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Rockstar-Romance meets Haters to Lovers vor winterlicher Tokio-Kulisse (ab 14 Jahren)
"From Tokyo with Love" steht auf der Shortlist des DELIA-Literaturpreises 2023!
Zwei ausgebuchte Konzerte in einem riesigen Stadion in Tokio - für die 19-jährige Hailee könnte das den lang ersehnten Durchbruch als Musikerin bedeuten. Als Warmup-Act ist sie mit dem hypererfolgreichen Sänger Finn Wolfcraft unterwegs. Doch leider findet sie den unnahbaren Finn mit seinen hysterischen Fans absolut furchtbar. Und auch Finn ist nicht sonderlich angetan von Hailee, denn er reagiert höchst allergisch auf Menschen, die ihn als Sprungbrett für ihre Karriere nutzen wollen. Aber manchmal sind die Dinge ganz anders, als sie auf den ersten Blick scheinen - und bei einer wärmenden Tasse Matcha entwickeln sich Gefühle, mit denen die beiden bestimmt nicht gerechnet hätten ...
Weihnachtszauber in Tokio - inklusive japanischer Rezept-Überraschung!
Mehr zur Autorin unter: jkstein.de und auf Social Media: @j.k.stein
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Seitenzahl: 433
Cover
Titel
Widmung
Alben
Hailee
Finn
Hailee
Finn
Hailee
Hailee
Finn
Hailee
Hailee
Hailee
Finn
Finn
Finn
Hailee
Hailee
Finn
Hailee
Hailee
Finn
Hailee
Finn
Hailee
Finn
Hailee
Finn
Hailee
Hailee
Finn
Finn
Hailee
Hailee
Finn
Lust auf einen japanischen Nachmittagstee?
Danke,
Impressum
Julia K. Stein
For the music
’cause I will never be able to thank you
enough for always being there for me.
Finn Wolfcraft
Album: Folksy
Stop Watering Dead Plants
You're not sorry
My Pretty Legend
Hometown Glory
Remember Coffee Houses
Pretty Addictions
Beautiful Fool
Kiss me better
Skinny Jeans
Naked in Town
Shut up and smile, Boy
Bonus: Falling Light (Tory Best featuring Finn Wolfcraft)
Tokyo Christmas Concert
Playlist Hailee Bridgewater
Come as you are (Nirvana Cover)
Hot British Boyfriend
One Life
Fake Friends are better than none
He wasn't
22 Bikers
Optional: Don't you dare think this song is about you
Hailee Bridgewater
Album: My first Album
From Tokyo with Love
2 Girls in New York
Sugar Nails
Mom, who knew?
I'm sorry I was not what you wanted
We all ache for something
I like you more than I planned
Floating
The kind of love that breaks your heart
Fun without taking your clothes off
You're my safe high
I heard you had trouble finding your place in the world
Listen, when the room is darkI do not need a man toDrool over, an idolTo fantasize about
aus: I'm sorry I was not what you wanted,Hailee Bridgewater
Auf Instagram sieht mein Leben super aus. Gerade habe ich Bilder von mir und einem Champagnerglas gepostet (Business Class nach Tokio. I think I made it😁).
Doch die Realität ist viel weniger glamourös. Inzwischen bin ich aus dem Flieger gestiegen, hieve gerade meinen viel zu schweren Koffer vom Gepäckband – und rempele dabei aus Versehen einen vornehmen Japaner an. Doch statt mich anzuschnauzen, wie ich das aus New York gewohnt bin, verbeugt er sich höflich, als hätte er mich angerempelt und nicht umgekehrt. Ich lächele ihn entschuldigend an und verbeuge mich zurück, auch wenn das mit Sicherheit wesentlich weniger elegant aussieht als bei ihm. Dann richte ich mich auf, schlucke die Beklemmung herunter, die mich gerade überkommt, und versuche, mich in der hellen weißen Flughafenhalle zu orientieren.
Das High nach der Landung und dem unglaublich luxuriösen Flug mit den überhöflichen Stewardessen ist verflogen, und gerade fühle ich mich ziemlich durcheinander. Die fremden Schriftzeichen erscheinen mir unergründlich und geradezu bedrohlich, aber ich habe auch viel zu wenig geschlafen. Eigentlich gar nicht.
Ich freue mich wirklich, dass ich diese Chance tatsächlich noch bekomme, und bin total dankbar für alles, aber trotzdem steigt Panik in mir hoch, ohne dass ich etwas dagegen tun kann. Was, wenn ich es nicht hinbekomme? Was, wenn sie meine Musik hier nicht mögen? Und vor allem: Was, wenn sie sie mögen! Will ich überhaupt mit der Musik, die so anders ist als die, die ich selbst schreibe, bekannt werden? Und dann auch noch durch Finn Wolfcraft, der charakterlich ungefähr das Schlimmste ist, was das Showbusiness derzeit hervorbringt? Ich habe seine Musik abgöttisch geliebt – bis ich diese Storys über ihn gelesen habe. Ich mache mir echt Sorgen, dass Finn privat genauso ätzend ist, wie man munkelt. Ätzend, oder eben »der unglücklichste, verbittertste und arroganteste Star am Akustik-Pop-Himmel«, wie Gossip Mojo geschrieben hat – und Gossip Mojo ist normalerweise ein wohlwollendes Magazin. Ich muss an die Story mit seinen Fans denken, die ein Meet & Greet gewonnen hatten und dafür über den Atlantik geflogen waren. Er hat sie nur dreißig Sekunden getroffen und lediglich ein einziges Foto ohne Anfassen und ohne Gespräch erlaubt. Darüber wurde in jedem Blog berichtet, und es gab kein einziges Dementi. Wenn man so was hört, erwartet man keinen netten Menschen ... Auch Mistkerle können gute Musik schreiben.
Ich lasse meinen Blick wieder durch die riesige Ankunftshalle schweifen. Alle um mich herum tragen eine Art Einheitskleidung – helle Hemden, dunkle Pullover, schwarze Hosen oder Röcke und schwarze Schals und Mützen. Mit meinen zerrissenen Jeans, der gelben Folklore-Bluse und vom Flug zerzausten Haaren komme ich mir wie ein Paradiesvogel vor. In New York fällt man mit so einem Outfit nirgendwo auf. Irgendwie hatte ich angenommen, dass hier alle aussehen wie die berühmten Harajuku Girls. Okay, die sind wahrscheinlich in diesem Yoyogi-Park zu finden, wie im Reiseführer stand, oder eben in Harajuku und nicht im Tokyo Haneda Airport. Die Leute hier sprechen leise, sodass es viel ruhiger ist, als man es bei so vielen Menschen eigentlich erwarten würde.
Bevor ich mich noch einsamer und völlig fehl am Platze fühle, folge ich dem Exit-Schild, das mir den Weg immerhin auch in für mich verständlichen Buchstaben weist.
»Reiß dich zusammen, Hailee«, denke ich. Schließlich ist es die größte Chance meines Lebens, Weihnachten in Tokio zu sein. Ich sollte mich einfach nur freuen und nicht mit so was wie Heimweh anfangen! Es ist eine Ehre, das hat mein Manager Marc mir ungefähr hundertmal gesagt, und ich weiß es ja selbst: Wie bescheuert wäre ich, es nicht zu machen, nur weil ich einmal das Weihnachtsfest mit meiner Familie verpasse? Es läuft ohnehin jedes Jahr nach dem gleichen Schema ab, sodass es in meiner Erinnerung wahrscheinlich gar nicht auffällt, wenn ich es einmal ausfallen lasse. Ich kann ja noch nicht mal bei alten Fotos erkennen, in welchem Jahr sie aufgenommen wurden. Wieso bin ich eigentlich mit fast zwanzig so eine sentimentale Heulsuse! Ist das eine verfrühte Midlife-Crisis? Puh.
