Frühlings Erwachen - Frank Wedekind - E-Book

Frühlings Erwachen E-Book

Frank Wedekind

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Beschreibung

Frühlings Erwachen (Untertitel: »Eine Kindertragödie«) ist ein im Jahr 1891 erschienenes gesellschaftskritisches und auch satirisches Drama von Frank Wedekind. Das Stück erzählt die Geschichte mehrerer Jugendlicher, die im Zuge ihrer Pubertät und der damit verbundenen sexuellen Neugier mit ihren Problemen allein gelassen werden. Ihre psychische Instabilität lässt sie an der Intoleranz der Erwachsenen verzweifeln. Das Stück ist von eigenen Erlebnissen des Autors inspiriert. Als Vorbild für die Figur des Moritz dienten ihm zwei Mitschüler, die 1883 bzw. 1885 Suizid begingen. Nachdem ein erster Verlag die Publikation des Stücks aus Angst vor rechtlichen Problemen abgelehnt hatte, verlegte es der Autor auf eigene Kosten bei einem Züricher Verlag. Die Uraufführung fand erst am 20. November 1906 an den Berliner Kammerspielen unter der Regie von Max Reinhardt und Mitarbeit von Hermann Bahr statt. Das Stück brach mit vielen Tabus seiner Zeit und war vom ersten Augenblick an von Zensur und Gerichtsverfahren bedroht. Die bürgerliche Sexualmoral des Wilhelminischen Kaiserreichs duldete keine offene Beschäftigung mit solchen Themen – erst recht nicht, wenn Jugendliche thematisiert wurden. Das Stück hat leider nichts von seiner Relevanz eingebüßt. Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 105

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Frank Wedekind

Frühlings Erwachen

Eine Kindertragödie

Frank Wedekind

Frühlings Erwachen

Eine Kindertragödie

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected] 2. Auflage, ISBN 978-3-962810-08-5

null-papier.de/neu

Inhaltsverzeichnis

Ers­ter Akt

Ers­te Sze­ne

Zwei­te Sze­ne

Drit­te Sze­ne

Vier­te Sze­ne

Fünf­te Sze­ne

Zwei­ter Akt

Ers­te Sze­ne

Zwei­te Sze­ne

Drit­te Sze­ne

Vier­te Sze­ne

Fünf­te Sze­ne

Sechs­te Sze­ne

Sie­ben­te Sze­ne

Drit­ter Akt

Ers­te Sze­ne

Zwei­te Sze­ne

Drit­te Sze­ne

Vier­te Sze­ne

Fünf­te Sze­ne

Sechs­te Sze­ne

Sie­ben­te Sze­ne

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Ge­schrie­ben Herbst 1890 bis Os­tern 1891

Dem ver­mumm­ten Herrn

Der Ver­fas­ser

Erster Akt

Erste Szene

Wohn­zim­mer

Wend­la: Wa­rum hast du mir das Kleid so lang ge­macht, Mut­ter?

Frau Berg­mann: Du wirst vier­zehn Jahr heu­te!

Wend­la: Hät­t’ ich ge­wusst, dass du mir das Kleid so lang ma­chen wer­dest, ich wäre lie­ber nicht vier­zehn ge­wor­den.

Frau Berg­mann: Das Kleid ist nicht zu lang, Wend­la. Was willst du denn! Kann ich da­für, dass mein Kind mit je­dem Früh­jahr wie­der zwei Zoll grö­ßer ist? Du darfst doch als aus­ge­wach­se­nes Mäd­chen nicht in Prin­zess­kleid­chen ein­her­ge­hen.

Wend­la: Je­den­falls steht mir mein Prin­zess­kleid­chen bes­ser als die­se Nacht­schlum­pe. – Lass mich’s noch ein­mal tra­gen, Mut­ter! Nur noch den Som­mer lang. Ob ich nun vier­zehn zäh­le oder fünf­zehn, dies Buß­ge­wand wird mir im­mer noch recht sein. – He­ben wir’s auf bis zu mei­nem nächs­ten Ge­burts­tag; jetzt würd’ ich doch nur die Lit­ze her­un­ter­tre­ten.

Frau Berg­mann: Ich weiß nicht, was ich sa­gen soll. Ich wür­de dich ja ger­ne so be­hal­ten, Kind, wie du ge­ra­de bist. An­de­re Mäd­chen sind sta­kig und plump in dei­nem Al­ter. Du bist das Ge­gen­teil. – Wer weiß, wie du sein wirst, wenn sich die an­dern ent­wi­ckelt ha­ben.

Wend­la: Wer weiß – viel­leicht wer­de ich nicht mehr sein.

