Frische Brise auf dem Sommerdeich - Katja Just - E-Book

Frische Brise auf dem Sommerdeich E-Book

Katja Just

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Beschreibung

Mit »Barfuß auf dem Sommerdeich« hat Katja Just viele Leserinnen und Leser für Hallig Hooge, das winzige Eiland mitten im Nordfriesischen Wattenmeer, begeistert. Die gebürtige Münchnerin, die seit fast zwanzig Jahren auf Hooge lebt und arbeitet, gilt vielen als »die Halligbotschafterin« und ist unermüdlich für ihre Wahlheimat im Einsatz. Klimawandel, Umweltverschmutzung und Strukturveränderungen in Landwirtschaft und Tourismus machen auch vor den Halligen nicht Halt. Wie geht es weiter im Haus am Landsende, zwischen Salzwiesen und Sommerdeich? Und was wird die anstehende Bürgermeisterwahl bringen – soll Katja Just sich wirklich aufstellen lassen? Die Autorin nimmt ihre Leserinnen und Leser erneut mit auf ihre Oase im rauen Meer, in ihre kleine Welt mit dem riesigen Himmel. Sehr persönlich erzählt die Bestsellerautorin von den Geheimnissen des Wattenmeers, Herausforderungen und neuen Aufgaben, vom Abschiednehmen und einem neuen Mitbewohner, von Traditionen, Leuchtfeuern und Spurensuche.

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INHALT

Willkommen auf Hooge

Saisonende – ein stürmischer Abschied

Tante Magdas Tracht – noch ein Abschied

Heimat – ein Ort oder ein Gefühl?

Eine Weihnachtsgeschichte

Hongkong und die Hallig im Herzen

Manchmal ist Hallig ganz schön doof

Begegnungen

Licht ins Dunkel

Saisonbeginn – es kommt wieder Leben auf die Hallig

Mach ich’s, mach ich’s nicht …

Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt

Eine Wattwanderung – Spurensuche

Der Butenböter zieht bei mir ein

Halligfunk – die Russen kommen

Mikrokosmos Hallig – Kartenhaus oder Paradies?

Freitag, der 13.

Und es bleiben: Glaube – Liebe – Hoffnung

Die letzte Seite – der Dank

Getrennt – Und doch so oft verbundenIst’s einmal Watt und einmal MeerUnd ewig Wattenmeer

Horst Fryderyk Arendt

Willkommen auf Hooge

»Erinnerst du dich?«, lachte Sabine. »Vor ein paar Wochen noch sind wir hier mit den Schuhen in der Hand barfuß den Sommerdeich entlanggeschlendert.«

Natürlich erinnerte ich mich. Auch heute liefen wir dem Lauf der Sonne folgend im Süden der Hallig, und auch dieser Tag war wunderschön. Allerdings war es kein warmer Sommertag mehr, sondern ein Tag im Oktober. Es fing schon an zu dämmern, dennoch war auffällig, wie viel länger es hier oben im Norden hell bleibt als im Süden.

Sabine und ich schlenderten durch die inzwischen überwiegend dunkelrot und braun verblühte Wiese auf dem Deich, direkt am Wasser entlang. Die Hallig zeigte sich in ihrem Herbstkleid. Insbesondere der Queller – als »Spargel des Meeres« inzwischen vielerorts ein Trendgemüse, hier auf der Hallig eine beliebte und vielseitig einsetzbare Beilage zu Meeresfrüchten, Lamm und Nudelgerichten – hatte sein sattes Grün inzwischen gegen ein müdes Rot eingetauscht. Nun war er nicht mehr genießbar. Auch die Farbe des im Sommer lila blühenden Halligflieders hatte sich in einen schnöden Braunton verwandelt.

Wir blickten abwechselnd rechts auf die Fennen, auf denen noch ein paar Kühe mit ihren über den Sommer groß gewordenen Kälbern standen, und links auf das Wasser bis zum nicht enden wollenden Horizont, an dem die ersten sanften rosa und lila Töne aufzogen. Der Blick reichte noch weit über die Hallig Norderoog hinaus. Über unsere Köpfe hinweg flogen mal eine Möwe, mal ein paar Austernfischer. Kinah, Sabines Ridgeback-Hündin, die folgsam an der Leine zwischen uns lief, verfolgte wachsamen Blickes die letzten gefiederten Gäste auf der Hallig. Nach und nach machten sie sich fast alle auf den Weg in südliche Gefilde. Sicherlich würde Kinah viel lieber frei laufen. Nicht weil sie die Vögel jagen wollte, sondern weil sie es liebt, einige Meter vorauszurennen, um dann wieder in einem großen Bogen um uns herum zurückzukommen. Aber gerade weil noch einige Vögel hier waren, musste das ausgelassene Toben warten. Zwischen April und Oktober gilt auf der Hallig Leinenpflicht. In dieser Zeit ist die sogenannte Rast- und Brutzeit. Darauf müssen Hundebesitzer unbedingt Rücksicht nehmen. Auf den Warften gilt die Leinenpflicht ganzjährig, aus Rücksicht auf Bewohner und auf unsere Gäste.

