Früher war alles leichter. Ich zum Beispiel - Simona Meyer - E-Book + Hörbuch

Früher war alles leichter. Ich zum Beispiel Hörbuch

Simona Meyer

4,8

Beschreibung

Wenn wir erst mal ein gewisses Alter erreicht haben, regen wir uns nicht mehr über Kleinigkeiten auf. Wir werden uns akzeptieren und nicht mehr mit unseren Oberschenkeln hadern. Weil wir alles erreicht haben, endlich angekommen sind und jenseits der 40 andere Dinge zählen... Nun, das war der Plan. In echt sieht das alles etwas anders aus. Plötzlich entdecken wir Längsfalten in unserem Dekolletee und nehmen es nicht entspannt. Nein, wir rasten aus, weil wir eigentlich noch nicht da sind, wo wir eigentlich längst sein wollten. Wir haben weder das Vollholzhaus gebaut noch den großen deutschen Gesellschaftsroman geschrieben. Wir schauen immer noch lieber Trash TV als fachgerecht ein Gemüsebeet anzulegen. Und die Bikinifigur, von der wir träumen, seit wir den ersten Bikini tragen durften? Nun, ganz ehrlich: Jetzt ist es auch zu spät. Als Simona Meyer versehentlich auf die Selfie-Funktion ihrer Handy-Kamera kommt und das Gefühl hat, dem Grüffelo in die Augen zu blicken weiß auch sie: Ich werde alt. In ihrem humorvollen Buch räumt sie nun auf mit den großen Illusionen, die wir uns über das "später" gemacht haben, das plötzlich da ist. Und gibt Anregungen, wie wir locker nehmen können, was alles schwerer ist, als wir uns das vorgestellt haben – das Loslassen, das Zufriedensein, das Ankommen, das Vernünftig sein – und wir.

Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS

Zeit:3 Std. 27 min

Sprecher:Sabrina Gander
Bewertungen
4,8 (37 Bewertungen)
32
4
1
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

3. Auflage 2018

© 2017 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlaggestaltung: Manuela Amode

Umschlagabbildung: shutterstock/Marianna Pashchuk

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

ISBN Print 978-3-86882-844-3

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96121-083-1

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96121-084-8

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.mvg-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

Inhalt

Vorwort

1. Kapitel

Illusion Nummer 1: »Wenn man älter wird, wird alles leichter«

2. Kapitel

Illusion Nummer 2: »Wenn ich älter werde, werde ich leichter«

3. Kapitel

Illusion Nummer 3: »Mit den richtigen Mitteln kann man die Natur austricksen«

4. Kapitel

Illusion Nr. 4: »Irgendwann mache ich das«

5. Kapitel

Illusion Nr. 5: »Wir können alles haben«

6. Kapitel

Illusion Nr. 6: »50 ist das neue 40«

7. Kapitel

Illusion Nr. 7: »Wir haben für alles noch ewig Zeit«

8. Kapitel

Illusion Nr. 8: »Gemeinsam alt werden ist ein Kinderspiel«

9. Kapitel

Illusion Nr. 9: »Wir sind nie zu alt für Abenteuer«

10. Kapitel

Illusion Nr. 10: »ICH werde niemals wunderlich«

11. Kapitel

Illusion Nr. 11: »Mode kennt kein Verfallsdatum«

12. Kapitel

Illusion Nr. 12: »Ich bin zu alt für so ein Theater«

13. Kapitel

Illusion Nr. 13: »Ab einem gewissen Alter zählen innere Werte«

14. Kapitel

Illusion Nr. 14: »Nach 30 verändert man sich nicht mehr groß«

15. Kapitel

Illusion Nr. 15: »Am Ende kriegt jede das, was sie verdient«

Schlusswort

Für alle starken Frauen in meinem Leben – dank euch muss ich da zumindest nicht alleine durch

