Krähengeschwätz - Sarah Kirsch - E-Book

Krähengeschwätz E-Book

Sarah Kirsch

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Beschreibung

75 Jahre Sarah Kirsch

"Moorgeschrey und Lerchengedröhn" – Sarah Kirschs poetische Kraft durchdringt auch ihre Tagebuchaufzeichnungen. Meisterhaft verbindet sie in ihren Notaten aus den achtziger Jahren Alltagsbeobachtungen und Poetisches, Persönliches und Politisches. Immer scheinen die Sinne aufs Höchste geschärft, und so, eins mit der Natur, strahlt die Prosa mit einer elementar erdhaften Kraft.

Sarah Kirschs Miniaturprosa schillert, leuchtet, glimmt mal traumgleich-elegisch, dann ironisch-kommentierend oder heiter. In "Krähengeschwätz" versammelt sie lyrische Nachrichten aus den Jahren 1985 bis 1987 – Jahre, in denen die Anfang der Achtziger aus der DDR ausgewanderte Autorin sich gesellschaftlich engagiert. Getragen von kritischem Zeitbewusstsein entfaltet ihre Prosa eine gebrochene Bukolik. Und zugleich ist ihre persönliche Chronik von der Natur durchtränkt: "Triefende Nebellaken, schwarz blühendes Feiertagsgras, Kniekehlenküsse und Zittern" werden abgelöst von den herbstlichen Stürmen, dann "pfeift der nächste Orkan aufm Schlüssel ums Haus, die Wolken zerreißen sich und die Bäume küssen die Erde". Erneut zeigen diese Aufzeichnungen die im Einklang mit den Jahreszeiten lebende Schriftstellerin, die Erlebnisse und Reflexionen über ihre Gegenwart und die Welt zu einer harmonischen Einheit führt.

