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Wenn die Knochen sprechen Ein gottloser Frevel empört die Kölner Bürger: Aus einem Beinhaus wurden Schädel und Knochen entwendet. Kurz darauf wird im Hinterhof der Apothekerin Adelina eine schwangere Frau ermordet. Sogleich gerät Medicus Neklas Burka, Adelinas Gemahl, in Verdacht, die Frau für seine Experimente missbraucht zu haben. Adelina ist entschlossen, seine Unschuld zu beweisen. Doch selbst ihr kommen Zweifel, als sie wenig später in ihrem Keller einen geheimen Raum mit menschlichen Schädeln und Knochen findet … Neugierig und furchtlos: Apothekerin Adelina geht wieder auf Mörderjagd.
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Seitenzahl: 437
Petra Schier
Frevel im Beinhaus
Historischer Roman
Wenn die Knochen sprechen
Ein gottloser Frevel empört die Kölner Bürger: Aus einem Beinhaus wurden Schädel und Knochen entwendet. Kurz darauf wird im Hinterhof der Apothekerin Adelina eine schwangere Frau ermordet. Sogleich gerät Medicus Neklas Burka, Adelinas Gemahl, in Verdacht, die Frau für seine Experimente missbraucht zu haben.
Adelina ist entschlossen, seine Unschuld zu beweisen. Doch selbst ihr kommen Zweifel, als sie wenig später in ihrem Keller einen geheimen Raum mit menschlichen Schädeln und Knochen findet…
Neugierig und furchtlos: Apothekerin Adelina geht wieder auf Mörderjagd.
Petra Schier, Jahrgang 1978, lebt mit ihrem Mann und einem Schäferhund in einer kleinen Gemeinde in der Eifel. Sie studierte Geschichte und Literatur und arbeitet mittlerweile freiberuflich als Lektorin und Schriftstellerin.
Mehr Informationen zur Autorin unter www.petralit.de.
Weitere Veröffentlichungen:
(die historischen Romane um die Apothekerstochter Adelina)
Tod im Beginenhaus
Mord im Dirnenhaus
Verrat im Zunfthaus
(aus der Romanreihe um die Reliquienhändlerin Marisa)
Die Stadt der Heiligen
Der gläserne Schrein
sowie
Die Eifelgräfin
Der Weg der Frevler ist wie die dunkle Nacht;
sie merken nicht, worüber sie fallen.
Sprüche 4, 19
Familie:
Adelina Burka: Apothekerin mit eigenem Geschäft am Alter Markt
Neklas Burka: ihr Gemahl, städtischer Medicus
Colin: Sohn von Adelina und Neklas, drei Jahre alt
Griet: uneheliche Tochter von Neklas und somit Adelinas Stieftochter
Vitus: Adelinas jüngerer Bruder, geistig zurückgeblieben, 19Jahre alt
Freunde:
Jupp Kornbläser: Chirurg und alter Freund von Neklas
Marie Kornbläser: Jupps Ehefrau und Adelinas gute Freundin, Tochter eines ehemaligen Ratsherrn und Schöffen
Binah und Malka: Jupps halbjüdische Zwillingstöchter, sechs Jahre alt
Georg Reese: Tuchhändler, ehemaliger Ratsherr, jetzt Gewaltrichter
Gesinde:
Franziska: eine junge Magd im Hause Burka
Ludowig: Knecht im Hause Burka und Gefährte von Franziska
Magda: ältliche Magd im Hause Burka
Weitere Personen:
Vater Emilianus: hoher Geistlicher, enger Freund des Erzbischofs
Endres: ein Schlitzohr, sitzt derzeit für diverse Vergehen in der Kunibertstorburg ein
Tilmann Greverode: Hauptmann der Stadtsoldaten
Mira von Raderberg: Lehrmädchen in Adelinas Apotheke, von adeliger Abstammung, 16Jahre alt
Amtmeister Hirzelin: Vorsitzender der Gaffel Himmelreich
Hugo und Michel: zwei Büttel
Köbes: Messerschmied
Else: Frau von Köbes
Zunftmeister Leuer: ältester Meister der Zunft Himmelreich
Ludmilla: alte Hebamme und Weise Frau, lebt vor den Toren der Stadt in einer Waldhütte
Pitter: Wachmann in der Kunibertstorburg
Bruder Thomasius: Dominikaner
Wolfram Stache: Stadtsoldat
Meister Winkler: ein weiterer Apotheker vom Alter Markt
Historische Person:
Erzbischof FriedrichIII. von Saarwerden
Und nicht zu vergessen:
Fine: schwarz-weiße Katze von Vitus
Moses: sandfarbener, struppiger Hund, der Adelina einst in einer stürmischen Gewitternacht zugelaufen ist
… sowie die vielen, vielen Bewohner und Besucher Kölns, für deren Aufzählung hier leider der Platz fehlt.
Sie blieb stehen und versuchte tief durchzuatmen. Die Sonne brannte schon seit den frühen Morgenstunden unbarmerzig auf die Dächer Kölns herab. In den engen Gassen staute sich heiße Luft, die sich mit dem Gestank der Abfälle in den Rinnsteinen und dem Duft von frisch gebratenen Zwiebeln und gekochtem Kohl mischte. Schweiß stand ihr auf der Stirn, den sie immer wieder mit dem Ärmel ihres Kleides wegwischte. Der Korb an ihrem Arm schien immer unhandlicher zu werden, obwohl er nicht wirklich schwer war. Dennoch stapfte sie tapfer weiter.
An der Kreuzung zu einer weiteren Gasse, die der vorherigen glich, blieb sie erneut stehen. Ihr Rücken begann zu schmerzen, und das Kind in ihrem Leib bewegte sich unruhig. Sie wusste, dass es unvernünftig war, so kurz vor der Niederkunft derart weite Strecken zu laufen, noch dazu ganz allein. Aber wie sonst sollte sie ihren Mann bei der täglichen harten Arbeit unterstützen? Sie besaß ja nicht einmal eine Magd, die ihr die schweren Arbeiten hätte abnehmen können. Er hatte es selbst erledigen wollen aus Rücksicht auf ihren Zustand, aber sie hatte ihn beruhigt und ihm versprochen, langsam zu gehen und Pausen einzulegen.
Jetzt, um die Mittagszeit, waren die Straßen und Gassen wie leer gefegt. Die Menschen hatten sich in ihre Häuser zurückgezogen. Auch die Bettler und das unehrliche Gelichter waren für eine Weile von der Bildfläche verschwunden. Vermutlich hatten sie sich irgendwo verkrochen. So gab es weder Gedränge auf den Plätzen, noch lief sie Gefahr, belästigt zu werden.
Fast hatte sie die Judengasse erreicht. Von dort aus war es nicht mehr weit. Der Gedanke beflügelte ihre Schritte. Sie wechselte den Korb vom rechten Arm auf den linken und überlegte, ob sie auf dem Rückweg einen Bogen über den Fischmarkt machen sollte. Vielleicht ergatterte sie ein wenig billigen Lachs fürs Abendbrot.
Plötzlich hielt sie inne und verlangsamte ihre Schritte. War da hinter ihr ein Geräusch gewesen? Sie blickte über ihre Schulter zurück und erschrak, als sie den Mann dicht hinter sich stehen sah. Er grinste sie verschlagen an – kannte sie ihn irgendwoher?
Und dann tauchte wie aus dem Nichts ein zweiter Mann auf, der ein Messer in der Hand hatte. Auch er lächelte heimtückisch.
Bevor sie auch nur Luft holen konnte, packten die beiden sie, hielten ihr den Mund zu, sodass sie nicht schreien konnte, und schleppten sie in den Eingang eines Hauses.
Ihr Herz pochte wild vor Schreck und Furcht. Sie wehrte sich, trat um sich und wollte einem der beiden Angreifer gerade in die Hand beißen, als etwas hart gegen ihren Hinterkopf krachte. Sie spürte den heftigen Schmerz und dann… nichts mehr.
«Gottlob sind wir wieder hier.» Adelina ließ sich erschöpft auf die Ofenbank in ihrer Küche sinken und lockerte mit den Fingerspitzen ihre Haube. «Bei diesem Wetter ist das Reisen geradezu eine Strafe.» Mit halbgeschlossenen Augen beobachtete sie ihren hünenhaften Knecht Ludowig, der eine schwere Reisetruhe an der geöffneten Küchentür vorbei zur Treppe schleppte.
Neklas betrat nun ebenfalls die Küche und schenkte sich aus dem Krug, der auf dem langen Eichentisch stand, Wein in einen Zinnbecher. «Reisen kann bei jedem Wetter beschwerlich sein. In deinem Fall jedoch…» Er musterte sie besorgt.