VORWORT

Im Grunde ist mein Handy schuld. Ich suchte irgendetwas darauf, vermutlich den Regenradar oder die App, die mir sagt, wann ich wieder zur Zahnzwischenraumreinigung muss. Jedenfalls scheine ich irgendwie auf den falschen Knopf gekommen sein, denn mich starrten plötzlich zwei furchterregende Augen an. Kurz dachte ich, ich hätte aus Versehen die Grüffelo-Spiele-App meines Sohnes geöffnet, die ich einst für Ungeduld-Notfälle heruntergeladen hatte (für alle ohne Kinderbuchkenntnisse: der Grüffelo ist ein Monster – und keines der putzigen Sorte). Nach dem ersten Schreck dauerte es einige Momente, bis ich verstand: Es waren meine Glubscher, die mich da anblickten. Ich hatte unabsichtlich die Selfie-Funktion der Kamera ausgewählt. Und so sahen meine Augen anscheinend aus, wenn ich mich nach vorne beugte – wie die vom Grüffelo. Rot umrandet. Mit hängenden Tränensäcken über tiefen schwarzen Taschen. So hatte ich mich noch nie gesehen. Ich probierte die gleiche Lage mit Spiegeln aus. Ich testete sie bei verschiedenen Lichtverhältnissen, vor und nach der Anwendung von sündhaft teuren Seegurkenleich-Cremes und acht Stunden Schlaf. Das Ergebnis war immer das Gleiche: Wenn ich mich nach vorn beugte, geriet meine Haut auf eine Art und Weise außer Form, die mir bisher komplett entgangen war.

Das war der Tag, an dem ich es wusste: Ich werde alt.

Kann ja so überraschend nicht gewesen sein, könnte man meinen, schließlich hatte ich jedes Jahr Geburtstag gefeiert, und die Kerzen hatten immer schlechter auf den Kuchen gepasst. Aber irgendwie traf es mich trotzdem unvorbereitet. Ein naiver Teil von mir war fest davon ausgegangen, dass ich immer die pausbäckige 26-Jährige bleibe, der man attestiert, sie sähe fünf Jahre jünger aus. Ich hatte irgendwie verpasst, dass das sehr lange niemand mehr zu mir gesagt hatte. Innerlich hatte sich für mich nicht merklich viel verändert, ich hatte immer noch eher unanständige Träume von den Freunden von Rory Gilmore als von denen ihrer Mutter Lorelai. Ich trug immer noch gern Blümchenkleider und Pferdeschwanz und sang Adele-Songs in meinen Fön.

Und trotzdem: Mein Körper war älter geworden.

Klammheimlich hatte das Miststück Falten gebildet, Dellen und Rillen an den unmöglichsten Stellen, es hatte Speckröllchen für harte Winter angelegt. Es weckte mich nachts plötzlich mehrfach mit dem Wunsch nach einer Toilette, schleppte mich mit Kreuzbeschwerden zur Cranio-Sakral-Therapie und mit hormonell bedingtem Kopfschmerz zur Tiefenmeditation – immer vortäuschend, das sei alles vorübergehend. An jenem Tag, an dem mir erstmals bewusst wurde, dass mein Körper alterte, ohne mich schonend darauf vorzubereiten, dämmerte mir:

Meine kleinen und großen Baustellen waren gekommen, um zu bleiben.

Und das war nur die körperliche Seite. Als auch zu mir durchgedrungen war, dass ich wirklich über 40 war, wurde mir bewusst, dass sich durchaus auch innerlich etwas verändert hatte. Dass ich seit Längerem Bilanz zog. Mich fragte, was eigentlich aus mir geworden war. Schließlich haben wir alle, wenn wir als kleines Mädchen mit unseren Puppen spielen, diese Person im Kopf: Die wir sein werden, wenn wir erwachsen sind. Von der wir hoffen, dass wir sie eines Tages sein werden.

War ich diese Frau geworden?

Und gab es da überhaupt noch Spielraum, jetzt, wo nichts mehr wuchs und gedieh, sondern höchstens verschrumpelte und verwelkte?

Meine eigenen Ziele hatte ich jedenfalls mitnichten erfüllt. Ich hatte weder den großen deutschen Gesellschaftsroman geschrieben noch mir das dicke Fell zugelegt, das ich mir immer schon wachsen lassen wollte. Auch aus der Nacht mit einem Filmstar war nichts geworden. War ich gescheitert?