»Im Grunde ist der Deich ein einziges Kunstwerk.« Sabine stemmte die Arme in die Hüften und blickte den Deich entlang, in dessen feuchten Steinen sich die Abendsonne funkelnd brach. »Ein steinernes Mosaik.«

»Ja, und ein sehr nützliches dazu«, sagte ich und kraulte Kinah die durch die Sonnenstrahlen glänzende walnussbraune Stirn. »Ohne unseren Sommerdeich wäre die Halligkante Wellengang und Strömung schutzlos ausgesetzt, und der Blanke Hans würde uns unaufhaltsam unseren Lebensraum wegknabbern.«

Mit seinen knapp zwölf Kilometern Länge umschließt der Sommerdeich die fast sechs Quadratkilometer große Hallig wie ein schützendes Band. Die Arbeiten zur Küstenbefestigung begannen zwischen 1911 und 1914. Deicharbeiter und Steinmetze kamen, teilweise aus Italien, in den hohen Norden, um in mühevoller Handarbeit Stein auf Stein in- und aufeinanderzusetzen und der Hallig ihren Schutzwall und ihr heute unverwechselbares Antlitz zu verleihen. Regelmäßig müssen die Steinsetzungen ausgebessert oder sogar erneuert werden. Küstenschutz ist ein Dauerschleifenthema, denn wie sagen wir Küstenmenschen: »Die Nordsee schläft nicht – sie wartet nur.«

Wir liefen eine Weile schweigend nebeneinander. Ich genieße die Spaziergänge mit Sabine und Kinah. Seit fast zehn Jahren kennen wir uns nun. Sabine kam das erste Mal als Gast zu mir ins Haus am Landsende, damals noch ohne Kinah. Inzwischen verbinden uns eine innige Freundschaft und die Liebe zur Nordsee, insbesondere zum Wattenmeer. Die große, sportliche Frau ist ein paar Jahre älter als ich und besucht mich mehrmals im Jahr. Immer an ihrer Seite ihre liebenswerte Hündin. Unsere Spaziergänge erinnern mich an die mit meinem Chico, dem Schäfer-Collie-Mix, der mich elf Jahre lang durch mein Leben auf Hooge begleitet hat. Gehen Sabine, Kinah und ich gemeinsam über die Hallig, begleitet er uns in Gedanken.

Die aufkommende frische Brise im Rücken war angenehm und wir konnten beobachten, wie sie über das Halligland zog und dabei das immer noch satte grüne Gras fast zärtlich berührte. Sanft bewegte es sich und hinterließ eine feine Spur, die sich immer wieder zwischen den Grasspitzen verlief. Den Wind nicht nur fühlen und hören, sondern ihn sogar beobachten, das kann man besonders gut während eines Spaziergangs auf einer Hallig, dachte ich bei mir.

»Jetzt mal Hand aufs Herz, Katja. Hattest du diesen Erfolg des Buches erwartet?«, fragte mich meine Freundin. Sie war seinerzeit eine meiner ersten Leserinnen gewesen und hatte meinen Weg als Autorin von Anfang an begleitet.

»Nie im Leben!«, antwortete ich kurz und knapp.

Mit dem Erfolg von Barfuß auf dem Sommerdeich – so der Titel meines Erstlingswerks, das im Mai 2017 erschienen ist – hatten weder ich noch der Verlag gerechnet.

Im Rahmen einer Rezension gab es den wohlmeinenden Hinweis, dass der Titel etwas irreführend sei. Er würde eher eine Erzählung in Richtung Rosamunde-Pilcher-Liebesgeschichte erwarten lassen als die Lebensgeschichte einer jungen Frau, die mit 25 Jahren von der Großstadt München auf die überschaubare Hallig Hooge gezogen ist. Tatsächlich dachte ich das auch, als ich den Titelvorschlag des Verlags zum ersten Mal las. Ich musste sofort an romantische Liebesschnulzen denken, die in wunderschönen englischen Grafschaften spielen, sich am immer gleichen roten Faden entlanghangeln und stets auf ein Happy End hinauslaufen. Doch so ziemlich das Einzige, was meine Geschichte mit diesem altenglischen Idyll gemeinsam hat, ist die Nordsee rund um das Eiland, auf dem das Ganze spielt.

Ich ließ mich schließlich vom Verlag überzeugen, und meine Geschichte fand unter dem Titel Barfuß auf dem Sommerdeich den Weg in die Buchhandlungen. Mein anfängliches Bauchgrummeln legte sich, und je länger ich über den Titel nachdachte, desto mehr konnte ich mich mit ihm anfreunden. Die ersten Rückmeldungen erreichten mich auf unterschiedlichen Wegen. Viele Menschen schrieben mir wunderbare Briefe oder E-Mails, nachdem sie mich im Fernsehen gesehen oder im Radio gehört hatten. Eines sagten fast alle: »Ihr Buch ist so persönlich, Sie geben so viel von sich preis.« Das war mir zuerst gar nicht bewusst. Ich habe doch einfach nur von meinem Leben, insbesondere von den 16 Jahren, die ich zu dem Zeitpunkt auf Hooge lebte, erzählt und meinen Gedanken freien Lauf gelassen. So, als ob ich mich mit jemandem während eines Spaziergangs unterhalten würde. Und plötzlich war es mir klar. Dieser Titel war genau richtig! Er gibt wenig von dem preis, was ich erzählen möchte, aber beschreibt genau, wie ich mich in dem Moment des Erzählens beziehungsweise Schreibens gefühlt habe. Völlig frei von Zwängen und Sorgen – barfuß.

