Freud und das Vermächtnis des Moses - Richard J. Bernstein - E-Book

Freud und das Vermächtnis des Moses E-Book

Richard J. Bernstein

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Beschreibung

Richard Bernsteins "Freud und das Vermächtnis des Moses" ist nicht nur ein fundierter Kommentar zu Freuds Engführung von Religionsgeschichte und Psychohistorie, sondern stellt auch den vorläufig letzten Höhepunkt im Rahmen der (post-)modernen Neubewertung des Freud'schen Œuvres dar.

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Richard J. Bernstein, 1932 geboren, ist Professor für Philosophie und lehrte unter anderem an der Yale University und der Hebrew University. Derzeit unterrichtet er an der New School in New York. Neben Arbeiten über John Dewey und den amerikanischen Pragmatismus publizierte er Schriften zu Habermas und Hannah Arendt.

Richard J. Bernstein

Freud und das Vermächtnisdes Moses

Aus dem Englischen von Dirk Westerkamp

Titel der Originalausgabe: Freud and the Legacy of Moses

Cambridge University Press 1998

© Richard J. Bernstein 1998

Die Zitate Sigmund Freud folgen der Studienausgabe von

Sigmund Freuds Werken © S. Fischer Verlag GmbH,

Frankfurt am Main 1974.

Verlag und Übersetzer danken der Herausgeberin der Werke

Sigmund Freuds, Frau Ilse Grubrich-Simitis, für die freundliche Hilfe

beim Zustandekommen dieser Ausgabe.

© E-book-Ausgabe CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2020

© der deutschen Ausgabe 2003 by Philo Verlagsgesellschaft mbH,

Berlin/Wien

Alle Rechte vorbehalten.

Aus dem Englischen von Dirk Westerkamp

Covergestaltung: nach Entwürfen von MetaDesign

Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher »Europa« (1945)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Übersetzung, Vervielfältigung(auch fotomechanisch), der elektronischen Speicherung aufeinem Datenträger oder in einer Datenbank, der körperlichen undunkörperlichen Wiedergabe (auch am Bildschirm, auch auf dem Wegder Datenübertragung) vorbehalten.

eISBN 978-3-86393-555-9

Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter

www.europaeische-verlagsanstalt.de

Für Skylar, Tessa und Maya

Allem, was mit der Entstehung einer Religion, gewiß auch der jüdischen, zu tun hat, hängt etwas Großartiges an, das durch unsere bisherigen Erklärungen nicht gedeckt wird.

(Sigmund Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion, S. 573.)

Wir wollten erklären, woher der eigentümliche Charakter des jüdischen Volkes rührt, der wahrscheinlich auch seine Erhaltung bis auf den heutigen Tag ermöglicht hat.

(Sigmund Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion, S. 568.)

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1

Der ägyptische Ursprung des Monotheismusund die Ermordung Moses’

Prolog

Die Erzählhandlung

Die These: Moses war ein Ägypter

Die Ellipse: Wenn Moses ein Ägypter war…

Moses’ Monotheismus: Erste Hinweise

Historisches Zwischenspiel: Von Wien nach London

Kapitel 2

Tradition, Trauma und die Wiederkehr des Verdrängten

„Das wichtigste Stück des Ganzen“

Tradition: Das Problem der „Lücke“

Vom Totemismus zum Monotheismus

Mündliche Tradition

Freuds Lamarckismus?

Schwierigkeiten

Tradition: Das Zusammenspiel bewußter und unbewußter Erinnerungsspuren

Historische Wahrheit

Kapitel 3

Antisemitismus, Christentum und Judentum

Antisemitismus und Christentum

Der Vorwurf: „Was ist an dir noch jüdisch?“

Kapitel 4

„Dialog“ mit Yerushalmi

Anhang

Ein Briefwechsel zwischen Sigmund Freud und Lou Andreas-Salomé

Amerkungen

Literaturverzeichnis

A. Werke von Sigmund Freud

B. Sekundärliteratur

Sach- und Titelregister

Personenregister

Vorwort

Der Mann Moses und die monotheistische Religion, das letzte Buch, das Freud noch selbst veröffentlicht hat, ist eine seiner umstrittensten, problematischsten wie zugleich anregendsten Arbeiten. Die Faszination für die Figur des Moses zieht sich durch Freuds gesamtes Leben. Während der letzten Jahre schien er wie gebannt von dem „großen Mann“ und seinem schwierigen Vermächtnis – ein Vermächtnis, das in der Vergangenheit gründet, die Gegenwart bestimmt und die Zukunft beeinflußt. Dennoch zögerte Freud bis zuletzt, seine Studien zu veröffentlichen. Es gab nicht wenige, die ihn baten, sie nicht zu publizieren oder doch zumindest einige ihrer provokantesten Behauptungen abzumildern. Freuds These, Moses sei ein Ägypter gewesen, der von den Israeliten in der Wüste ermordet wurde, erschien (geschrieben am Vorabend der Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden) nicht nur skandalös, sondern auch ohne jede solide historische Grundlage. Man fragt sich, was Freud dazu bewogen haben mochte, ein solches Buch zu veröffentlichen. Und dennoch: dem Porträt, das Freud von Moses und seinem Monotheismus zeichnet, hängt etwas Großartiges an.

Das Buch, 1939 veröffentlicht, provozierte bald nach seinem Erscheinen polemische Reaktionen. Selbst Freuds Anhänger brachte die schon in ihrem formalen Aufbau ungelenk anmutende und verwirrende Arbeit in Verlegenheit. Und die inhaltlichen „Argumente“ erschienen so offensichtlich abwegig, daß die ersten Interpreten dazu neigten, sich auf die Suche nach Freuds verdeckten und unbewußten Motiven zu konzentrieren. Ihnen ging es um die persönlichen Konflikte, die das Buch zu enthüllen schien, nicht um die sorgfältige Analyse dessen, was es tatsächlich sagt.

Immer wieder habe ich mich in den letzten Jahren Freuds Moses-Studie zugewandt. Ich bin zu der Überzeugung gekommen, daß der Kern der Geschichte, die Freud uns erzählt, mit seinem Ringen um die Formulierung dessen zu tun hat, was er für das Wesen des (oder seines) Jüdischseins hält; es geht um die Frage nach dem Fortbestand des Judentums und den tiefen psychologischen Wurzeln des Antisemitismus. Die These, die ich in diesem Buch verteidigen möchte, lautet: Freud versucht in Der Mann Moses eine Frage zu beantworten, die er bereits in dem Vorwort zur hebräischen Übersetzung von Totem und Tabu gleichsam an sich selbst gerichtet hatte. Freud charakterisiert sich dort als jemanden, der nicht nur die Religion seiner Väter aufgegeben, sondern sich aller Religion entfremdet habe. Er fragt: „Was ist an dir noch jüdisch, wenn du alle diese Gemeinsamkeiten mit deinen Volksgenossen aufgegeben hast?“, und antwortet: „Noch sehr viel, wahrscheinlich die Hauptsache.“ Und trotz des Eingeständnisses, diese „Hauptsache“ gegenwärtig nicht in „klare Worte fassen“ zu können, glaubt Freud, sie werde „sicherlich später einmal wissenschaftlicher Einsicht zugänglich sein“.1Es ist die Antwort auf eben diese Frage, die wir in Der Mann Moses und die monotheistische Religion finden.