Das waren die Überlegungen, die mich dazu inspirierten, dieses Buch zu schreiben. Weil jede von uns irgendwann dieser Moment heimsucht, in dem sie realisiert, dass die zweite Lebenshälfte sich rasant nähert oder längst begonnen hat. Und es tröstlich ist, wenn man den Schock teilen kann. Räumen wir gemeinsam auf mit den großen Illusionen, die wir uns über das »später« gemacht haben, das plötzlich da ist. Weil es heilsam sein kann, sich bewusst zu machen, dass man sich etwas vorgemacht hat. Dass man nicht allein damit ist. Und vor allem: Versuchen wir, herauszufinden, wie wir es locker nehmen können, dass alles schwerer ist, als wir uns das vorgestellt haben – das Loslassen, das Zufriedensein, das Ankommen, das vernünftig sein – und wir.

1. Kapitel

Illusion Nummer 1: »Wenn man älter wird, wird alles leichter«

In meiner Studienzeit hatte ich einen besten Kumpel. Dieser Freund war ziemlich klug. Er sagte eines Tages zu mir, ich würde unter »negativem Egozentrismus« leiden. Ich bezöge alles, was sich gegen mich verwenden lasse, auf mich.

Zwei tuschelnde Frauen in der Schlange zur Kinokasse? Reden bestimmt darüber, dass ich mir den Rock mit meinen Beinen nicht leisten kann.

Ich höre länger nichts von einer Freundin? Schätze, sie hat sich mit einer anderen gegen mich verbündet.

Sie haben meine Lieblingsserie abgesetzt? Die Anweisung kommt von ganz oben und ist meine Strafe dafür, dass ich neulich gelogen habe, als ich behauptete, man würde gar nicht sehen, dass Beate es ewig nicht zum Friseur geschafft hat.

Und so geht das immer weiter. Eine wirklich nervige, Kraft raubende Schwäche, die mein Kumpel damals aufdeckte, und an der ich mich seither abarbeite. Immer, wenn die innere Stimme mir zuflüstert, dass sich da etwas über mir zusammenbraut, halte ich ihr entgegen:

»Schnauze, es dreht sich nicht alles um dich!«

Leider fruchtete meine Eigentherapie nicht. Wieder einer dieser Punkte, von denen ich dachte: Wenn ich erwachsen bin, wird es vergehen. Wie die Pickel, von der der Hautarzt sagte, dass sie mit der Pubertät verschwinden. Oder die kleinen Brüste, von denen meine Mutter behauptete, sie wüchsen auch noch nach 20. Hat alles nicht gestimmt. Ich trage immer noch A-Körbchen, benutze Unmengen Abdeckstift und denke bei Ansammlungen anderer Frauen, sie würden gemeinsam einen Schlachtplan gegen mich entwickeln.

Und da wären wir schon, bei der ersten großen Illusion, die wir uns immer gemacht haben über das Älterwerden: dass alles einfacher wird. Sicher, auch der Desillusioniertesten von uns wird klar gewesen sein, dass Treppensteigen oder Spinning-Marathons mit zunehmenden Jahren härter werden. Aber was ist mit folgenden Punkten?

ENTSCHEIDUNGEN TREFFEN

»Du willst wirklich anderthalb Kilometer zurücklaufen, um noch einmal die anderen Schuhe anzuprobieren?«

»Ja.«

»Aber wir waren doch gerade da.«

»Ich muss noch mal vergleichen.«

»Aber die Schuhe sind fast identisch.«

»Spinnst du? Der eine Absatz ist klobiger. Und das Schwarz ist bei den anderen etwas heller.«

»Das Schwarz ist...???!!!«

So läuft das. Mit 15. 25. 35. Und, ja, auch noch mit 45. Und wenn ich meine Mutter beobachte: auch noch mit 75. Wenn ich drei Wünsche frei hätte, wäre einer davon selbstverständlich, längere Beine zu haben, einer Weltfrieden, hilft ja nichts, und einer: ein kleines Männchen in meinem Kopf, das Entscheidungen für mich trifft. Und zwar die richtigen. Das vorher schon weiß, dass ich mich sehr schnell sattsehen werde am Muster meiner neuen Winterjacke, und doch lieber zu klassischem Dunkelblau gegriffen hätte. Der darüber informiert ist, dass das Roastbeef ungenießbar in diesem Restaurant ist und ich doch lieber die Spaghetti Bolo bestellt hätte.