Sie winkte lächelnd ab. «Mir geht es gut. Ich bin nur müde. Hoffentlich bringt Franziska etwas aus der Garküche mit.» Sie sah sich um. «Wohin ist eigentlich Vitus verschwunden?»
«In den Garten. Vermutlich sucht er nach Fine. Schließlich hat er die Katze die ganzen acht Wochen über vermisst.» Neklas trank von seinem Wein. «Kortrijk ist ruhiger als Köln, nicht wahr?»
«Mag sein.» Adelina hob die Schultern. «Ich bin dennoch froh, endlich wieder zu Hause zu sein. Nichts gegen deine Familie, aber…»
«Sie kann recht anstrengend sein, ich weiß.» Er stellte den leeren Becher auf den Tisch. «Ich gehe hinüber zu Jupp und sehe nach, was es Neues gibt.»
«Sag Marie, dass ich morgen zu ihr komme. Heute wird es das Beste sein, in der Apotheke nach dem Rechten zu sehen.»
«Ruh dich doch erst einmal richtig aus.» Streng blickte Neklas sie an.
«Ja, ja.» Sie scheuchte ihn mit einer Handbewegung hinaus. Nachdem er die Küche verlassen hatte, stand Adelina etwas schwerfällig auf und rieb sich den schmerzenden Rücken. Die mehrtägige Fahrt von Kortrijk nach Köln hatte sie wirklich sehr angestrengt. Aber sie hatte darauf bestanden, jetzt zu reisen, denn ein paar Wochen später wäre es vielleicht schon zu gefährlich gewesen. Noch einmal zupfte sie an ihrer Haube herum, unter der sich ihr schwarzes, zu ordentlichen Schnecken geflochtenes Haar verbarg.
«Herrin, braucht Ihr etwas?» Magda, die ältliche Magd, trat durch die Tür. Um ihre Augen lagen viele kleine Fältchen, die von ihrem heiteren Gemüt zeugten. «Ich habe Colin in sein Bett gebracht. Er ist dabei zum Glück nicht aufgewacht.»
«Ich habe auch lange genug gebraucht, um ihn zum Einschlafen zu bringen.» Adelina lächelte wieder. «Ist Mira schon von dem Besuch bei ihrer Familie zurück?»
«Nein.» Magda schüttelte den Kopf. «Ich hab seit ihrer Abreise vor sechs Wochen nichts von ihr gehört.»
«Ich hoffe, ihre Familie kann sie bald wieder entbehren», sagte Adelina. «Wenn ich die Apotheke morgen wieder öffnen will, brauche ich jede Hilfe.»
«Mutter?» Mit leicht geröteten Wangen und blitzenden Augen kam ihre Stieftochter Griet in die Küche gerannt. Ihre zu Zöpfen geflochtenen schwarzen Locken wippten erregt auf und ab. Adelina stellte fest, dass das Mädchen schon wieder gewachsen war. Griet benötigte ein neues Kleid. «Mira ist noch gar nicht wieder hier! Ihre Kammer ist leer; nur das dicke Kräuterbuch liegt auf dem Tisch. Und in meiner Kammer liegt eine tote Maus auf dem Boden.»
Adelina nickte. «Mira ist noch bei ihrer Familie. Warum hast du die tote Maus nicht gleich hinausgebracht?» Sie wandte sich an Magda. «Was macht Fine eigentlich den ganzen Tag? Eine so faule Katze habe ich selten gesehen.»
Die Magd gluckste. «Das arme Tier hat Vitus vermisst. Und sie hat sich mehrmals mit dem dicken schwarzen Kater geprügelt, der seit kurzem hier herumschleicht.»
«Ich bring die Maus schon weg», sagte Griet und machte auf dem Absatz kehrt.
Adelina wandte sich ebenfalls zur Tür.
«Ihr seid schon ganz schön rund», befand Magda mit einem Blick auf Adelinas gewölbte Leibesmitte. «Wird nicht mehr so lange dauern, nicht wahr?»
«Das Kind soll im September geboren werden», antwortete Adelina und legte automatisch ihre rechte Hand schützend auf ihren Bauch. «Ich werde Ludmilla in den nächsten Tagen Nachricht geben, damit sie mich vorher noch einmal besuchen kommt.» Mit diesen Worten machte sie sich auf den Weg in ihre Apotheke, die sie, wie sie beim Anblick des polierten Verkaufstresens und der ordentlich aufgeräumten Regale ringsum merkte, bereits schmerzlich vermisst hatte. Sie fuhr mit dem Zeigefinger über eines der Regalbretter und musterte dann missbilligend die Spur, die sie in die dünne Staubschicht gezogen hatte. Das war eine gute Beschäftigung für Griet, beschloss sie und ging zur Tür, um sie aufzuschließen und frische Luft hereinzulassen.
Sie lachte über sich selbst, als sie die Tür aufstieß und ihr sofort schwere Gerüche entgegenkamen. Der Sommer in Köln hielt nur selten frischen Wind bereit und noch seltener Wohlgerüche. Das bunte Treiben auf dem Alter Markt hatte ihr trotzdem während ihres Besuchs bei ihrer Schwiegermutter gefehlt.
Jetzt, am späten Nachmittag, schoben sich unzählige Kauflustige– Hausfrauen, Mägde und Besucher der Stadt – zwischen den Ständen und Schragentischen der Bauern und Kaufleute hindurch. Barfüßige Gassenjungen in schmutzigen und meist zerrissenen Kleidern rannten umher. Hühner gackerten in ihren Käfigen, irgendwo blökte ein Schaf, und über allem schwebte ein Gesumm von unzähligen Stimmen, immer wieder durchbrochen von den lockenden Rufen der Marktschreier. Erst nach dem Läuten der Vesperglocke von Groß St.Martin würde sich das Gedränge nach und nach etwas lichten.
Gerade wollte Adelina ihre Tür wieder schließen, als sie die Gestalt einer jungen Frau wahrnahm, die einen großen Korb am Arm trug und auf die Apotheke zusteuerte. Ihr rotblondes Haar trug sie zu einem festen Knoten hochgesteckt mit einem schlichten Kopftuch bedeckt, und die hellen Augen funkelten erfreut über ihrer kleinen Stupsnase. «Herrin!», rief sie von weitem und beschleunigte ihre Schritte. «Ihr seid ja schon da! Wir hatten Euch erst für den späten Abend zurückerwartet.»
Adelina öffnete die Tür wieder etwas weiter und trat beiseite. «Guten Tag, Franziska. Wie ich sehe, warst du einkaufen und…» Sie schnupperte. «Hast du gebratene Hühnchen mitgebracht?»
«Aber ja doch, wie Ihr es Donatus gesagt habt. Als er uns die Nachricht von Eurer bevorstehenden Rückkehr überbrachte, meinte er, ich solle eine sehr große Portion besorgen, denn Ihr wäret gefräßig wie ein… ähm…» Franziskas Gesicht überzog eine feine Röte, als sie sich ihrer ungezogenen Worte bewusst wurde.
Adelina lachte jedoch nur. «Gefräßig wie ein Wolf? Da hat er gar nicht so unrecht. Bring die Sachen hinein, ich schließe ab und komme nach.» Sie kam jedoch wieder nicht dazu, da plötzlich ein langgezogenes Heulen und dann wildes Bellen erklangen. Im nächsten Moment schoss eine Fellkugel auf Adelina zu. Jaulend und winselnd sprang der kleine Hund an ihr hoch und brachte sich beinahe um vor Freude, seine Herrin wiederzusehen.
«Moses!» Sie beugte sich zu ihm hinab und ließ es zu, dass der Hund ihr Gesicht und ihre Hände abschleckte. «Wo kommst du denn her? Warst du drüben bei Marie?» Sanft tätschelte sie sein prall gefülltes Bäuchlein. «Anscheinend hat sie gut für dich gesorgt.» Als sie sich wieder aufrichtete, sah sie ihre Nachbarin und gute Freundin Marie Kornbläser mit ausgebreiteten Armen auf sich zukommen. Sie trug ein praktisches braunes Arbeitskleid mit Schürze, da sie wohl bis eben ihrem Gemahl, dem Chirurgen, den alle nur Meister Jupp nannten, in seinem Behandlungsraum geholfen hatte. Ihr hellblondes, fast weißes Haar hatte sie vollständig unter einer mit Blumen bestickten Haube verschwinden lassen.
«Adelina, wie schön, dass ihr wieder hier seid!», rief sie vergnügt, und ihre hellen Augen blitzten fröhlich. Sie umarmte Adelina herzlich und musterte sie dann eingehend. «Du siehst erschöpft aus. Eine so weite Reise in deinem Zustand ist anstrengend.»