Barfuß auf dem Sommerdeich rund um die Hallig durfte ich die Leserinnen und Leser dazu einladen, mich zu begleiten. Unglaublich, wie viele Menschen mitgelaufen sind, zugehört haben und mit mir in das Halligleben eintauchten. Manche dieser Wegbegleiter haben mir gesagt, dass diese gemeinsame Zeit zu kurz war und dass sie mich ein weiteres Mal begleiten möchten. Sie haben sogar Wünsche geäußert, wovon ich ihnen noch unbedingt erzählen soll. Zum Beispiel von dem Unterschied zwischen einer Hallig und einer Insel. Sie möchten wissen, wie es Schmusi geht, der Kuh, die mein Herz im Sturm erobert hat, und was aus meinem Wunsch, ein eigenes Café zu eröffnen, geworden ist. Sie möchten eine Wattwanderung mit mir machen und noch einiges mehr. Daher spreche ich erneut eine Einladung aus:

Begleiten Sie mich ein weiteres Mal über den Sommerdeich und durch die Halligwelt. Lassen Sie sich vom Wind durchpusten, spüren Sie den feuchten, matschigen Wattboden unter Ihren Füßen, entdecken Sie neue Seiten des Halliglebens und stellen Sie sich mit mir gegen den Wind, der nicht immer nur von hinten bläst. Ich freue mich, Sie an meiner Seite zu wissen.

KAPITEL 1

Saisonende – ein stürmischer Abschied

Ich kann mich nicht daran erinnern, mich schon einmal so auf das Saisonende gefreut zu haben wie im Herbst 2017. Und das, obwohl ich ja gar nicht von Saison und Nichtsaison spreche, denn bei mir im Haus ist immer Saison. Aber draußen wird es ruhiger. Die Tage werden kürzer, und insgesamt läuft alles etwas langsamer. Beschaulicher. Schon allein wegen des Winterfahrplans der Fähre, der Ende Oktober in Kraft tritt. Dann gibt es montags und mittwochs keine Verbindung mehr zum Festland, an den anderen Tagen verkehrt die Fähre nur einmal am Tag, und man hat nur noch donnerstags die Chance, einen langen Tag auf dem Festland zu verbringen. Dann können Halligbewohner morgens übersetzen und abends wieder zurückfahren. Ausflugsschiffe gibt es in dieser Zeit so gut wie gar nicht und somit kaum noch Tagesgäste, die für ein paar Stunden auf die Hallig kommen. Die Hauptsaison endet, Ruhe kehrt ein. Alles scheint langsamer zu laufen, weniger zu werden.

Bis es so weit ist, muss allerdings noch einiges organisiert werden, wie beispielsweise die Abreise unserer vierbeinigen Sommergäste – in Bayern würden wir es Almabtrieb nennen. Auf Hooge gibt es keinen besonderen Ausdruck dafür, man spricht einfach nur davon, dass die Tiere wieder zurück auf das Festland gehen. Zum Ende der Saison, also bis spätestens Ende Oktober, müssen fast alle Rinder wieder auf das Festland. Die meisten gehen in die Winterställe, um im nächsten Frühjahr wieder auf die Hallig zu kommen, andere kommen nie wieder. Wenn das Wetter es zulässt, gönnt man den Tieren so lange wie möglich den Freilauf auf der Hallig. Mein Freund Jan, auf dessen Fenne meine Kuh Schmusi und ihre Gefährtinnen die Sommermonate verbringen, plante die Rückreise der vierbeinigen Damen in diesem Jahr für Mitte Oktober. Wir glaubten Anfang September also noch an entspannte fünf Wochen, sowohl für die Kühe als auch für uns. Für uns, weil wir endlich mal wieder die ruhigere Zeit genießen und ohne Termindruck bei den Kühen sein konnten. Für die Kühe, weil sie gemeinsam mit ihren Kälbern noch eine Weile in ihrer vertrauten Umgebung bleiben durften.

Doch dann wurde »Sebastian« angekündigt. Der erste schwere Herbststurm tobte noch über Großbritannien. Als für Mittwoch, den 13. September 2017, wegen »Sebastian« eine Sturmflutwarnung ausgegeben wurde, hieß es für uns bereits am Dienstag umfangreiche Vorbereitungen zu treffen. Mobile Zaunelemente wurden auf die Warften gefahren und daraus erste Absperrungen gebaut. Manch Schaf- oder Kuhherde wurde schon in die Nähe der Warft des Eigentümers umgetrieben. Gemeindearbeiter holten die blau-weißen Strandkörbe von den Badestellen am Deich ein, und andere sahen zu, dass sie Gartenmöbel, Schubkarren und sonstige Gerätschaften, die leicht vom Wind hätten aufgegriffen werden können, festbanden oder wegräumten.