Aber vor allem wünsche ich mir diese Stimme für die wirklich großen Entscheidungen:

Das Großprojekt annehmen, von dem man vorher schon Bauchgrummeln bekommt, das aber einfach eine Chance ist, zu der man nicht nein sagen kann? Oder lieber für meinen Seelenfrieden absagen und mir weiter einreden, dass ich gar keine Karriere machen will?

In die Wohnung mitten in der Stadt ziehen, von der aus man fußläufig zur Pediküre und zum Kumpir-Mann kann? Oder doch zum gleichen Preis 40 Kilometer raus, wo man Kumpir für eine Figur aus Jim Knopf und der Lokomotivführer hält, Fußpflege vor allem medizinisch angeboten wird, man aber dafür einen Garten hat, der so groß ist wie das halbe Stadtviertel? In dem man grillen kann, die Kinder eigene Fußballtore bekommen, hinter denen Kühe grasen, von denen sie als Stadtkinder bisher dachten, es wären Pferde?

Die Wahrheit ist: Es wird nicht leichter, mit zunehmendem Alter Entscheidungen zu treffen. Weil die Entscheidungen, die wir mit zunehmendem Alter treffen, gewichtiger sind. Vor 20 Jahren hat man schon mal spontan die WG gewechselt, wenn einer der Mitbewohner nicht dazu zu erziehen war, die Klobürste zu benutzen. Aber irgendwann werden wir sensibler, was Veränderungen angeht. Wir wollen uns etwas aufbauen, was von Dauer ist. Wenn dann das Angebot für den Traumjob reinkommt, aber leider am anderen Ende von Deutschland ist, kann einen das ganz schön aus der Bahn werfen.

Man hatte doch gerade die Balkonkästen bepflanzt, weiß, wo es den Kaffee auch mit Hafermilch gibt und dass der eine Supermarkt das Lieblingsmüsli nicht führt.

Ich habe eine Freundin, die berufsbedingt mit ihrer Familie durch die Welt zieht. Alle paar Jahre wechseln sie den Standort, das ist vertraglich so festgelegt. Spätestens im fünften Jahr an einem Ort packen sie alles in Container und wechseln DEN KONTINENT. Kein Mist, mich würde es vermutlich schon aus dem Gleichgewicht bringen, einfach nur auf die andere Straßenseite zu ziehen. Ich bewundere den Mut meiner Freundin, den Willen zu Veränderungen, ihre Furchtlosigkeit, sich einfach reinzustürzen ins Abenteuer, an einem Tag in Vietnam ein Flugzeug zu besteigen und am nächsten ihren Kaffeebecher in Australien aus der Noppenfolie zu wickeln.

Die meisten von uns würden ab spätestens Mitte 30 eher eine Nacht mit Charlie Sheen im Stripclub verbringen als mit ihr zu tauschen. Wir wollen unser Nest, wir wollen ankommen. Und gerade deswegen quälen uns Entscheidungen so. Weil sie nicht selten beantworten:

Wie wollen wir leben?

Wo wollen wir wohnen?

Mieten oder kaufen?

Stadt oder Land?

Garten oder Licht und Ausblick weiter oben?

Familienplanung jetzt aber endgültig beenden oder weiterprobieren?

An dem Mann festhalten, obwohl er Käsefüße hat, oder doch noch mal umgucken und im Zweifel niemand besseren finden?