«Das kannst du laut sagen. Aber wir mussten jetzt reisen. Stell dir vor, wir hätten länger gewartet und das Kind wäre womöglich auf der Fahrt geboren worden. Neklas hatte schon jetzt arge Bedenken, weil die Straßen ja so schlecht sind. Er hat mir meinen Sitzplatz im Wagen mit drei Decken ausgepolstert. Mein Rücken fühlt sich trotzdem an, als habe man mich verprügelt.»
«Das kann ich mir vorstellen. Aber nun seid ihr wieder hier.» Marie hakte sich bei Adelina unter. «Kann ich dir bei irgendetwas helfen? Ich muss dir unbedingt erzählen, was sich in den letzten beiden Monaten in Köln zugetragen hat. Du wirst es kaum glauben – die Geißler sind durch die Stadt gezogen, mehrmals sogar. Der Stadtrat musste sie mit Waffengewalt vertreiben und hat allen eine schwere Strafe angedroht, die mit ihnen sympathisieren. Gerade in den letzten Tagen brodelt es in Köln mal wieder.»
«Das ist doch nichts Neues», warf Adelina ein.
«Vielleicht nicht», gab Marie zu. «Man munkelt, dass der Erzbischof und einige seiner Mitkurfürsten planen, König Wenzel abzusetzen. Stell dir das mal vor…» Während sie weiter munter auf Adelina einredete, lotste sie sie in die Küche, wo sich die beiden Frauen am Tisch niederließen. Adelina lauschte dem Klatsch sehr aufmerksam, damit sie für ihren morgigen ersten Arbeitstag gerüstet war.
Wenig später stießen auch Neklas und Jupp zu ihnen. Das folgende Abendessen fand in einer vergnügten Runde statt, zu der sich natürlich auch Griet, Vitus und das Gesinde gesellten. Sogar Binah und Malka, Jupps achtjährige rotlockige Zwillingstöchter, durften daran teilnehmen. Sie und Griet steckten tuschelnd die Köpfe zusammen, und Adelina ließ sie gewähren. Obwohl Griet mittlerweile fast zwölf Jahre alt war, gab sie sich gerne mit den jüngeren Mädchen ab. Adelina freute sich, dass ihre ehemals so stille Stieftochter inzwischen viele Freunde gefunden hatte. Nur noch selten schien sie an ihre schlimme Vergangenheit zu denken. Adelina und Neklas taten alles, was möglich war, um die Schrecken ihrer Kindheit verblassen zu lassen, ihr eine glückliche und sichere Zukunft zu bieten.
Als sich das Gespräch erneut den politischen Entwicklungen in Köln zuwandte, riss sie sich von diesen Gedanken los. Wichtiger war es jetzt, etwas über die allgemeine Stimmungslage in Köln zu erfahren.
«Mutter, wann kommt Mira zurück?», fragte Griet, während sie die winzigen Gewichte der Apothekerwaage polierte.
Adelina war gerade dabei, die Zutaten für eine Arznei im Mörser zu zerstoßen, die Magister Pierre van Stijn, der Medicus der Universität, bei ihr bestellt hatte. Nachdem vor einem Jahr der alte Magister Arnoldus gestorben war, hatte van Stijn dessen Posten an der Universität nun ganz übernommen. Ihm oblag es seither, neben den medizinischen Vorlesungen die Scholaren ärztlich zu betreuen. Beinahe täglich schickte er einen der Jungen mit einer Arzneibestellung zu ihr. Die Universität wuchs und gedieh – und mit ihr natürlich auch die Menge an größeren und kleineren Verletzungen und Krankheiten, die sich die jugendlichen Scholaren immer wieder zuzogen.
«Ich weiß es nicht», antwortete Adelina. Vorsichtig füllte sie das grobe Pulver in ein mit Wachshaut ausgekleidetes Leinensäckchen. «Wir haben noch keine Nachricht von ihrer Familie. Aber da sie schon fast sieben Wochen fort ist, dürfte es nicht mehr lange dauern, bis sie zurückkehrt.»
«Hoffentlich.» Griet legte das letzte polierte Gewicht zurück in die Sammelschale. «Es macht keinen Spaß, die ganze Arbeit allein zu machen.»
Adelina lächelte. «Du machst das aber gut, Griet. Und bedenke, dass Mira sehr lange nicht mehr bei ihrer Familie zu Besuch war. Zuletzt vor anderthalb Jahren. Ganz sicher ist sie froh, ein bisschen Zeit mit ihren Verwandten zu verbringen.»
Griet hob den Kopf. «Glaubst du, die wollen sie überhaupt haben? Sie besuchen sie doch auch niemals hier. Na ja, außer ihrer Mutter. Bestimmt sind sie froh, Mira los zu sein.»
«Griet!» Streng schüttelte Adelina den Kopf. «Solche Reden möchte ich von dir nicht hören. Miras Mutter hat sich damals gegen die Pläne ihres Gemahls durchgesetzt, der Mira ins Kloster geben wollte. Aber das hat sie ganz sicher nicht getan, um sie loszuwerden.»
«Das meine ich ja auch nicht. Ihre Mutter ist zwar ein bisschen hochnäsig, aber trotzdem nett. Wenn Miras Stiefvater sie ins Kloster schicken wollte…»
«Ich weiß, was du meinst. Der Adel bringt jüngere Töchter sehr oft in einem Stift oder Kloster unter. Daran ist nichts Ungewöhnliches.»
«Das machen sie doch nur, um die Mitgift zu sparen.»
«Griet, hüte deine Zunge!» Nun runzelte Adelina deutlich verärgert die Stirn. Wenn sie nicht achtgab, würde ihre Stieftochter ein allzu vorlautes Mundwerk entwickeln.
Da Griet wegen ihres harschen Tonfalls den Kopf einzog, sagte sie mit etwas milderer Stimme: «Ein Kloster verlangt auch so etwas wie eine Mitgift für eine Novizin. Oft steigen adelige Mädchen zu bedeutenden Positionen auf, können sogar Äbtissin werden und großen Einfluss erlangen.»
«Mira als Äbtissin?» Griet machte große Augen, dann zuckte es um ihre Mundwinkel. Nur mit äußerster Anstrengung schien sie das Lachen unterdrücken zu können.
Auch Adelina verkniff sich ein Schmunzeln. «Du siehst, ihre Mutter tat gut daran, sie in unsere Obhut zu geben. Als Apothekerlehrling ist sie weitaus besser aufgehoben.»
«Es ist trotzdem komisch, dass sie so lange weg ist und uns keine Nachricht schickt», beharrte Griet. «Was, wenn ihr Stiefvater sie doch noch ins Kloster gesteckt hat?»
Adelina schüttelte verwundert den Kopf. «Weshalb in aller Welt sollte er das tun? Sie hat schon weit mehr als die Hälfte ihrer Ausbildung hinter sich. Wenn sie sich anstrengt, kann sie die Gesellenprüfung sogar etwas früher ablegen. Nun hör auf, dir unnötige Gedanken zu machen. Das bringt Mira auch nicht schneller wieder her. Geh lieber ins Hinterzimmer und sieh nach der Destille. Aber pass mit dem neuen Alembik auf. Er ist größer als der alte und schwerer.»
«Ist gut.» Gehorsam ging Griet zu der Tür, die in die Kammer hinter der Apotheke führte. «Ich hab trotzdem kein gutes Gefühl dabei», murmelte sie gerade so laut, dass Adelina sie noch verstehen konnte. Dann schlug die Tür hinter ihr zu.
Adelina sah ihrer Stieftochter überrascht nach. Seit ihrer Rückkehr nach Köln waren fünf Tage vergangen, und die letzten beiden hatte Griet immer wieder nach Mira gefragt. Ob sie sie derart vermisste? Während ihres Aufenthalts in Kortrijk hatte sie nie etwas verlauten lassen. Zwar war zwischen den Mädchen in den vergangenen Jahren eine innige Freundschaft gewachsen, und vielleicht sah Griet in der mittlerweile knapp sechzehnjährigen Mira so etwas wie eine große Schwester, aber das erklärte nicht diese merkwürdige Sorge, die nun in Griets Gesicht geschrieben stand. Mira war auch früher schon zu längeren Besuchen bei ihrer Familie gewesen.