Jahrzehntelang gab es so gut wie keine wirklich ernste und sorgfältige Auseinandersetzung mit diesem Werk. Diese Situation hat sich in den letzten zehn Jahren radikal geändert, das Buch eine fast explosionsartige Aufmerksamkeit erfahren. Es scheint, als setzte sich die verspätete Erkenntnis durch, Der Mann Moses gehöre zu den bedeutendsten Arbeiten Freuds. Denker ganz verschiedener Disziplinen ließen sich von Freuds dramatischer Erzählung, die von der ägyptischen Herkunft Moses’ und den Auseinandersetzungen um einen ethisch anspruchsvollen und den Charakter des Judentums formenden mosaischen Monotheismus handelt, in den Bann ziehen. Zur Hebung des begrifflichen Niveaus der Auseinandersetzung hat insbesondere Yosef Hayim Yerushalmis Buch Freuds Moses. Endliches und unendliches Judentum2 beigetragen. In Yerushalmis Arbeit sind die immensen Kenntnisse des exzellenten Historikers der jüdischen Tradition und Geschichte eingeflossen. Doch so sehr ich Yerushalmis Formulierungsgabe und Urteilskraft bewundere, so sehr zweifle ich, ob er Freud in seinem Buch wirklich gerecht wird. Denn ich möchte behaupten, daß Yerushalmis Hauptkritikpunkt an Freud – der Vorwurf, Freud habe sein Verständnis der jüdischen Tradition weitgehend auf das Fundament eines „diskreditierten Lamarckismus“ gestellt – uns gerade um einige der vielleicht produktivsten und fruchtbarsten Einsichten des Moses-Buchs bringt. Wichtige Anregungen hat meine Studie ferner von Jacques Derridas Dem Archiv verschrieben3 empfangen – eine Arbeit, die über weite Strecken Yerushalmis Buch kommentiert. Aus Gründen, die ich noch näher zu erläutern haben werde, stimme ich mit zahlreichen der kritischen und dekonstruktiven Bemerkungen Derridas überein. Als ich die erste Fassung dieses Buchs fertigzustellen begann, hatte ich schließlich das Glück, noch die Korrekturfahnen von Jan Assmanns Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur4 lesen zu können. Wenngleich Assmann, einer der führenden Ägyptologen, seine detaillierten Kenntnisse der ägyptischen Geschichte, Texte und Theologie zur Interpretation Freuds heranzieht, so liegt doch sein Hauptinteresse auf dem, was er „Gedächtnisgeschichte“ nennt: Assmann untersucht die Stellung des Ägypters Moses innerhalb der Geschichte des kulturellen Gedächtnisses des europäischen Monotheismus. Ich habe versucht, diese äußerst originelle Deutung von Freuds Der Mann Moses in meine Darstellung einzubeziehen. In jedem Fall aber werte ich den Umstand, daß so wichtige und aus so unterschiedlichen Disziplinen und kulturellen backgrounds kommende Denker wie Yerushalmi, Derrida und Assmann sich dem Mann Moses und die monotheistische Religion zugewandt haben, als eine weitere eindrucksvolle Bestätigung des produktiven Potentials, das in Freuds letztem Buch steckt.

Ich möchte im folgenden zunächst die Voraussetzungen meiner Freud-Interpretation klären. Wir sind uns, so meine ich, bis heute weder ganz darüber im klaren, was Freud sagt, noch haben wir angemessen die Fruchtbarkeit seines Nachdenkens über den Gehalt der religiösen Tradition und die unbewußten Prozesse ihrer Überlieferung gewürdigt. Ich glaube allerdings auch, daß Freud dem Gehalt des Judentums am Ende nicht gerecht geworden ist. Er neigt dazu, die schöpferische Einbildungskraft der Rituale, Zeremonien, Erzählungen, Bräuche und kulturellen Praktiken zu unterschätzen, die gerade die Mittel zur (bewußten oder unbewußten) Überlieferung dessen sind, was Freud als die große Errungenschaft des mosaischen Monotheismus herausstellt: den Fortschritt in der Geistigkeit. Ich verzichte darauf, diesen Kritikpunkt hier zu entfalten, da ich der Überzeugung bin, daß eine konstruktive Kritik nur an den stärksten und kohärentesten Formulierungen Freuds ansetzen sollte. Dies ist die begrenzte, wenn auch komplexe Aufgabe, die ich mir in diesem Buch gestellt habe.

Für ihre Lektüre des ersten Entwurfs dieser Studie habe ich zahlreichen Freunden zu danken. Ihre instruktiven und kritischen Kommentare waren mehr als hilfreich; sie haben mich dazu bewegt, den gesamten Entwurf noch einmal zu überarbeiten. Ich konnte mir nicht alle Einwände zu eigen machen, bin aber sicher, daß die perspektivenreiche Kritik viel zur Verbesserung des Textes beigetragen hat. Vor allem bin ich dankbar für die Hilfe von Kollegen ganz verschiedener Disziplinen: Carol Bernstein (Literaturwissenschaft), Edward Casey (Philosophie), Louise Kaplan (Psychoanalyse), Wayne Proudfoot (Religionswissenschaft), Joel Whitebook (Philosophie und Psychoanalyse), Nicholas Woltersdorff (Philosophie und philosophische Theologie) und Eli Zeretsky (Geschichte). Ich möchte ferner meiner Forschungsassistentin, Lynne Taddeo, für Rat und Hilfe bei der Vorbereitung meines Manuskripts für die Publikation danken.

Jan Assmann beschreibt, wie er, einmal damit begonnen, die Arbeit an seinem Freud-Buch nicht mehr aus der Hand legen konnte, um sich anderen Projekten zu widmen, bevor es nicht fertiggestellt war. Der Diskurs über Moses, schreibt er, hatte ein Eigenleben gewonnen, dem man sich nicht entziehen konnte. Auch ich habe diese zwingende Kraft und produktive Unruhe gespürt. Ich bin sicher, daß Freud dies bestens verstanden hätte.