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Seitenzahl: 93

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Inhaltsverzeichnis
Titel
7. März 1985, Donnerstag
8. März 1985, Freitag
12. März 1985, Dienstag
14. März 1985 Donnerstag
17. März 1985, Sonntag
18. März 1985, Montag
20. März 1985, Mittwoch
23. März 1985, Samstag
24. März 1985, Sonntag
25. März 1985, Montag
26. März 1985, Dienstag
31. März 1985, Sonntag
1. April 1985, Montag
23. April 1985, Dienstag
24. April 1985, Mittwoch
9. Mai 1985, Donnerstag
10. Mai 1985, Freitag
14. Mai 1985, Dienstag
28. Mai 1985, Dienstag
30. Mai 1985, Donnerstag
31. Mai 1985, Freitag
2. Junius 1985, Sonntag
10. Junius 1985, Montag
11. Junius 1985, Dienstag
20. Junius 1985, Donnerstag
25. Junius 1985, Dienstag
1. Julius 1985, Montag
3. Julius 1985, Mittwoch
4. Julius 1985, Donnerstag
5. Julius 1985, Freitag
Chiropteren
8. Julius 1985, Montag
17. Julius 1985, Mittwoch
22. Julius 1985, Montag
23. Juli 1985, Dienstag
29. Juli 1985, Montag
30. Julius 1985, Dienstag
31. Julius 1985, Mittwoch
Pflanzenleben
9. August 1985, Freitag
16. August 1985, Freitag
20. Augustus 1985, Dienstag
31. Augustus 1985, Samstag
7. September 1985, Samstag
8. September 1985, Sonntag
13. September 1985, Freitag
22. September 1985, Sonntag
24. September 1985, Dienstag
30. September 1985, Montag
21. Oktober 1985, Montag
7. November 1985, Donnerstag
14. November 1985, Donnerstag
30. November 1985, Samstag
9. Dezember 1985, Montag
18. Dezember 1985, Mittwoch
19. Dezember 1985, Donnerstag
29. Dezember 1985, Sonntag
5. Januar 1986, Sonntag
9. Januar 1986, Donnerstag
18. Januar 1986, Samstag
19. Januar 1986, Sonntag
23. Januar 1986, Donnerstag
25. Januar 1986, Samstag
14. Februar 1986, Freitag
21. Februar 1986, Freitag
24. Februar 1986, Montag
28. Februar 1986, Freitag
2. April 1986, Mittwoch
11. April 1986, Freitag
24. April 1986, Donnerstag
Schneewärme
26. April 1986, Samstag
4. Mai 1986, Sonntag
9. Mai 1986, Freitag
10. Mai 1986, Samstag
19. Mai 1986, Pfingstmontag
21. Mai 1986, Mittwoch
Demetrius
22. Mai 1986, Donnerstag
8. Junius 1986, Sonntag
11. Juni 1986, Mittwoch
18. Junius 1986, Mittwoch
23. Junius 1986, Montag
6. Julius 1986, Sonntag
22. Julius 1986, Dienstag
27. Julius 1986, Sonntag
30. Julius 1986, Mittwoch
2. September 1986, Dienstag
15. Oktober 1986, Mittwoch
22. Oktober 1986, Mittwoch
Dunkelheit
2. Dezember 1986, Dienstag
Entfernung
11. Dezember 1986, Donnerstag
Eisrosen
30. Dezember 1986, Dienstag
2. Januar 1987, Freitag
8. Januar 1987, Donnerstag
17. Januar 1987, Samstag
27. Januar 1987, Dienstag
31. Januar 1987, Samstag
3. Februar 1987, Dienstag
6. Februar 1987, Freitag
9. Februar 1987, Montag
10. Februar 1987, Dienstag
14. Februar 1987, Samstag
Der Frühling
25. Februar 1987, Mittwoch
28. Februar 1987, Samstag
1. März 1987, Sonntag
20. März 1987, Freitag
22. Märzen 1987, Sonntag
23. Märzen 1987, Montag
29. März 1987, Sonntag
7. April 1987, Dienstag
11. April 1987, Samstag
17. April 1987, Freitag
27. April 1987, Montag
30. April 1987, Donnerstag
13. Mai 1987, Mittwoch
26. Mai 1987, Dienstag
10. Junius 1987, Mittwoch
26. Junius 1987, Freitag
28. Junius 1987, Sonntag
13. Julius 1987, Montag
23. Julius 1987, Donnerstag
27. Julius 1987, Montag
28. Julius 1987, Dienstag
3. August 1987, Montag
19. August 1987, Mittwoch
28. Augustus 1987, Freitag
3. September 1987, Donnerstag
12. September 1987, Samstag
14. September 1987, Montag
27. September 1987, Sonntag
2. Oktober 1987, Freitag
7. Oktober 1987, Mittwoch
11. Oktober 1987, Sonntag
29. Oktober 1987, Donnerstag
31. Oktober 1987, Samstag
7. November 1987, Samstag
25. November 1987, Mittwoch
27. November 1987, Freitag
30. November 1987, Montag
3. Dezember 1987, Donnerstag
5. Dezember 1987, Samstag
15. Dezember 1987, Dienstag
Copyright
7. März 1985, Donnerstag