Adelina legte das sauber verschnürte Säckchen mit der Arznei zu zwei weiteren auf den Tresen, dann holte sie die Zutaten für eine Salbe gegen Gicht aus den Regalen. Bestimmt war Griet nur verschnupft darüber, dass sie alle Arbeiten in der Apotheke, auch die weniger angenehmen wie Putzen und Staub wischen, ganz allein übernehmen musste. Das tat sie zumeist klaglos, und sie gab sich sogar beim Lernen redliche Mühe, das konnte Adelina erkennen. Doch Mira war es, die ein wirkliches Talent für das Apothekerhandwerk besaß, ganz besonders für die Herstellung von Duftessenzen und Konfekt. Griet orientierte sich gern an dem älteren Lehrmädchen und bemühte sich, ihr alle Handgriffe abzuschauen. Da sie jetzt allein war, fehlte ihr diese Stütze vermutlich.
Spontan beschloss Adelina, in der kommenden Woche mit Griet ein paar zusätzliche Lektionen einzulegen und mehr mit ihr zu üben.
Das Klingeln des Glöckchens an der Tür riss sie aus ihren Gedanken. Überrascht und erfreut zugleich blickte sie dem hageren Mann in Kaufmannskluft entgegen, dessen schütteres braunes Haar inzwischen zunehmend von grauen Strähnen durchzogen wurde. «Guten Tag, Herr Reese, wie geht es Euch?»
Sie kannte den Tuchhändler schon lange; vor Jahren hatte sie ihm mehrmals bei der Aufklärung von Morden an Kölner Bürgern helfen können. Noch immer bekleidete er das Amt des städtischen Gewaltrichters. Wenngleich sich Adelina seit den letzten Vorfällen erfolgreich aus allen städtischen Angelegenheiten und insbesondere aus gefährlichen Ermittlungen herausgehalten hatte, war der Kontakt zu Reese nie ganz abgebrochen. Das war vor allem auf die Tatsache zurückzuführen, dass seine Frau eine Schwäche für Adelinas gutes, wenn auch sehr teures Konfekt hatte. Dies schien heute wieder Reeses Anliegen zu sein, denn er trug eine der hölzernen Konfektschachteln bei sich.
«Frau Adelina, ich grüße Euch.» Lächelnd kam er näher und stützte sich dabei schwer auf einen Gehstock, um seinen mit einem Verband umwickelten Fuß zu entlasten. «Rosa hat mir keine ruhige Minute mehr gelassen, nachdem sie erfahren hat, dass Ihr von Eurem Verwandtenbesuch zurück seid. Sie wünscht eine Schachtel voll kandierter Kirschen, ohne die sie, wie sie behauptet, nicht mehr lange leben würde.» Er verzog die Lippen zu einem nachsichtigen Lächeln. «Sie übertreibt natürlich, wie gewöhnlich. Oder mischt Ihr in dieses Konfekt etwa eine Essenz, die die Menschen dazu bringt, immer mehr davon zu wollen?»
Adelina lachte. «Aber nicht doch, Herr Reese, was denkt Ihr Euch? Wir Frauen lieben nun einmal süße Sachen. Aber sagt, was ist geschehen? Habt Ihr Euch den Fuß verstaucht?»
«Nein, das nicht.» Reese trat an den Tresen und lehnte den Gehstock daneben. «Muss wohl die Gicht sein. Mein Zeh ist ganz rot und geschwollen, und das Auftreten schmerzt. Da ich schon mal hier bin, wollte ich Euch um eine Arznei gegen die Schmerzen bitten.»
«Aber sicher.» Adelina wies auf die Zutaten, die sie gerade bereitgestellt hatte. «Ich war gerade dabei, eine Salbe gegen Gicht zuzubereiten. Das kann aber etwas dauern. Wenn Ihr wollt, gebe ich Euch fürs Erste eine Mischung aus Goldrute und Brennnesseln mit. Lasst Eure Gemahlin einen Sud daraus bereiten, von dem Ihr dreimal täglich trinken müsst. Die Salbe lasse ich Euch morgen bringen.»
«Ich danke Euch.» Reese atmete sichtlich auf. Er zog seine Geldbörse aus einer Innentasche seines Zunftmantels und legte ein paar Münzen auf den Tresen. «Ihr seht gut aus, Frau Adelina. Eure Schwangerschaft scheint schon weit fortgeschritten zu sein. Wird Euch die Arbeit in der Apotheke nicht allmählich zu beschwerlich?»
«Bis jetzt noch nicht.» Rasch nahm Adelina die Münzen an sich und legte sie in die Geldkassette unter dem Tresen. «Ich habe meine Apotheke in den vergangenen Wochen sehr vermisst und bin froh, wieder hier zu sein.» Sie schwieg einen Moment. «Wie ich hörte, planen die Kurfürsten den Sturz des Königs.»
Reese kräuselte die Lippen. «Das ist Euch also schon zu Ohren gekommen, wie? Na, hätte mich auch gewundert, wenn diese Information vor Eurer Tür haltgemacht hätte.»
«Ist der Stadtrat in diese Angelegenheit verwickelt?»
«Nicht direkt.» Nachdem Adelina das leere Konfektkästchen wieder aufgefüllt hatte, nahm er es an sich und griff wieder nach seinem Stock. «Der Erzbischof hat die Stadt nicht um Einmischung oder Unterstützung gebeten, aber der Rat steht in jedem Falle hinter ihm.»
«Der Rat toleriert also die Absetzung König Wenzels?»
Reese schnaubte. «Wir würden sie sogar begrüßen. Wenzel ist kein König, sondern ein unnützer, fauler Hundsfott. Nur Saufereien, Weiber und Schwermütigkeit – mehr hört man nicht von ihm. Ein solch unwürdiger Mann darf einfach nicht der Verwalter unseres Reiches sein.»
«Und wer soll sein Nachfolger werden?»
«Das ist noch nicht sicher.» Reese senkte die Stimme ein wenig. «Man sagt, Ruprecht von der Pfalz habe die besten Aussichten.» Er wandte sich zum Gehen.
Adelina eilte zu ihm, um die Tür aufzuhalten. Reese trat auf den Marktplatz, machte jedoch sogleich wieder einen Schritt rückwärts, denn ein Trupp bewaffneter Reiter passierte gerade die Apotheke. Neugierig ging auch Adelina hinaus. Den blauen Mänteln nach handelte es sich um erzbischöfliche Soldaten. An ihrer Spitze ritt ein großer, beleibter Geistlicher im Dominikanerhabit auf einem ebenso stattlichen Rappen, einige weitere Ordensbrüder auf wesentlich kleineren Reittieren folgten dem Trupp. Der Mönch jedoch, der gleich neben dem beeindruckenden Geistlichen ritt, blickte ausgerechnet in diesem Moment zu ihr herüber. Adelina zuckte zusammen, als er ihr mit einem feinen Lächeln zunickte. Dann beugte er sich zu dem Priester hinüber und flüsterte ihm etwas zu, woraufhin dieser sich zu Adelina umdrehte und sie einen Augenblick lang anstarrte.
Sie schauderte aus einem unerfindlichen Grund; das feiste, ungewöhnlich braunhäutige Gesicht des Geistlichen hatte zwar keinerlei Regung gezeigt, dennoch hatte sie den Eindruck, er habe sich ihre Züge während dieses kurzen Moments genau eingeprägt.
Energisch räusperte sie sich und rieb sich über die Oberarme. «Bruder Thomasius.»
Reese blickte sich zu ihr um. «In der Tat, das habt Ihr richtig erkannt. Seit er das Predigen des Jüngsten Gerichts aufgegeben hat, taucht er immer öfter in Vater Emilianus’ Gesellschaft auf.»
«Ich habe ihn schon sehr lange nicht mehr gesehen», sagte Adelina. «Wer ist dieser Vater Emilianus?»
«Ein Gefolgsmann und enger Vertrauter des Erzbischofs», erklärte Reese. «Er scheint auf dem Weg zum Rathaus zu sein. Entschuldigt mich, ich denke, es wäre besser, wenn auch ich mich sogleich dorthin begebe.» Er nickte ihr freundlich zu und humpelte in Richtung der Judengasse, in der sich das Rathaus der Stadt Köln befand.
Einen Moment lang blieb Adelina noch vor ihrer Apotheke stehen. Bruder Thomasius trieb sich jetzt also bei den erzbischöflichen Gefolgsleuten herum. Kurz nachdem sie Neklas geheiratet hatte, war der hagere Dominikanermönch in Köln aufgetaucht und hatte begonnen, Unfrieden zu stiften. Er kannte manch dunkle Kapitel aus Neklas’ Vergangenheit, ja, war sogar in einige davon selbst verwickelt gewesen. Außerdem besaß er ein ausgesprochen sauertöpfisches Wesen und bemühte sich redlich, den Menschen das Leben schwerzumachen. Lange Zeit hatte er Neklas mit seinen Verdächtigungen verfolgt und gleichzeitig auf den Plätzen und in den Gassen Kölns von der Sündhaftigkeit der Menschen und Gottes Zorn gepredigt, der die Menschen niederschmettern würde. Seit jenem Sommer vor drei Jahren, als er ihnen geholfen hatte, Griet aus den Fängen eines habgierigen Entführers zu befreien, hatte sein beständiges Hetzen nachgelassen. Seit einigen Monaten hatte Adelina nichts mehr von ihm gehört und schon vermutet, dass er die Stadt verlassen habe. Offenbar hatte sie sich geirrt. Wenn Neklas am Abend von seinen Patientenbesuchen heimkehrte, würde sie ihm sofort berichten, was sie soeben erfahren hatte.