Ich straffe meine Schultern und laufe weiter Richtung Ausgang, während mein schwerer Koffer geräuschlos über den wie geleckt aussehenden Boden rollt. Der Flughafen ist sauberer als die meisten Wohnungen, die ich bisher gesehen habe, jedenfalls definitiv sauberer als meine in Williamsburg. Wie kann es sein, dass niemand irgendetwas auf den Boden wirft? Alles blitzt und glänzt, weil er mit einer Art Lack überzogen ist, und er spiegelt sogar die weißlich-blauen Lichter, die um Drahtgestelle geschlungen sind – wahrscheinlich soll das Weihnachtsdekoration sein. Die wirkt allerdings so unterkühlt wie ein Gefrierschrank mit arktischen Vibes.
Ich denke an das verschneite New York mit seinem verschwenderisch-kitschigen Weihnachtsschmuck. Beim Abflug stand mitten im Flughafen ein rot-gold-blinkender Weihnachtsbaum mit verkleidetem Weihnachtsmann, an dem die bis an die Zähne mit Geschenken bewaffneten Passagiere vorbeigeeilt sind, um in ihre Heimatorte zu fliegen. Das nahm ich jedenfalls an, vielleicht weil ich selbst vor drei Jahren aus einem Kaff in Pennsylvania geflohen bin, um in New York mein Glück zu versuchen.
Und nach all den Zweifeln der letzten Jahre – jetzt bin ich tatsächlich in Tokio! Und jemand anderes bezahlt den Trip, das Hotel, einfach alles, nur, weil sie meine Stimme mögen! Das hätte ich mir noch vor ein paar Monaten nicht träumen lassen. Das aufgeregte Kribbeln aus dem Flugzeug kehrt zurück, und ich laufe weiter in Richtung der großen Schiebetüren.
Als ich aus dem Flughafengebäude trete, schneidet mir der kalte Wind ins Gesicht und dämpft meine neu aufgeflammte Begeisterung noch einmal. Ich kontrolliere meine Wetter-App: ein Grad. Man braucht eigentlich keine App, um zu verstehen, dass es saukalt ist. Keine Ahnung, warum ich hoffe, dass dort was anderes steht. Ich hätte nicht auf Marc hören sollen. Von wegen »milder japanischer Winter, wo Schnee eine Seltenheit ist«. Ich wickele meinen viel zu dünnen Parka fester um meinen Körper.
Vor dem Flughafen überschlägt sich eine Frau im Blazer mit Goldknöpfen und adretter Mütze vor Eifer, um mir zu helfen, ein Taxi zu finden. Sie verbeugt sich mehrmals, dann zeigt sie strahlend auf ein altmodisch quadratisches Auto und verneigt sich erneut. Ich grinse die ganze Zeit dämlich zurück und nicke linkisch. Sie ist so wahnsinnig freundlich, das bin ich aus New York einfach nicht gewohnt. Ich bekomme allerdings keine so elegante Mischung aus Kopfnicken und Verbeugen hin, sondern eher etwas, das an einen Wackeldackel mit steifem Nacken erinnert. Die Bewegung sollte ich dringend vorm Spiegel üben.
Der Taxifahrer, ebenfalls im dunklen Anzug, verbeugt sich auch und hilft mir, das Gepäck einzuladen. So höflich bin ich in meinem ganzen Leben noch nie begrüßt worden. Wahrscheinlich bin ich dagegen, trotz meines Dauergrinsens und Wackeldackel-Nickens, der unhöflichste Mensch, der dem Taxifahrer jemals begegnet ist, weil ich gerade gegen jede Menge Regeln der Etikette verstoße, die ich leider nicht kenne. Ich habe zwar einen Reiseführer gelesen, doch sogar dort stand, dass Benimmregeln in Japan verwirrend sind, aber meist Nachsicht mit Leuten aus dem Westen geübt wird. Hoffen wir mal. Ich versuche, den Taxifahrer im Rückspiegel anzulächeln, allerdings blickt er stur geradeaus, die weißen Handschuhe fest ums Lenkrad gewunden, als er uns durch den dichten Verkehr am Flughafen manövriert.
Seufzend stecke ich mir noch mal meine Kopfhörer rein und höre zum letzten Mal Falling Light. Endlosschleife. Ein krasses Duett von Tory Best, meinem Lieblings-Country-Star, zusammen mit Germaine. Country und Folklore und Pop – das ist die Mischung, die ich selbst schreibe. Allerdings spiele ich das nicht auf der Bühne. Dort singe ich klassischen Rock. Früher habe ich mit meiner Schwester vor allem Cover von fremden Stücken performt. Seit ich vor vier Monaten endlich meinen Manager gefunden habe, singe ich Lieder, die er für mich schreiben lässt, im gleichen Stil. Für meine eigenen Songs sieht Marc derzeit keine Chance, weil er glaubt, die Rock-Schiene lässt sich aktuell besser vermarkten. Trotzdem brennt mein Herz für diese Art Musik auf ganz andere Art und Weise. Falling Light habe ich schon im Flugzeug sechs Stunden lang auf Repeat gehört. Ich könnte jeden Akkord aus dem Gedächtnis aufschreiben. Ich hoffe, das ist nicht der einsetzende Wahnsinn. Vielleicht sollte ich auf Instagram mal unauffällig nachfragen, ob andere das auch machen.
Aufgeregt blicke ich nach draußen. Einerseits sieht es ähnlich aus wie an Flughäfen anderer Großstädte, aber dann auch wieder ganz anders. Die Autos fahren links statt rechts, was zu meiner allgemeinen Orientierungslosigkeit beiträgt. Die Gebäude an den Straßenrändern, die Autos und vor allem die Busse wirken kastiger, als hätte man hier eine Vorliebe für kantige Formen. Außerdem hängen in den Fenstern der Busse Spitzendecken, die aussehen wie handgeklöppelt. Am Straßenrand gibt es viel weniger Niemandsland als in New York, wo es in den Außenbezirken jede Menge Flächen mit verrottenden Gebäuden und Müll gibt. Sogar der Weg neben der Schnellstraße wirkt hier gefegt.
Im Flugzeug hat es sich noch wie eine gute Idee angefühlt, die ganze Zeit wach zu bleiben, um bloß nichts von diesem luxuriösen Trip zu verpassen. Jetzt brennen meine Augen, während ich rausschaue, und mein Kopf dröhnt vor Müdigkeit, die ich mir aber fest vorgenommen habe zu ignorieren. Ich muss hier wirklich jede Sekunde auskosten, schließlich ist es mehr als unsicher, ob ich jemals wieder eingeladen werde. Die Musikindustrie ist so unbeständig wie die Zuneigung eines verfressenen Welpen. Einen Moment lang gehypt, wenn man hat, was gerade angesagt ist, und dann fallen gelassen, falls irgendwo was Besseres auftaucht – ich habe es wirklich oft genug gesehen. Und Marc macht zwar gerade auf besten Kumpel, nachdem meine rockigen Lieder, die er für mich hat schreiben lassen, gut anlaufen, aber ich habe mal mitbekommen, wie er eine Klientin gefeuert hat. Da war er genauso superduperfreundlich und hat sie dann mit großen braunen Hundeaugen wissen lassen, dass es »mit uns beiden einfach keinen Sinn mehr macht«.
Über zwei Jahre ist meine Karriere keinen Schritt vorangekommen. Ich habe bei jedem Wettbewerb mitgemacht, an Ausschreibungen für neue Bands teilgenommen und eine Menge schlechte Radiowerbung eingesungen, um überhaupt zu überleben. Meine Schwester Evie, die am Anfang noch dabei war, hat schon aufgegeben. Erst seit ich meinen Manager Marc habe, sieht es ein winziges bisschen besser aus. Zwar singe ich nicht meine eigenen Songs, aber ich mache jetzt immerhin Musik – und keine Werbung mehr für Produkte, die ich bescheuert finde. Dafür habe ich auch schon genug Spott von alten Mitschülern in der Ehemaligen-Gruppe meiner Highschool geerntet. Und dann kam plötzlich aus heiterem Himmel dieses unglaubliche Angebot. Dieser Auftritt muss jetzt einfach die Wende bringen, sonst haben meine Eltern endgültig keine Geduld mehr mit meinem »verrückten Traum«. Im Januar werde ich zwanzig. Wenn sich bis dahin nichts verbessert hat, mache ich eine Ausbildung oder mein Kulturmanagement-Studium weiter, so wie meine Eltern es wollen. Das ist der Deal. Denn momentan habe ich ein abgebrochenes Studium vorzuweisen, bin Single und ohne irgendeine Karriere. Meine Schwester Evie hat vielleicht sogar recht mit ihrer Panik, dass ich später mit einem Haufen Perserkatzen in Williamsburg wohne, wenn ich nicht aufhöre, jeden Typen, der Interesse an mir zeigt, zu vergraulen. Schließlich hält niemand eine Freundin aus, der Musik immer wichtiger ist als er und die außerdem ständig frustriert ist, weil es mit der Karriere nicht läuft. Ich vermisse Popcorn, meine graue Mischlingskatze – sie ist eine sehr gute Freundin, egal was Evie sagt. Der Gedanke an Popcorn macht mich fröhlicher: Leben mit Katzen ist kein Weltuntergang. Ich seufze. Okay, hör auf, dir was vorzumachen. Ein Leben mit Popcorn, egal wie süß, sollte definitiv nicht zu meinem Plan A werden.
