Impress Winter Romance Reader. Winterzeit ist Lesezeit - Julia K. Stein - kostenlos E-Book

Impress Winter Romance Reader. Winterzeit ist Lesezeit E-Book

Julia K. Stein

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Beschreibung

**Winterzeit ist Lesezeit** Alles, worauf es in der Winterzeit ankommt, sind zauberhafte Geschichten, die dunkle Abende in kuschlige Lesestunden verwandeln. Ob funkensprühende Romantik zu Silvester, Liebe auf den ersten Blick zur Adventszeit oder unverhoffte Küsse im knietiefen Schnee … In unseren Impress-Winter-Romanen wird jeder fündig, der sich in der kalten Jahreszeit nach ein wenig Herzenswärme sehnt. Und damit du dich auch wirklich in deinen neuen Lieblingsroman vertiefen kannst, stöberst du vorher am besten in unserem Winter Romance Reader, der dir Kostproben von fünf gefühlvollen Liebesgeschichten schenkt. //Im Reader enthalten sind XXL-Leseproben von: Julia K. Steins »Winterzauber in New York« **Die Eisprinzessin und der Sonnyboy** Weihnachten steht vor der Tür und Hannah kann endlich zu ihrer Familie nach Deutschland fliegen. Doch dann werden in New York aufgrund eines Schneesturms alle Flüge gestrichen und Hannah sitzt fest. Und nicht nur sie, sondern auch Kyle, der schlimmste Womanizer des College … Ina Taus & Maya Prudents »Alles, was ich mir wünsche« **Alle Jahre wieder** Eine Silvesterparty zur Volljährigkeit, das haben sich Amy Harper und Even Holm einst im Kreise ihrer Freunde geschworen. Sechs Jahre später treffen sie sich alle im gemeinsamen Winterurlaub in Breckenridge wieder, um ihr Versprechen einzulösen. Und plötzlich fahren ihre Gefühle Achterbahn … Lana Rotarus »Weihnachtswunder von Manhattan« **Ein Weihnachtsmann zum Verlieben** Cathy hasst die Adventszeit. Alles daran. Diese Einstellung ändert sich auch nicht, als sie den attraktiven Nick Claus kennenlernt, der von sich selbst behauptet, der Sohn des Weihnachtsmanns zu sein. Der Typ muss verrückt sein, denn den Weihnachtsmann kann es nicht geben … oder doch? Anja Talisus »Winter of Love. Julia & Reed« **Bühne frei für Winterträume** Julia hat ihren Romeo getroffen. Na ja, zumindest auf der Bühne, seit sie an der Seite des unwiderstehlich süßen Reed Sanders die Hauptrolle in Shakespeares »Romeo und Julia« spielt. Nie hätte sie gedacht, dass sie ihn in ihrer idyllischen kleinen Heimatstadt in Österreich beim Skifahren antreffen würde … Genovefa Adams' »Risky Game. Küsse auf dem Eis« **Eishockeyprofi meets Südstaatengirl** Avery liebt die Sonne der Südstaaten über alles. Als sie ihr Zuhause verlassen soll, bricht für sie eine Welt zusammen. Denn ausgerechnet in der eisigen Kälte von Minnesota hat ihr Vater seinen Traumjob gefunden. Doch Averys neue Heimat hält nicht nur Schnee für sie bereit, sondern auch den charmanten Tyler …

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Impress Ein Imprint der CARLSEN Verlag GmbH © der Originalausgabe by CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2020Text © Julia K. Stein, 2016, Ina Taus, Maya Prudent, 2018,Lana Rotaru, 2019, Anja Tatlisu, 2019, Genovefa Adams, 2019 Coverbild: shutterstock.com / © 4 PM production / © Ievgenii Meyer Covergestaltung: Fuchsias Weltenecho - Anna Hein Gestaltung E-Book-Template: Gunta Lauck / Derya Yildirim Satz und E-Book-Umsetzung: readbox publishing, Dortmund ISBN 978-3-646-60717-8www.carlsen.de

Let it snow

Hinter den riesigen Glasscheiben der Abflughalle am John F. Kennedy Flughafen in New York fielen die Flocken inzwischen so heftig, dass die Welt hinter einer weißen Wand aus Schnee verschwand.

»Aber morgen ist Weihnachten! Meine Familie wartet auf mich! Meine Schwester freut sich auf ihr Geschenk! Sie wird schrecklich enttäuscht sein.« Hannahs Stimme tönte vorwurfsvoll durch den Check-in-Bereich. Tränen brannten ihr in den Augen.

»Ich verstehe Ihre Enttäuschung«, sagte die dunkelhäutige Flugbegleiterin betont mitfühlend, während sie das Ticket mit einer energischen Bewegung zurück über den Schaltertisch schob. Sie fixierte Hannah mit ihren weit aufgerissenen schwarzen Augen, als wollte sie sie hypnotisieren. Das hatte sie wahrscheinlich in einem Seminar für den Umgang mit komplizierten Fluggästen gelernt. »Wir können bei diesem Schneesturm kein Flugzeug raufschicken.« Sie deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger vage Richtung Decke. »Die Sicherheit der Passagiere liegt unserer Fluglinie am Herzen. Alles andere wäre ein nicht zu kalkulierendes Risiko. Ich muss Sie jetzt bitten zu akzeptieren, dass heute kein Flugzeug diesen Flughafen verlassen wird. Dies gilt übrigens auch für jeden anderen Flughafen in New York oder Umgebung. Falls Sie vorhaben in die Stadt zu fahren, sollten Sie das baldmöglichst tun, da ein Fahrverbot angekündigt wurde. Zudem wird die Subway eingestellt, falls sich der Sturm weiter verstärkt.« Die Dame tippte mit abgespreiztem kleinen Finger auffordernd auf das Flugticket, das immer noch auf dem Schaltertisch lag.

»Aber wann geht der nächste Flug? So ein kleiner Sturm kann doch eine Stadt wie New York nicht lahmlegen. Morgen ist Weihnachten!«, wiederholte Hannah verzweifelt.

Die Dame mit den langen, pfirsichfarbenen Nägeln und den sorgfältig eingedrehten Locken, die ihr bis zu den Schultern fielen, sah sie mitleidig an. Hannah mochte es nicht, wie ein psychischer Problemfall behandelt zu werden.