Auf dem Parkplatz unseres Halligkaufmanns herrschte reger Verkehr, denn einige erledigten noch schnell einen Großeinkauf. Es war abzusehen, dass der nächste Einkauf auf sich warten lassen würde, denn wenn der Sturm erst mal Fahrt aufgenommen hätte, würde sich niemand mehr vor die Tür wagen. Eine leichte Anspannung war jetzt schon überall zu spüren, obwohl der Höhepunkt des Sturms erst für den nächsten Tag angesagt war. Die ersten Meldungen vom Festland machten deutlich, dass sich da ganz schön was zusammenbraute. »Sebastian« war früh dran für diese Jahreszeit. Sogar die letzten Schwalben, die sich noch nicht auf den Weg Richtung Süden gemacht hatten, hatten jetzt schon ihre Schwierigkeiten mit dem Vorboten des Sturmtiefs. Vor allem der Nachwuchs, der ja erst wenige Wochen alt war, kämpfte gegen die heftigen Böen. Die bevorstehende Nacht, in der »Sebastian« auf die deutsche Küste treffen würde, sollte zeigen, was letztendlich wirklich auf uns zukommen würde und getan werden müsste.

»Haben Sie schon einmal selbst einen richtigen Sturm auf der Hallig erlebt?«, wurde ich bei einigen Veranstaltungen zu meinem ersten Buch häufig gefragt. Na klar! Meine erste Sturmflut habe ich schon als Kind mitgemacht, als wir 1981 das erste Mal im Urlaub auf Hooge waren. Allerdings nimmt man dieses Szenario als Kind ganz anders wahr. Ich kann mich gut an den Trubel auf der Ipkenswarft erinnern, auf der wir damals zu Gast waren. Auf dem benachbarten Zeltplatz war eine Jugendgruppe aus Frankreich, die sehr schnell ihre Zelte abbauen musste und mit uns zusammenrückte. An den Sturm, der draußen tobte, erinnere ich mich gar nicht mehr, dafür aber daran, dass meine Mutter als Dolmetscherin einsprang und plötzlich ganz schön viele Leute in der großen Garage saßen, in der wir einen sehr geselligen Abend verbrachten.

»Haben Sie heute Angst, wenn ein Sturm angesagt wird?«, ist auch eine beliebte Frage an mich. Nein! Angst ist das letzte Gefühl, das sich einschleicht. Das letzte Gefühl, das sich einschleichen darf! Dazu kam es zum Glück noch nicht. Anspannung ja, Sorge, ob rund um das Haus wirklich alles fest sitzt und steht, und Respekt vor der Naturgewalt sind die Gefühle, die sich einschleichen. Aber Angst hatte ich bis jetzt noch nie, vor allem auch, weil wir alle wissen, was zu tun ist und dass wir uns in einem solchen Fall aufeinander verlassen können.

Dieses Mal kam alles genau so wie angesagt. Die Meldungen in den Nachrichten überschlugen sich: Es wurde vor Orkanböen gewarnt, erste Bäume waren entwurzelt und hatten Autos unter sich begraben oder Straßen versperrt. Brücken durften von Kraftfahrtzeugen mit Anhängern und leeren Lkw nicht mehr befahren werden, und der Schienenverkehr wurde eingestellt. Vom Flughafen Hamburg gingen keine Flüge mehr. All das sind Folgen eines Sturms, die zwar uns auf den Halligen nicht betreffen – bei uns wird nur der Fährverkehr eingestellt –, aber wenn auf dem Festland solche Ausmaße zu spüren sind, dann liegt es auf der Hand, dass auf den Halligen, wo der Wind ungebremst über uns hinwegrauscht, die Post abgeht. Nicht nur, dass wir uns vor umherfliegenden Gegenständen in Acht nehmen müssen. Hinzu kommt das ansteigende Wasser, das bei einem Sturm wie »Sebastian« über kurz oder lang über den Deich auf die Hallig gekrochen kommt und unseren Lebensraum innerhalb von kürzester Zeit auf ein Drittel reduziert.

Bevor das passiert, muss alles sehr schnell gehen. Alle Tiere mussten bei »Sebastians« Ankunft auf den Warften verteilt werden. Alle Tiere hieß: ein paar Hundert Kühe und Schafe, wir sprechen hier von locker vierhundert Tieren. Überall waren kleine Gruppen von Menschen zu sehen, die auf den Fennen ihre Tiere zusammentrieben. Können wir sie sonst aus weiter Entfernung rufen oder mit leckerem Kraftfutter anlocken, war das diesmal unmöglich. Gegen starken Wind anzuschreien, kostet nur Kraft und bringt gar nichts.

Wir waren zu viert, um die Tiere von Jans Fenne zu holen. Nico und Sören warteten an der Einfahrt zur Fenne, Jan und ich liefen gute zehn Minuten bis zum anderen Ende der Fläche, wo die Tiere noch in aller Ruhe grasten. Beide waren wir in Regenklamotten eingepackt und trugen Gummistiefel. Der Wind riss lärmend an unseren Jacken, die Hosen flatterten, und die Schuhe wurden bei unseren langen und schnellen Schritten immer schwerer. Es war aber keine Zeit für eine Pause, die Zeit lief gegen uns. Als wir oben angekommen waren, schienen die Tiere unsere Anspannung und Sorge zu erahnen, denn sie kamen uns die letzten Meter entgegen und trabten dann in einer geschlossenen Gruppe zum Tor hinunter. Das war für uns beide zumindest eine kleine Erholung, denn jetzt hatten wir den Wind im Rücken.