Eine Dreiviertelstunde später sitze ich in der Hotellobby des Aman Tokio. Schon nach einer Minute weiß ich, dass dies das allerschönste Hotel ist, das ich je gesehen habe. Die Deckenhöhe beträgt angeblich fast dreißig Meter, und in der Mitte der Lobby geht eine Art Lichtschacht nach oben, der wirkt, als wäre er mit beleuchtetem Papier ausgekleidet. Man hat das Gefühl, in das Innere einer Shoji-Laterne, einer japanischen Papierlampe, zu schauen. Der Schacht reicht vom 33. bis zum 38. Stock, und mir wird beinahe schwindelig, wenn ich nach oben schaue. Ich wusste gar nicht, dass Höhenangst auch in die umgekehrte Richtung funktioniert. Alles ist unglaublich elegant – graue Steinwände, eine überdimensionierte Vase mit winterlichen Zweigen. Sitzgruppen in unaufdringlichen Farben verteilen sich über den Raum. Es gibt Plätze mit höheren westlichen Tischen und Sitzgruppen mit niedrigeren Tischen und kleinen Hockern. Und die bodentiefen Fenster bieten einen großartigen Blick über Tokio mit all seinen Hochhäusern, Straßen und dem mehr als sechshundert Meter hohen Tokyo Skytree, einem riesigen Fernsehturm.
Ich habe mich an die Seite gesetzt, wo so eine Art Bar ist, an der man auch Essen bestellen kann, denn eine Sache habe ich mir gemerkt: Nicht nur das Taxi und der Flug, auch Kost und Logis sind inbegriffen und werden von Finn Wolfcrafts Management gezahlt. Dieser Ausflug ist mein Sechser im Lotto. Ich muss also so viel Sushi essen wie irgendwie möglich, bevor ich ins Bett gehe, weshalb bereits ein ziemlich großer Teller mit gemischtem Sushi auf dem Tisch vor mir steht, leider auch mit sehr viel Seeigel dabei. Aber weil es umsonst ist, werde ich eben auch Seeigel essen, und genauso den scharfen Ingwer, der schon beim Gedanken auf der Zunge brennt.
Morgen früh ist die Bühnenprobe, und dann gibt es wohl noch ein Shooting für einen kleinen Spot, einen Werbespot fürs Konzert oder so, Finn ist anscheinend auch dabei. An den kommenden Tagen stehen dann diverse Pressetermine und zwei Konzerte an. Vier Tage Tokio! Es ist einfach der Wahnsinn. Eigentlich will ich gar nicht schlafen, damit ich jede freie Minute nutzen kann, um die Stadt zu erkunden. Geht das? Gab es nicht diesen Briten, Tony Wright, der elf Tage wach geblieben ist? Dann müssten vier doch absolut möglich sein.
Als ich mein erstes echtes japanisches Nigiri esse, ein dünnes Stück glänzende weiße Meerbrasse auf süß-salzigem Reis, stoppen alle Gedanken, weil es so gut ist. Wow. Sonst ertränke ich mein Sushi in Sojasauce, hier brauche ich eigentlich nichts, was vom Geschmack ablenkt. Ich schiebe direkt das nächste hinterher, weißer Fisch, der süßlich-herb schmeckt und weich ist wie Butter.
Marc hat gesagt, dass ich noch einen genauen Ablaufplan von Finns Managerin bekomme. Ich bin jetzt in seinem Revier, und seine Leute bestimmen über mich. Okay, solange ich solches Sushi essen kann, ist es auszuhalten. Das ist also mein Weihnachten dieses Jahr. Weihnachten in Tokio. Ahh!!!
Plötzlich kommt ein Typ mit Baseball-Kappe mit schnellen Schritten zu meinem Tisch gelaufen, als würde er verfolgt, und setzt sich auf einen der Hocker. Er zuckt zusammen, als er mich in meiner dunklen Ecke erspäht. Anscheinend hatte er geglaubt, dass der Tisch gar nicht besetzt war.
»Hi«, sagt er atemlos. »Ist hier noch frei?«
Die Frage ist auf Englisch gestellt. Langsam lasse ich das Lachs-Nigiri, das ich mir gerade in den Mund schieben wollte, wieder sinken. Ich hatte meinen Tisch extra so gewählt, dass er etwas abseits in einer besonders unauffälligen Ecke gelegen ist, damit niemand mitbekommt, wie viel Sushi ich in einer Sitzung essen kann. Der Typ trägt Jeans und einen schwarzen Hoodie. Er hat die Kapuze über den Kopf gezogen, sodass man von seinem Gesicht hauptsächlich die runde Hornbrille auf seiner Nase sieht. Dabei sind seine Hände in den Taschen des Hoodies vergraben, was ihn etwas unsicher wirken lässt. Ein schüchterner Nerd, der Anschluss sucht und vielleicht nicht versteht, dass man sich in die hinterste Hotelecke setzt, um eben nicht angesprochen zu werden. Na großartig. Er sieht sich nochmals gehetzt um, was mir etwas verrückt erscheint. Dann wendet er sich wieder mir zu.
»Hi?« Ich versuche, es wie eine Frage klingen zu lassen, schließlich brauche ich gerade keine Gesellschaft. Oder vielleicht bräuchte ich welche, aber ich will keine, weil ich nicht glaube, dass ich irgendeine sinnvolle Unterhaltung hinbekomme, so stark wie ich den Jetlag inzwischen spüre. Möglicherweise ist es auch der Kulturschock – der Begriff hat seit meiner Ankunft am Flughafen eine ganz neue Bedeutung bekommen. Der größte Kulturschock war für mich bisher der Umzug von Pennsylvania nach New York. Und das war kein Vergleich zu jetzt. Mit der Zeitverschiebung und dem wenigen Schlaf fühle ich mich eher wie nach der Vollnarkose bei meiner Blinddarmentfernung, und ich bin mir nicht sicher, ob ich mich morgen noch an heute erinnern werde.
»Du hast auch eine weite Anreise hinter dir, oder?«, fragt er zögernd und blickt sich erneut um. Vielleicht leidet er an Verfolgungswahn? Hoffentlich ist er nicht verrückt! Ich werfe ihm einen prüfenden Blick zu, aber er wirkt nicht wie ein Stalker, der mich mit glasigen Augen fixiert (alles schon passiert). Es wäre wahrscheinlich auch ein bisschen größenwahnsinnig zu glauben, dass es in Japan irgendwelche Leute gibt, die jemals etwas von meiner Musik gehört haben und mich deshalb stalken wollten.
»Ja, es war frei«, beantworte ich seine allererste Frage. Die Ironie scheint ihm zu entgehen, weil er auf die Umgebung fixiert ist. Von seinem Gesicht sieht man weiterhin hauptsächlich die Hornbrille.