»Frau Dietz. Wenn wir Glück haben, ist der Schneesturm schon morgen vorbei. Aber vor morgen Abend wird es keinen Flug geben, das kann ich Ihnen versichern. Bitte informieren Sie sich auf unserer Webseite. Sie haben immerhin noch eine kleine Chance, es bis Weihnachten zu schaffen.« Die Stewardess schenkte ihr ein tröstendes Lächeln. »Heute ist ja schließlich erst der Tag vor dem Tag vor Weihnachten.«

»Nein, heute ist der 23. Dezember. Morgen ist Weihnachten.«

Die Stewardess lehnte sich ein wenig zurück und musterte Hannah mit schräg gelegtem Kopf. Offensichtlich zweifelte sie Hannahs geistige Zurechnungsfähigkeit an.

»Weihnachten, Frau Dietz, ist am 25. Dezember. Sie werden es vielleicht nicht morgens schaffen, aber es besteht eine realistische Chance, dass sie am 25. bei Ihrer Familie sind. Ich bin mir sicher, Ihre Schwester kann sich so lange gedulden und wird sich dann umso mehr freuen.«

»In Deutschland feiern wir Weihnachten am 24. Dezember! Am Heiligen Abend!«

Die Stewardess runzelte die Stirn. Sie hatte offensichtlich beschlossen, genug Energie in diesen störrischen Fluggast investiert zu haben.

»Ach, ist ja auch egal«, jaulte Hannah, nahm ihr Ticket und drehte sich schwungvoll um, als wäre die Flugbegleiterin an der ganzen Misere Schuld. Sie wollte vor allem nicht vor ihr in Tränen ausbrechen. Hannah hievte die viel zu schwere Tasche wieder auf die Schulter und hob den Rucksack mit dem Laptop und den Studienunterlagen, die sie im Flugzeug hatte lesen wollen, mit Schwung auf die andere. Dann griff sie nach dem schweren Koffer mit dem gleichen Arm, über dem ihr Wintermantel hing, schleppte sich zu einem Stuhl mit abgerissener Armlehne und ließ sich darauf fallen. Ihr war fürchterlich heiß in dem dicken Wollpullover, den sie angezogen hatte, damit er nicht noch mehr Platz im Koffer einnahm. Sie riss sich den roten Schal vom Hals und stopfte ihn zu Handschuhen und Mütze in den Rucksack. Dann rieb sie ihre schmerzende Schulter. Der Tragriemen der Tasche hatte sich in ihr Fleisch gebohrt. Es durfte einfach nicht wahr sein. Wieso nur, wieso war sie nach dem Ende der Vorlesungen noch zu Abby nach Philadelphia gefahren? Wäre sie direkt nach Hause geflogen, wäre der Rückflug überhaupt kein Problem gewesen. Als sie die dichten Flocken vor dem Fenster tanzen sah, musste sie allerdings zugeben: Nur wer Todessehnsucht hatte, würde sich jetzt in ein Flugzeug setzen. Aber damit hatte sie einfach nicht rechnen können. Sie hatte schon immer nach New York City gewollt. Bei ihrer Ankunft im Herbst war sie direkt weiter nach Connecticut zum Forest Lake College gefahren. Sie hatte erst am Ende ihres Austauschjahrs den Big Apple besichtigen wollen, aber doch nicht mitten im Schneesturm und dann auch noch einen Tag vor Weihnachten! Wo sollte sie denn jetzt schlafen? Konnte man hier im Flughafen übernachten? Sie konnten einen doch nicht vor die Tür setzen bei dem Wetter. Bei ihrem Glück würde sie allerdings überfallen und ausgeraubt werden. Vielleicht konnte sie sich den Laptop unter den Pullover stopfen beim Schlafen? Ihr Blick fiel auf die anderen Passagiere in der Abflughalle, deren Gesichter die ganze Skala von enttäuscht bis wütend widerspiegelten: Geschäftsleute in feinen Anzügen, die noch nicht akzeptieren wollten, dass das Wetter ihnen einen Strich durch das neue Geschäft machte oder verhinderte, dass sie nach Hause kamen. Zarte, japanische Kinder mit rosafarbenen Haarschleifen, die mit kleinen Plastikfiguren spielten und keinen Ton von sich gaben. Feine Großfamilien in indischen Gewändern. Ein von Tattoos übersäter Mann, der so verwahrlost aussah, dass Hannah ihm kaum zugetraut hätte, sich ein Ticket leisten zu können, bis er das neueste MacBook und ein iPhone aus der Tasche zog. Ein kreischendes Baby. Sie überlegte, ob jemand dabei war, der ihr den Koffer unter dem Kopf wegklauen würde, falls sie einschliefe. Sie konnte niemanden ausmachen, aber das hieß natürlich nichts. Wenn ihre Mutter wüsste, dass sie überlegte, am Flughafen zu übernachten, würde sie einen Herzinfarkt bekommen. Sie hatte ihr versprechen müssen, die Notfall-Kreditkarte einzusetzen, wenn es nicht anders ging, und auf jeden Fall in einer ›sicheren‹ Gegend zu bleiben, als sie vorhin telefoniert hatten. Ihre Mutter stellte sich New York als düstere Stadt vor, in der Gangs ihr Unwesen trieben und man, nahm man die falsche Abbiegung, schnell erschossen werden konnte. Ein Wunder, dass sie überhaupt zugestimmt hatte, dass Hannah mit dem Zug nach Baltimore fuhr, bevor sie nach Hause kommen sollte. Hannahs Blick blieb an einem Typen hängen, der ein paar Meter entfernt seitlich zu ihr stand und in sein Handy sprach. Er reckte den freien Arm dabei nach oben, als hätte er allen Platz der Welt und wäre gerade dabei, sich für einen Sportwettkampf zu dehnen, was ziemlich fehl am Platze wirkte. Sein Poloshirt wurde beim Ausstrecken so weit nach oben gezogen, dass sein nackter Bauch zwischen Hose und Saum zum Vorschein kam. Aber noch viel mehr fehl am Platze waren seine nackten Füße, die in Flip-Flops steckten. Flip-Flops! Draußen waren es null Grad! Vielleicht sollte sie allerdings ihre Winterstiefel ausziehen. Beim Anblick der nackten Füße fühlten sich ihre eigenen an, als würde das Polyesterfell gleich endgültig zu kochen beginnen.

»Hey, Beautiful! Bist du das nicht, äähhm, Peaches?«

Die nackten Füße kamen auf sie zu. »Ich kenne dich aus Forest Lake.«

Hannah blickte hoch, als die Stimme in ihre Gedanken drang. Die Stimme kam aus Richtung der Füße. Und sie kam ihr bekannt vor. Und irgendwie sträubten sich bei dem Tonfall ihre Nackenhaare, schon bevor sie hochgeschaut hatte.