Die sturmerprobten Mutterkühe waren immer noch relativ ruhig, aber die Kälber kannten diese Situation noch gar nicht und waren sichtlich nervös. Und so kam es, wie es kommen musste. Susis Kalb, die kleine Solveig, bekam plötzlich Panik und rannte in die entgegengesetzte Richtung, direkt an Jan und mir vorbei. Nico und Sören, die geduldig am Tor standen, um die Herde in Empfang zu nehmen, damit wir – die beiden voraus, dann die Kühe und Jan und ich hinten nach – zügig auf die Warft hätten weiterlaufen können, schüttelten nur mit den Köpfen. Die Flucht ergreifend, lief die kleine Solveig im gestreckten Galopp zurück ans andere Ende der Fenne, von wo wir gerade erst kamen.

»Damminomolto!« Jan stieß den nordfriesischen Fluch aus tiefstem Herzen aus, und wir rannten hinter dem Kalb her. Auf halber Strecke hatte Solveig eine Verschnaufpause eingelegt, sodass wir das Kalb einholten und sie dazu bewegen konnten, wieder zu den anderen Kühen zurückzulaufen. Die Nervosität war ihr anzusehen. Die kleinen Ohren standen pfeilgerade nach oben, der Schwanz war gespannt und ebenfalls nach oben gestellt. Sie wusste nicht, was los war. Woher auch. Einen Sturm hatte sie in den fünf Monaten ihres Lebens noch nicht erlebt. Ein Viertel der Strecke war geschafft, da wurde sie, aus welchen Gründen auch immer, vom Hafer gestochen und rannte plötzlich los. Eigentlich hätte sie nur ein paar Meter nach rechts laufen müssen, denn dort standen ihre Mutter, Tanten und Halbgeschwister und betrachteten ihr Tun mit norddeutscher Gelassenheit. Davon war bei Solveig leider gar nichts zu sehen. Das kleine Kalb drehte plötzlich nach links ab, nahm Anlauf und sprang wie ein Reh über den Graben zur nächsten Fenne und rannte dort im gestreckten Lauf querfeldein. Wir waren der Verzweiflung nahe, denn inzwischen war über eine halbe Stunde vergangen und wir wussten nicht, wie wir ein einzelnes nervöses Kalb wieder einfangen sollten. Noch dazu setze ein Hagelschauer ein, und harte Eiskugeln von der Größe von Zwei-Euro-Stücken prasselten auf uns herab und erschwerten unser Vorhaben zusätzlich.

Nico und Sören hatten zwischenzeitlich ein meterlanges Seil organisiert und zu uns aufgeschlossen. Wir spannten es zwischen uns vieren und gingen so langsam in einem großen Bogen hinter der Kleinen vorbei. Wir hatten Sorge, dass sie den Graben zur nächsten Fenne nehmen würde. Wir hatten sie noch nicht ganz umrundet, da besann sie sich, schlug einen Haken und lief wieder in die richtige Richtung, zurück zum ersten Graben.

Die anderen Kühe standen immer noch geduldig wartend an der Pforte und betrachteten entspannt wiederkäuend das Hin und Her. Ich frage mich heute noch, woher die kleine Solveig diese Energie nahm, so viel hatte ich sie noch nie rennen sehen. Wieder am Graben angekommen, blieb sie stehen und äugte in unsere Richtung. Immer noch, oder besser wieder, mit einem gehörigen Abstand kamen wir hinterher, sichtlich ermüdet und allmählich auch ideenlos und genervt.

»Was sollen wir nur tun?«, rief ich Jan verzweifelt zu. »Wir können sie doch nicht allein hierlassen! Das wird sie nicht überleben!«

Jan war ebenso besorgt und ratlos.

»Im schlimmsten Fall werden wir das tun müssen!«, war seine nüchterne Antwort. Was auch immer dann in Solveigs kleinem Kopf vorging – vielleicht hatte sie auch Jans Worte gehört –, jedenfalls machte sie dann einen Satz über den Graben und war wieder auf der Fenne, auf der wir vor über einer Dreiviertelstunde mit diesem Rodeo begonnen hatten. Dort blieb sie stehen und schien zu überlegen, was sie als Nächstes anstellen könnte. Wir schleppten uns hinter ihr her, und dann trauten wir unseren Augen nicht. Susi, die Mutter der kleinen durchgeknallten Kröte, kam aus der Gruppe der wartenden Kühe heraus und trottete ihrem Kalb seelenruhig entgegen. Solveig blieb ihrerseits bewegungslos stehen. Susi erreichte ihr Kalb, schleckte ihm ein paarmal über das Gesicht, guckte in unsere Richtung, und dann drehte sie sich um und trottete gemeinsam mit ihrer folgsamen Kleinen zu den anderen zurück.

»War was?«, schien sie uns zu fragen, als sie sich noch einmal während des Laufens nach uns umdrehte.

Wir hingegen blieben wie angewurzelt stehen und trauten unseren Augen nicht.

»Das ist jetzt nicht wahr, oder?!«, rief Nico zu uns rüber.

Sören schimpfte erst kräftig, fing dann aber an zu lachen.

»Verstehe einer die Frauen«, brachte er gerade noch heraus und hielt sich vor Lachen den Bauch.