Kapitel 1

Der ägyptische Ursprung des Monotheismus und die Ermordung Moses’

Prolog

Im Dezember 1930 schreibt Freud ein kurzes, aber bemerkenswertes Vorwort für die hebräische Übersetzung von Totem und Tabu:

„Keiner der Leser dieses Buches wird sich so leicht in die Gefühlslage des Autors versetzen können, der die heilige Sprache nicht versteht, der väterlichen Religion – wie jeder anderen – völlig entfremdet ist, an nationalistischen Idealen nicht teilnehmen kann und doch die Zugehörigkeit zu seinem Volk nie verleugnet hat, seine Eigenart als jüdisch empfindet und sie nicht anders wünscht. Fragte man ihn: Was ist an dir noch jüdisch, wenn du alle diese Gemeinsamkeiten mit deinen Volksgenossen aufgegeben hast?, so würde er antworten: Noch sehr viel, wahrscheinlich die Hauptsache. Aber dieses Wesentliche könnte er gegenwärtig nicht in klare Worte fassen. Es wird sicherlich später einmal wissenschaftlicher Einsicht zugänglich sein.

Für einen solchen Autor ist es also ein Erlebnis ganz besonderer Art, wenn sein Buch in die hebräische Sprache übertragen und Lesern in die Hand gegeben wird, denen dies historische Idiom eine lebende ‚Zunge‘ bedeutet. Ein Buch überdies, das den Ursprung von Religion und Sittlichkeit behandelt, aber keinen jüdischen Standpunkt kennt, keine Einschränkung zugunsten des Judentums macht. Aber der Autor hofft, sich mit seinen Lesern in der Überzeugung zu treffen, daß die voraussetzungslose Wissenschaft dem Geist des neuen Judentums nicht fremd bleiben kann.

Wien, im Dezember 1930.“1

Wie so viele Passagen der Prosa Freuds ist auch diese Textstelle eigentümlich schnörkellos, komplex und provokativ zugleich. Was meint Freud, wenn er sagt, er sei, ungeachtet seiner Entfremdung von der „väterlichen Religion – wie jeder andern“, dem Wesen nach Jude? Was heißt es, wenn er vermutet, daß dieses Wesentliche „sicherlich später einmal wissenschaftlicher Einsicht zugänglich sein“ werde? Ein Grund für die Provokation, die dieses Vorwort darstellt, dürfte in der äußerst pointierten Formulierung eines Phänomens liegen, das nicht nur Freud, sondern viele säkulare, nicht-gläubige Juden immer wieder versucht haben auszudrücken: daß sie, ungeachtet ihrer Ablehnung der „väterlichen Religion“, wesentlich Juden sind. Wie man der Religion seiner Väter vollkommen entfremdet sein und sich doch in seiner „Eigenart als jüdisch“ empfinden kann, erscheint ausgesprochen paradox. Läßt sich, so muß man fragen, die Religion des Judentums von der spezifischen Eigenart des Judeseins überhaupt trennen? Und die Verwirrung wird perfekt, wenn wir uns vor Augen halten, daß in dem Buch Totem und Tabu, dessen hebräischer Fassung dieses Vorwort vorangestellt war, die Begriffe Judentum, Jude oder Judesein nicht einmal vorkommen.

Hat Freud jemals die von ihm gestellte Frage nach dem „Wesentlichen“ des Judeseins beantwortet – oder zu beantworten versucht? Glaubte er tatsächlich, daß eine solche Antwort „sicherlich später einmal wissenschaftlicher Einsicht zugänglich sein“ würde? Die These, die ich in diesem Buch zur Diskussion stelle, lautet: Freud unternahm in der Tat den Versuch zur Beantwortung dieser Fragen. Und das Buch Der Mann Moses und die monotheistische Religion ist das zentrale Dokument dieses Versuchs.2 Es ist freilich ein Buch, das seine Leser provozierte und befremdete; ein Buch, das offensichtlich ungeschickt und behäbig geschrieben ist; ein Buch, an dem viele das Nachlassen der schöpferischen und schriftstellerischen Kraft des alternden Freud bemerken wollten; ein Buch, dessen historische Behauptungen reiner Phantasie entsprungen zu sein scheinen – Freuds „prächtiges Luftschloß“3; ein Buch schließlich, das viele als ein Zeugnis des angeblichen jüdischen Selbsthasses Freuds interpretiert haben. Im Licht der ersten Sätze des Buchs scheint meine These allerdings ihrerseits von der oben beschriebenen Paradoxie bestimmt zu sein: „Einem Volkstum den Mann abzusprechen, den es als den größten unter seinen Söhnen rühmt, ist nichts, was man gern oder leichthin unternehmen wird, zumal wenn man selbst diesem Volke angehört.“4

Der Boden für die Beweiskraft meiner These ist bereits von einer Reihe ausgezeichneter Interpretationen bereitet worden: ich meine die Interpretationen Yosef Hayim Yerushalmis, Jan Assmanns und Jacques Derridas.5 Sie alle haben sorgfältige und gedankenreiche Deutungen des vielleicht eigenartigsten Buchs von Freud vorgelegt. Wenngleich ich hier nicht alle Perspektiven und Wege werde erörtern können, die diese Interpretationen uns eröffnet haben (und ich immer auch anzugeben versuche, wo ich den Weg dieser Interpretationen verlasse), so möchte ich doch hervorheben, wieviel ich ihnen verdanke.

Allem zuvor scheint mir noch ein Vorausblick und eine Warnung angebracht. Wenn Freud in Aussicht stellt, das Wesen des Judentums werde „später einmal wissenschaftlicher Einsicht zugänglich sein“, und sein Vorwort mit den Worten schließt, daß „die voraussetzungslose Wissenschaft dem Geist des neuen Judentums nicht fremd bleiben kann“, so meint er mit dieser Wissenschaft natürlich die Psychoanalyse. Freud war der festen Überzeugung, daß man den Gehalt der Religion (und den des Judentums insbesondere) ohne die Einsichten der neuen Wissenschaft der Psychoanalyse kaum zureichend würde begreifen können. Allerdings vermeidet Freud jede simple Reduzierung der Religion auf Psychoanalyse. Er hebt ausdrücklich und emphatisch hervor, daß wir im Verständnis religiöser Phänomene mit monokausalen Erklärungen und einfachen Herleitungen nicht weiterkommen. Entsprechend läßt er den vierten Aufsatz von Totem und Tabu (der Teil, in dem Freud seine Hypothese vom Ursprung des Totemismus in der „Beseitigung des Urvaters durch die Brüderschar“6 darlegt), mit den Worten beginnen:

„Von der Psychoanalyse, welche zuerst die regelmäßige Überdeterminierung psychischer Akte und Bildungen aufgedeckt hat, braucht man nicht zu besorgen, daß sie versucht sein werde, etwas so Kompliziertes wie die Religion aus einem einzigen Ursprung abzuleiten. Wenn sie in notgedrungener, eigentlich pflichtgemäßer Einseitigkeit eine einzige der Quellen dieser Institution zur Anerkennung bringen will, so beansprucht sie zunächst für dieselbe die Ausschließlichkeit so wenig wie den ersten Rang unter den zusammenwirkenden Momenten. Erst eine Synthese aus verschiedenen Gebieten der Forschung kann entscheiden, welche relative Bedeutung dem hier zu erörternden Mechanismus in der Genese der Religion zuzuteilen ist; eine solche Arbeit überschreitet aber sowohl die Mittel als auch die Absicht des Psychoanalytikers.“7

Die Versuchung, die Lehrbegriffe der Psychoanalyse einfach auf Freud selbst anzuwenden – insbesondere mit Blick auf seine jüdische Herkunft und die Bedeutung der Moses-Studie – ist selbstverständlich groß. Entsprechend haben manche Interpreten versucht, Freud „auf die Couch“ zu legen. Sie spekulieren über die Beziehung zwischen ihm und seinem Vater Jakob vor dem Hintergrund der Freudschen Hypothese über die Israeliten und der Beziehung zu ihrer Vaterfigur Moses. Ich halte es für unerläßlich, solchen Versuchungen zu widerstehen und sich an die Argumente und Begründungszusammenhänge zu halten. Freud selber befragt fortwährend die Argumente, die er in den drei Abhandlungen seines Moses-Buchs zur Diskussion stellt. Die Frage ist nur: Wie überzeugend sind sie? Da Freuds Vermutungen zuweilen weit hergeholt oder gar miteinander unvereinbar scheinen, haben seine Interpreten allzu schnell nach einem geheimen Sinn oder aber nach äußerlichen Deutungsmustern dafür gesucht, warum Freud das schreibt, was er schreibt. Die erste Aufgabe des Interpreten besteht jedoch darin, auf den Gehalt des Gesagten genau zu achten und den zentralen Thesen und Argumenten des Textes gerecht zu werden. Ich werde aus diesem Grund Freud in extenso zitieren und den Linien seiner Argumentation genau zu folgen versuchen. Ein solches close reading macht es freilich erforderlich, zentrale Passagen aus dem Freudschen Werk noch einmal ausführlich in Erinnerung zu rufen, um ihre volle Bedeutung herausarbeiten zu können.

In seinem berühmten Versuch über Freud, Die Interpretation, hat Paul Ricœur seine – inzwischen gebildetes Allgemeinwissen gewordene – Unterscheidung zwischen den zwei einander entgegengesetzten Formen der Hermeneutik eingeführt. Er unterscheidet eine reduktive und entmystifizierende Hermeneutik, eine Interpretation als „Übung des Zweifels“ und eine nicht-reduktive und restaurative Hermeneutik, eine Interpretation als „Sammlung des Sinns“.8 Mit Blick auf diese beiden Arten der Interpretation hat man in der Regel (besonders im Zusammenhang von Freuds Moses) der Hermeneutik des Zweifels den Vorzug gegeben. Zwischen den beiden entgegengesetzten Weisen besteht aber eine komplexe dialektische Beziehung – ein Punkt, auf den, was leider meist übersehen wurde, Ricœur stets selbst hingewiesen hat: Beide Seiten setzen sich wechselseitig voraus. Denn der Prozeß der Entmystifizierung kommt gar nicht erst in Gang, bevor wir nicht sorgfältig den manifesten Textsinn erfaßt haben. Dieser Vorgang ist die Voraussetzung für die Aufdeckung und Entmystifizierung des Textes. Es gibt in Freuds Argumentation zahlreiche Stellen, an denen eine ernste, mitunter vernichtende, Kritik einhaken muß – und ich werde nicht zögern, solche Stellen aufzuzeigen. Aber der grundlegende Standpunkt, den ich in dieser Studie einnehme, ist der hermeneutische Grundsatz, der besagt, man müsse stets den jeweils stärksten Punkt der Argumentation hervorheben. Ich tue dies nicht aus Einverständnis mit Freud oder weil ich seine Charakteristik des Wesens der jüdischen Religion im ganzen überzeugend fände, sondern weil die Kraft und die Reichweite der Freudschen Theorie über Religion, Tradition, die jüdische Religion und ihr Überleben bislang nicht ausreichend dargelegt und aufgearbeitet worden ist.

Die Erzählhandlung

Yerushalmi hat in seiner Studie Freuds Moses ein brillant formuliertes Résumé der Erzählhandlung des Freudschen Buches gegeben. Zur Orientierung meines eigenen Ansatzes sei diese Zusammenfassung hier zunächst wiedergegeben:

„Der Monotheismus, sagt Freud, ist nicht jüdischer Herkunft, sondern eine ägyptische Entdeckung. Der Pharao Amenhotep IV erhob ihn zur Staatsreligion, und zwar in Form einer ausschließlichen Anbetung der Sonnenmacht, Aton, und nannte sich hinfort Ikhnaton [bzw. Echnaton]. Charakteristisch für die Aton-Religion war nach Freud der bedingungslose Glaube an einen einzigen Gott, die Ablehnung von Anthropomorphismus, Magie und Zauberei und die absolute Leugnung eines Lebens nach dem Tode. Nach Ikhnatons Tod jedoch wurde seine große Häresie schleunigst aufgehoben, und die Ägypter kehrten zu ihren alten Göttern zurück. Moses war kein Hebräer, sondern ein ägyptischer Priester oder Adeliger und leidenschaftlicher Monotheist. Um die Aton-Religion vor dem Untergang zu bewahren, stellte er sich an die Spitze eines unterdrückten semitischen Stammes, der damals in Ägypten lebte, führte diesen aus der Sklaverei und schuf ein neues Volk. Diesem gab er eine noch vergeistigtere, bildlose Form der monotheistischen Religion. Außerdem führte Moses, um sein Volk von anderen zu unterscheiden, den ägyptischen Brauch der Beschneidung ein. Doch die stumpfe Masse ehemaliger Sklaven war den hohen Anforderungen des neuen Glaubens nicht gewachsen. Der Mob revoltierte, brachte Moses um und verdrängte die Erinnerung an diesen Mord. Danach schmiedeten die Israeliten ein Kompromißbündnis mit verwandten semitischen Stämmen im Midian, deren wilde vulkanische Gottheit namens Jahve jetzt der Gott ihres Volkes wurde. Schließlich verschmolz der Gott Moses’ mit Jahve, und die Taten Moses’ wurden einem midianitischen Priester zugeschrieben, der ebenfalls Moses hieß. Im Lauf der Jahrhunderte jedoch erlangte die unterschwellige Tradition des wahren Glaubens und ihres Gründers genügend Kraft, um siegreich emporzusteigen. Von da an wurden Jahve die universellen und spirituellen Eigenschaften des Gottes Moses’ zugeschrieben, obwohl die Erinnerung an Moses’ Ermordung bei den Juden verdrängt blieb und erst mit dem Aufkommen des Christentums in verkappter Form wiederauftauchte.“9

Auf den ersten (und durchaus auch noch auf den zweiten oder dritten) Blick erscheint diese Erzählung als zu phantastisch, als daß man sie im Ernst für eine historische Darstellung halten könnte. Man glaubt, ein Produkt reiner Phantasie und Einbildungskraft vor sich zu haben, das jeder Fundierung durch historische Tatsachen entbehrt. Und man fragt sich ernsthaft, ob das Interessante an diesem Konstrukt vielleicht einzig und allein die Frage ist, was Freud dazu bewegt haben mochte, eine solch schockierende Geschichte zu erfinden und mit ihr seine – von Nazi-Deutschland bedrohten und verfolgten – jüdischen Mitbürger vor den Kopf zu stoßen.