»Oh. Hey.«

Blaue Augen. Hellbraune Haare mit langen Strähnen an den Schläfen, die ihm ins Gesicht fielen. Augenbrauen, wie mit einem schwungvollen Pinselstrich gezogen. Ein Oberkörper, den ein weißes Ralph Lauren Poloshirt nur mühsam in Zaum zu halten schien. Jeans. Und ja, Flip-Flops.

»Hey, Peaches. Du weißt doch, wer ich bin?«, fragte er und lächelte mit schräg gehaltenem Kopf. Er klang allerdings so, als wäre er ziemlich sicher, dass sie wusste, wer er war.

Und natürlich wusste sie, wer er war. Es gab wahrscheinlich niemanden auf ihrem College, der nicht wusste, wer dieser Junge war.

»Kyle«, erwiderte Hannah gehorsam.

Er nickte. »Wenn du das sagst, klingt es allerdings so, als würdest du den Namen einer ekelhaften Krankheit aussprechen. Was machst du hier?« Er strich sich die langen Haarsträhnen aus dem Gesicht.

»Wahrscheinlich das gleiche wie du? Halt, ich bezweifle, dass du nach Düsseldorf fliegen wolltest. Außerdem fliege ich ja gar nicht.« Sie schluckte, weil ihre Stimme beim letzten Satz sofort wieder ins Weinerliche glitt.

»Barbados.«

»Barbados? Du wolltest in die Karibik?«, fragte sie und merkte im gleichen Moment, dass es eine dämliche Frage war. »Klar«, fügte sie dumpf hinzu und biss sich auf die Lippe.

»Und wenn du ›Klar‹ sagst, hört sich das an, als würdest du Magenverstimmung sagen. Wie machst du das?« Er grinste und schob sich mit einer Hand schon wieder die Haare aus den Augen.

»Ich bin nicht in der Stimmung für Scherze. Ich will nach Hause. Morgen ist Weihnachten und ich sitze am Flughafen fest. Ich kenne mich nicht aus. Meine Schwester Leni wird super enttäuscht sein, meine Eltern traurig. Ich habe kein Geld für ein Hotelzimmer und hier ist alles schweineteuer.« Die Worte flossen aus ihr heraus, ohne dass sie sie stoppen konnte. Sie klang wie ein schimpfender Papagei.

Kyle zog eine seiner Augenbrauen nach oben, die aussahen wie in Form gebürstet. Vielleicht hatte er sie sogar in Form gebracht, sie würde ihm so was durchaus zutrauen.

Er lächelte nach ihrer Tirade auch noch amüsiert.

»Hmm, ich würde fast sagen, das ist ein Problem, das du nicht kennst«, fügte sie bissig hinzu. »Vielen Dank auch für die Unterstützung.« Hannah sprang auf, schulterte erneut ihren Rucksack, griff nach Tasche und Mantel und riss am Griff ihres riesigen, schweren Koffers, in dem sie die Weihnachtsgeschenke für die ganze Familie hatte. Sie bemühte sich um einen möglichst würdevollen Abgang. Einfach nur weg von dem Typen, der ihre Niedergeschlagenheit noch nicht einmal ernst nahm. Die Tränen schossen ihr in die Augen und ein paar leider darüber hinaus. Schnell wischte sie sich einmal mit dem Ärmel darüber, was kaum möglich war, so beladen wie sie war. Sie hatte sich doch so gefreut.

»Hey, jetzt warte doch mal«, rief Kyle hinter ihr her. Damit hatte er jetzt nicht gerechnet, dass dieses Mädchen aus dem College so schnell weg sein würde. Er hing schon so lange am Flughafen ab und es war langsam klar, dass nichts mehr passieren würde. Ihm war langweilig und die Aussicht, dass es noch eine Weile dauern würde, bis er ins lauwarme Meer springen konnte, war alles andere als zufriedenstellend. Das Mädel war drollig, wenn sie sich aufregte und – dafür konnte er einfach nichts – ihre abweisende Art weckte seinen Jagd­instinkt. Ein wenig Ablenkung von der Schneemisere konnte er auf jeden Fall gebrauchen. Obwohl sie leider ziemlich humorlos schien. Schade drum. Sie war eigentlich ganz süß. Jedenfalls wäre sie es, wenn sie nicht diese scheußliche, riesige Brille auf der Nase hätte. Außerdem hatte sie einen wirklich sexy Akzent. Auf ihrem Sweatshirt vorn hatte zudem I like to party gestanden, das klang doch vielversprechend! Vielleicht besaß sie ja noch ungeahnte andere Seiten, jenseits der Nerd-Brille? Manchmal waren ja gerade die Mädchen, die nicht ständig angemacht wurden, besonders aufgeschlossen für ein kleines Abenteuer. War sie nicht eine dieser Austauschstudentinnen aus Schweden oder so? Von Schwedinnen erzählte man sich ja viel Gutes, von wegen experimentierfreudig und sowas.

Das Mädchen hatte angehalten und drehte sich langsam um. Sie war wirklich süß, wie sie ihn mit ihren braunen Augen kritisch anschaute. Erschienen ihre Augen nur wegen den Brillengläsern so riesig oder waren sie wirklich so groß?

»Jetzt renn doch nicht weg. Ich weiß genau, wie es dir geht«, sagte er beschwichtigend und warf sein Strahlen an, mit dem er normalerweise ziemlich gute Erfolge erzielte. Der Koffer, den sie neben sich stehen hatte, war gigantisch. Was Mädchen immer so alles mit sich rumschleppten. Dabei waren ihre dunklen Locken auf dem Kopf zu einem Turm hochgesteckt, durch den sie einen Bleistift geschoben hatte. Das sprach nicht dafür, dass sie eines dieser Mädchen war, die mit einem Koffer voller Lockenstäbe und Haarpflegemittel umherreisten wie Kim, eine seiner Ex-Dates, die mit ähnlich großem Gepäck zu einem Wochenendausflug angetreten war. Aber gut, bei Frauen wusste man nie so genau. Jetzt konnte er den gesamten Schriftzug mit Kleingedrucktem auf dem Sweatshirt lesen. Dort stand I like to party and by party I mean read books. Autsch, mega Nerd-Alarm. Vielleicht sollte er doch lieber wieder verschwinden.

Sie verschränkte ihre Arme.

»Ach ja, und woher weißt du so genau, wie ich mich fühle?«

»Glaubst du dein Flug ist der einzige, der storniert wurde? Mein Flug geht auch nicht.«

»Kein Luxus-Urlaub auf Barbados für dich?« Sie zog ebenfalls eine Augenbraue nach oben und legte den Kopf schief.