Langsam ging sie zurück in ihre Apotheke und kümmerte sich wieder um die Herstellung der Gicht-Salbe. Dabei lauschte sie mit einem Ohr den Geräuschen, die aus dem hinteren Teil des Hauses kamen. Sie vernahm das Lachen ihres dreijährigen Sohnes Colin, fröhliches Hundegebell und die mahnende Stimme ihrer Magd Franziska. Mit einem kurzen Blick ins Hinterzimmer überzeugte sie sich, dass Griet noch immer auf die Apparatur achtgab, mit der sie derzeit Aqua Ardens herstellten – Weingeist, den sie verschiedenen Arzneien zusetzten.
Zufrieden kratzte Adelina die nun zerkleinerten Ingredienzien aus dem Mörser in eine kleine Holzschüssel und verrührte alles mit Gänseschmalz. Danach deckte sie die Schüssel ab und stellte sie beiseite.
Sie dachte gerade, dass heute ein ungewöhnlich ruhiger Freitag sei, als die Tür aufgestoßen wurde und Meister Jupp die Apotheke betrat. «Adelina? Wärest du so gut, kurz mit nach nebenan zu kommen? Einer meiner Gesellen hat auf der Straße eine junge schwangere Frau aufgelesen, die gestürzt ist. Sie ist nicht schwer verletzt, musste sich jedoch schon zweimal übergeben. Vielleicht hast du eine Arznei für sie?»
«Aber ja doch, ich komme sofort.» Adelina nickte ihm zu. «Nur einen Augenblick.»
Meister Jupp zog sich zurück. Adelina nahm schnell ein paar Gefäße sowie ein Leinenbeutelchen aus dem Regal. Sie packte alles in einen kleinen Weidenkorb und rief Griet herbei. «Bring dies nach nebenan zu Meister Jupp, ich komme sofort nach.»
Das Mädchen gehorchte, während Adelina rasch durchs Hinterzimmer in den Wohnbereich des Hauses ging und nach Magda rief. Statt ihrer kam jedoch Franziska aus der Küche, den fröhlich krähenden Colin an der Hand. «Ja, Herrin, was gibt es? Magda ist draußen im Garten. Soll ich sie holen?»
«Mama! Wir spielen mit Moses Fangen. Komm gucken!» Mit einem freudigen Lachen hob Colin die Ärmchen in die Höhe, sein Zeichen, dass er auf den Arm genommen werden wollte. Doch Adelina schüttelte den Kopf. «Nicht jetzt, Colin. Ich bin beschäftigt.» Sie wandte sich an die Magd. «Hab bitte ein Auge auf die Apotheke. Ich muss kurz hinüber zu Meister Jupp und einer Schwangeren helfen, der es nicht gutgeht. Griet nehme ich mit.»
«Aber sicher doch, ich passe schon auf.» Franziska nahm nun ihrerseits Colin auf die Hüfte. «Kommt, junger Herr, wir bewachen die Apotheke Eurer Frau Mutter», sagte sie in soldatischem Ton, der Colin zu gefallen schien, denn er klatschte begeistert in die Hände. «Ich bin ein Ritter und du das Pferdchen», krähte er, während er auf ihrer Hüfte herumruckelte. «Hopp, hopp, hü!»
Franziska lachte und ging hinter Adelina in die Apotheke, wo sie sich mit dem Jungen auf einen Hocker setzte und ihn auf ihren Knien reiten ließ.
Adelina beeilte sich, in das Nebengebäude zu gehen, das an ihrem eigenen Haus klebte wie ein siamesischer Zwilling. Vor Jahren hatte Neklas es einem Ratsherrn abgekauft und sich im Untergeschoss Behandlungsräume eingerichtet, die er sich mit dem Chirurgen teilte. Im Obergeschoss hatten sie mehrere Durchbrüche gemacht, um für ihre wachsende Familie und das Gesinde ausreichend Wohnraum zu schaffen.
Als Adelina Meister Jupps Knochenwerkstatt, wie er seinen Behandlungsraum gerne scherzhaft nannte, betrat, schlug ihr der scharfe Geruch von getrockneten Heilkräutern entgegen, mit denen Jupp und seine Gesellen Umschläge bereiteten. Es roch ähnlich wie in ihrer Apotheke, doch schwebte bei ihr nicht über allem der Geruch von Blut und Eiter.
In der Mitte des Raums stand der große Behandlungstisch aus Eichenholz, an dessen Seiten mehrere breite Lederfesseln und Gurte befestigt waren, um den Patienten, wenn nötig, zu fixieren oder ruhigzustellen. Auf einem Tisch an der Wand lagen ordentlich sortiert Meister Jupps Instrumente und Werkzeuge, angefangen bei winzigen Nadeln zum Starstechen über verschieden große Schaber, Löffel, Messer und Sägen bis hin zu furchterregend aussehenden Haken und Klemmen. An der Wand über dem Tisch hingen mehrere Zangen zum Zahnreißen. In den Regalen daneben gab es weitere Gerätschaften, über deren Verwendung Adelina lieber nicht zu genau Bescheid wissen wollte. Sie war zwar nicht empfindlich, doch selbst ihr jagten die Schreie, die schon so manches Mal zu ihr herübergeschallt waren, wenn Meister Jupp einen Verunglückten behandelte, einen Schauer über den Rücken.
Auf einem der Regalbretter stapelten sich Behältnisse für die Kräuter und Verbandmaterial. In einer Ecke des Raumes standen eine Schüssel mit Wasser und eine Karaffe mit Leinöl. Hier reinigten Meister Jupp und seine Gesellen nach getaner Arbeit ihre Hände und ihr Werkzeug. Letzteres wurde nach jeder Behandlung sorgfältig mit dem Öl eingerieben, damit es nicht rostete.
Der unangenehme Blutgeruch kam jedoch eindeutig von dem Behandlungstisch, der nach nunmehr dreijähriger Benutzung unzählige dunkle Flecken aufwies, die trotz der Reinigungen tief ins Holz eingezogen waren. Eine dunkelrot, fast schwarz geränderte Schüssel, die in einem Fach unter dem Tisch lagerte, machte noch eine weitere Verwendungsart desselben deutlich: Hier wurde regelmäßig zur Ader gelassen.
Adelina durchquerte den Raum und ging auf die blasse junge Frau zu, die auf einem Hocker kauerte und von Marie gerade einen Becher Bier gereicht bekam. Meister Jupp stand daneben, Griet hingegen hatte sich mit ihrem Korb in eine Ecke zurückgezogen. Adelina wusste, dass sie sich vor den Werkzeugen in diesem Raum fürchtete. Deshalb hatte sie sie angewiesen, mit ihr zu kommen. Als Apothekerlehrling musste Griet lernen, sich auch mit den Behandlungsmethoden von Badern und Chirurgen vertraut zu machen. Also winkte sie ihrer Stieftochter, näher zu kommen, und sprach dann die junge Frau an. «Guten Tag. Ich bin Meisterin Adelina Burka aus der Apotheke von nebenan. Wie ich hörte, geht es Euch nicht gut, deshalb habe ich ein paar Kräuter und Arzneien mitgebracht…»
«Oh, das ist doch nicht nötig», wehrte die Schwangere ab. «Ich habe dem guten Meister Jupp schon gesagt, dass ich nicht viel Geld habe und mir teure Arznei gar nicht leisten kann.»
«Frau Katharina wohnt unten am Mühlenbach beim Filzengraben», erklärte Marie. «Ihr Mann ist Schuhmacher.»
«Mein Friedel flickt die Schuhe für die Arbeiter an der Dombaustelle», berichtigte Frau Katharina.
Adelina verstand. Ein Flickschuster hatte meist kaum ein höheres Einkommen als ein Tagelöhner, doch das hatte sie bereits geahnt, als sie das abgetragene Kleid der Frau gesehen hatte. Ihr dunkelblondes Haar steckte unter einer einfachen kopftuchähnlichen Haube, die an den Rändern schon ein wenig ausgefranst war.