Im Teil der Lobby, wo wir sitzen, ist das Licht stark gedimmt, was elegant wirkt und den Blick über das beleuchtete nächtliche Tokio in Blau- und Lilatönen besonders eindrucksvoll macht. Nur wenige weiße Kerzen erleuchten unsere Lounge mit den niedrigen Sofas und Stühlen. Es ist etwas unwirklich, eher so, als würde man in einem halbdunklen Spa sitzen und gleich mit einer Meditation beginnen. Tatsächlich ist die Hotellobby des Aman Tokyo ziemlich voll besetzt. Eine größere Gruppe Japaner, die viele der grazilen Sofas belegt, scheint etwas zu feiern, jedenfalls sind alle elegant in Anzüge und vornehme Kostüme gekleidet. Daneben gibt es noch eine amerikanische Fraktion, die besonders laut wirkt – was vielleicht auch an den hellen, aufgeregten Stimmen von ein paar der Mädchen liegt. Der Typ schaut zu der Gruppe rüber.
»Sorry, das war unhöflich«, seufzt er, als er mir wieder seine Aufmerksamkeit widmet. »Aber ich dachte, ich setze mich lieber zu dir. Ich komme mir schon den ganzen Tag wie der unsensibelste Trampel vor, weil ich die japanischen Benimmregeln nicht verstehe und ständig in die größten Fettnäpfchen trete. Vorhin bin ich mit Schuhen in mein Hotelzimmer gegangen, und die Hotelangestellte hat mich so angeekelt angeschaut, als hätte ich gerade laut gerülpst. Oder Schlimmeres.«
Ich überlege kurz, ob ich beleidigt sein muss, dass er mich sofort als Ausländerin erkannt hat, aber schließlich sitzen wir hier in einer Hotellobby. Da ist die Trefferquote bei solchen Vermutungen ziemlich hoch. Und er scheint ebenfalls Amerikaner zu sein. Außerdem waren die letzten Sätze im Vergleich zu seinem vorherigen Verhalten erfrischend normal. In dem weiten Hoodie wirkt er etwas schlaksig und zu groß für den zierlichen Stuhl, auf dem er gerade sitzt.
»Du hast Glück, du magst Sushi«, sagt er mit Blick auf meinen Teller.
Ich schaue auf den rosigen Lachs und den frischen Thunfisch. »Stimmt. Ich liebe Sushi.«
»Ich mag keinen Fisch«, erklärt er. »Tokio ist essenstechnisch nicht so meine Stadt.«
»Ich freue mich total auf das Essen hier, ehrlich gesagt«, bemerke ich und schiebe mir ein weiteres Stück Sushi mit viel Wasabi in den Mund. Der Fisch zerfließt auf der Zunge, so zart ist er.
»Und die Weihnachtsdeko ist auch Mist, kein Vergleich zu New York. Minimalismus zu Weihnachten geht gar nicht«, fügt er hinzu und will gerade noch etwas sagen, doch seine Worte gehen in meinem Hustenanfall unter.
Das ... war zu viel ... Wasabi. Mein Hals brennt, und Tränen schießen mir in die Augen. Ich unterdrücke einen weiteren Huster, während ich seinem Blick folge, der jetzt auf dieser Maxi-Vase in der Mitte der Lobby ruht. Die Zweige, die darin stecken, sind so überdimensional groß, dass das Ganze als eine Art Baum durchgehen kann, der geisterhaft in kaltem Weiß erstrahlt. Überirdisch schön, für mich jedoch kein bisschen weihnachtlich.
»Aber war doch irgendwie klar, dass es hier weder Schnee noch einen Weihnachtsbaum New-York-Style mit goldenen Engeln und roten Äpfeln gibt«, sage ich. Natürlich würde ich nie zugeben, dass ich so ziemlich den gleichen Gedanken hatte. Eigentlich weiß ich gar nicht, warum. Der Typ ist nett, aber ich möchte gerade trotzdem lieber allein sein.
Er zieht eine Augenbraue nach oben, weil ihm mein etwas zu patziger Tonfall nicht entgangen ist, lässt sich aber nicht davon abschrecken.
Eine Kellnerin kommt, und er bestellt einen Ingwer-Zitronentee und nichts zu essen.
»Du bist also aus New York? Warum bist du um diese Jahreszeit in Tokio?«, fragt er mich. Auch wenn ich sein Gesicht im Halbdunkel noch immer kaum erkennen kann, spüre ich seinen Blick auf mir. Die Frage habe ich befürchtet. Ich bin nicht so gut im Lügen, und die Wahrheit zieht immer weitere Fragen nach sich. Und das geht gerade beim besten Willen nicht, denn ich möchte eigentlich nur schnell was essen und dann ins Bett. (Meinen wahnwitzigen Vier-Tage-wach-Gedanken von vorhin halte ich inzwischen nicht mehr für realistisch.) Mit seiner Frage erinnert er mich an all die Zweifel, die ich die ganze Zeit schon habe. Und an meine Befürchtung, dass ich aus den falschen Gründen hierhergekommen bin. In der Mischung aus Jetlag, Müdigkeit und allgemeiner Verlorenheit erscheinen mir meine Zweifel gerade mehr als berechtigt. Egal wie gut die Musik von Finn Wolfcraft ist – ich finde den Typen zum Kotzen und verkaufe hier meine Seele. Die Möglichkeit, nach Tokio zu kommen, war einfach zu verlockend. Welche nur sehr begrenzt erfolgreiche Sängerin hätte diese Chance ausgeschlagen?
»Ich bin hier, um zu arbeiten«, erwidere ich zögernd.
»Was denn? Jetzt? An Weihnachten?«
»Ich ... ich habe einen Auftritt.«
Er richtet sich auf und mustert mich mit neuem Interesse. »Einen Auftritt? Was für einen denn?«
Auch diese Reaktion habe ich befürchtet. Jetzt schnell abwimmeln und ab ins Zimmer. »Musik.«
»Echt? Wie heißt du denn, kenne ich dich?« Sein Tonfall wirkt im Vergleich zu vorher fast aufgeregt. Mir fällt auf, dass er eine total angenehme Stimme hat. Und ja, auf schöne Stimmen stehe ich. Bestimmt so eine Musikerkrankheit. Jetzt mustert er mich mit neuer Eindringlichkeit. Und auch wenn er seine Kapuze noch immer nicht abgenommen hat (vielleicht findet er diesen Style cool?), macht mich sein Blick dennoch nervös, und ich werde mir unweigerlich bewusst, wie zerstört ich aussehen muss. Auf meiner gelben Bluse ist inzwischen ein Fleck von einem nicht korrekt zwischen den Stäbchen balancierten Stück Sushi. Zudem will ich gar nicht wissen, wie dunkel die Schatten unter meinen Augen sind. Wahrscheinlich schon schwarz-blau, aber das sollte mir natürlich sowieso egal sein.
Irgendwie hätte ich nicht gedacht, dass er einer der Menschen ist, die sich für Stars interessieren. So wirkt er überhaupt nicht.
»Ehrlich gesagt bezweifele ich, dass du meine Musik kennst.« Ich betrachte ihn ebenfalls noch mal genau. Das war auf jeden Fall nicht gelogen, so unbekannt wie ich mit meiner eigenen Musik bin. »Ich bin in Japan erst recht nicht bekannt, aber der Auftritt soll meine Karriere nach vorn bringen, und wenn du es genau wissen willst, bin ich mir immer noch nicht so richtig sicher, ob es so eine gute Idee war, hierherzukommen.« Meine Stimme bricht etwas bei den letzten Worten, die mir einfach so über die Lippen gekommen sind. Sein Schweigen (ist es bewunderndes Schweigen, weil er vielleicht doch so ein Starstruck-Typ ist?) spornt mich an, weiterzureden. »Es soll nämlich so eine Art letzte Chance sein, und ich singe noch nicht mal meine eigenen Songs. Wenn ich dir einen Rat geben darf: Werde auf keinen Fall Musiker. Die Karriere ist voll überbewertet, weil du ganz schnell nur noch den Scheiß machst, den andere sagen. Und das bedeutet dann auch, Weihnachten in Tokio zu verbringen, um mit irgendeinem Schmalzsänger-Arsch, der seine Fans wie Dreck behandelt, auf der Bühne irgendwelche Schmalz-Weihnachtssongs zu singen, obwohl du seine hysterischen weiblichen Fans, die schon anfangen zu sabbern, wenn sie ihn nur sehen, garantiert nicht haben willst.« Hilfe, das ist mir jetzt so rausgerutscht. Es stimmt nicht mal so ganz, denn ich habe diese Fans wirklich bitter nötig, aber darum geht es ja gerade nicht.