»Hey, Peaches. Jetzt werde mal nicht ungerecht. Ich weiß nicht, was du gegen Barbados hast, aber dort wartet genauso meine Familie, oder jedenfalls die Leute, die ich so nennen würde.« Ihr Blick war so intensiv, dass seiner für einen Moment abschweifte. Dann fing er ihren wieder auf. Sie musterte ihn mit einer solchen Feindseligkeit, dass er sich mühsam ein Lächeln verkneifen musste. »Und da komme ich jetzt genauso wenig hin. Ich bin auch in New York gestrandet. Zählt das bei mir weniger?«, fragte er, nicht ohne in seinen ironischen Tonfall zurückzufinden.

»Du hast auch kein Hotelzimmer?«, stellte sie einigermaßen überrascht fest.

»Ich habe auch kein, ähh, Hotelzimmer«, er schüttelte langsam den Kopf. Das stimmte. Er besaß ein Appartement am Central Park, aber das würde er im Moment besser nicht erwähnen, sonst würde sie noch erwarten, dass er sie zu sich einlud.

»Meine Tante wohnt in New York«, sagte er stattdessen, was ebenfalls der Wahrheit entsprach, aber weniger nahelegte, dass er ihr anbieten musste, mitzukommen. Aber sie sah ohnehin nicht so aus, als würde sie ihn um einen Gefallen bitten. Sie sah eher so aus, als wollte sie ihm eine Ohrfeige verpassen. Er konnte sich nicht helfen. Das widerspenstige Mädchen mit den großen braunen Augen faszinierte ihn. Er musste den Impuls unterdrücken, die steile Falte auf ihrer Stirn glattzustreichen.

»Ich weiß nicht, was mit dir los ist. Aber du kannst gern weiter deinen Frust an mir auslassen. Schließlich besuchen wir das gleiche College, da sollte man zusammenhalten«, sagte er versöhnlich.

***

Die beiden standen voreinander und blickten sich einen Moment lang abwägend an. Hannah in ihren ultrawarmen Boots, die sie sich am liebsten von den Füßen gerissen hätte, Kyle mit wippenden Zehen in Flip-Flops. Hannah wusste nicht so recht, was sie von der Situation halten sollte. Kyle grinste für ihren Geschmack viel zu selbstbewusst. Seine Lippen sahen an einer Stelle trocken aus. Ansonsten war seine Oberlippe geschwungen, fast wie eine Mädchenlippe, das dazugehörige Kinn aber war kantig. Hannah konnte sich nicht helfen: Kyle wirkte in seinem etwas zu engen Poloshirt die ganze Zeit so, als würde er für eine Abercrombie & Fitch-Kampagne posieren. Vom ganzen Training hatte er auch den perfekten Körper für so eine Werbeaktion, bei der die Männer grundsätzlich ohne Shirt auftraten. Halt, waren diese Kampagnen nicht abgesetzt worden, weil sie die Männer zu Sexualobjekten degradierten? Das war wahrscheinlich auch ein Teil der Emanzipation. Aber was war dann eigentlich mit den Victoria's Secret-Models, die immer nur dann riesigen Spaß hatten, wenn sie bloß Unterwäsche trugen? America's next Topmodel? Also logisch war das nicht. Aber für Logik waren die Amerikaner ja auch nicht bekannt. Hatte es da nicht mal diese Klage gegen McDonalds gegeben, von Leuten, die behaupteten, McDonalds sei daran schuld, dass sie zu dick geworden seien? Na ja, ihre Freundin Abby hatte wohl doch Recht mit der Behauptung, dass Hannah oft zu hart mit ihren Urteilen war. Trotzdem, oder gerade deshalb, konnte Hannah Kyle nicht ganz ernst nehmen. Sie gingen auf das gleiche College. Das stimmte. Aber ihre College-Erfahrung war wahrscheinlich so unterschiedlich, wie sie nur sein konnte. Kyle war ein Jock. Das war der Ausdruck für die Jungs, die gut im Sport waren und sich mit hübschen Cheerleadern umgaben. Sie hatten nicht so viel in der Birne, waren dafür aber mächtig arrogant. Mit solchen Typen hatte sie schon Erfahrungen gemacht, die sie lieber vergessen würde. Jocks mussten natürlich nicht zwingend doof sein, aber in diesem Fall, nach allem, was sie von Kyle gehört hatte, war der Rest bestimmt zutreffend. Kyle war das Alpha-Tier im Ruderteam und zu den Wettbewerben kam fast das ganze College. Die Spieler trainierten morgens und nachmittags und scheinbar ständig und räumten regelmäßig die wichtigsten Preise in Neu-England ab. Aber zum Rudern brauchte man nicht viel Intelligenz. Das ging mit Muskelkraft. Ach ja, und Golf spielte er auch sehr gut. Golf! Seine Eltern besaßen sogar einen Golf-Club, wenn sie das mal richtig verstanden hatte. Aber sie hatte noch viel anderes über ihn gehört und, was seinen Umgang mit Mädchen anging, nichts Schmeichelhaftes. Hatte er nicht dieses Mädchen aus ihrem Dorm, wie das Wohnheim an ihrem College genannt wurde, aufs Übelste sitzengelassen? Da gab es doch irgend so eine Geschichte.

»Ich weiß nicht, was du gerade überlegst und wenn ich deinen Gesichtsausdruck anschaue, weiß ich auch nicht, ob ich es wissen will. Zuviel Denken tut nicht gut.« Er langte mit einer Hand in Richtung ihrer Stirn, als wollte er zwischen ihre Augen fassen. »Sonst musst du da später Botox reinspritzen.«

Hannah trat einen Schritt zurück. »Sag mal, du spinnst ja wohl total …«

Kyle nahm die Arme hoch und machte einen Schritt zurück. »Hey, das war ein Witz.«

»Was war das denn bitte schön für ein Witz?«

»Peaches, jetzt sei doch nicht so sauer. Ich habe keine Schneelawine vom Himmel geschüttet. Ich versuche dich aufzuheitern.«

»Kannst du mal aufhören, mich Peaches zu nennen?« Sie stemmte die Hände in die Hüften, aber sie konnte ihm dabei irgendwie nicht direkt in die Augen sehen. Stattdessen blickte sie an ihm vorbei in die Halle mit den vielen ungeduldigen Menschen. Sie sollte sich lieber nicht mit diesem Jock rumärgern, sondern sich einen Plan überlegen, was sie jetzt machen sollte. Sie seufzte und wandte sich ihm wieder zu. Irgendetwas war merkwürdig an seinem Ausdruck. Er lächelte ein wenig, fast schüchtern oder entschuldigend.