Aufmunternd lächelte sie ihr zu. «Wenn Euer Gemahl bereit wäre, auch das eine oder andere Paar Schuhe aus meinem Haushalt herzurichten, braucht Ihr Euch um die Bezahlung keine Gedanken zu machen.»
Frau Katharinas Miene entspannte sich, und sie nickte zögernd. «Das wäre wohl möglich, Frau Meisterin. Vielen Dank.»
«Dann erzählt mir nun, was Euch geschehen ist.»
Sorgenvoll blickte Adelina aus dem Fenster ihrer Schlafkammer hinaus auf den Alter Markt. Es war bereits dunkel, in weniger als einer Stunde würde die Glocke von Groß St.Martin die Mitternacht verkünden. Hinter ihr war Neklas gerade dabei, sich zu entkleiden. Sie hörte, wie das Bettgestell knarrte und die Decken raschelten.
«Willst du nicht zu Bett gehen?», fragte er ruhig.
Langsam drehte sie sich um. «Wie soll ich schlafen können, wenn solch schlimme Dinge in Köln geschehen?»
«Schlimme Dinge passieren fast täglich, Adelina.»
«Aber nicht so etwas!», brauste sie auf, senkte ihre Stimme jedoch gleich wieder. «Ich konnte kaum glauben, was diese Frau uns heute Nachmittag erzählt hat. Knochen, Neklas! Man hat die Gebeine von Verstorbenen gestohlen – aus einem Beinhaus! Hast du so etwas schon jemals gehört?»
Neklas schüttelte mit ernster Miene den Kopf. «Nein, habe ich nicht. Jedenfalls nicht hier in Köln.»
«Es wäre gar nicht aufgefallen, wenn die Totengräber nicht den Auftrag erhalten hätten, das Beinhaus in der Rheingasse zu schließen, weil es voll war», fuhr Adelina empört fort, dann stockte sie. «Was soll das heißen, nicht hier in Köln?»
Seufzend streckte Neklas sich auf seiner Matratze aus und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. «Du weißt, dass ich auf meinen Reisen einiges erlebt habe. In Italien gab es damals so eine Sekte von Teufelsanbetern, die angeblich die Knochen von Selbstmördern, die in ungeweihter Erde bestattet worden waren, für ihre Kulthandlungen benutzt haben.»
«Wie abscheulich!»
«Da stimme ich dir zu.»
«Glaubst du, dies hier waren auch solche… Teufelsanbeter?» Rasch bekreuzigte sie sich.
Neklas schüttelte erneut den Kopf. «Das ist nicht möglich. Die Anhänger jener Sekte wurden damals samt und sonders verbrannt. Nicht einer von ihnen ist mit dem Leben davongekommen.»
Adelina schauderte. «Ich mag mir gar nicht vorstellen, was jetzt mit den Gebeinen geschieht. Und wie sich die Angehörigen erst fühlen müssen. Es ist einfach schrecklich.» Nun ging sie doch zum Bett, setzte sich auf die Kante und begann, ihre Schuhe aufzuschnüren. Da sie mittlerweile schon recht unförmig war, ächzte sie ungehalten.
«Warte, ich helfe dir.» Neklas sprang auf und ging um das Bett herum, hockte sich vor sie und nestelte an der Verschnürung ihres linken Schuhs.
Sie streifte ihn ab und wartete, bis Neklas auch den rechten Schuh geöffnet hatte. Bevor sie damit beginnen konnte, hatte er sich bereits neben sie gesetzt, löste die Schnüre und Haken ihres Kleides, streifte es ihr von den Schultern und fuhr sanft und fest zugleich über ihre verhärteten Nackenmuskeln.
Wohlig seufzend ließ sie ihn gewähren. «Es muss ein riesiges Aufsehen in der Rheingasse gegeben haben», erzählte sie, was sie von der Gattin des Flickschusters gehört hatte. «Die Menschen sind sogar vom Heumarkt aus hingeströmt. Deshalb ist Frau Katharina auch in dem Gedränge gestürzt und hat sich die Hände und beide Knie aufgeschlagen. Gottlob war Jupps Geselle Cristof in der Nähe und konnte ihr helfen.»
Neklas grinste. «Dithmar und Cristof ziehen doch tagtäglich durch die Straßen auf der Suche nach Verwundeten und Verunglückten.»
Adelina gab einen ungehaltenen Laut von sich. «Ich weiß, dass das ihre Aufgabe ist. Wie sonst soll Jupp wohl an seine Patienten kommen? Aber es war ein glücklicher Zufall, dass Cristof gerade auf dem Heumarkt war. Die arme Frau – sie ist hochschwanger wie ich. Nein, ich denke, sie ist sogar noch ein wenig weiter. Das Kind kann bestimmt jeden Tag kommen. Stell dir vor, durch den Sturz wäre es bereits auf der Straße geschehen!»
«Ist es aber nicht.»
«Nein, aber es ging ihr nicht gut. Der Sturz, die Hitze… Sie fühlte sich sehr elend und war auch ganz blass. Ich habe ihr einen Kräutersud mitgegeben, der ihr hoffentlich hilft. Als Bezahlung wird ihr Mann zwei von Vitus’ Schuhen flicken. Sie werden morgen abgeholt.»
«Na, dann hat die Geschichte wenigstens ein gutes Ende genommen», befand Neklas und gab ihr einen Kuss auf die Schulter. «Nun leg dich hin und versuch etwas zu schlafen. Du weißt, wenn das Kind erst mal da ist, wird es mit der Nachtruhe für eine Weile vorbei sein.»
Adelina nickte stumm, schälte sich aus ihrem Kleid, legte es ordentlich über ihre Kleidertruhe und schlüpfte dann unter ihre Decke. Neklas löschte das Licht der Öllampe, zog Adelina an sich und bettete ihren Kopf auf seine Schulter.
«Ich kann einfach nicht begreifen, wer so etwas Schlimmes tut!», begann sie aufs Neue. «Etwas Gottloseres als den Diebstahl von menschlichen Gebeinen kann ich mir kaum vorstellen.»
«Denk nicht mehr darüber nach», murmelte Neklas. «Die Sache wird sich schon aufklären. Außerdem betrifft sie uns doch gar nicht.»
«Wer so etwas tut, muss ein Scheusal sein.» Sie gähnte und zog die Decke ein Stückchen höher. «Aber vermutlich hast du recht. Es betrifft uns nicht.» Damit schloss sie die Augen, kurz darauf war sie eingeschlafen.
***
«Mutter?» Griet streckte den Kopf zur Küchentür herein. «Frau Katharina ist da und fragt nach den Schuhen, die sie abholen soll.»
«Ich komme.» Adelina hatte Magda gerade aufgezählt, was heute alles auf dem Markt gekauft werden musste. Rasch nahm sie den Korb mit Vitus’ Schuhen und eilte in die Apotheke. Als sie die Frau des Flickschusters sah, lächelte sie. «Guten Morgen, Frau Katharina. Wie ich sehe, habt Ihr wieder Farbe im Gesicht. Also geht es Euch besser?»
«Die Kräuter haben wunderbar geholfen, vielen Dank. Auch mein Mann lässt Euch seinen Dank ausrichten, dass Ihr so freundlich seid, unsere Schulden auf diese Weise zu begleichen.» Sie nahm Adelina den Korb ab und musterte die Schuhe. «Die sind aber schon arg ramponiert, Frau Meisterin. Das wird ein bisschen dauern, vor allem, weil mein Friedel gerade eine neue Ladung Schuhe von den Domarbeitern bekommen hat.»
«Keine Sorge, das eilt nicht», beruhigte Adelina sie. «Es sind ja beides Winterschuhe. Wenn Ihr sie mir im Laufe der nächsten Woche zurückbringt, reicht das völlig.»
Frau Katharina bedankte sich erneut und wandte sich zum Gehen, als ihr noch etwas einzufallen schien. «Ich hab Euch doch von diesem frevlerischen Raub im Beinhaus erzählt.» Sie senkte die Stimme. «Stellt Euch vor, es heißt, es seien nicht einfach irgendwelche Knochen gestohlen worden, sondern nur die von Kindern.» Sie bekreuzigte sich, und Adelina tat es ihr nach. «Was für ein gottloser Mensch tut nur so etwas?»
***
Die gleiche Frage stellten ihr an diesem Morgen etliche ihrer Kunden. Jeder, der die Apotheke betrat, begann das Gespräch mit den neuesten Spekulationen zu dem Knochendiebstahl. Die Angelegenheit war über Nacht zum Stadtgespräch geworden, und je weiter der Tag voranschritt, desto abstruser und abenteuerlicher wurden die Geschichten.