Die lange Reise durch Rumänien, auf der ich Pentti kennenlernte, geschah 1966. Danach trafen wir uns in Prag, das war noch im selben Jahr, vierzehn Tage vor Weihnachten, voll in der Dubček-Aera. Ich habe grade ein Notizbuch gefunden, worin allerlei Sätze stehen, die er da niederlegte. Erinnerungen an den Deutschunterricht in der finnischen Schule, Sätze die er für mich deklamierte, so oft ich ihn darum bat. »Es ist Winter, die Luft ist kalt, die Erde ist hart. Da leidet der Hase im Walde Not, denn er findet keine Nahrung. Der Jäger kommt.« Und Titel von Büchern, die ich partout lesen müsse setzte er darunter. Damals knallte er sein Prag-Buch gleich in die Maschine. Während ich neben ihm saß. Immerdar in meiner Lammpelzjacke, für Heizöl hatten wir kein Geld. Und wie war ich nach Prag gekommen? Man konnte schließlich nicht aus der DDR wegfahren wohin man grad wollte. Ich hatte mir eine Einladung von Sabine besorgt, die in Prag Puppenspiel studierte, schon saß ich im Zug, und Rainer war sich wohl nicht so sicher, ob ich je wiederkäme. Ich betrachtete Pentti als meinen vollkommenen Freund und wir haben viel Blödsinn getrieben aber auch tage- und nächtelang über Gedichte gesprochen, wie sie beschaffen sein müssten, welche als Maßstab zu gelten hätten.
8. März 1985, Freitag
Manchmal rezitiert er den ganzen »Erlkönig« für mich, sehr dramatisch mit hartem Akzent, und wir ersticken nahezu vor Lachen. Wir leben in einer kleinen Zweitwohnung von Herrn Veselý, der himmelblaue Halstücher trägt und dessen Schädel wie der Mond leuchtet, wenn er uns mal besucht. Es gibt weiße Wände und Pornographie in den Schränken. Der Ofen arbeitet nicht. Die Toilette ist auf dem Balkon. Pentti kauft zwei Eier für den letzten Tag. Seine Uhr zeigt stets die halbe Stunde. Wenn er seine Schreibmaschine betreibt, sieht er sehr zornig aus. Die Maschine ist vor Jahren in der DDR hergestellt worden. Ich hab in der DDR eine Schreibmaschine aus der ČSSR – so ist Handel im Sozialismus sage ich.
12. März 1985, Dienstag
Il Compositore aber hatte ein Konzert in Amsterdam und Maurizio begleitete ihn und besuchte das Konzert und die schönen Galerien. Währenddessen ich für das TV schuften musste. Und Robert als Neufundländer freute sich und war überzeugt, dass das Team seinetwegen kam, und so lief er durch die Bilder als schwarzer Faden. Heute hat Maurizio Geburtstag, schwänzt noch einmal die Schule, weil er KO von der langen Autofahrt ist. Jetzt ist er sechzehn, bekam Klaviernoten und ein Kunstlexikon fettester Art. Der Kater ist beglückt über die Rückkehr seines Zimmergenossen. Die Schafsnasen könnten in zehn Tagen lammen. Toula das sensible Tier ist schon ganz in sich gekehrt. Ich kann also nicht, wie es geplant war mit dem Tonsetzer zu einem weiteren Konzert nach Darmstadt fahren. Ich muss bei meinen Schafen ja wachen.
14. März 1985 Donnerstag
Luft und Wasser
Aus dem Sumpfland fliegt mir die Eule Auf breiten Flügeln über den Strom Ihre Federn berühren das Wasser Das sich nun teilte ich sah Meiner Schwester Gesicht höre den Wind Schilfhalme leichter bewegen und Wolken Ziehen auf die Nacht zu verkünden.
Viel wehes Geräusch vom anderen weiteren Ufer die grauen Reiher verneigen sich Auf toten Bäumen eh sie noch schlafen. Es ist spät ich kehre hinter Türen zurück. Der Teekessel brummt auf dem Feuer Und verkleidete Könige reiten draußen Auf herrlichen Pferden vorüber.
17. März 1985, Sonntag
Gestern haben wir die Schafs-Damen von ihrer gegenwärtigen Weide auf die anschließende Koppel mit der niederen Hütte geleitet, in welcher Paula geboren wurde. Die Schafe bedürfen der Ruhe. Igor das Böckchen und Bilbo der Esel sind zu hektisch für ihren Zustand. Die Änderung missfiel den Herren, sie tobten und rannten wie in der Manege. Ab 21. März kann es Lämmerkens geben. Ich bin sehr aufmerksam. Thekla hat das bedeutendste Euter bisher. Man muss viel mit den Schwangeren sprechen.