Wenn auch das aus Yerushalmis Buch Zitierte zweifellos den reinen Handlungsinhalt der Geschichte wiedergibt, die Freud erzählt, so ist es dennoch nicht die Art und Weise, in der er sie erzählt. Wir haben aber genau zu verfolgen, wie und in welchem Kontext Freud die Geschichte erzählt. Zumal die ersten beiden Abhandlungen, die Freuds Buch versammelt, „Moses, ein Ägypter“ und „Wenn Moses ein Ägypter war…“, ursprünglich in der psychoanalytischen Zeitschrift Imago erschienen – zu einem Zeitpunkt, als Freud noch in Wien lebte. Die dritte, längste und wichtigste Abhandlung „Moses, sein Volk und die monotheistische Religion“, wurde erst nach Freuds Ankunft in England veröffentlicht.

Die These: Moses war ein Ägypter

„Moses, ein Ägypter“, diese kurze und nüchterne Abhandlung (acht Druckseiten in der Erstausgabe) konzentriert sich ganz auf die Frage nach der ägyptischen Herkunft Moses’. Hier ist das Problem des Monotheismus noch nicht thematisch, wenngleich Freud sagt, der Mann Moses sei „dem jüdischen Volke Befreier, Gesetzgeber und Religionsstifter“10 gewesen. Um seine These zu untermauern, zitiert Freud zunächst jene Autoritäten (in erster Linie James H. Breasted), für die an dem ägyptischen Ursprung des Namens „Moses“ kein Zweifel besteht. Zum Problem der Etymologie des Namens bemerkt Freud: „Nun sollte man erwarten, daß irgendeiner der vielen, die den Namen Moses als ägyptisch erkannt haben, auch den Schluß gezogen oder wenigstens die Möglichkeit erwogen hätte, daß der Träger des ägyptischen Namens selbst ein Ägypter gewesen sei.“11 Dieser Hinweis ist allerdings zu dürftig, als daß er eine schwerwiegende historische These zu stützen vermöchte, insbesondere wenn man berücksichtigt, daß die Juden während ihrer wechselvollen Geschichte immer wieder Namen angenommen haben, die jeweils den Regionen entstammten, in denen sie lebten. Hinzu kommt: Es ist die ägyptische Prinzessin, die, der biblischen Erzählung zufolge (und die ist nun einmal Primärquelle unseres Wissens über Moses), den Säugling findet und aufzieht. Es ist also nur logisch, daß ein Kind am ägyptischen Königshof einen ägyptischen Namen bekommen würde. Es stellt sich also die Frage, ob Freud tatsächlich neue Argumente für seine kontroverse These zu bieten hat. Er jedenfalls ist sich dessen sicher, schränkt aber zuvor ein, daß sein Beitrag „eine Anwendung der Psychoanalyse zum Inhalt“ habe und das aufgrund dieser Anwendung entwickelte „Argument […] gewiß nur auf jene Minderheit von Lesern Eindruck machen [wird], die mit analytischem Denken vertraut ist und dessen Ergebnisse zu schätzen weiß.“12

Freud eröffnet seine Diskussion mit einem Rekurs auf Otto Ranks 1909 veröffentlichtes Buch Der Mythus von der Geburt der Helden, von dem Freud sagt, es sei „damals noch unter meinem Einfluß, auf meine Anregung“13 hin entstanden. Rank lenke unsere Aufmerksamkeit auf die „verblüffende Ähnlichkeit“14 in der Erzählstruktur der Sagen und Dichtungen, denen eine Glorifizierung der Geburt der jeweiligen Volkshelden, Religionsstifter, Herrscherdynastien und des Ursprungs der Weltreiche und -städte gemein sei. Ranks Untersuchungen, so Freud, führen uns die Quelle und Absicht dieser Mythen vor Augen. „Ein Held ist, wer sich mutig gegen seinen Vater erhoben und ihn am Ende siegreich überwunden hat.“15 Aus dieser verallgemeinerten Struktur der Sagen isoliert Freud eine bestimmte Anzahl wiederkehrender Wesenszüge: Die Herkunft des Helden, der als ein Kind aus aristokratischer Familie vorgestellt wird; die Schwierigkeiten, die seiner Geburt vorausgingen; die Verstoßung, Aussetzung oder Tötung des (männlichen) Kindes durch den Vater; die Rettung des Kindes durch Tiere oder einfache Leute; die Abenteuer des heranwachsenden Kindes; die Erkenntnis über seine wahre Herkunft und die Identität der leiblichen Eltern; die Rache, die es an dem Vater nimmt; und zuletzt sein Aufstieg zu Ruhm und Größe. Aus psychoanalytischer Sicht weisen solche Sagen die generelle Struktur eines „Familienromans“ auf. Sie ist die „Quelle der ganzen Dichtung“16.

Was hat dies nun mit der Behauptung zu tun, Moses sei ein Ägypter gewesen? Freud selber lenkt unser Augenmerk auf einen ganz offensichtlichen Widerspruch zwischen der beschriebenen „Logik“ des Verstoßungsmythos und dem biblischen Bericht über Moses’ Geburt. Nach der allgemeinen Erzählstruktur der Verstoßungsmythen oder „Aussetzungssagen“ ist die „wahre“ Familie des Helden adelig oder gehobenen Standes; die Eltern, die ihn vor dem Tode retten, sind hingegen einfache Leute. Moses aber, das Kind jüdischer Sklaven in Ägypten, wird von einer ägyptischen Prinzessin gerettet und so zum Mitglied einer vornehmen ägyptischen Familie. Wie erklärt sich diese Abweichung? Freud nennt ein eher schwaches Argument: „Es steht uns […] wirklich frei anzunehmen, daß irgendein später, ungeschickter Bearbeiter des Sagenstoffes sich veranlaßt fand, etwas der klassischen, den Helden auszeichnenden Aussetzungssage Ähnliches bei seinem Helden Moses unterzubringen, was wegen der besonderen Verhältnisse des Falles zu ihm nicht passen konnte.“17 Freud scheint dies selbst zu bemerken, wenn er sagt: „Mit diesem unbefriedigenden und überdies unsicheren Ergebnis müßte sich unsere Untersuchung begnügen und hätte auch nichts zur Beantwortung der Frage geleistet, ob Moses ein Ägypter war.“18