Leicht verwirrt schüttelte sie den Kopf. Dann hätte sie sich fast vor die eigene Stirn geschlagen. »Du kennst meinen Namen nicht«, stellte sie sachlich fest und ihre Stimme klang dabei leider etwas piepsig. »Deshalb nennst du mich Peaches.«

Kyle sah aus wie ein kleiner Junge, der von seiner Mutter bei etwas Verbotenem ertappt worden war.

Hannah seufzte und wandte sich ab: »Frohe Weihnachten, Kyle.« Sie raffte wieder ihr Gepäck zusammen, schulterte ihren Rucksack und hielt Ausschau nach einem Informationsschalter. Irgendetwas musste sich der Flughafen doch für die gestrandeten Passagiere ausdenken. »Amy?«, erklang Kyles Stimme unsicher hinter ihr.

»Hannah, Kyle. Ich heiße Hannah. Kein Problem.« Sie ging weiter. Sie mochte nicht zugeben, wie sehr sie die Tatsache, dass er noch nicht einmal ihren Namen wusste, während sie wesentlich mehr über ihn wusste, als sie je hatte wissen wollen, ärgerte. Forest Lake war ein ziemlich kleines College in Connecticut und man kannte die meisten Studenten aus dem eigenen Jahrgang vom Sehen. Kyle war das Zentrum der Aufmerksamkeit auf jeder College Party, auf der er auftauchte. Nicht zuletzt, weil er häufig einen in der Tat sehr süßen Golden Retriever dabeihatte, so wie weibliche Celebritys gern Chihuahuas in der Handtasche herumtrugen. Er hatte eine Art Fanclub um sich herum geschart. Ganz vorn dabei natürlich die ganzen Bimbos, die bedauerten, dass das Ruderteam keine Cheerleader besaß wie das Football Team. Warum nur hatte sie sich die Geschichten, die sie über ihn gehört hatte, überhaupt gemerkt? Es gab mit Sicherheit Wichtigeres.

»Hannah, jetzt sei doch nicht eingeschnappt. Ich kann dich gern mit in die Stadt nehmen. Hier kannst du schließlich nicht übernachten.« Kyles Stimme klang selbstgefällig, als würde er sich selbst ziemlich großzügig bei diesem Angebot vorkommen, was Hannah nicht entging. Sie ging weiter, als hätte sie nichts gehört.

»Hannah? Jetzt bleib doch mal stehen. Es tut mir leid, dass ich deinen Namen nicht wusste. Hey, wir haben doch noch nie miteinander gesprochen!«

Das stimmte natürlich. Hannah kam sich plötzlich total albern vor. Tatsache war, dass sie bei diesem Schneesturm besser in der Stadt aufgehoben war als hier am Flughafen. Vor den Infoständen hatten sich unendlich lange Schlangen gebildet. Und wenn jeder Einzelne so lange rumdiskutierte, wie sie es selbst gerade am Abflugschalter getan hatte, konnte es Stunden dauern, bis sie an der Reihe war.

»Wenn wir Glück haben, kommen wir noch in die Stadt. Der Schneesturm wird alles lahmlegen. Komm, ich fahre ohnehin.«

Kyle hatte natürlich Recht. Ziemlich dämlich, dass sie divenhaft eingeschnappt war, weil der beliebteste Junge des Colleges nicht die Bibliotheksmaus der Schule erkannt hatte.

Er hatte sie mit ein paar Schritten eingeholt und stellte sich vor sie, als müsste er ihr den Weg versperren. »Nimm die Einladung an. Ich habe ein zu schlechtes Gewissen, eine Forest-Lake-Studentin hier sitzenzulassen. Schließlich ist fast Weihnachten. Gibt sonst bestimmt auch schlechtes Karma und ich bekomme weniger Geschenke vom Weihnachtsmann.«

»Du meinst, du machst es nur wegen der Geschenke? An jedem anderen Tag würdest du mich am Flughafen versauern lassen? So leicht wird sich der Weihnachtsmann nicht täuschen lassen.« Hannah strengte sich an, ein Lächeln zu unterdrücken.

»Komm, stell dir vor ich bin Scrooge und will mich endlich als Wohltäter fühlen. Hilfst du mir?«

Jetzt konnte sie sich das Grinsen nicht mehr verkneifen. »Okay, Kyle. Rette mich«, murmelte sie ironisch.

»So ist besser, Peaches!«

»Haaaalt. Ich komme nur mit, wenn du mich nicht mehr Peaches nennst.«

»Okay, Peaches. Aber nur unter einer Bedingung.«

Sie blickte ihn verwirrt an.

»Dass ich dich, solange wir in New York sind, weiterhin Peaches nennen kann. Der Name passt zu dir. Und jetzt weißt du ja, dass ich deinen Namen kenne, also können wir uns entspannen und zu Kosenamen übergehen.«

»Meine Güte, du bist ja ein noch schlimmerer Macho, als dein Ruf vermuten lässt.«

Sie war fassungslos. Leider fiel ihr keine geistreichere Antwort ein.

»Du wirkst verwirrt«, sagte er selbstgefällig.

»Kann es sein, dass du nur ein winziges bisschen zu überzeugt von dir selbst bist? Sind dir deine Instagram-Follower zu Kopf gestiegen?«

Ah. Im nächsten Moment hätte sie sich ohrfeigen können. Sie hatte soeben zugegeben, dass sie tatsächlich schon mal auf Kyles Instagram-Profil gewesen war. Wie peinlich war das denn? Er hatte Tausende von Follower und es gab in der Tat Mädels am College, die jubelten, wenn Kyle ihnen »zurückfolgte«. Für Hannah ein absolutes Armutszeugnis. Instagram war ohnehin vollgestopft mit eitlen Menschen und wer am hemmungslosesten postete, wie etwa diese Lacrosse-Spielerin, die jedes Mal in der Umkleidekabine, im Sport-BH, noch ein paar Bilder schoss, bekam die meisten Likes und am Ende noch irgendwelche Werbeverträge. Eitelkeit und Exhibitionismus wurde belohnt. Aber warte mal, sie war hier nicht im Women's Studies Seminar, wo sie selbst manchmal das Gefühl hatte, dass bei einigen, die sich gewaltig aufregten, auch Neid im Spiel war. »Also. Ich bin bereit«, sagte sie schnell, um abzulenken. »Bitte lass den Wohltäter raushängen. Mir ist egal, wenn es offensichtlich nicht von Herzen kommt, sondern in klarer Absicht ein paar Geschenke vom Weihnachtsmann abzugreifen. Ich ignoriere deine niederen Motive für einen Augenblick und folge dir in die Stadt.«

Kyle grinste zufrieden. Immerhin ging er nicht auf die Instagram-Sache ein. Wortlos nahm er ihr den schweren Koffer aus der Hand und warf die vollgestopfte Tasche mit ihrem viel zu schweren Handgepäck über die Schulter. Über die andere Schulter warf er seine eigene, ziemlich kleine, Duffle Bag und lief scheinbar ohne jede Anstrengung zum Ausgang. Hannah, deren Schulter immer noch von dem Riemen schmerzte, der sich dort hineingebohrt hatte, zuckte mit den Achseln und lief ihm nach.