Frau Berg­mann: Kind, Kind, wie kommst du auf die Ge­dan­ken!

Wend­la: Nicht, lie­be Mut­ter; nicht trau­rig sein!

Frau Berg­mann: sie küs­send. Mein ein­zi­ges Herz­blatt!

Wend­la: Sie kom­men mir so des Abends, wenn ich nicht ein­schla­fe. Mir ist gar nicht trau­rig da­bei, und ich weiß, dass ich dann um so bes­ser schla­fe. – Ist es sünd­haft, Mut­ter, über der­lei zu sin­nen?

Frau Berg­mann: Geh denn und häng das Buß­ge­wand in den Schrank! Zieh in Got­tes Na­men dein Prin­zess­kleid­chen wie­der an! – Ich wer­de dir ge­le­gent­lich eine Hand­breit Vo­lants un­ten an­set­zen.

Wend­la: das Kleid in den Schrank hän­gend. Nein, da möcht’ ich schon lie­ber gleich vollends zwan­zig sein …!

Frau Berg­mann: Wenn du nur nicht zu kalt hast! – Das Kleid­chen war dir ja sei­ner­zeit reich­lich lang; aber …

Wend­la: Jetzt, wo der Som­mer kommt? – O Mut­ter, in den Knie­keh­len be­kommt man auch als Kind kei­ne Diph­the­ri­tis! Wer wird so klein­mü­tig sein. In mei­nen Jah­ren friert man noch nicht – am we­nigs­ten an die Bei­ne. Wär’s etwa bes­ser, wenn ich zu heiß hät­te, Mut­ter? – Dank’ es dem lie­ben Gott, wenn sich dein Herz­blatt nicht ei­nes Mor­gens die Är­mel weg­stutzt und dir so zwi­schen Licht abends ohne Schu­he und St­rümp­fe ent­ge­gen­tritt! – Wenn ich mein Buß­ge­wand tra­ge, klei­de ich mich dar­un­ter wie eine El­fen­kö­ni­gin … Nicht schel­ten, Müt­ter­chen! Es sieht’s dann ja nie­mand mehr.

Zweite Szene

Sonn­tag­abend

Mel­chi­or: Das ist mir zu lang­wei­lig. Ich ma­che nicht mehr mit.

Otto: Dann kön­nen wir an­dern nur auch auf­hö­ren! – Hast du die Ar­bei­ten, Mel­chi­or?

Mel­chi­or: Spielt ihr nur wei­ter!

Mo­ritz: Wo­hin gehst du?

Mel­chi­or: Spa­zie­ren.

Ge­org: Es wird ja dun­kel!

Ro­bert: Hast du die Ar­bei­ten schon?

Mel­chi­or: Wa­rum soll ich denn nicht im Dun­keln spa­zie­ren­ge­hen?

Ernst: Zen­tral­ame­ri­ka! – Lud­wig der Fünf­zehn­te! – Sech­zig Ver­se Ho­mer! – Sie­ben Glei­chun­gen!

Mel­chi­or: Ver­damm­te Ar­bei­ten!

Ge­org: Wenn nur we­nigs­tens der la­tei­ni­sche Auf­satz nicht auf mor­gen wäre!

Mo­ritz: An nichts kann man den­ken, ohne dass ei­nem Ar­bei­ten da­zwi­schen­kom­men!

Otto: Ich gehe nach Hau­se.

Ge­org: Ich auch, Ar­bei­ten ma­chen.

Ernst: Ich auch, ich auch.

Ro­bert: Gute Nacht, Mel­chi­or.

Mel­chi­or: Schlaft wohl!

Al­le ent­fer­nen sich bis auf Mo­ritz und Mel­chi­or.

Mel­chi­or: Möch­te doch wis­sen, wozu wir ei­gent­lich auf der Welt sind!

Mo­ritz: Lie­ber woll­t’ ich ein Drosch­ken­gaul sein um der Schu­le wil­len! – Wozu ge­hen wir in die Schu­le? – Wir ge­hen in die Schu­le, da­mit man uns ex­ami­nie­ren kann! – Und wozu ex­ami­niert man uns? – Da­mit wir durch­fal­len. – Sie­ben müs­sen ja durch­fal­len, schon weil das Klas­sen­zim­mer oben nur sech­zig fasst. – Mir ist so ei­gen­tüm­lich seit Weih­nach­ten … hol mich der Teu­fel, wäre Papa nicht, heut noch schnür­t’ ich mein Bün­del und gin­ge nach Al­to­na!

Mel­chi­or: Re­den wir von et­was an­de­rem. –

Sie ge­hen spa­zie­ren.