Der Hoodie-Nerd sieht ziemlich erstarrt aus, seine Knie stehen spitz nach oben, weil der Hocker eben für einen zierlichen Japaner, aber nicht für einen großen Amerikaner gemacht ist. Er blickt mich durch seine Brille an und stammelt: »Oh. Das ... das tut mir leid.«
»Braucht es nicht. Mein Selbstmitleid reicht für uns beide. Sei mir nicht böse, aber ich habe echt Kopfschmerzen. Gute Nacht.« Und damit stehe ich auf und stapfe durch die Lobby davon.
Mein ganzes Gesicht prickelt, und ich bereue schon drei Sekunden später alles, was ich gerade gesagt habe. Wieso hab ich diesen armen Kerl so angefahren, der gar nichts dafür kann? Er wollte nur nett sein und hat eben ein bisschen Anschluss gesucht. Er war süß! Ich hätte froh darüber sein sollen. Möglicherweise war er ja total einsam, schließlich habe ich ihn noch nicht mal gefragt, was er eigentlich über Weihnachten in Tokio macht, vielleicht steckt ja eine ganz traurige Geschichte dahinter. Ich bin so rücksichtslos. Wenn ich ihn beim Frühstück sehe, werde ich mich entschuldigen. Es muss der Jetlag sein, und wahrscheinlich habe ich zu viel grünen Tee getrunken, der macht mich immer aggressiv.
Ich haste weiter und nehme den Fahrstuhl nach oben, der schnell und völlig geräuschlos an den Stockwerken vorbeirauscht. Wieso ist hier alles so leise?
Mein Zimmer ist der Wahnsinn. Die bodentiefen Fenster, die supermodernen, aber gleichzeitig einfachen Möbel in gedeckten Farben – alles sieht teuer und luxuriös aus. Eine Wand besteht komplett aus einer Glasscheibe, vor der eine flache Bank platziert ist, von der aus man nach draußen schauen kann. Davor ein Tisch mit einem Schälchen mit Schokolade und zwei perfekten Himbeeren sowie ein schlichter weißer Blumentopf mit einer perfekten blassrosa Lilie. Ich bin das einzige nicht Perfekte in diesem Zimmer.
Als ich meine Schuhe direkt an der Tür ausziehe, wie es in meinem Reiseführer als Benimmregel Nummer eins stand, muss ich schon wieder an den Typen von gerade denken. Was macht er hier? Ich weiß seinen Namen nicht, und ich ärgere mich gewaltig über meinen Ausbruch.
Im Badezimmer aus dunklem Stein schrecke ich erst mal zurück, als ich das Licht anmache, um mich zu waschen und mir die Zähne zu putzen. Ich habe meine Haare im letzten Jahr entweder wasserstoffblond oder pink getragen, jetzt sind sie tiefschwarz, und für einen Moment sehe ich nur eine Fremde.
Im Anschluss räume ich die Sachen aus meinem Koffer in den Schrank. Meine Bühnenoutfits sind wesentlich sexyer als meine normale Kleidung. Das kommt gut auf der Bühne, und laut Marc kann es nie sexy genug sein. Also jede Menge Leder mit überdimensionierten Sicherheitsklammern (Retro Punk!), zerrissene Strumpfhosen und Strapse mit kurzen Ledershorts. Ich finde den Look nicht schlecht, aber er ist nicht wirklich mein Stil, sondern der von meinem Bühnen-Ich.
Danach setze ich mich auf die Bank vor dem Fenster und schaue über die nächtliche Skyline. Am liebsten würde ich direkt hier schlafen. Es ist so schön. Und es war natürlich die richtige Entscheidung, nach Tokio zu kommen. Ich mache mir nur immer viel zu viele Gedanken. Der Ausblick durch die riesige Glasscheibe ist unglaublich: Die Lichter der Hochhäuser schimmern in der Ferne. Ich kenne die New-York-Silhouette bei Nacht in- und auswendig, aber irgendwas wirkt an diesem Anblick hier anders. Vielleicht die Form der Fenster oder das Licht, das bläulicher scheint? Die vielen Hochhäuser sind ein vertrauter Anblick, und doch wirkt das hier ganz neu. Auf jeden Fall hat es diese unbeschreibliche Großstadt-Magie.
Ich seufze, stehe auf und platziere mich vorm Fenster, um ein Selfie für Instagram zu machen (Yo, Aman Hotel $$$ Tokio, Leute, ). Mein Manager hat mir eingebläut, richtig viel zu posten, weil ein Japan-Konzert mit Finn Wolfcraft einfach was ganz Großes ist und ich mit den richtigen Hashtags auch Finns Follower bekommen kann – was dann wieder gut für neue Verträge ist. Ich schreibe noch mehr Text dazu: Morgen Probe mit Finn! Das klingt, als würde ich mich freuen, und es ist nicht gelogen, weil ich ja nicht ausdrücklich gesagt habe, dass ich mich wirklich freue. Ach, es ist kompliziert. Ich will immer ehrlich sein, aber Marc hat natürlich recht, wenn er sagt, dass Social Media ein verkäufliches Image präsentieren muss.
Als ich das Foto gerade gepostet habe, piepst mein Handy, und auf dem Bildschirm poppt ein Bild von Evie vor ihrem Weihnachtsbaum auf. Meine Schwester hat sich in einen scheußlichen Weihnachtspullover mit einem bunten Elch und einem Schlitten gequetscht, der ihren riesigen Babybauch noch größer erscheinen lässt, und sich vor den üppig dekorierten Baum gestellt. Ich muss grinsen, sie liebt Weihnachtspullover und kauft sich jedes Jahr einen neuen. Ihre Hände liegen über dem Bauch, weil man das als Schwangere wohl so macht.
Plötzlich merke ich, wie mir verdammte Tränen über das Gesicht laufen. Fakt ist, dass ich am Tag vor Weihnachten im Aman Hotel sitze und mich wirklich über diese Chance freue, aber in dieser Sekunde total gern bei meiner Schwester im ollen Philadelphia wäre. Nein, Philadelphia ist nicht oll, es ist sogar ganz hübsch – aber gähnend langweilig und vor allem zu weit weg von New York. Vorbei die Zeiten unserer Band Nuclear Barbies, als wir zusammen im Café um die Ecke aufgetreten sind. Ich wünschte, wir wären immer noch zusammen, vielleicht hätten wir es ja zu zweit geschafft. Doch dann hat sie James kennengelernt und ist zurück nach Pennsylvania. Sie ist mein größter Fan, und wegen ihr habe ich noch nicht die Hoffnung verloren, vielleicht sogar irgendwann mal mit meinen eigenen Liedern auf der Bühne zu stehen. Gemeinsam waren Niederlagen weniger schlimm und Erfolge tausendmal besser. Aktuell dreht sich bei Evie alles um Schwangerschaft und Baby. Und bei mir um meine Solokarriere. Aber ich habe das Gefühl, dass ich erst jetzt wirklich verstehe, was das eigentlich heißt: Ich bin ganz schön solo.
Am nächsten Morgen holt mich mein Wecker aus dem Tiefschlaf. Ich fühle mich, als wäre einer dieser japanischen Bullet Trains über mich rübergefahren – und das, obwohl das Bett wirklich himmlisch weich ist. In New York ist es jetzt Abend, und mein Körper ist völlig durcheinander.
Auf der Toilette verbringe ich etwas mehr Zeit, denn sie ist eine Art Abenteuerspielplatz. Die Klobrille ist beheizt, und an der Wand daneben gibt es ein Bedienfeld mit jeder Menge Knöpfen sowie eine Schaltzentrale, die auch eines Raumschiffs würdig wäre. Damit steuert man eine in der Toilette integrierte Dusche, bei der man sogar die Intensität und Richtung des Wasserstrahls auswählen kann. Anschließend kann man den Po auch wieder trockenföhnen. Auf Wunsch gibt es Walgesang zum Abspielen (um andere Geräusche zu überdecken).