Adelina schwirrte am Mittag der Kopf davon, und sie erwog bereits, die Apotheke für eine oder zwei Stunden zu schließen, da ihr auch zunehmend der Rücken schmerzte.
Doch sie kam nicht dazu, denn just nachdem Magda den Kopf zur Hintertür hereingestreckt und verkündet hatte, dass das Mittagessen fertig sei, hielt ein Reisewagen vor dem Haus, auf dessen Türen das Wappen der Grafen von Raderberg zu sehen war. Der Fuhrknecht sprang behände vom Bock und öffnete den Verschlag, um es Mira zu ermöglichen, herauszuklettern.
Das Mädchen blieb einen Moment lang ruhig vor der Apotheke stehen und blickte an der Fassade empor. Adelina beobachtete durch das geöffnete Fenster, wie Mira zwei-, dreimal tief durchzuatmen schien, dann wandte sich das Mädchen an den Knecht und gab ihm Anweisung, ihr Gepäck abzuladen.
Lächelnd ging Adelina zur Tür und ließ ihr Lehrmädchen eintreten. «Willkommen zurück, Mira! Lass dich ansehen, bist du etwa gewachsen?»
Miras bisher ernste Miene hellte sich auf. «Meisterin! Ich bin so froh, endlich wieder hier zu sein. Ich hatte ganz vergessen, wie langweilig das Leben auf der Burg sein kann. Den ganzen Tag nur sticken, nähen und immer über die gleichen Dinge reden.» Sie schüttelte sich. «Da ist es in der Stadt doch viel interessanter.»
«Na, zumindest scheinst du neue Kleider bekommen zu haben. Dein Stiefvater hat es diesmal wohl gut mit dir gemeint.» Wohlgefällig ließ Adelina ihren Blick über Miras taubenblaues Kleid wandern. «Das Waid, mit dem der Stoff gefärbt wurde, muss ein Vermögen gekostet haben.»
«Ach das.» Miras Augen verschleierten sich für einen Moment, doch sogleich lächelte sie wieder. «Ich weiß auch nicht, was in ihn gefahren ist. Er hat mir gleich drei neue Kleider geschenkt und dazu Schapels und Haarbänder und… Aber ich fürchte, bei der Arbeit in der Apotheke werden die weiten Röcke eher hinderlich sein.» Sie blickte sich um. «Soll ich gleich etwas tun, Meisterin? Ich könnte überprüfen, ob die Arzneibehälter alle ausreichend gefüllt sind. Oder nach den getrockneten Kräutern sehen.»
«Nun komm erst einmal richtig an», bremste Adelina Miras Eifer lachend aus. «Zeig dem Knecht deine Kammer, damit er das Gepäck dort abstellen kann, und dann solltest du in die Küche gehen. Magda hat das Essen fertig – eine gute Gemüsesuppe, in der, wenn mich nicht alles täuscht, sogar ein paar Speckstreifen schwimmen.»
Dankbar nickte Mira und zupfte am Ende ihres langen, kunstvoll geflochtenen hellblonden Zopfes herum. «Das klingt gut, Meisterin.»
«Griet wird sich sehr darüber freuen, dass du wieder da bist. Sie hat dich bereits vermisst.»
Um Miras Mundwinkel zuckte es. Sie konnte ein freches Grinsen nicht mehr unterdrücken. «Bestimmt ist sie es leid, jeden Tag die Waage zu polieren und ganz allein die Böden zu schrubben.» Sie hielt kurz inne. «Sogar darauf habe ich mich gefreut», murmelte sie.
Bevor Adelina etwas dazu sagen konnte, hatte Mira den Fuhrknecht hereingewunken und gab ihm Anweisungen, wohin er ihre Reisetruhe bringen sollte.
***
Wie erwartet begrüßte Griet Mira mit einem Freudenschrei und einer festen Umarmung. Auch die anderen Mitglieder des Haushalts freuten sich, das Lehrmädchen wiederzusehen. Das Mittagessen wurde von fröhlichem Geplauder begleitet, welches sich natürlich unvermeidlich auch dem neuesten Stadtklatsch zuwandte.
Mira machte große Augen, als sie von dem Knochendiebstahl erfuhr. «Ach du meine Güte», entfuhr es ihr. «Wer klaut denn die Gebeine von toten Kindern? Bestimmt die Juden, oder? Man sagt doch, dass sie sogar das Blut von Säuglingen trinken und mit ihren kleinen Leichnamen die Brunnen vergiften, um uns die Pest…»
«Mira, um Himmels willen!» Empört starrte Adelina das Mädchen an. «Woher hast du denn diesen Unfug?»
Mira zuckte mit den Schultern. «Alle sagen das doch.»
«Alle?»
Mira zog ob Adelinas scharfem Ton den Kopf ein wenig ein. «Na ja, unser Hauspfarrer, Vater Blasius, hat mir erzählt, dass die Juden vor fünfzig Jahren auf diese Weise die Pestilenz nach Köln gebracht hätten. Er muss es ja wissen, schließlich war er dabei.»
«Als die Juden die Brunnen vergiftet haben?», fragte Neklas mit mildem Spott in der Stimme.
Prompt schüttelte Mira den Kopf. «Nein, als die Pest nach Köln kam. Er war damals noch ein Junge und Novize bei den Benediktinern von Groß St.Martin.»
«So so.» Neklas warf Adelina einen kurzen Blick zu. «Ich glaube nicht, dass die Juden die Knochen aus dem Beinhaus gestohlen haben, und es ist auch nicht erwiesen.»
«Aber…»
«Wir sollten niemals Menschen vorverurteilen, auch nicht, wenn sie einem anderen Glauben anhängen, Mira.»
«Aber…»
«Und nun iss deine Suppe, bevor sie kalt wird», fügte Adelina streng hinzu. Innerlich seufzte sie. Sie hatte ganz vergessen, wie anstrengend Mira sein konnte. Dieser Hauspfarrer hatte ihr anscheinend noch mehr Flausen in den Kopf gesetzt.
***
Nach dem Essen schickte Adelina die Mädchen sogleich an die Arbeit und staunte, dass Mira tatsächlich nicht einmal murrte, als sie ihr auftrug, den schweren Alembik innen und außen zu reinigen und für einen neuen Destilliervorgang vorzubereiten. Sie konnte sich jedoch beim besten Willen nicht vorstellen, dass der Frieden lange währen würde.
Adelina konnte sich nicht erinnern, dass ihr Lehrmädchen jemals die täglichen, zum Teil sehr langweiligen Pflichten ohne aufzubegehren erledigt hätte. Das ständige Jammern über das schwere, zuweilen unerträgliche Los, das Mira zu tragen habe, war kaum mehr aus dem Alltag wegzudenken.
Dabei wusste Adelina, dass Mira in Wahrheit nicht nur ein gescheites Mädchen war, sondern die Arbeit in der Apotheke lieben gelernt hatte. Sie war talentiert und wissbegierig. Wenn sie Adelina bei der Zubereitung von schwierigen Rezepturen helfen durfte, war sie stets mit offenen Augen und Ohren dabei. Selten musste Adelina ihr einen Vorgang zweimal erklären. Besonders geschickt stellte Mira sich beim Mischen von Duftölen und -essenzen an. Sie hatte sogar vor einiger Zeit begonnen, damit zu experimentieren, weil sie einer scharf riechenden Salbe einen angenehmeren Duft hatte geben wollen. Das Ergebnis war eine unbrauchbare Pampe gewesen, doch sie hatte sich vorgenommen, weiterzumachen, bis ihr das Experiment eines Tages gelingen würde. Adelina hatte daran erkannt, dass Mira das Herzblut einer Apothekerin besaß.
Sie war gerade dabei, weitere Arzneien für Magister van Stijn in einen Korb zu packen, als das Glöckchen an der Tür einen Besucher ankündigte. Erstaunt blickte sie auf. «Nanu, Herr Reese, Ihr schon wieder? Habt Ihr gestern etwas vergessen?»
«O nein, Frau Adelina, das nicht.» Reese stützte sich wie am Vortag schwer auf seinen Gehstock. Auf seiner Stirn standen kleine Schweißtropfen. «Ich war nur gerade auf dem Weg zum Rathaus und dachte, ich sage Euch gleich Bescheid, dann muss ich später keinen Boten schicken.» Er trat näher an den Tresen heran. «Leider habe ich Magister Burka nebenan nicht angetroffen. Wäret Ihr so freundlich, ihm mitzuteilen, dass Rochus van Bause in drei Tagen auf dem Neumarkt hingerichtet wird. Euer Gemahl soll als städtischer Medicus anwesend sein.»