Mo­ritz: Siehst du die schwar­ze Kat­ze dort mit dem em­por­ge­r­eck­ten Schweif?

Mel­chi­or: Glaubst du an Vor­be­deu­tun­gen?

Mo­ritz: Ich weiß nicht recht. – – Sie kam von drü­ben her. Es hat nichts zu sa­gen.

Mel­chi­or: Ich glau­be, das ist eine Cha­ryb­dis, in die je­der stürzt, der sich aus der Skyl­la re­li­gi­ösen Irr­wahns em­por­ge­run­gen. – – Lass uns hier un­ter der Bu­che Platz neh­men. Der Tau­wind fegt über die Ber­ge. Jetzt möch­te ich dro­ben im Wald eine jun­ge Drya­de sein, die sich die gan­ze lan­ge Nacht in den höchs­ten Wip­feln wie­gen und schau­keln lässt.

Mo­ritz: Knöpf dir die Wes­te auf, Mel­chi­or!

Mel­chi­or: Ha – wie das ei­nem die Klei­der bläht!

Mo­ritz: Es wird weiß Gott so stock­fins­ter, dass man die Hand nicht vor den Au­gen sieht. Wo bist du ei­gent­lich? – – Glaubst du nicht auch, Mel­chi­or, dass das Scham­ge­fühl im Men­schen nur ein Pro­dukt sei­ner Er­zie­hung ist?

Mel­chi­or: Dar­über habe ich erst vor­ges­tern noch nach­ge­dacht. Es scheint mir im­mer­hin tief ein­ge­wur­zelt in der mensch­li­chen Na­tur. Den­ke dir, du sollst dich voll­stän­dig ent­klei­den vor dei­nem bes­ten Freund. Du wirst es nicht tun, wenn er es nicht zu­gleich auch tut. – Es ist eben auch mehr oder we­ni­ger Mo­de­sa­che.

Mo­ritz: Ich habe mir schon ge­dacht, wenn ich Kin­der habe, Kna­ben und Mäd­chen, so las­se ich sie von früh auf im näm­li­chen Ge­mach, wenn mög­lich auf ein und dem­sel­ben La­ger, zu­sam­men schla­fen, las­se ich sie mor­gens und abends beim An- und Aus­klei­den ein­an­der be­hilf­lich sein und in der hei­ßen Jah­res­zeit, die Kna­ben so­wohl wie die Mäd­chen, tags­über nichts als eine kur­ze, mit ei­nem Le­der­rie­men ge­gür­te­te Tu­ni­ka aus weißem Woll­stoff tra­gen. – Mir ist, sie müss­ten, wenn sie so her­an­wach­sen, spä­ter ru­hi­ger sein, als wir es in der Re­gel sind.

Mel­chi­or: Das glau­be ich ent­schie­den, Mo­ritz! – Die Fra­ge ist nur, wenn die Mäd­chen Kin­der be­kom­men, was dann?

Mo­ritz: Wie­so Kin­der be­kom­men?

Mel­chi­or: Ich glau­be in die­ser Hin­sicht näm­lich an einen ge­wis­sen In­stinkt. Ich glau­be, wenn man einen Ka­ter zum Bei­spiel mit ei­ner Kat­ze von Ju­gend auf zu­sam­men­sperrt und bei­de von je­dem Ver­kehr mit der Au­ßen­welt fern­hält, d.h. sie ganz nur ih­ren ei­ge­nen Trie­ben über­lässt – dass die Kat­ze frü­her oder spä­ter doch ein­mal träch­tig wird, ob­gleich sie so­wohl wie der Ka­ter nie­mand hat­ten, des­sen Bei­spiel ih­nen hät­te die Au­gen öff­nen kön­nen.

Mo­ritz: Bei Tie­ren muss sich das ja schließ­lich von selbst er­ge­ben.

Mel­chi­or: Bei Men­schen glau­be ich erst recht! Ich bit­te dich, Mo­ritz, wenn dei­ne Kna­ben mit den Mäd­chen auf ein und dem­sel­ben La­ger schla­fen und es kom­men ih­nen nun un­ver­se­hens die ers­ten männ­li­chen Re­gun­gen – ich möch­te mit je­der­mann eine Wet­te ein­ge­hen …

Mo­ritz: Da­rin magst du ja recht ha­ben. – Aber im­mer­hin …

Mel­chi­or: Und bei dei­nen Mäd­chen wäre es im ent­spre­chen­den Al­ter voll­kom­men das näm­li­che! Nicht, dass das Mäd­chen ge­ra­de … man kann das ja frei­lich so ge­nau nicht be­ur­tei­len … je­den­falls wäre vor­aus­zu­set­zen … und die Neu­gier­de wür­de das Ih­ri­ge zu tun auch nicht ver­ab­säu­men!