Als ich ein paar Minuten später aus der Dusche komme, die leider nicht mit technischen Spielereien überrascht, sind immerhin meine Augen so weit offen, dass ich etwas im Spiegel erkennen kann. Meine gebeutelten Haare sind dank dem Conditioner weich und duften wie Zitronengras. So gute Hotel-Haarspülung hatte ich noch nie! Nach dem letzten Shampoo in dieser billigen amerikanischen Hotelkette, die ich sonst als Unterkunft bezahlt bekomme, hatte ich sogar Haarausfall. (Oder es lag am Chemikalien-Overkill nach der Pink-Färbung, das kann natürlich auch sein.) Ich ziehe mir bequeme Leggins, ein kurzes schwarzes Kleid mit kleinen Totenköpfen und Boots an. Zufrieden betrachte ich mich im Spiegel, bevor ich mich auf den Weg zum Frühstück mache – das allein deswegen schon fantastisch schmecken wird, weil Finn Wolfcrafts Management dafür bezahlt hat. Herzlichen Dank!
Eine Stunde später hält mein Taxi am Tokyo Dome, wo das erste Konzert morgen Abend stattfinden wird. Der Taxifahrer hat tatsächlich den Sitz abgewischt, bevor ich eingestiegen bin. Ich habe die Vermutung, er wird ihn auch mit diesem antibakteriellen Spray einsprühen, nachdem ich ausgestiegen bin.
Der Dome ist eine riesige Location, die Finn Wolfcraft füllen will. Zweimal sogar. Was er natürlich schafft. Das Konzert-Venue, das eigentlich ein Baseballstadion ist, fasst bis zu 43.000 Personen – und allein mit den zahlreichen Angestellten, die wie Ameisen um mich herumwuseln, ist schon richtig was los. Unvorstellbar, was so eine große Tour mit so viel Personal, einem derartig gigantischen Bühnenbild und Tanzeinlagen für einen Aufwand bedeutet. Und für Kosten. Allein bei der Vorstellung, wie viele Menschen morgen hier sein werden, bekomme ich Schnappatmung. Der Gedanke, dass ich ebenfalls auf dieser Bühne stehen werde, ist einfach unglaublich verrückt, und es scheint immer noch fast ein zu großer Zufall zu sein, dass gerade ich diese Chance bekomme. Wäre der eigentliche Support-Act Tobi Ray nicht ausgefallen, wäre ich niemals gefragt worden, hier einzuspringen. Aber wieso mein Manager ausgerechnet zu Finn Wolfcrafts Managerin einen so guten Draht hat, dass sie eingewilligt hat, mich zu buchen, ist mir ein Rätsel. Marc ist bossy, aber ich muss ihm zugutehalten, dass ich endlich überhaupt irgendwelche Chancen bekomme.
Nein, ich bin nicht undankbar – und auch nicht neidisch auf Finns Leben und seinen Erfolg. Okay ... ein bisschen eifersüchtig vielleicht schon. Denn wieso sonst muss ich mir wie ein Mantra immer wieder sagen, dass ich nicht neidisch bin? Seine Musik ist toll, aber der Typ ist einfach schlimm. Wobei Marc ja die ganze Zeit behauptet, das wäre nur die Presse ...
Mein Manager reist erst morgen an, weil er in New York noch zu einer Hochzeit von einem Freund eingeladen ist, und ich bin ganz froh, dass ich heute meine Ruhe vor ihm habe und später vielleicht ein bisschen die Stadt anschauen kann, für das Getränke-Shooting sind nur zwei Stunden angesetzt. Soundcheck und Probe sind zum Glück früh am Tag. Ich glaube kaum, dass ich heute irgendwelche weiteren Termine vom Wolfcraft Management bekomme – dreht sich ja alles eher um Finn hier.
Ich gehe durch den Seiteneingang in den Dome, der von außen wie eine gewaltige, plattgedrückte Glaskugel-Hälfte aussieht. Ein Angestellter checkt meine ID, telefoniert und weist mir den Weg, und plötzlich stehe ich vor der riesigen Bühne. Größer als alle, auf denen ich je gestanden habe, aber auch im weltweiten Vergleich unglaublich groß. Ein breiter Laufsteg, der noch nicht ganz fertiggestellt ist, führt von der Bühne durchs Publikum. Seitlich sind zwei große Leinwände aufgestellt. Mir bleibt wieder kurz die Luft weg, und mein Herzschlag beschleunigt sich. Natürlich habe ich Bilder vom Dome gesehen und war schon als Zuhörerin bei Konzerten im Madison Square Garden mit 20.000 Besuchern, aber das hier ist noch mal eine andere Dimension. Es ist überwältigend.
»Hi, willkommen Hailee«, reißt mich eine Japanerin in perfektem Englisch aus meiner Starre. Sie trägt einen schwarzen Jogginganzug, und als sie sich zur Seite dreht, sehe ich den Schriftzug Wolfcraft Crew in Weiß auf ihrem Rücken prangen. Sie geht in die Hocke und springt von einer Seitentribüne herunter. »Wir können gleich loslegen. Ich hole schnell Kelsey, die sagt dir, wie alles abläuft, und dann zeige ich dir später die Umkleiden und alles.«
Ich nicke ihr freundlich zu und blicke mich um, während sie weggeht. Hier sind wirklich ohne Ende Leute in diesem Wolfcraft-Crew-Outfit. Wie sich das wohl anfühlt, wenn überall dein Name steht? Wenn so viele Menschen nur für dich arbeiten?
Mein Handy vibriert. Eine Sprachnachricht von Marc. In meinem Jetlag-Kopf wirkt seine Stimme in meinem Ohr besonders nah und aufdringlich. »Hailee, du wirst nicht wahnsinnig mögen, was ich dir jetzt sage, aber ich habe mit dem Management von Finn gesprochen. Wie du weißt, ist Clarissa eine alte Bekannte von mir, und ohne meine Verbindung zu ihr wärst du nicht hier.« Ich verdrehe die Augen, weil Marc mir diesen Fakt schon wieder auf die Nase bindet. »Finn will dich unbedingt heute ein bisschen informeller treffen, damit morgen die Chemie auf der Bühne stimmt. Vielleicht hast du ja sogar die Möglichkeit, einen seiner Songs mit ihm zusammen zu singen, wenn du charmant bist. Das ist echt deine Chance. Die Leute posten hier wie bekloppt, und du bekommst jede Menge Presse. Ich habe gesagt, dass du einverstanden wärst, und ihr heute nach der Probe einen Ausflug durch die Stadt macht, ganz entspannt, okay? Den Werbespot schaffst du trotzdem. Clarissas Team hat alles im Griff.«
Die Nachricht klingt in meinem Kopf nach, als hätte sie ein Echo. Oh nein. Ich hatte mir schon alle möglichen Orte herausgesucht, die ich mir in den freien Stunden anschauen wollte, den Asakusa-Schrein, den glitzernden Stadtteil Shibuya und Kanda-Jimbocho, den Stadtteil, wo sich alles um Bücher dreht, will ich eigentlich auch noch sehen. Ich muss jede freie Minute nutzen. Sobald Marc ankommt, wird nämlich kaum noch Zeit sein. Und jetzt soll ich heute den halben Tag mit Finn Wolfcraft verbringen? Vielleicht kann ich einfach so tun, als hätte ich die Nachricht nicht abgehört und gleich behaupten, dass ich ›wegmuss‹?
Da vibriert mein Handy schon wieder. Diesmal eine Textnachricht.
Marc MEIN MANAGER!: Hailee, ich weiß, dass du das abgehört hast. Finn kann echt dein Durchbruch sein. Ohne Ende Fans und jede Menge Reichweite. Du solltest jede Minute mit dem Kerl verbringen, die du kannst. Und Fotos! Das ist fast so wirksam wie ein Auftritt mit Taylor Swift.
Ich beobachte die drei tanzenden Punkte auf dem Bildschirm, die anzeigen, dass Marc weiterschreibt.
Marc MEIN MANAGER!: Und er ist doch süß!
Hailee: Genau. Sehr süß. Ich esse keinen Zucker, weil ich davon Bauchschmerzen und schlechte Laune bekomme. Vergessen?
Marc MEIN MANAGER!: Siehst du, ich wusste doch, dass du das liest.