«Rochus van Bause? Ist das nicht einer der Männer, die damals mit Herrmann von Goch sympathisiert und versucht haben, den neuen Stadtrat zu stürzen?»
«Genau der.» Reese nickte. «Einer von vielen», setzte er seufzend hinzu. «Zum Glück konnten ihre Pläne rechtzeitig vereitelt werden. Seit von Goch und Hilger Quattermart hingerichtet wurden, scheinen sich die Gemüter langsam wieder zu beruhigen. Van Bause ist einer der letzten Verräter, die noch auf die Vollstreckung des Urteils warten.»
«Warum soll mein Mann diesmal bei der Hinrichtung dabei sein?», wunderte Adelina sich. «Der Henker ist doch sonst dafür zuständig, den Tod des Verurteilten eindeutig festzustellen.»
«Das ist er auch in diesem Fall. Doch Magister Burka soll vorher im Gefängnisturm nach dem Rechten sehen und van Bause untersuchen. Der war nämlich krank, müsst Ihr wissen. Es muss sichergestellt sein, dass er kräftig genug für die Urteilsvollstreckung ist.»
«Aha.» Adelina runzelte die Stirn.
«Ich weiß, es mag in Euren Ohren überflüssig klingen, einen Delinquenten nur gesund zur Richtbank zu führen. Aber schließlich soll er bei vollen Sinnen sein Urteil entgegennehmen.» Reese zögerte kurz. «Und das ist die zweite Sache. Es kursieren Gerüchte, jemand könnte van Bause heimlich ein Betäubungsmittel zuführen, um ihm seine letzten Stunden zu erleichtern. Das dürfen wir natürlich nicht zulassen, denn eine Milderung ist im Urteil für ihn nicht vorgesehen.»
«Neklas soll also dafür sorgen, dass der Mann bei wachem Verstand hingerichtet wird.»
Reese nickte grimmig. «So ist es, meine Liebe. Wäret Ihr also so gut…»
«Ich sage es ihm.» Adelina blickte den Gewaltrichter aufmerksam an. «Ihr seht krank aus, Herr Reese. Haben Euch die Kräuter keine Linderung verschafft?»
«Leider nicht, Frau Adelina.» Mit dem Ärmel wischte Reese sich den Schweiß aus dem Gesicht.
Sie griff in das Fach unter dem Tresen und holte den Salbentiegel hervor. «Möchtet Ihr die Salbe gleich mitnehmen? Ich hätte sonst meinen Knecht zu Euch geschickt.»
«Danke, das geht schon.» Er nahm den Tiegel entgegen, beäugte ihn kurz und schob ihn dann unter seinen Mantel. Als er sich zur Tür umwandte, schwankte er plötzlich und fluchte leise.
Alarmiert kam Adelina hinter ihrem Tresen hervor und griff nach seinem Arm. «Was ist mit Euch, Herr Reese? Ist Euch schwindlig?»
Da Reese nickte, führte sie ihn zu einem ihrer beiden Hocker, dann rief sie nach Franziska und trug ihr auf, sofort Ludowig hereinzuholen.
«Macht Euch keine Umstände, gute Frau», protestierte Reese matt. «Die Hitze macht mir ein bisschen zu schaffen, das ist alles.»
«Ihr habt Fieber und Schweißausbrüche», erwiderte Adelina. «Damit ist nicht zu spaßen. Möglicherweise hat sich Euer Fuß noch schlimmer entzündet. Ich möchte, dass Ihr Euch von Ludowig helfen lasst. Geht zu Meister Jupp und lasst Euch untersuchen.»
«Ich brauche keinen Knochenflicker!»
Adelina lächelte milde. «Meister Jupp ist ein fähiger Mann. Mein Gemahl ist auf Patientenbesuch noch eine Weile unterwegs. Natürlich könnt Ihr auch warten, bis er wieder hier ist…»
«Das geht nicht. Ich werde im Rathaus erwartet.»
«Seht Ihr, dann ist Meister Jupp wohl die beste Lösung.» Adelina wandte sich an ihren Knecht, der gerade durch die Hintertür hereinkam. «Ludowig, hilf dem Gewaltrichter Reese, hinüber zu Meister Jupp zu gehen.»
«Ich kann schon alleine aufstehen.» Ungehalten wimmelte Reese Ludowigs ausgestreckte Hand ab. «So ein Aufhebens wegen ein bisschen Gicht.»
Mit gewittriger Miene und leise Verwünschungen murmelnd, humpelte Reese zur Tür hinaus, dicht gefolgt von dem Knecht, der ebenfalls leicht schwankend ging, da sein rechtes Bein etwas kürzer war als das linke.
«Schön, schön.» Die alte Ludmilla schnalzte zufrieden und bedeutete Adelina mit einem Handzeichen, dass sie sich wieder anziehen sollte. «Das Kindchen ist schon hübsch gewachsen. Der Größe nach müsste es ein Junge werden. Aber du trägst es ziemlich tief diesmal. Das deutet wiederum eher auf ein Mädchen hin.»
Während Adelina ihr Kleid zuschnürte, kramte die Hebamme in ihrem großen Korb herum. Sie war eine hochgewachsene schlanke Frau, der man die Jahre hauptsächlich an ihrem grauen, mit schlohweißen Strähnen durchzogenen Haar ansah. Ihre Haltung war aufrecht, ihr Gang kraftvoll und ihre Stimme tief und etwas rau. Inzwischen sammelten sich auch immer mehr Falten um ihre Augen und den Mund, dennoch hatte man nicht den Eindruck, es mit einem alten Weiblein zu tun zu haben. Vor einigen Jahren hatte man Ludmilla wegen Mordverdachts ins Gefängnis gesteckt und gefoltert. Nachdem ihre Unschuld erwiesen worden war, hatte Adelina sich ihrer angenommen und sie gepflegt. Es schien, als sei Ludmilla seit dieser Zeit noch einmal aufgeblüht.
Adelina kannte die weise Frau schon sehr lange. Ludmilla hatte seinerzeit bei Vitus’ Geburt geholfen und versucht, die Mutter zu retten. Leider war es ihr nicht geglückt, doch Adelina hatte dennoch größtes Vertrauen in ihre Fähigkeiten als Hebamme, sodass sie sich Jahre später in höchster Not vertrauensvoll an sie gewandt hatte. Seither verband die beiden Frauen eine Freundschaft, weshalb Adelina nicht geruht hatte, bis der Mordverdacht gegen Ludmilla ausgeräumt gewesen war.
Selbstverständlich war Ludmilla bei Colins Geburt zugegen gewesen, und auch Adelinas zweites Kind würde mit ihrer Hilfe geboren werden.
«Hier, für den Fall, dass du vorzeitige Wehen bekommen solltest, kannst du dir daraus einen Trank mischen.» Ludmilla hielt Adelina ein mit einer Schnur zusammengebundenes Sträußchen Kräuter hin.
«Vorzeitige Wehen?» Erschrocken blickte Adelina sie an. «Was meinst du damit?»
Beruhigend legte die Alte ihr eine Hand auf den Arm. «Eine reine Vorsichtsmaßnahme, keine Sorge. Wenn ein Kind im Mutterleib so schnell wächst wie das deine, sollte man achtgeben. Ich konnte zwar nur einen Körper ertasten, aber es besteht immerhin die Möglichkeit, dass es Zwillinge werden. Die kommen häufig etwas zu früh zur Welt.»
«Zwillinge? Lieber Himmel.» Adelina starrte sie entgeistert an. «Damit hatte ich nicht gerechnet.»
«Wie auch?» Ludmilla stieß ein keckerndes Lachen aus. «Gott gibt, wie es ihm gefällt. Aber wie schon gesagt, es ist nicht sicher. Vielleicht trägst du nur einen kleinen Nimmersatt unter dem Herzen.» Erneut kramte Ludmilla in ihrem Korb und zog dann einen kleinen Leinenbeutel hervor. «Dies hier habe ich für Franziska mitgebracht. Du weißt schon, die Kräutermischung, mit deren Hilfe man…» Sie schwieg einen Moment lang bedeutsam. «…der Schlafkammer einen angenehmen Duft verleihen kann.» Sie zwinkerte verschwörerisch, und Adelina verstand.
Ludmilla kannte sich nicht nur mit den üblichen Handgriffen einer Hebamme aus. Sie wusste darüber hinaus auch um viele Kräuter und Mittelchen, mit deren Hilfe man so manches Frauenleiden lindern konnte. Außerdem war sie, wie alle Welt wusste, niemand jedoch beweisen konnte, eine Engelmacherin. Sie hatte schon so mancher Frau geholfen, ein unerwünschtes Kind vor der Zeit aus dem Leib zu treiben.