Doch er beläßt es nicht bei diesem „unsicheren Ergebnis“: „Aber es gibt zur Würdigung der Aussetzungssage noch einen anderen, vielleicht hoffnungsvolleren Zugang.“19 Denn der analytischen Interpretation zufolge sind beide Familien, die vornehme und die niedere, in Wahrheit ein- und dieselbe. Handelt der Mythos von historischen Personen, so gilt: „Die eine Familie ist die reale, in der die Person, der große Mann, wirklich geboren wurde und aufgewachsen ist; die andere ist fiktiv, vom Mythus in der Verfolgung seiner Absichten erdichtet. In der Regel fällt die reale Familie mit der niedrigen, die erdichtete mit der vornehmen zusammen.“20 Folgte man streng dem Gang der Argumentation Freuds, dann stünde sein Schema in Übereinstimmung mit dem tatsächlichen Verlauf der biblischen Erzählung. Die wahren Eltern des Moses wären einfache Juden. Doch Freud macht eine eigentümliche und hochspekulative Wendung, indem er sagt,

„daß die erste Familie, die, aus der das Kind ausgesetzt wird, in allen Fällen, die sich verwerten lassen [Freud geht weder genauer auf diese „Fälle“ ein, noch klärt er die Kriterien der angesprochenen „Verwertung“ auf], die erfundene ist, die spätere aber, in der es aufgenommen wird und aufwächst, die wirkliche. Haben wir den Mut, diesen Satz als eine Allgemeinheit anzuerkennen, der wir auch die Mosessage unterwerfen, so erkennen wir mit einem Male klar: Moses ist ein – wahrscheinlich vornehmer – Ägypter, der durch die Sage zum Juden gemacht werden soll. Und das wäre unser Resultat!“21

Man ist unschlüssig, ob man diese Argumentation ernst nehmen kann – und sei es auch nur als eine Art Anwendung der Psychoanalyse. Ein ungeneigter Leser würde vielleicht sogar von einer reductio ad absurdum sprechen. Freud baut jedenfalls auf jeder Stufe seines Begründungszusammenhangs Formen unbewiesenen und spekulativen Argumentierens ein. Am Ende seiner kurzen Abhandlung wirft Freud eine Frage auf, die seinen Lesern in der Tat auf der Zunge liegt: „Wenn nicht mehr Sicherheit zu erreichen war, warum habe ich diese Untersuchung überhaupt zur Kenntnis der Öffentlichkeit gebracht?“ In der Tat: warum eigentlich? Freud gibt auch auf diese Frage nur Andeutungen, keine expliziten Hinweise auf das, was er später schließlich darlegen würde:

„Läßt man sich nämlich von den beiden hier angeführten Argumenten fortreißen und versucht, Ernst zu machen mit der Annahme, daß Moses ein vornehmer Ägypter war, so ergeben sich sehr interessante und weitreichende Perspektiven. Mit Hilfe gewisser, nicht weit abliegender Annahmen glaubt man die Motive zu verstehen, die Moses bei seinem ungewöhnlichen Schritt geleitet haben, und in engem Zusammenhang damit erfaßt man die mögliche Begründung von zahlreichen Charakteren und Besonderheiten der Gesetzgebung und der Religion, die er dem Volke der Juden gegeben hat, und wird selbst zu bedeutsamen Ansichten über die Entstehung der monotheistischen Religionen im allgemeinen angeregt.“22

Mit solch vagen Andeutungen weckt Freud eine Neugier, deren Befriedigung seine Abhandlung dem Leser zugleich verweigert. Und psychologische Wahrscheinlichkeiten reichen ohnehin nicht aus, um so weitreichende historische Annahmen zu beweisen, zumal die objektiven Befunde über die geschichtliche Periode, in der Moses lebte, dürftig sind. Daher bemerkt Freud im letzten Satz seiner Abhandlung, daß ein „objektiver Nachweis“ für das „Ägyptertum Moses’“ sich kaum würde finden lassen, „und darum soll die Mitteilung aller weiteren Schlüsse aus der Einsicht, daß Moses ein Ägypter war, besser unterbleiben.“23 Freuds Leser hatten deshalb Monate auf eine Fortsetzung zu warten, die genauer auf die Hinweise eingeht, die in der ersten, kurzen Abhandlung nur angerissen wurden. Und es ist insofern alles andere als Zufall, daß das Wichtigste an dem elliptischen Titel, den der Fortsetzungsaufsatz trug, „Wenn Moses ein Ägypter war…“, die Auslassungszeichen sind.

Vor aller weiteren Textanalyse möchte ich noch einmal nach dem Motiv fragen, das Freud dazu bewegt haben mag, eine solch knappe und wenig schlüssige Abhandlung zu veröffentlichen. Die Studie scheint weder für die historische Forschung signifikante Neuerkenntnisse zu bieten, noch Wesentliches zum Verständnis der Psychoanalyse beizutragen. Freuds anfängliches Unbehagen an einer Veröffentlichung seiner Thesen kann aber auch nicht allein mit dem Mangel an „objektiven Nachweisen“ für seine Überlegungen zu tun haben. Mir scheint die abwartende Haltung in bezug auf die erste Abhandlung vielmehr eine Art Strategie gewesen zu sein, um einen ungefähren Eindruck von der Rezeption und Aufnahme ihrer Thesen und den möglichen Folgen zu erhalten. In gewisser Weise scheint Freud (der wußte, welche Texte er noch zurückhielt) erst einmal behutsam die „Wassertemperatur“ geprüft zu haben.