Hailee: F*ck u!
Marc MEIN MANAGER!: Braves Mädchen.
Ich fasse mir an den Kopf. In meinem Magen rumort es. So ein tiefes, unangenehmes Rumoren, kein Hunger. Ich liebe meine Freiheit. Und ich liebe Musik. Aber in letzter Zeit ist das nicht mehr das Gleiche. Für Musik würde ich alles tun – das habe ich schon immer stolz umherposaunt. Aber jetzt fühlt es sich ein bisschen so an, als müsste ich nicht nur meine Freiheit, sondern auch meine Seele verkaufen. Will ich wirklich nett zu Leuten sein, die ich nicht mag? Es gibt Stars, die zu Stars werden, weil sie so sind, wie sie sind. Billie Eilish zum Beispiel. Sie ist berühmt geworden, ohne sich verdrehen zu müssen, und jetzt sind alle umgeschwenkt in den Kiss-Ass-Modus, und niemand sagt ihr mehr, was sie zu tun hat, sondern alle tun alles, um ihr zu gefallen. Manchmal wünschte ich, Marc wäre im Kiss-Ass-Modus. Aber dazu muss man erst ein paar Millionen Downloads haben – wovon ich Lichtjahre entfernt bin.
Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sich mir jemand nähert. Finn.
»Hi«, sagt er und lächelt. Doch sein Lächeln wirkt verkrampft und sieht alles andere als echt aus. »Du bist Hailee.«
»Hi, Finn«, grüße ich. »Schön dich kennenzulernen, ich freue mich darauf, mit dir zu sin...« Die Worte bleiben abrupt in meinem Hals stecken, als wären Schottersteine ins Getriebe geraten. Mein Atem beschleunigt sich.
Nein.
Das kann nicht sein.
Ich schaue wieder hin. Den Hoodie kenne ich. Er trägt eine Baseball-Kappe, aber die Brille ist nicht da, und ...
Für einen winzigen Moment habe ich noch Hoffnung, dass ich mich vertan habe. Aber ein weiterer Blick in sein Gesicht macht es unmöglich, mir noch etwas vorzumachen.
Finn Wolfcraft ist der Hoodie-Nerd von gestern.
»So schnell treffen wir uns wieder. Wie schön«, sagt er, klingt dabei aber so begeistert, als hätte ich gerade vorgeschlagen, eine Darmspiegelung zu machen. Mit seinem bohrenden Blick könnte er wahrscheinlich Vögel tot vom Baum herunterfallen lassen.
Verdammt ... Was habe ich gestern gesagt? Schmalzsänger-Arschloch? Mir schießt das Blut in die Wangen.
Maybe I'm a dreamer
But you should be too
aus: Naked in Town, Finn Wolfcraft
Ich habe sie schon von Weitem erkannt, wie sie vor der Bühne steht. Sie ist es wirklich. Hailee. Auf dem Bild, das Google von ihr ausgespuckt hat, ist sie blond und hat eine zerrissene Leder-Hotpants an. Erst vorhin habe ich auf ihrem Instagram-Account gesehen, dass sie jetzt wellige schwarze Haare hat. Im Kontrast dazu wirken ihre blauen Augen besonders hell. Sie trägt Boots und ein weites Kleid, über das sie einen grünen Armeeparka gezogen hat. Ja, sie ist total attraktiv, und das weiß sie wahrscheinlich sehr genau. Oh Mann. Jetzt beißt sie sich auf die Unterlippe, während ein Ausdruck der Erkenntnis über ihr Gesicht huscht.
In dieser stockdunklen Hotellobby konnte man kaum was erkennen, und ich war im Tarn-Modus unterwegs. Gestern dachte ich noch, dass das ein Vorteil wäre. Ich habe mich nur zu ihr gesellt, um diesen Mädchen aus Kansas zu entkommen, die mich schon seit dem letzten Konzert verfolgen. Mit diesem Level von Fan-Nähe kann ich momentan nicht umgehen, so gar nicht. Und hätten die mich in der Lobby gesehen und wären zu mir gekommen, wäre es möglicherweise hässlich geendet. Dabei dachte ich, dass es mit der Panik besser geworden ist. Doch da habe ich mich wohl getäuscht. Ich habe mich schon dabei ertappt, wie ich mich umgeschaut habe, ob Dave mit seiner bescheuerten Yankee-Kappe und ausgefahrenem Teleobjektiv in der Nähe ist. Der schafft es ja, irgendwelche Horror-Situationen einzufädeln, damit die Bilder besser laufen. Clarissa meint, wenn ich selbst mehr private Aufnahmen teilen würde, wäre es einfacher, weil dann niemand mehr so sehr an seinen Fotos interessiert wäre.
»Hi«, wiederholt sie noch mal. Hailee läuft rot an und scheint fieberhaft zu überlegen, was sie jetzt sagen soll. Ich ziehe eine Augenbraue nach oben.
Wieso ist Tobi nur krank geworden? Clarissa hat mich bekniet, Hailee würde einen interessanten Wind reinbringen, und außerdem ist es angeblich schwierig, so kurzfristig jemanden zu bekommen. Es soll ja wirklich Leute geben, die Weihnachten mit ihrer Familie in der Heimat feiern möchten. (Und nein, ich gehöre nicht dazu, aber das hat andere Gründe.) Jetzt habe ich so eine karrieregeile Tante am Hals. Mir ist ja egal, ob sie meine Musik mag oder nicht, aber die Rumschleimerei und freundliche Begrüßung kann sie sich dann auch sparen. Vielleicht ist es gut, dass ich sie gestern getroffen habe, sonst hätte ich sie wahrscheinlich noch direkt toll gefunden. Clarissa hat mir tatsächlich erzählt, dass Hailee ein totaler Fan von mir sei und nur deshalb mit mir auftreten wollte. Die wird noch was zu hören bekommen, verarschen kann ich mich alleine.
In dem Moment kommt meine Show-Managerin Kelsey mit ihrem Klemmbrett. Sie hat ihren Mund knallrot geschminkt und ihre schwer zähmbaren hyperlockigen Haare in einen hohen Pferdeschwanz gezwungen.
»Da ist ja schon unsere Weihnachtsüberraschung.« Sie lächelt Hailee warm an und reicht ihr die Hand. Kelsey wirft mir einen Blick zu, wirkt kurz minimal irritiert, doch dann strahlt sie sofort wieder. Sie ist und bleibt ein Profi. Ihre langen Fingernägel sind passend zum Mund rot lackiert, und vielleicht fällt mir deshalb auf, dass Hailees Nägel nur an ihrer linken Hand kurz geschnitten sind, wie man das macht, wenn man Gitarre spielt. Sie fasst eine Strähne zwischen Daumen und Zeigefinger und zwirbelt sie hektisch um ihren Daumen. Eindeutig, Gitarrenfinger. Wusste ich gar nicht, ich dachte, sie kann nur singen. Gleichzeitig ärgert es mich direkt, dass es mir überhaupt auffällt.
»Gut, dann wollen wir mal loslegen«, versucht Kelsey die eisige Atmosphäre zu überspielen. Sie klemmt sich den Stift hinters Ohr und schaut auf die Zettel auf ihrem Klemmbrett. »Ihr wollt ja nachher noch etwas zusammen unternehmen und braucht ein bisschen Zeit, hat Clarissa mir gesagt. Wenn wir jetzt direkt anfangen, sind wir auch schnell durch. Du weißt ja, Finn, perfekte Planung ist meine Zone of Genius.« Sie blickt hoch und strahlt mich an. Ich bemühe mich zu lächeln, aber ich glaube, es gelingt nicht richtig. Kelsey zieht eine Augenbraue hoch, schaut noch mal fragend zur knallroten Hailee, die sicherlich gleich aus den Ohren zu dampfen beginnen wird, und dann wieder zu mir. Kelsey atmet einmal hörbar aus.