»Warum hast du denn nur so eine kleine Tasche, obwohl du so weit weg fliegst?«, fragte sie.

»Badehose. Der Rest ist auf Barbados.«

»Ooookay. Fliegst du da häufiger hin?«

Kyle blickte sie an, als wollte er abschätzen, wieviel Wahrheit sie vertragen konnte. Dann wandte er sich wieder nach vorn. »Schon. Mein Vater hat ein Haus dort. Wir fahren jedes Weihnachten hin. Nur letztes Jahr war es mit dem CV so krass, dass wir auf den Bahamas waren«, nuschelte er.

»Mit dem CV?«, bohrte Hannah nach. »Ähh, ist das nicht die Abkürzung für Curriculum Vita? Was hat das denn mit deinem Lebenslauf zu tun«.

Kyle grunzte kurz. »Neeee, der Chikungunya-Virus. Ist der gleiche, den es auch in St. Barths und der sonstigen Karibik gibt«, erwiderte Kyle.

»Achso, klar.«

Kyle drehte sich aufgrund ihres bissigen Tonfalls zu ihr um und sah sie verständnislos an.

»Du wirst es nicht glauben, aber es gibt Teile der Bevölkerung, die nicht für den Urlaub in die Karibik fahren und diesen Chicken-Tuka-Virus kennen. Ich fürchte, ich gehöre dazu«, erklärte Hannah. Und wieder konnte sie sich nicht helfen, sich schon Sekunden später über sich selbst zu ärgern. Klang sie nicht so, als wäre sie eingeschnappt, weil sie nicht zu der privilegierten Schicht gehörte, die Urlaub in der Karibik machte? Nein, beruhigte sie sich selbst, ich will gar keinen Urlaub dort machen, vor allem nicht, wenn man dann mit so Hohlbirnen wie Jenny Seinfeld abhing, die jedem auf dem College erzählt hatte, dass ihre Eltern über die ganze Welt verteilt sechs Ferienhäuser besaßen. Ahh, wieso kam alles falsch heraus.

»Achso, sorry«, sagte Kyle und haute sich mit der Hand vor den Kopf, so dass Hannah nicht entscheiden konnte, ob es ihm wirklich unangenehm war oder ob er sich über sie lustig machte. Eher Letzteres. »Achtung bitte«, sagte er dann und trat nach vorn, so dass sich die Schiebetüren nach draußen öffneten.

Die kalte Luft, gemischt mit dicken Schneeflocken, blies ihnen ins Gesicht. Sofort waren sie doppelt so wach wie eben, so als wäre der Sauerstoffgehalt im Blut, reduziert durch die stickige Flughafenluft, mit dem ersten Atemzug sprunghaft angestiegen. Kyle blinzelte, weil die dicken Schneeflocken, die ununterbrochen vom Himmel fielen, sich in seinen Wimpern verfingen. Hannah versuchte die Flocken von den Brillengläsern zu wischen, wo sie scheinbar zielgerichtet hinflogen und festpappten wie Fliegen auf einer Windschutzscheibe.

»Wird von Mücken übertragen«, erklärte Kyle über die Lautstärke des Windes und der fahrenden Autos und Busse hinweg. »Ist ziemlich brutal, man kann sich nicht bewegen und einige sterben sogar dran. Deshalb hat sich meine Familie auf dieses Jahr gefreut. Aber gut, sie werden auch ohne meine Gesellschaft ein paar Tage überleben. Knapp, aber es wird gehen.« Er zuckte mit den Schultern. Dann hob er seinen Arm und winkte energisch ein Taxi heran. Eine ganze Reihe Menschen in dicken Wintermänteln mit vermummten Gesichtern hatte sich in einer ordentlichen Schlange auf längeres Warten eingestellt. Kyle stand immer noch in seinem Poloshirt im Schnee, als wäre das völlig selbstverständlich und als würde das Wetter nicht für ihn gelten. Dann griff er wieder nach Hannahs Gepäck, gab ihr ein Zeichen ihm zu folgen und ging dem Taxi entgegen, das abseits der eigentlichen Taxischlange gehalten hatte. Der Kofferraum sprang auf.

»Wie hast du das denn gemacht?«, fragte Hannah.

Kyle hielt ihr seine Hand vor die Nase. Jetzt erkannte sie, dass Geldscheine zwischen den Fingern steckten. Aber bevor sie etwas erwidern konnte, hatte Kyle sich durch das geöffnete Autofenster mit dem Fahrer geeinigt und das Gepäck in den Kofferraum geladen. Er öffnete die Autotür und machte eine ungeduldige Geste, dass Hannah einsteigen sollte. Dann lief er um das Taxi herum und stieg selbst ein. Zumindest war das Schneetreiben sogar direkt vor dem Flughafen so dicht, dass die anderen Menschen nicht so genau mitbekommen hatten, was hier vor sich ging. Aber jetzt schauten die ersten zu ihnen rüber und es würde nicht mehr lange dauern, bis sie Hannah dafür verantwortlich machten, dass sie nun noch länger auf ein Taxi warten mussten.

»Kommst du?«, rief Kyle nach draußen. »Sonst wirst du gleich noch von einer wütenden Meute angefallen.«

Hannah schüttelte den Kopf, seufzte und stieg ein.

»Du kannst nicht einfach in der Taxi-Schlange warten wie die anderen Menschen?«, sagte sie, als sich die Tür mit einem dumpfen Laut geschlossen hatte und der Taxifahrer so schnell losfuhr, wie es eben ging, um keinen Ärger mit den anderen Taxifahrern zu bekommen.