Mir träumte, ich sei auf meinem Esel ins Moor geritten, die Füße schwebten dicht über den Wasserlöchern, doch blieben sie trocken. Aus seinen Hufabdrücken, die sich mit schwarzem Wasser füllten, wuchs gleich der Blutwurz. Ein schöner Anblick, wenn ich nach rückwärts mich wandte. Vor uns unbestimmbare Dämmerung, kleine zusammengeschobene Gagelsträucher und schrilles Tönen des Winds, das zunehmend lauter wurde.
Ich weiß nicht, ob ich zu jenem leichtgläubigen Wesen mit dem Mittelscheitel, den Messingspangen über den Ohren, Zöpfen bis zu den Kniekehlen hin, die stets im Begriff sind sich aufzulösen, ob ich ich zu ihm sagen soll oder sie oder es, oder das Kind, ein Kind, weil dies Weidenblatt seit ehmaliger Zeit sich verwandelt hat, eine wandernde Seele gar abgab. Stak es vorher in einem Lamm fest, das ängstlich blökte, wenn es die Mutter nicht sah, so ist es später gestreunt, dem Balg einer Tigerin eingeschlüpft, listenreich scharfer Zähne. Reißt das dampfende Maul auf zum Fauchen und Fluchen, war einst zu Bescheidenheit, Nachgiebigkeit erzogen, in fröhlicher Armut, einem Haus asozialer Familien.
Meine Arbeitsmethode sie besteht darin, dass ich manche Texte in ein Mäppchen für Gedichte lege, andere in eines für Prosa. Die Unterscheidung fällt mir nicht schwer. Beim Sammeln und Sortieren organisieren sich die Gebilde in bestimmte Bahnen und bringen weitere Sätze hervor.
18. März 1985, Montag
Il Compositore und Robert befinden sich im Garten, herabgewehte Äste und Ästlein auflesen zum Feueranzünden. Sie rufen und bellen und winken mir zu. Maurizius studiert alles Mögliche über Physik weil sie morgen eine Arbeit schreiben. Minus ein Grad, mehr nicht! wie Göthe so trefflich sagte. Was zu »mehr Licht!« verballhornt wurde.
Eines Nachts, als der Vollmond erglühte, später sein Licht weit in die Ebene goss, unaufhaltsam, auch mir ins Gesicht schien, und ich im unruhigen Halbschlaf überlegte, wie ich dem Esel sein Schrot darreichen könnte, ohne dass die zahlreicher gewordenen Schafe sich daran vergriffen, da sah ich plötzlich die Pferde der Kindheit aus der Vergessenheit treten mit ihren Namen, den umgehängten Futterbeuteln, das Maul darinnen nach vierzig Jahren.
20. März 1985, Mittwoch
Als der Compositeur gestern aus Dellstedt von der Chorprobe kam, da hatte er einen im Krönchen, so hatten die Sänger sich schließlich für seine Mühe bedankt. Bevor er losfuhr, zog er wie das Weiße Kaninchen seine Taschenuhr aus der Weste und rief Oh Jeminee, Oh Jeminee, es ist schon spät! so wie wir ihn zum ersten Male in der Villa Massimo erblickten. Er konnte Armbanduhren seines feinen Gehöres wegen nicht verkraften, und die schwere silberne Taschenuhr aus einer Sonderbaureihe für emeritierte türkische Lokomotivführer war ein Geschenk seines Vaters zum Beginn seines Studiums an der Musikhochschule.
Heute Abend fahren wir, das Weiße Kaninchen mitsamt der Taschenuhr und meine kleene Person nach Kappeln, weil ich dort lesen muss. Geteiltes Leid ist doppeltes Leid. Die Knete brauchen wir für unser kleines Landgütlein allhie.
Jetzt sitze ich in meiner Schreibstube über den Wolken und habe mir gerade an der Tür einen Aufkleber der Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger angebracht, denn für die Gestrandeten wird hier im Norden am Saum der See stets noch gesammelt. Und wenn man dreimal sein Scherflein hingab, wird man automatisch zum Mitglied. So betrachte ich mich als Eine, die versucht, irgendetwas zu retten. Schippere jede Nacht in einem der Seenotrettungskreuzer umher und jage die Weltmeere durch und scheitere selbstverständlich in knapper Zeit, aber bis dahin fliegen wir noch, Seele, sagen die Slawen.
23. März 1985, Samstag