Was auch immer wir jetzt entscheiden, ist lebensentscheidend. Und deshalb müssen wir wohl oder übel akzeptieren, dass es nicht leichter wird, Entscheidungen zu treffen. Und dass wir uns mit manchen von ihnen weiterhin quälen werden, so ärgerlich es ist. Denn unter uns: Das Männchen in unserem Kopf, das die Entscheidungen trifft, das wollen wir ja am Ende nicht wirklich, oder? Ich weiß nicht, wie es bei euch ist, aber: Einige der wichtigsten Entscheidungen meines Lebens waren die falschen. Weil sie mir zeigten, was ich auf gar keinen Fall will – und was mich wirklich glücklich macht. Falsche Männer beispielsweise, auf die man (im besten Fall!) nur das eine Mal hereinfällt. Die Führungsposition, von der ich von vorneherein wusste, dass ich nicht für sie geeignet war und fortan alle anderen Angebote guten Gewissens absagen konnte. Richtig falsch kann man sich meiner Meinung nach gar nicht entscheiden. Höchstens bei Schuhen. Ansonsten gilt: Die schlimmste Entscheidung ist, keine zu treffen.

ÜBER DEN DINGEN STEHEN

Als erwachsene Frau sollte man irgendwann gelernt haben, über gewissen Dingen zu stehen, richtig?

Nun.

Wie eingangs in diesem Kapitel erklärt, leide ich besonders stark darunter, dass sich diese Hoffnung für mich als Illusion herausgestellt hat. Bei ungünstigem Zyklusstand kann es sein, dass es mir den Tag versaut, wenn die Bäckereifachverkäuferin mich anblafft, sie hätten noch nie halbe Brote verkauft oder der Vater eines Klassenkameraden meines Sohnes mir keinen »Guten Morgen« wünscht.

So dünnhäutig bin ich manchmal.

Wenn ich ehrlich bin, habe ich immer geahnt, dass es sehr schwer sein würde, an dieser Konstitution etwas zu ändern. Wenn meine beste Freundin drei Eigenschaften von mir nennen müsste, würden sie vermutlich lauten:

»Hört gut zu«, »Isst gern Toffifee« und »Steht nicht über den Dingen«.

Was würde ich für ein dickes Fell geben, und ich rede nicht von einem, das PETA auf den Plan ruft. Ich wäre gern jemand, dem es egal ist, was andere von ihm denken. Der sich nur für sich selbst anzieht, nur das tut und sagt, was er selbst mag, und nicht das, was jemand anderes gut finden könnte. Der mit den Schultern zuckt und die Musik aufdreht, wenn jemand lästert, er hätte nicht gewusst, dass es in dieser Größe noch Röhrenjeans gibt.

Meine Vermutung lautet: Als so eine Person wird man geboren. Es gibt diese Kinder, die man manchmal selbstvergessen in einem Planschbecken stehen sieht, mit Rüschentop über der Schwimmwindel und »Was willst du, Bitch?«-Gesichtsausdruck. Und plötzlich siehst du sie mit 19 vor dir. Sie trägt ihr Haar offen und tanzt expressionistisch, nur für sich allein, auf einer Tanzfläche und alle stehen drum herum und denken: Wie cool!

Manch andere Kinder verstecken sich lieber hinter den Beinen ihrer Mutter. Wie ich. Sie tanzen später überhaupt nur mit drei Rosé-Prosecco intus und im Schutzwall aus mindestens 20 Leuten. Und auch dann fragen sie sich (es sei denn, es waren fünf Rosé-Prosecco, dann befinden sie sich meistens auf dem Weg an die frische Luft): Habe ich den Hintern Richtung Wand gedreht? Sehe ich albern aus? Oh Gott, habe ich gerade wirklich diese Geste gemacht, die ich im Beyoncé-Video gesehen habe?

Vielleicht finden Forscher eines Tages das Gen, auf dem das »Über den Dingen stehen« geregelt wird und können es für zukünftige Generationen manipulieren.

Bis dahin bleiben den Sensibelchen von uns diese quälenden Grübeleien. Sie verschwinden nicht plötzlich, wenn wir ein gewisses Alter erreicht haben.

Wir bleiben angefasst, wenn jemand nicht nett zu uns ist.

Wir schlafen schlecht, wenn wir einen Fehler gemacht haben.