»Dass wir schnell durch sind, klingt gut«, erkläre ich so nüchtern, wie ich nur kann. Ich straffe die Schultern, ehe ich Kelsey das Klemmbrett aus der Hand nehme, um selbst einmal draufzuschauen – aber auch, um etwas Zeit zu gewinnen und mich abzuregen. Das habe ich inzwischen nämlich gelernt. Wenn ich mich aufrege, geht das nie gut aus. Die anderen machen sich Sorgen, und Kelsey wäre total enttäuscht, weil sie bestimmt wieder unendlich viel Zeit in diesen Plan investiert hat. Sich aufzuregen ist noch schlimmer, vor allem wenn Presse da ist. Sogar wenn Paparazzi über die Mauer im Garten meiner Eltern klettern, um irgendwelche Fotos zu machen, darf ich nicht ausrasten. Das wollen sie nämlich nur, um dann die Schnappschüsse extra teuer zu verkaufen. Habe ich schmerzhaft gelernt. Gelingt mir dennoch leider nicht immer. Mein Image ist aktuell eine Katastrophe.
Clarissa hatte mich ja vorgewarnt, dass wir uns unbedingt heute Vormittag treffen sollen, um am Nachmittag Zeit für eine Tour durch Tokio zu haben. Meine Managerin hat behauptet, »das wäre Hailees Traum« und total wichtig für unsere Bühnenchemie. Wer's glaubt! Und ich Idiot habe zugesagt.
Ich sehe auf dem Plan, dass Kelsey drei Stunden für uns eingeplant hat, danach habe ich dieses Shooting für ein Getränk. Ich weiß überhaupt nicht mehr, warum ich diesem Werbe-Deal zugestimmt habe. Immerhin konnte Kelsey das Shooting auf Fotos statt auf einen Werbespot reduzieren. Drei Stunden meiner Lebenszeit mit einer Person, die mich nicht mag, sind allerdings zu viel. Ich nehme (und ich schwöre, dass ich dabei ganz ruhig atme und es sich um eine völlig rationale Entscheidung handelt) Kelseys Stift und streiche den Terminpunkt ›Tour durch Tokio‹ durch. Kelsey sieht mich mit gerunzelter Stirn an. Normalerweise ändert niemand etwas an ihrem Plan außer Clarissa. Das ist der Preis: Wenn man das Zentrum einer so großen Operation geworden ist und so erfolgreich, dann ist man selbst nur noch ein kleines Zahnrad im Getriebe dieses Erfolgs. »Ich kläre das mit Clarissa«, sage ich zu ihr und schaffe es sogar, zu lächeln.
»Okay«, murmelt Kelsey, »wenn du das sagst.« Sie wirft Hailee noch mal einen Blick zu und zieht ab.
Hailee schaut mich aus ihren großen blauen Augen an. Sie sind fast so rund wie bei einer Manga-Figur und haben etwas Unschuldiges, was nicht zu Hailees sonstigem Stil passt. Aber ihr Gesicht ist immer noch sehr rot. Ich könnte Mitleid haben, aber hinter meinem Rücken spricht sie von einem Schmalzsänger-Arsch, und dann zieht sie vor unserem Management so eine Schmusenummer mit Chemie-auf-der-Bühne und Unbedingt-vorher-Treffen ab. Na, vielen Dank. Kein Mitleid.
»Ist dir heiß?«, frage ich unschuldig. Sie ist inzwischen so rot, als würde sie gleich explodieren. Immerhin ist es ihr unangenehm. Wahrscheinlich hat sie jetzt Angst um ihre Karriere.
»Du hättest mir gestern schon sagen können, dass du es bist, und mich nicht in dein offenes Klappmesser laufen lassen müssen«, murrt sie. Momentan wirkt sie eher sauer als verlegen. Das wird ja immer besser.
»Stimmt, als Schmalzsänger-Arsch werde ich gewöhnlich nur anonym auf Social Media bezeichnet, ins Gesicht sagen mir das die wenigsten Leute. Vor allem keine, mit denen ich zwei Tage später auftreten soll.«
Hailee schließt die Augen und verzieht das Gesicht, als hätte sie Schmerzen. »Nein, das habe ich nicht so gemeint, also ...«
»Ist schon okay«, schneide ich ihr das Wort ab, bevor sie noch weiter rumsülzt. »Wir sind ja nicht zum Spaß hier, sondern für den Job. Es ist alles für dich vorbereitet. Du kannst jetzt deine Songs durchspielen«, sage ich und deute mit einer einladenden Handbewegung in Richtung der Treppe, die auf die Bühne führt.
Das Schöne an einer Konzertreise mit riesiger Entourage ist, dass man nicht die ganze Zeit zusammen abhängen und womöglich ein Zimmer teilen muss, so wie früher. Wenn der heutige Tag vorbei ist, sehen wir uns nur auf der Bühne. It's business, wie Clarissa zu sagen pflegt.
Ich lasse Hailee stehen und lehne mich an eine der Säulen neben der Bühne. Reflexartig ziehe ich mein Handy aus der Tasche und seufze im selben Moment. Derzeit versuche ich wirklich, den Griff zum Smartphone unter Kontrolle zu bekommen, aber gerade ist mir das Handy wesentlich lieber als Hailee. Auf dem Display leuchten mir Benachrichtigungen aus unserem Familienchat entgegen. Mein Vater hat Bilder von zu Hause in Ohio gepostet. Auch wenn ich jetzt in L.A. wohne, wird das immer mein Zuhause sein, und ich versuche oft nach Hadonfield zu kommen. Ich blicke in die lachenden Gesichter meiner zwei jüngeren Schwestern – Charlotte und Ivy – und meines Vaters und muss über ihre identischen Pullover mit Rentiermuster schmunzeln. Charlotte und Ivy sind Zwillinge und leben den Vibe gerade völlig aus, nachdem unsere Eltern jahrelang versucht haben, sie nicht gleich anzuziehen, weil sich das angeblich negativ auf die Entwicklung der Identität auswirken soll. Aktuell finden meine Schwestern es einfach nur lustig, Leute zu verwirren. Während ich die Bilder durchscrolle, schleicht sich ein Lächeln auf meine Lippen, gleichzeitig fühle ich einen leichten Stich in der Brust.
Finn: Ich hoffe, ihr habt einen Pulli für euren Lieblingsbruder aufbewahrt!
Dann schicke ich noch ein Foto, auf dem ich versuche, so gruslig zu schauen wie Jack Nicholson in seinen besten Zeiten. Ich stelle mir vor, wie sie kichern, was sie ziemlich oft tun. Aber ich bin trotzdem froh, dass ich nicht zu dem üblichen Weihnachts-Warmup-Abendessen beim Bürgermeister muss, wo sich immer alle Leute aus Hadonfield treffen. Aus Gründen.
Ich vermisse meinen Vater, der mich fast immer auf Tour begleitet. Ohne ihn wäre ich schon lange verrückt geworden. Ich habe genug Eltern in diesem Business gesehen, die ihre Kinder »fördern«. Meistens wollen sie aber eigentlich bloß ihre eigenen geplatzten Träume über ihren Nachwuchs verwirklichen und haben dabei nicht das Wohl ihrer Kinder im Sinn, sondern ihr eigenes Ego oder Geld. Mein Vater sorgt dafür, dass mir nicht zu viele Schleimbeutel zu nah kommen, die nur an mir verdienen wollen. Denn inzwischen geht es leider um so viel Geld, dass Menschen sich anders verhalten, wenn sie wissen, wie viel da möglicherweise zu holen ist. Sie sehen nicht mehr mich, sondern unsichtbare Dollarscheine, die an meiner Stirn kleben. Für sie bin ich kein echter Mensch mit Gefühlen, ich bin nicht Finn – sondern bloß eine leere Hülle oder ein Statist, um viele Likes zu bekommen ...
Aber dieses Mal ist mein Vater nicht hier bei mir, sondern in Hadonfield, damit meine kleinen Schwestern zu Hause ein einigermaßen normales Weihnachten feiern können, während unsere Mutter auf einem Einsatz in Afghanistan ist. Sie rettet mit ihren Missionen für Ärzte ohne Grenzen die Welt. Im wörtlichen Sinne. Es gibt kaum jemanden, der weniger mit dem Showbusiness zu tun hat als sie, aber sie ermutigt mich immer, das zu tun, was ich liebe, und gibt mir nie das Gefühl, dass ihre Tätigkeit sinnvoller ist als meine.