Die Ellipse: Wenn Moses ein Ägypter war…

Erst die zweite Abhandlung, „Wenn Moses ein Ägypter war…“, entwickelt den ganzen dramatischen Gang der historischen Handlung. Die Abhandlung liest sich wie die Inhaltsangabe einer „historischen Erzählung“, die ihren dramatischen Höhepunkt mit der Schilderung der Ermordung Moses’ durch eben die Semiten, die er aus Ägypten geführt hatte, erreicht. Ungeachtet der verstörenden (und für einen streng religiösen Juden oder Christen blasphemischen) Thesen, die er aufstellt, leitet Freud die zweite Abhandlung mit einer Darlegung seiner Bedenken vor der Veröffentlichung seiner Ergebnisse ein. „Je bedeutsamer die so gewonnenen [d.h. auf psychologischen Wahrscheinlichkeiten ruhenden] Einsichten sind, desto stärker verspüre man die Warnung, sie nicht ohne sichere Begründung dem kritischen Angriff der Umwelt auszusetzen, gleichsam wie ein ehernes Bild auf tönernen Füßen.“24 Es sollte den Leser stutzig machen, wenn Freud (in einer Formulierung, auf die wir noch zurückkommen werden) sagt: „Aber es ist wiederum nicht das Ganze und nicht das wichtigste Stück des Ganzen.“25

Blickt man auf das Erscheinungsdatum der Abhandlung, 1937, so dürfte die Form, in der Freud seine historische Rekonstruktion präsentiert, wohl kaum die Empörung und das Entsetzen seiner jüdischen Mitbürger verhindert haben. Der erste Absatz der Abhandlung enthält bereits eine abfällige Bemerkung über die „Talmudisten“, „die es befriedigt, ihren Scharfsinn spielen zu lassen, gleichgültig dagegen, wie fremd der Wirklichkeit ihre Behauptung sein mag.“26 Freud scheint gleichsam die Vorwürfe an seine Adresse vorwegzunehmen und sich gegen mögliche Angriffe zu verteidigen. Am Beginn seiner genaueren Darstellung der These über die ägyptische Abstammung Moses’ charakterisiert Freud die Semiten (also die Juden im Ägypten der Zeit Moses’) näher so:

„Aber was einen vornehmen Ägypter – vielleicht Prinz, Priester, hoher Beamter – bewegen sollte, sich an die Spitze eines Haufens von eingewanderten, kulturell rückständigen Fremdlingen zu stellen und mit ihnen das Land zu verlassen, das ist nicht leicht zu erraten.“27

Es gehört zu den erstaunlichsten Zügen der zweiten Abhandlung „Wenn Moses ein Ägypter war…“, daß sie offenbar als eine „rein historische Studie“28 über das gelesen werden will, was tatsächlich geschehen sein könnte. Freud zieht hier keinerlei explizite Verbindung zur Psychoanalyse. Im Gegenteil: Er vermeidet sichtlich jeden Versuch einer psychoanalytischen Interpretation – und zwar selbst dort, wo eine solche sich ganz offensichtlich anbietet (etwa gelegentlich der Ausführungen zum Beschneidungsritus). Ich vermute, daß die zeitgenössischen Leser – gesetzt, die Abhandlung wäre anonym erschienen – durchaus auch zu dem Schluß hätten kommen können, daß sie es hier mit einem etwas verschrobenen Autor zu tun haben, der die fesselnde Geschichte eines ägyptischen Adeligen, Moses, erfindet, dessen Versuch, den „wilden Semiten“ eine übernommene monotheistische Religion aufzuzwingen, damit endet, daß diese „das Schicksal in ihre Hand [nahmen] und […] den Tyrannen aus dem Wege [räumten]“29. Die Werke ausgewählter Historiker, Bibelforscher und Alttestamentler zieht Freud rein unter dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit für seine These heran. Für dieses Vorgehen gilt offenbar ähnliches wie für die willkürliche Auswahl der Bibelstellen, die er vorsorglich in einer Fußnote rechtfertigt:

„Wenn wir mit der biblischen Tradition so selbstherrlich und willkürlich verfahren, sie zur Bestätigung heranziehen, wo sie uns taugt, und sie unbedenklich verwerfen, wo sie uns widerspricht, so wissen wir sehr wohl, daß wir uns dadurch ernster methodischer Kritik aussetzen und die Beweiskraft unserer Ausführungen abschwächen. Aber es ist die einzige Art, wie man ein Material behandeln kann, von dem man mit Bestimmtheit weiß, daß seine Zuverlässigkeit durch den Einfluß entstellender Tendenzen schwer geschädigt worden ist. Eine gewisse Rechtfertigung hofft man später zu erwerben, wenn man jenen geheimen Motiven auf die Spur kommt. Sicherheit ist ja überhaupt nicht zu erreichen, und übrigens dürfen wir sagen, daß alle anderen Autoren ebenso verfahren sind.“30

Ein Hinweis auf die Frage, warum Freud – der in der ersten Abhandlung noch behauptet, sein Beitrag sei allein eine „Anwendung der Psychoanalyse“ – nun den psychoanalytischen Ansatz beiseite schiebt und seine zweite Abhandlung in den Mantel einer historischen Studie hüllt, deren Ziel die Aufhellung einer Begebenheit des vierzehnten vorchristlichen Jahrhunderts ist, finden wir indessen nur im Rückgang auf die erste Abhandlung. Freuds wichtigstes Argument zur Begründung seiner These beruhte zunächst auf seiner psychoanalytischen Interpretation des Mythos von der Verstoßung des Volkshelden. Freud glaubt Fragmente dieses Mythos in den Sagen über Sargon von Akkad, Moses, Cyrus, Romulus, Ödipus, Karna, Paris, Telephos, Perseus, Herakles, Gilgamesch, Amphion und Zethos wiederzuerkennen. Man beachte, daß diese Liste in erster Linie mythologische Figuren anführt. Für Freud aber ist der Ägypter Moses eine Figur der Geschichte, eine reale Person, die in einer näher zu bestimmenden historischen Epoche lebte; eine Person, die den Monotheismus von dem ägyptischen Pharao Echnaton übernahm und die, um die Aton-Religion zu bewahren, sie den in Ägypten lebenden Semiten aufzwang. Ohne eine Konstruktion dieser „historischen“ Fakten hätte Freud aber wiederum keinerlei Basis für die psychoanalytische Interpretation, die er dann zur Erklärung dieser „Fakten“ anbietet.

Blickt man auf den letzten Absatz von „Moses, ein Ägypter“ zurück, so wird man sehen, daß Freud die Notwendigkeit einer solchen historischen Evidenz bereits angedeutet hatte:

„Wenn man das Ägyptertum Moses’ als den einen historischen Anhalt gelten läßt, so bedarf man zum mindesten noch eines zweiten festen Punktes, um die Fülle der auftauchenden Möglichkeiten gegen die Kritik zu schützen, sie seien Erzeugnis der Phantasie und zu weit von der Wirklichkeit entfernt.“31

Auch zu Beginn der Abhandlung diskutiert Freud bereits die Berücksichtigung der grundlegenden „historischen“ Fakten über Moses:

„Man behauptet mit gutem Recht, daß die spätere Geschichte des Volkes Israel unverständlich wäre, wenn man diese Voraussetzung [also daß Moses tatsächlich gelebt und der Auszug aus Ägypten tatsächlich stattgefunden habe] nicht zugeben würde.“32