Wir reagieren mit hohem Blutdruck auf Streit, manchmal sogar dann, wenn sich herausstellt, dass wir ihn uns nur eingebildet haben.

Aber: Es gibt Hoffnung. Meistens finden sich dünnhäutige Menschen untereinander wie Mücken das Licht. Weil es so schön ist, verstanden zu werden, nicht allein zu sein mit seinen Sorgen und Neurosen. Eine tiefenentspannte Freundin würde in bestimmten Situationen einfach nur eine Augenbraue heben und unsere Scham nur vergrößern. Eine Gleichgesinnte aber sagt:

»Du armes Ding, das ist ja furchtbar, ich wäre in Tränen ausgebrochen, wenn das jemand zu mir gesagt hätte.«

Keine Überraschung also, dass ich eher solche Leute um mich schare. Einige von ihnen kenne ich schon Jahrzehnte. Und bei denen beobachte ich durchaus eine Entwicklung. Nadine, die früher losgeweint hätte, wenn jemand ihr Kuchenbüffet kritisiert, bestellt heute beim Konditor um die Ecke. Anja, die früher vorher nächtelang ihre Zahnreihen aufeinandergepresst hätte, traut sich heute, spontan zu einer nervigen Kollegin zu sagen: »Nein, das gefällt mir nicht.« (Sie braucht immer noch die Beißschiene, aber hey). Und Maren hat neulich im Karneval auf einer Bank getanzt. Ohne sturzbetrunken zu sein.

Und auch ich merke an mir eine Veränderung. Es scheint, als wachse mir ein dünnes Fell (neben dem nervigen hormonbedingten). Ja, sicher, ich liege noch wach, wenn jemand mir sagt, dass er menschlich enttäuscht von mir ist. Und klar, ich nehme es immer noch nicht locker, wenn eine Verkäuferin mir sagt, dass ein Kleid meine Rückenrolle betone. Aber ich erhole mich schneller als früher. Die innere Stimme, die mich daran hindert, sprunghaft etwas Dramatisches zu tun oder mich heulend Fremden an den Hals zu werfen, ist lauter geworden. Ich höre sogar manchmal auf sie. Und ich glaube, das hat vor allem einen Grund: Erfahrung. Nadine hat gelernt, dass keiner ihr die 25 Backstunden dankt und sie in der Zeit lieber in Wohnzeitschriften blättern kann. Anja weiß jetzt, dass ihr niemand den Kopf abschlagen wird, wenn sie widerspricht, im Gegenteil. Und Maren hat gelernt, dass sie im Karneval auf einer Bank mit unkoordinierten Bewegungen weniger auffällt als still darauf sitzend. Und dass höchstens jemand sagen wird: »Du warst ja lustig«. Und die Welt sich ansonsten weiterdreht.

Meine große Erkenntnis im Kampf ums »Über den Dingen stehen« ist: Das vergeht.

Die Scham, wenn man etwas richtig Doofes gesagt hat, die einem nachts im Bett das Blut in den Kopf schießen lässt – vergeht.

Die Kränkung, irgendwo nicht eingeladen worden zu sein, wo man eigentlich gar nicht hinwollte, aber zumindest gern gefragt worden wäre – vergeht.

Der Wunsch, jemandem die fiesesten Sachen ins Gesicht zu sagen, der fragt, ob du deinen 50. gefeiert hast, wenn es eigentlich der 43. war – vergeht.

Das lässt mich tatsächlich manchmal ein kleines bisschen so cool erscheinen, wie es sich vielleicht für mein Alter gehören würde. Ich werde nie eine von denen sein, denen alles egal ist. Die einfach ihr Ding durchziehen, nach mir die Sintflut. Wem es ähnlich geht, der sollte es wohl wie ich akzeptieren: Wir sind so. Wir werden nie mit Afroperücke barfuß durch die Innenstadt laufen und laut »I’m too sexy« singen. Wir werden uns immer mehr Gedanken über mehr oder minder reale Probleme machen, als es nötig wäre. Aber je älter wir werden, desto besser lernen wir, damit zu leben. Und das zählt.

LOSLASSEN