Jan stand, die Arme in die Hüften gestemmt, neben mir und schnaufte irritiert und verwundert zugleich.

»Fehlt nur noch, dass Susi jetzt fragt, ob wir nun endlich loskönnen.«

Ich stand da, schüttelte nur meinen Kopf und schrie wütend gegen den Wind: »Wenn sie das macht, dann wird sie mich von einer anderen Seite kennenlernen!«

Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte, ich war einfach nur furchtbar platt von der Rennerei und der Sorge um das kleine Kalb, das inzwischen seelenruhig und windgeschützt inmitten der Herde stand.

Wir mussten uns beeilen, die Zeit drängte. Ohne Probleme konnten wir die Herde in Richtung Hanswarft und die Auffahrt zu Jans Zuhause hinauftreiben, als ob nichts gewesen wäre.

Es gibt auf Hooge leider keine Stallungen mehr, in die die Tiere gebracht werden und in denen sie während eines Sturms oder auch über den Winter stehen könnten. Die Flächen auf den Warften sind fast alle bebaut oder schlicht zu klein, um die alten Ställe den heutigen Anforderungen entsprechend umzubauen. In den Wintermonaten dürfen die Tiere grundsätzlich nicht auf dem Halligland stehen, weil dieses zu nass ist. Großvieh würde Schäden in der Grasnarbe hinterlassen. Also müssen die Rinder über den Winter auf das Festland umziehen. Kommt vorher ein Sturm auf, stehen die Tiere auf den Stellplätzen, die es noch zum Teil vor den alten Ställen gibt oder eben auf der Auffahrt. Diese Flächen sind betoniert, die Kühe stehen somit trockenen Fußes auf dem Grundstück des Halters. Das ist für die Tiere kein großes Vergnügen, denn sie haben dort keinen weichen Untergrund und nicht viel Auslauf. Der Vorteil ist allerdings, dass sie Heuballen direkt vor die Nase geliefert bekommen. Nach und nach verteilen sie das Heu, und schon ist auch der Untergrund nicht mehr ganz so unbequem. Bei Jan stehen dann neun vierbeinige Damen, ein paar Kälber und der Herr und Vater der Bande, der Bulle, direkt vor der Türe, was Jans Gäste von oben aus dem Fenster der Ferienwohnung immer mit großem Interesse verfolgen. Neben dem, was während eines Sturms noch so auf der Hallig geschieht.

Mit einer Windgeschwindigkeit von bis zu 140 Kilometern pro Stunde rauschte »Sebastian« am 13. September über die Hallig und brachte eine Menge Meerwasser mit. Bereits am frühen Nachmittag schwappten die ersten großen Wellen über den Deich. Dicke Schaumkronen ließen schon von Weitem erahnen, was für ein Druck sich inzwischen aufgebaut hatte. Da sollte schnell noch mehr kommen. Nachdem wir die Tiere auf der Warft gut und sicher untergebracht hatten, fuhren Jan und ich mit meinem Auto zum Fähranleger. Jan wollte eigentlich noch einmal den aktuellen Pegelstand abfragen, der dort automatisch aufgezeichnet wird. In einem kleinen Häuschen, das über eine Wendeltreppe gute fünf Meter nach oben zu erreichen ist, steht das Empfangsgerät für die entsprechenden Messungen. Jan liest diese in regelmäßigen Abständen ab und übermittelt sie dann an seinen Arbeitgeber, den Landesbetrieb für Küstenschutz, Nationalpark und Meeresschutz Schleswig-Holstein. Das war aber inzwischen nicht mehr möglich, denn der Bereich um die Treppe stand schon unter Wasser. Die Gischt spritzte im hohen Bogen über den Deich, sodass wir zusahen, schnellstens wieder wegzukommen.

Wir machten kehrt, und die schmale Straße, die wir vor gerade erst zwei, drei Minuten entlanggefahren waren, wurde rechts und links schon von dem Wasser berührt, das sich inzwischen auf der Hallig verteilte, zumindest an den flacheren Stellen, also im Westen der Hallig und eben im Bereich des Fähranlegers. Als Nächstes würde der Osten volllaufen, dort wo die Ockenswarft liegt. Eile war geboten, denn kurz vor der Backenswarft, an der wir als Erstes vorbei mussten, ist eine Senke. Sollte die bereits unter Wasser stehen, wären wir eingeschlossen. Ich gab Gas. Über das Webcam-Archiv der Gemeinde-Website konnten wir später nachvollziehen, dass die Senke fünf Minuten später vollgelaufen war und weitere fünf Minuten später auch der gesamte Bereich des Anlegers. Wir kamen also gerade noch rechtzeitig auf der Hanswarft an, ich ließ Jan schnell aus meinem Auto aussteigen und fuhr sofort weiter nach Hause auf die Ockenswarft.