Mo­ritz: Eine Fra­ge bei­läu­fig –

Mel­chi­or: Nun?

Mo­ritz: Aber du ant­wor­test?

Mel­chi­or: Na­tür­lich!

Mo­ritz: Wahr?!

Mel­chi­or: Mei­ne Hand dar­auf. – – Nun, Mo­ritz?

Mo­ritz: Hast du den Auf­satz schon??

Mel­chi­or: So sprich doch frisch von der Le­ber weg! – Hier hört und sieht uns ja nie­mand.

Mo­ritz: Selbst­ver­ständ­lich müss­ten mei­ne Kin­der näm­lich tags­über ar­bei­ten, in Hof und Gar­ten, oder sich durch Spie­le zer­streu­en, die mit kör­per­li­cher An­stren­gung ver­bun­den sind. Sie müss­ten rei­ten, tur­nen, klet­tern und vor al­len Din­gen nachts nicht so weich schla­fen wie wir. Wir sind schreck­lich ver­weich­licht. – Ich glau­be, man träumt gar nicht, wenn man hart schläft.

Mel­chi­or: Ich schla­fe von jetzt bis nach der Wein­le­se über­haupt nur in mei­ner Hän­ge­mat­te. Ich habe mein Bett hin­ter den Ofen ge­stellt. Es ist zum Zu­sam­men­klap­pen. – Ver­gan­ge­nen Win­ter träum­te mir ein­mal, ich hät­te un­sern Lolo so lan­ge ge­peitscht, bis er kein Glied mehr rühr­te. Das war das Grau­en­haf­tes­te, was ich je ge­träumt habe. – Was siehst du mich so son­der­bar an?

Mo­ritz: Hast du sie schon emp­fun­den?

Mel­chi­or: Was?

Mo­ritz: Wie sag­test du?

Mel­chi­or: Männ­li­che Re­gun­gen?

Mo­ritz: M-hm.

Mel­chi­or: – Al­ler­dings!

Mo­ritz: Ich auch – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Mel­chi­or: Ich ken­ne das näm­lich schon lan­ge! – Schon bald ein Jahr.

Mo­ritz: Ich war wie vom Blitz ge­rührt.

Mel­chi­or: Du hat­test ge­träumt?

Mo­ritz: Aber nur ganz kurz … von Bei­nen im him­melblau­en Tri­kot, die über das Ka­the­der stei­gen – um auf­rich­tig zu sein, ich dach­te, sie woll­ten hin­über. – Ich habe sie nur flüch­tig ge­se­hen.

Mel­chi­or: Ge­org Zir­schnitz träum­te von sei­ner Mut­ter.

Mo­ritz: Hat er dir das er­zählt?

Mel­chi­or: Drau­ßen am Gal­gen­steg!

Mo­ritz: Wenn du wüss­test, was ich aus­ge­stan­den seit je­ner Nacht!

Mel­chi­or: Ge­wis­sens­bis­se?

Mo­ritz: Ge­wis­sens­bis­se?? – – – To­des­angst!

Mel­chi­or: Herr­gott …

Mo­ritz: Ich hielt mich für un­heil­bar. Ich glaub­te, ich lit­te an ei­nem in­ne­ren Scha­den. – Schließ­lich wur­de ich nur da­durch wie­der ru­hi­ger, dass ich mei­ne Le­bens­er­in­ne­run­gen auf­zu­zeich­nen be­gann. Ja, ja, lie­ber Mel­chi­or, die letz­ten drei Wo­chen wa­ren ein Geth­se­ma­ne für mich.

Mel­chi­or: Ich war sei­ner­zeit mehr oder we­ni­ger dar­auf ge­fasst ge­we­sen. Ich schäm­te mich ein we­nig. – Das war aber auch al­les.

Mo­ritz: Und da­bei bist du noch fast um ein gan­zes Jahr jün­ger als ich!

Mel­chi­or: Dar­über, Mo­ritz, würd’ ich mir kei­ne Ge­dan­ken ma­chen. All mei­nen Er­fah­run­gen nach be­steht für das ers­te Auftau­chen die­ser Phan­to­me kei­ne be­stimm­te Al­ter­s­stu­fe. Kennst du den großen Läm­mer­mei­er mit dem stroh­gel­ben Haar und der Ad­ler­na­se? Drei Jah­re ist der äl­ter als ich. Häns­chen Ri­low sagt, der träu­me noch bis heu­te von nichts als Sand­tor­ten und Apri­ko­sen­ge­lee.