Obwohl also Freud wiederholt bekräftigt, wir hätten keine sicheren Beweise für den Exodus und die tatsächlichen Begebenheiten in Ägypten, scheint er doch keinerlei ernste Zweifel daran zu haben, daß sie tatsächlich stattfanden. Hier gerät Freuds Konstruktion auf dem Weg von den Voraussetzungen zu den Schlüssen, die er zieht, auf eine schiefe Bahn. Dazu zählt auch der letzte Satz der ersten Abhandlung, in dem Freud nicht mehr von seiner „Annahme“ oder „Vermutung“ spricht, sondern von der „Einsicht, daß Moses ein Ägypter war“33. Im ersten Absatz der zweiten Abhandlung nun, in dem Freud sein „neues Material“34 für die These vom „Ägyptertum Moses’“ noch einmal rekapituliert, sagt er: „ich habe hinzugefügt, daß die Deutung des an Moses geknüpften Aussetzungsmythus zum Schluß nötige, er sei ein Ägypter gewesen, den das Bedürfnis eines Volkes zum Juden machen wollte.“35

Je genauer man die Details der Freudschen Erzählung studiert, desto abenteuerlicher scheint sie zu werden. Wir finden alle möglichen Formen argumentativer Lücken, Sprünge, wir finden zweifelhafte Voraussetzungen und kühne Spekulationen. Ein Beispiel: Dem biblischen Text ist sehr wenig über die Herkunft der Leviten zu entnehmen, wenngleich sie eine wichtige Rolle in der Exodus-Geschichte (und für die jüdische Geschichte im ganzen) spielen. Freud erkennt deshalb an, daß „zu den größten Rätseln der jüdischen Vorzeit […] die Herkunft der Leviten“, eines jener „zwölf Stämme Israels“, gehöre.36 Freud glaubt jedoch, dieses Rätsel lösen zu können. Er schlägt vor:

„Es ist nicht glaubhaft, daß ein großer Herr wie der Ägypter Moses sich unbegleitet zu dem ihm fremden Volk begab. Er brachte gewiß sein Gefolge mit, seine nächsten Anhänger, seine Schreiber, sein Gesinde. Das waren ursprünglich die Leviten. Die Behauptung der Tradition, Moses war ein Levit, scheint eine durchsichtige Entstellung des Sachverhalts: Die Leviten waren die Leute des Moses. Diese Lösung wird durch die […] Tatsache gestützt, daß einzig unter den Leviten später noch ägyptische Namen auftauchen.“37

Wenn es also im Buch Exodus heißt, Moses sei vom Sinai herabgestiegen und habe sein Volk das Goldene Kalb anbeten sehen, woraufhin die Söhne Levi, auf Moses’ Geheiß, „dreitausend Männer“ erschlugen, dann sollen diese Söhne Levi also in Wirklichkeit Moses’ ägyptische Entourage gewesen sein! (Und dies, obwohl – Freuds historischer Rekonstruktion zufolge – Moses niemals am Sinai gewesen sei und auch Aaron nie gelebt habe.)

Legt man Freuds Behauptung, in Wirklichkeit habe der ägyptische Moses seinen Monotheismus den etwas einfältigen Semiten aufgezwungen, zugrunde, so muß man sich allerdings fragen, was von Freuds Verweis auf die biblischen Patriarchen: Abraham, Isaak und Jakob zu halten ist. Werfen wir einen Blick auf seine verschlungenen Erklärungen:

Kadesch, die Wüstenoase, soll der Ort gewesen sein, an dem die Semiten, nach Ermordung ihres ägyptischen Anführers Moses, sich mit Stämmen vereinigten, die einem anderen Gott, dem midianitischen Jahve huldigten: „ein roher, engherziger Lokalgott, gewalttätig und blutrünstig“38. Es war nun notwendig geworden, diesen Gott zu glorifizieren, einen Kompromiß herbeizuführen, um Jahve – jenen grimmigen, dämonischen Gott – dem monotheistischen Gott, den die Ägypter anbeteten, „anzupassen“. Also wurden, in der Absicht, einen solchen Kompromiß zu finden, „die Sagen von den Urvätern des Volkes, Abraham, Isaak und Jakob, herangezogen. Jahve versichert, daß er schon der Gott der Väter gewesen sei; freilich, muß er selbst zugestehen, hätten sie ihn nicht unter diesem Namen verehrt.“39 Dies folgte der „neuen Tendenz“ der Verehrung und Vermischung des vulkanischen Gottes, Jahve, mit dem monotheistischen Gott des Ägypters Moses.

Wir verstehen jetzt besser den Sinn der Bemerkung, die Freud ganz zu Beginn seiner ersten Abhandlung hervorgehoben hatte: „Der Mann Moses, der dem jüdischen Volke Befreier, Gesetzgeber und Religionsstifter war, gehört so entlegenen Zeiten an, daß man die Vorfrage nicht umgehen kann, ob er eine historische Persönlichkeit oder eine Schöpfung der Sage ist.“40 Es ist nicht Gott oder etwa Abraham, Isaak oder Jakob, der die Religion des jüdischen Volkes stiftete. Es ist der Mann Moses, der sie begründete. Es ist kein Gott (weder der monotheistische Gott des Moses noch der dämonische Gott der Midianiten, Jahve), der das jüdische Volk erwählte. Es ist Moses, der die Juden auserwählte, die Anhänger des monotheistischen Gottes Aton zu werden. „Moses hatte sich zu den Juden herabgelassen, sie zu seinem Volk gemacht; sie waren sein ‚auserwähltes Volk‘.“41 Was Freud nicht sagt, ist, welcher Religion die in Ägypten lebenden jüdischen Semiten anhingen, bevor sie von Moses für seinen Monotheismus ausersehen wurden; er sagt nur, daß es in keinem Fall eine monotheistische Religion gewesen sei.

In seiner Zusammenfassung der Erzählhandlung schreibt Yerushalmi, daß Moses den Semiten „eine noch vergeistigtere, bildlose Form der monotheistischen Religion [gab]. Außerdem führte Moses, um sein Volk von anderen zu unterscheiden, den ägyptischen Brauch der Beschneidung ein.“42 Dieser eher flüchtige Verweis auf den ägyptischen Brauch der Beschneidung wird aber kaum der zentralen Funktion gerecht, die er in dem Aufsatz „Wenn Moses ein Ägypter war…“ einnimmt. Aufgrund seiner Beweiskraft wertet Freud den Beschneidungsritus als ein „Leitfossil“, das „uns wiederholt […] die wichtigsten Dienste geleistet hat“43. Führt man sich die psychoanalytische(n) Interpretation(en) der Beschneidung und die Nähe des Beschneidungsvorgangs zur Kastration vor Augen – wie dies die meisten der Leser des Freudschen Aufsatzes getan haben dürften –, so wird man vermuten, hier endlich den Auftakt zu einer psychoanalytischen Deutung der historischen Rekonstruktion vor sich zu haben. Doch wir werden abermals enttäuscht. Von Kastration ist in Freuds Abhandlung nirgendwo die Rede. Freud beschränkt sich ganz auf die bewußten