Nur rund 15 Minuten später, ich machte gerade meinen Inspektionsgang über die Warft, sah ich ein kleines rotes Auto von der Hanswarft kommend in meine Richtung fahren. Es war der Wagen meines Nachbarn. Der würde doch nicht …?! Das Wasser lief schon in einem dünnen, aber steten Film über die Straße nach Ockenswarft, und auch vor dieser ist eine Senke, die bereits komplett unter Wasser stand. Mit hoher Geschwindigkeit, sodass das Wasser nur so spritzte, fuhr mein Nachbar auf die Senke zu. Ich konnte es nicht glauben! Kurz vor der Warft besann er sich aber und trat auf die Bremse. Er legte den Rückwärtsgang ein und fuhr zurück zur Hanswarft, denn der Weg durch das tiefe Wasser wäre nicht nur leichtsinnig gewesen, sondern auch das sichere Abwracklos für das kleine Auto. Mein Nachbar musste daraufhin zwei Nächte bei seinen Freunden auf der Hanswarft verbringen, denn so lange war kein Durchkommen. Die Halligen meldeten Landunter.

Neben Meerwasser und Hagelschauern hatte der wilde »Sebastian« auch jede Menge Wasser von oben im Gepäck. Aus den tief hängenden schweren Wolken, die schnell über die Nordsee zogen, kamen immer wieder kräftige Regengüsse herunter. Als ob der Wind allein nicht gereicht hätte. Auch grummelte es ab und zu am Horizont, aber ein Gewitter blieb uns auf Hooge dann doch erspart. Und schlagartig war er da. Der Herbst.

Als »Sebastian« wieder abzog, hinterließ er leer gefegte Bäume. Das Laub, das tags zuvor noch an den Ästen gehangen hatte, lag nun überall verteilt in den Gärten und auf den Warften. Viel zu früh, wie ich fand. Es ist einfach nicht schön, Mitte September schon von nackigen Bäumen umringt zu sein. Davon abgesehen gab es aber von den Halligen keine nennenswerten Schäden zu vermelden. Weder Häuser, Rinder, Schafe noch Menschen hatten Schaden genommen. Letztere klagten teilweise nur ein paar Tage lang über schwere Füße und Muskelkater. Das Laufen in Gummistiefeln, die teilweise mit Stahlkappen ausgerüstet sind, weil es sich um Sicherheitsschuhe für die Arbeit mit Rindern handelt, hatte alle ganz schön angestrengt. Ich sage es ja immer wieder: Aktives Halligleben ersetzt das Programm im Fitnessstudio.

Am Tag nach dem Sturm, als der Wind eingeschlafen war, fand ich in meinem Garten einige tote Jungschwalben. Sie hatten wohl einerseits nichts mehr zu fressen gefunden, denn bei solch einem Sturm verkriechen sich sogar die Insekten, und zum anderen hatten sie einfach keine Kraft mehr aufbringen können und sind zum Teil mitten auf der Wiese oder im Blumenbeet auf dem Boden sitzend gestorben. Das war eine der traurigen Spuren, die »Sebastian« hinterließ.

Zum Wochenende war dann alles wieder so, wie es sein soll. Die Schwalben flogen wieder in großen Runden um die Warften und fanden ausreichend Nahrung. Das wurde auch Zeit, denn sie mussten sich nun wirklich sputen. Kräfte sammeln und dann ab gen Süden. Die Kühe liefen wieder auf den Fennen, wobei sie es mit der Futtersuche jetzt ein bisschen ungemütlicher und aufwendiger hatten. Das Gras war noch sehr nass, dementsprechende salzig, und es standen noch einige Pfützen. Dafür kam aber wieder die Sonne raus. So blieben wenigstens die letzten zwei, drei Wochen entspannt, bevor es für die einen Richtung Festland, für die anderen Richtung Afrika und für uns in die Herbstzeit ging.

»Der nächste Sturm kommt bestimmt«, sagte ich zu Jan, als wir uns das nächste Mal in aller Ruhe bei den Kühen trafen.

»Aber in diesem Jahr muss es nicht mehr sein«, raunte er mir nur kurz und knapp entgegen.

»Bitte nicht!«, stimmte ich ihm zu und sprach damit bestimmt auch für die Vierbeiner und die gefiederten Freunde, die noch vereinzelt um uns herumflogen. »Dieser Saisonabschluss war stürmisch genug!«

KAPITEL 2

Tante Magdas Tracht – noch ein Abschied

Ein Abschied ganz anderer Art hat ebenso 2017 stattgefunden. Dass es irgendwann einmal eintreten würde, war zwar klar, aber als es dann so weit war, hat es mich doch überrascht.