Kyle blickte sie verständnislos an. »Ich dachte, du bist mir dankbar, nicht länger im Schneesturm zu stehen.«

Hannahs Brille war in Sekunden beschlagen und sie versäumte es, eine passende Antwort zu geben, weil sie zuerst ihre Brille entnebeln musste und dann noch ein vor dem Rücksitz eingebauter Fernseher in nervtötender Lautstärke ansprang.

Kyle lehnte sich nach vorn. »907 Fifth Avenue, Ecke 72nd and Fifth«, sagte er und ließ sich gegen die Rückenlehne fallen.

Hannah mühte sich, den Fernseher auszustellen oder zumindest die dröhnende Werbebeschallung zu dämpfen, was ihr aber nicht gelang. Kyle sah einen Moment lang zu, dann lehnte er sich vor, drückte irgendeinen Knopf und der Bildschirm ging aus.

»Was meinst du genau?«, fragte er. »Alle hätten das gleiche machen können wie wir. Ich habe schließlich dafür bezahlt. Das nennt sich freie Marktwirtschaft.«

»Ach, ist egal«, sagte Hannah. Sie konnte sich schlecht darüber aufregen, dass er sich vorgedrängelt hatte, und gleichzeitig seine Einladung annehmen.

»Wohin möchtest du denn? Höher als die Upper East Side willst du ja mit Sicherheit ohnehin nicht. Ich kann dich überall rauslassen, wo du willst. Aber machen wir es uns besser erst mal gemütlich. Wird bei dem Wetter einen Moment dauern die Fahrt.« Er lächelte sie an und zwinkerte mit einem Auge.

»Ich kann mir nicht helfen. Irgendwie hört es sich anzüglich an, wenn du ›machen wir es uns gemütlich‹ sagst«, platzte sie heraus.

»Es ist anzüglich gemeint. Aber ich habe leider den Eindruck, du wirst nicht drauf eingehen.«

Obwohl sie versuchte, es zu unterdrücken, amüsierte sie seine Bemerkung. »Sag mal, ich will natürlich nicht deine Coolheit anzweifeln, aber jetzt, wo klar ist, dass es mit Barbados nichts wird – wäre es nicht an der Zeit die Flip-Flops gegen ein paar Winterstiefel auszutauschen und sich einen Pullover überzuziehen?«

Kyle blickte auf seine nackten Füße. »Ich fürchte, in diesem Fall hast du Recht. Muss ich zu Hause machen. Ich finde es aber rührend, dass du dir Sorgen um mich machst.«

»Warte mal, du hast gar keine anderen Schuhe dabei?«, fragte Hannah und ignorierte seine Bemerkung. Ihre Brille war schon wieder beschlagen. Sie wünschte, sie würde Kontaktlinsen tragen.

»War ja nur die kurze Fahrt mit Joe und dann der Flieger«, er zuckte mit den Schultern. »Dafür reichen Flip-Flops.«

»Joe?«

»Unser Fahrer«, murmelte Kyle und blickte aus dem Fenster. »Krass da draußen. Wirklich krass.«

Öffentliche Verkehrsmittel benutzte Kyle wahrscheinlich normalerweise gar nicht, da kam man auch mit Flip-Flops durch. Ein Leben mit einem Ferienhaus auf Barbados, bei Schneesturm mit Flip-Flops in der Gegend herumfahren … das war einfach sehr, sehr weit weg von Hannahs Leben.

Ihre Füße hingegen fingen nach wenigen Minuten im warmen Taxi wieder an zu glühen. Sie beugte sich nach unten, um die Winterstiefel abzustreifen.

»Hey, hey, hey, was hast du vor?«

Hannah zuckte zurück. Kyle hatte sich seitlich zu ihr gedreht und lehnte mit einer Schulter und dem Hinterkopf gegen das Fenster, den Oberkörper ihr zugewandt.

»Was?«, fragte sie entnervt.

»Was hast du da genau vor?« Er nickte mit dem Kopf in Richtung ihrer Füße, wobei ihm seine Haare mal wieder in die Augen fielen. Er legte es bestimmt darauf an, um dann die Strähnen schön langsam zurückzustreichen. Dachte er, dass sie auf solche Gesten abfuhr? Dann hatte er sich getäuscht.

»Ich will meine Stiefel ausziehen?«

»Und … das geht in Ordnung, meinst du?«, fragte er zweifelnd.

»Was soll damit nicht in Ordnung sein?«

»Ich meine … du wartest doch schon seit Stunden am Flughafen. Das Taxi hier ist klein. Nicht, dass es dir gleich peinlich wird …«

Hannah rollte mit den Augen. »Ich habe keine stinkigen Schweißfüße, die ich auch im Winter in Flip-Flops stecken muss, damit sie nicht zur Geruchsbelästigung werden.«

»Ich meine ja nur. Die Fahrt wird lang. Und ich habe eine sehr empfindliche Nase.«

Hannah tippte sich an die Stirn und fuhr fort, sich der heißen Stiefel zu entledigen. Kyle grinste zufrieden über seinen eigenen Witz. Aber sie konnte nicht leugnen, dass sie, als sie ihre Stiefel abstreifte, vorsichtig schnupperte, ob sie unangenehm rochen.

»Unsicher?«, spottete Kyle und rümpfte die Nase.

»Du bist echt unmöglich«, sagte Hannah, zog mit einem Ruck den anderen aus und streckte ihre Beine extra in Kyles Richtung, soweit das eben ging. »Selbst schuld, du hast mich eingeladen.« Aber sie war ganz erleichtert, dass sie eine Sache wirklich nicht besaß, nämlich muffige Füße. Kyle genoss es offensichtlich, andere zu verunsichern.

»Also, wohin darf ich dich bringen?«

»Das muss ich noch kurz klären«, sagte Hannah und konzentrierte sich auf ihr Mobiltelefon. »Vielleicht gibt es ja etwas in der Nähe. Wie nennt sich die Gegend?«

»Upper East Side.«

»Kennst du zufällig eine gute Seite für Hotelzimmer – also billige Hotelzimmer?« Wobei, auch wenn sie sich kaum in New York auskannte: Upper East Side klang nicht nach einer Gegend, wo sie sich ein Zimmer leisten konnte, so viel hatte sie durch Hollywood schon gelernt. Sie könnte heulen, wenn sie daran dachte, dass wahrscheinlich all das Geld, dass sie mühsam in der Cafeteria verdient hatte, nach dieser einen Übernachtung wieder weg sein würde.

Kyle zuckte die Schultern. »Ich fürchte nein.«

»Okay, sorry, dumm von mir. Kennst du nicht.« Hannah begann zu googeln, aber auf ihrem Display passierte nicht viel.

