihrem Weg
Alle angelächelt sich mit den Fingern gekämmt
Sei gleich ins Gas gekommen – das war
Über zwanzig Jahr her –
12
Alle sprachen lange von Lilja
13
Die Richter von Frankfurt ließen im Jahr 65 protokollieren
Offensichtlich
Würden Legenden erzählt dieser Punkt
Sei aus der Anklage zu streichen
14
In dem Brief soll gestanden haben wir
Werden hier nicht rauskommen wir haben
Zu viel gesehn
Der Milchmann Schäuffele
Der Milchmann Schäuffele aus Böhmen
Fährt einen kleinen Wagen der ist wie ein Haus
Wenn es regnet wird er nicht naß nur wenn er anhält
Tropft Wasser von seinem Hut, da gibt
Er reichlich ins Maß in Emailletöpfe bauchige Gläser
Schäuffele hat eine Glocke und einen Riemen dran
Kommt er hört mans deutlich
Schäuffele
Was hast du für ein Pferd?
Ich denk einen Apfelschimmel sagt er
morgens
Die weiße Milch nachmittags weil ich Zeit hab keine Familie
Helf ich auf dem anderen Wagen fahr die gestorben sind
Schäuffele
Du bekommst zweierlei Zaumzeug eine
Blaue Schürze die nach Käsen riecht
Einen schwarzen Rock weil man muß Farbe bekennen und
Einen runden glänzenden Hut dem hängt
Ein Wölkchen Räucherwerk an
ist gut
Sagt der Milchmann obwohl
Das Rauchwerk mir wenig gefällt, er steigt