»Nach 15 Jahren möchte ich die Tracht zurück in die Familie holen«, so der Wortlaut der E-Mail, die mich Ende 2017 eines Morgens völlig unerwartet erreichte. In einem Dreizeiler wurde dieser Wunsch an mich formuliert. Zuerst war ich sehr erschrocken, traute meinen Augen nicht, las die Zeilen immer und immer wieder und fragte mich, was ich möglicherweise falsch gemacht hatte. Nach und nach kam Verunsicherung in mir auf, und ich überlegte, ob es eventuell an einer Aussage liegen könnte, die ich im Fernsehen gemacht hatte, mit der ich der Familie, aus der die Tracht von Tante Magda stammt, zu nahe getreten war. Oder hatte ich etwas in meinem Buch geschrieben, das zu diesem Entschluss geführt hatte? Ich hoffte, eine Antwort auf die mich quälende Frage zu bekommen, aber mehr konnte ich nicht erfahren. Tante Magdas einzige Enkelin, die Absenderin der E-Mail und Erbin der Tracht, versicherte mir auf Nachfrage in knappen Worten, es sei einfach nur ihr persönlicher Wunsch und habe private Gründe. Das ist ihr gutes Recht. Magdas Enkelin lebt nicht auf der Hallig, noch nicht einmal in der Nähe. Wir haben uns insgesamt nur zwei-, dreimal gesehen. Sonst hätten wir uns vielleicht auf einen Kaffee oder Tee verabreden und über die Situation sprechen können. Nicht darüber, ob ich die Tracht vielleicht doch noch länger in meiner Obhut hätte behalten können, sondern darüber, wie wertvoll dieses Kleidungsstück für Hooge ist. Vielleicht hätte es die Möglichkeit gegeben, eine Leihgabe für den Ortskulturring daraus zu machen. Die Vorsitzende hütet einige der Gewänder, die damals von Hoogerinnen geschneidert wurden. Dazu weiß sie noch die ein oder andere Geschichte. Für Hooges Chronik unbezahlbar. Diese Idee hatte ich im Kopf, traute mich aber nicht, sie offen auszusprechen. Auch wenn es nur drei Zeilen von einer mir eigentlich fremden Frau waren, die mich aufforderten, mich von der Tracht zu trennen, klangen sie entschlossen und endgültig.

Gute zwei Wochen dauerte der Abschied von einer Tracht, die mir im Laufe der langen Zeit ans Herz gewachsen war. Eine Halligtracht einer alten Hoogerin, die ich noch persönlich kennenlernen durfte. Eine kleine, zarte Frau mit schneeweißen, feinen Haaren und einer im Verhältnis riesigen Brille auf der Nase. Zu ihrer Zeit gab es noch keine kleinen, fast unsichtbaren Lesebrillen. Tante Magda, wie sie liebevoll noch heute von den Hoogern genannt wird, trug sie, wenn sie Kleingedrucktes lesen musste. Eine Telefonnummer, einen Beipackzettel oder Ähnliches. Sie war eine humorvolle Frau, die die Menschen um sich herum mochte. Sie strahlte einen an, wenn man ins Gespräch kam, und sie hatte immer etwas zu erzählen, denn sie lebte mit Leib und Seele auf der und für die Hallig. Sie und einige andere Frauen schneiderten nach alten Vorlagen ihre eigenen Trachten und hielten somit eine schon fast eingeschlafene Tradition am Leben. Die Tracht, die ich tragen durfte, muss aus den 1960ern oder 70ern stammen. Nach Magdas Tod ging die Tracht traditionsgemäß in die Hände der – in diesem Fall sogar einzigen – Enkelin über. Diese wollte damals aber nicht, dass die Tracht nutzlos in ihrem Schrank hing, und stellte sie mir zur Verfügung. Ich durfte sie tragen und tat das immer mit Stolz und dem Gefühl, von der kleinen, zarten Frau, die dieses Schmuckstück einmal mit ihren eigenen Händen geschneidert hat, begleitet zu werden. So zum Beispiel beim alle zwei Jahre stattfindenden Trachtensommer auf Hooge. Ich bin mir sicher, dass Magda von dem Anblick der vielen Menschen in den unterschiedlichsten Trachten aus allen Richtungen Deutschlands begeistert gewesen wäre. Selbst aus Frankreich war einmal eine Gruppe dabei. Ich stelle mir vor, wie Tante Magda mitten unter ihnen gewesen wäre, ohne ein Wort Französisch zu sprechen. Sie mit ihrer fröhlichen und offenen Art hätte sich auch ohne eine gemeinsame Sprache mit den Gästen aus dem Süden verstanden. Diese Vermutung hegte ich vor allem, als wir, die Hooger Trachtentanzgruppe, nach dem offiziellen Abschluss der Tagesveranstaltung mit den Gastgruppen am Anleger standen und auf die Schiffe warteten, mit denen sie wieder ans Festland fahren sollten. Die Franzosen forderten alle umstehenden Personen zu einem letzten gemeinsamen Tanz auf. Sie erklärten die Abläufe, und nicht nur ich verstand kein Wort. In dem Moment fiel mir Magda ein, und ich stellte mir vor, wie ungezwungen sie mit der Situation umgehen würde. Und schon fiel es mir leicht, mich mitreißen zu lassen. Zum Glück! Dieser Abschlusstanz, mit all den unterschiedlichen Menschen, hat für einen kurzen Moment eine Einigkeit und Fröhlichkeit am Anleger der kleinen Hallig mitten in der Nordsee verbreitet, die noch Tage später zu spüren waren. Als Abschlusstanz vorgesehen, tanzten wir ihn gleich dreimal hintereinander. Das war wirklich ein nachhaltiges Erlebnis. So wie jeder Moment, den ich mit und in Magdas Tracht erleben durfte.

Der Abschied fiel mir schwer, und der Gedanke daran, sie abgeben zu müssen, machte mich sehr traurig. Obwohl es natürlich klar war, dass es sich nur um eine Leihgabe handelte und ich keinerlei Anspruch auf das gute Stück hatte. Das habe ich auch in keinem Moment empfunden oder gar erwartet. Mein Ansinnen war es immer nur, diese Tracht lebendig zu wissen.