»Ich fürchte billig wird überall schwierig, es sind ja noch andere Leute in der Stadt gestrandet.«

Die Freundinnen, die sie bisher auf dem College gefunden hatte, waren nicht aus New York und Ethan, ihr bester, natürlich rein platonischer Freund, war ursprünglich aus Michigan. So viele enge Freunde hatte sie auch gar nicht, die sie jetzt anrufen könnte, um bei ihnen zu übernachten. Sie besuchte das Forest Lake College schließlich erst seit dem Herbstsemester. Vielleicht konnte Abby ihr ein paar Tipps geben. Doch Abbys Handy war ausgestellt. Natürlich, die meisten waren jetzt bei ihren Familien und Handy und Computer waren ausnahmsweise in den Hintergrund gerückt. Der Taxifahrer drosselte das Tempo immer weiter, umso stärker der Schnee­fall wurde. Die großen Flocken trafen gegen die Scheibe und fielen breit auseinander. Der Scheibenwischer fuhr auf Hochtouren, trotzdem war die Sicht so schlecht, dass außer dem Weiß des Schnees nur die roten Rücklichter der anderen Autos zu sehen waren. Sogar die starken Laternen am Straßenrand waren durch den Schnee gedämpft und inzwischen wäre es auch ohne Schneesturm schon dämmrig gewesen.

Kyle ließ das Fenster herunterfahren und streckte seine Hand nach draußen. Ein Schwall kalter Luft fegte durch das Auto.

»Mister, könnten Sie das Fenster bitte schließen«, brummte der Fahrer von vorn.

»Ich fange Schnee«, sagte Kyle.

»Mister, könnten Sie bitte das Fenster schließen«, wiederholte der Fahrer monoton.

Kyle zuckte mit den Schultern und zog seine Hand zurück. Er ließ die Scheibe wieder hochfahren und der frische Luftzug stoppte genauso plötzlich, wie er gekommen war. Kyle hielt Hannah seine Handfläche hin, in der die Schneeflocken rasch dahinschmolzen. Seine Hände waren groß, aber nicht grob, auch wenn er einige Schwielen auf den Handflächen hatte, Male vom Rudern wahrscheinlich. Die wunderschön geformten Schneeflocken lagen nur für Sekunden zart in seiner Hand, bevor sie zu Wasser zerflossen. Kyle schaute nachdenklich auf die verbliebenen Tropfen auf seiner Handfläche und sah dabei irgendwie enttäuscht aus.

»Hat dir noch niemand erklärt, dass man Schneeflocken nicht fangen kann?«, fragte Hannah, während sie mit versiegender Hoffnung auf die nächste Webseite in ihrem Handy schaute, die nicht laden wollte.

»Hat dir noch niemand erzählt, dass es um den Spaß des Augenblicks geht? Ich brauche die Schneeflocken nicht mit nach Barbados zu nehmen. Aber ich habe sie gefangen und einen Augenblick lang gehörten sie mir. Vielleicht reicht mir das ja.« Er sah Hannah über seine feuchte Handfläche hinweg an. Das Auto war, wie viele amerikanische Taxen, weich gefedert. Es schwankte und schaukelte, als würden sie in einer Kutsche sitzen und durch Wolken fahren. Inzwischen fuhr das Auto im Schritttempo, die Fahrt konnte noch lange dauern. Sie saßen auf dem Rücksitz wie auf einer kleinen, warmen Insel und um sie herum breitete sich das weiße Nichts aus. Hannah zuckte mit den Schultern, lehnte sich nach hinten und zog ihre Füße nach oben auf den weichen Sitz, bis sie im Schneidersitz saß. Sie hatte das Gefühl, der Rest der Welt existierte nicht oder war zumindest unendlich weit weg. Der Moment war auf merkwürdige Weise so vertraut, obwohl sie sich alles andere als vertraut waren. Hannah saß auf ihrer Seite, während Kyle seine langen Beine auseinanderklappen ließ und scheinbar keine Angst davor hatte, sich auf »ihrer« Seite auszubreiten oder gegen ihr Knie zu stoßen. Aber das hätte sie auch nicht anders von ihm erwartet. Jungs wie Kyle waren es gewöhnt, viel Platz einzunehmen und sich nicht klein zu machen oder zurückzuhalten. Er erinnerte sie an Tom, ihre erste und auch letzte große Liebe, und seine laute selbstverliebte Art, die sie anfangs anziehend gefunden hatte. Hannah überlegte, wen sie noch anrufen konnte, und scrollte durch ihre Kontakte.

»Hast du niemanden mehr, den du anrufen kannst?« Kyle schaute auf ihr Telefon-Display. »Scheinen ja nicht ganz so viele Freunde in deinem Handy abgespeichert zu sein. Mich kannst du immer anrufen«, grinste er. »Dann nehme ich dich mal auf eine Party mit.«

»Hey. Ich habe genug Freunde, mache dir mal keine Sorgen. Und alle würden mich aufnehmen. Sie wohnen nur leider nicht in der Nähe. Aber du glaubst doch nicht im Ernst, dass deine 500 Facebook-Freunde echte Freunde sind, oder? Wie viele hast du? 500? Halt nein, 700?«

Kyle wirkte verdutzt. »Ähh, 798. Aber keine Sorge. Ich kenne den Unterschied zwischen Facebook und Reallife. Obwohl, manchmal wäre es ganz angenehm, wenn man im echten Leben Freundschaften genauso einfach löschen könnte wie auf Facebook.« Er klopfte mit den Fingern auf die Scheibe, während er das sagte.

Natürlich, damit er ohne jede Verantwortung und Folgen die Mädchen abstreifen konnte, mit denen er etwas gehabt hatte. Sie wusste, dass einige Mädchen auf dem College Kyle anschmachteten wie ein Cocker Spaniel einen saftigen Knochen.

»Ich würde deine Freundschaftsanfrage selbstverständlich annehmen und dich sehr gern in den exklusiven Kreis meiner Freunde aufnehmen«, grinste Kyle. Er beugte sich vor, als würde er ihr etwas sehr Vertrauliches mitteilen: »Es gibt auch noch eine geheime Gruppe für spontane Partys …«

»Bild dir nicht ein, dass außer dir und deinen Sport-Freunden, die sich auf jeder Party besinnungslos saufen, niemand ein schönes Uni-Leben hat. Vielleicht kannst du es dir nicht vorstellen, aber viele Studenten wollen nicht Teil deiner Clique sein. Danke für das Angebot. Aber ich bin überhaupt nicht auf Facebook.«