Mo­ritz: Ich bit­te dich, wie kann Häns­chen Ri­low dar­über ur­tei­len!

Mel­chi­or: Er hat ihn ge­fragt.

Mo­ritz: Er hat ihn ge­fragt? – Ich hät­te mich nicht ge­traut, je­man­den zu fra­gen.

Mel­chi­or: Du hast mich doch auch ge­fragt.

Mo­ritz: Weiß Gott ja! – Mög­li­cher­wei­se hat­te Häns­chen auch schon sein Te­sta­ment ge­macht. – Wahr­lich ein son­der­ba­res Spiel, das man mit uns treibt. Und da­für sol­len wir uns dank­bar er­wei­sen! Ich er­in­ne­re mich nicht, je eine Sehn­sucht nach die­ser Art Auf­re­gung ver­spürt zu ha­ben. Wa­rum hat man mich nicht ru­hig schla­fen las­sen, bis al­les wie­der still ge­we­sen wäre. Mei­ne lie­ben El­tern hät­ten hun­dert bes­se­re Kin­der ha­ben kön­nen. So bin ich nun her­ge­kom­men, ich weiß nicht, wie, und soll mich da­für ver­ant­wor­ten, dass ich nicht weg­ge­blie­ben bin. – Hast du nicht auch schon dar­über nach­ge­dacht, Mel­chi­or, auf wel­che Art und Wei­se wir ei­gent­lich in die­sen Stru­del hin­ein­ge­ra­ten?

Mel­chi­or: Du weißt das also noch nicht, Mo­ritz?

Mo­ritz: Wie soll­t’ ich es wis­sen? – Ich sehe, wie die Hüh­ner Eier le­gen, und höre, dass mich Mama un­ter dem Her­zen ge­tra­gen ha­ben will. Aber ge­nügt denn das? – Ich er­in­ne­re mich auch, als fünf­jäh­ri­ges Kind schon be­fan­gen wor­den zu sein, wenn ei­ner die de­kolle­tier­te Cœur­da­me auf­schlug. Die­ses Ge­fühl hat sich ver­lo­ren. In­des­sen kann ich heu­te kaum mehr mit ir­gend­ei­nem Mäd­chen spre­chen, ohne et­was Ver­ab­scheu­ungs­wür­di­ges da­bei zu den­ken, und – ich schwö­re dir, Mel­chi­or – ich weiß nicht was.

Mel­chi­or: Ich sage dir al­les. – Ich habe es teils aus Bü­chern, teils aus Il­lus­tra­tio­nen, teils aus Beo­b­ach­tun­gen in der Na­tur. Du wirst über­rascht sein; ich wur­de sei­ner­zeit Athe­ist. Ich habe es auch Ge­org Zir­schnitz ge­sagt! Ge­org Zir­schnitz woll­te es Häns­chen Ri­low sa­gen, aber Häns­chen Ri­low hat­te als Kind schon al­les von sei­ner Gou­ver­nan­te er­fah­ren.

Mo­ritz: Ich habe den Klei­nen Meyer von A bis Z durch­ge­nom­men. Wor­te – nichts als Wor­te und Wor­te! Nicht eine ein­zi­ge schlich­te Er­klä­rung. O die­ses Scham­ge­fühl! – Was soll mir ein Kon­ver­sa­ti­ons­le­xi­kon, das auf die nächst­lie­gen­de Le­bens­fra­ge nicht ant­wor­tet.

Mel­chi­or: Hast du schon ein­mal zwei Hun­de über die Stra­ße lau­fen se­hen?

Mo­ritz: Nein! – – Sag mir heu­te lie­ber noch nichts, Mel­chi­or. Ich habe noch Mit­telame­ri­ka und Lud­wig den Fünf­zehn­ten vor mir. Dazu die sech­zig Ver­se Ho­mer, die sie­ben Glei­chun­gen, der la­tei­ni­sche Auf­satz – ich wür­de mor­gen wie­der über­all ab­blit­zen. Um mit Er­folg büf­feln zu kön­nen, muss ich stumpf­sin­nig wie ein Och­se sein.

Mel­chi­or: Komm doch mit auf mein Zim­mer. In drei­vier­tel Stun­den habe ich den Ho­mer, die Glei­chun­gen und zwei Auf­sät­ze. Ich kor­ri­gie­re dir ei­ni­ge harm­lo­se Schnit­zer hin­ein, so ist die Sa­che im Blei. Mama braut uns wie­der eine Li­mo­na­de, und wir plau­dern ge­müt­lich über die Fort­pflan­zung.

Mo­ritz