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Magali Weill ist groß. Viel zu groß für eine Dreizehnjährige und erst recht zu groß, um von irgendjemandem geküsst zu werden. Wenn sie wie ihre Schwester Malve wäre, würde sie ihr Elend in einem Tagebuch lang und breit beweinen. Aber so ist Magali nicht. Lieber schreibt sie ein 'Tagebuch von allen anderen'. Zum Beispiel über den sehr bemerkenswerten und uralten Herrn Krekeler, ihren Nachbarn. Doch als ebenjener Herr Krekeler beschließt, demnächst zu sterben, wird Magali plötzlich aus ihrer Beobachterposition herausgerissen. Gemeinsam mit Kieran, Herrn Krekelers Enkel, stellt sich für Magali auf einmal die Frage: Wie geht das überhaupt, ein richtiges Leben? Ein literarischer Coming-of-Age-Roman, der die großen Fragen des Lebens aufwirft
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Seitenzahl: 190
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© 2023 Tulipan Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Text: Nikola Huppertz
Vermittelt durch die Literarische Agentur Barbara Küper
Umschlagmotiv: Regina Kehn
ISBN 978-3-641-32931-0V001
www.tulipan-verlag.de
Das ganze Haus lebt und Herr Krekeler will sterben
Fr., 29.03.
Sa., 30.03.
So., 31.03.
Mo., 01.04.
Di., 02.04.
Herr Krekeler stirbt
Mi., 03.04.
Do., 04.04.
Fr., 05.04.
Sa., 06.04.
So., 07.04.
Mo., 08.04.
Wir leben weiter
Di., 09.04.
Mi., 10.04.
Do., 11.04.
Fr., 12.04.
Als Joël Hummel heute an mir vorbei über den Hinterhof ging, konnte ich sofort erkennen, dass er loszog, um ein Mädchen zu küssen. Er sah gleichzeitig siegessicher und aufgeregt aus, fuhr sich durchs Haar wie ein olympischer Sprinter kurz vor seinem Lauf auf der Tartanbahn und umfasste dann wieder sein Handgelenk mit Daumen und Mittelfinger, als müsste er sich hinter sich selbst herziehen. Und zum ersten Mal erschien es mir nicht mehr unsinnig, etwas in dieses überteuerte Notizbuch mit Goldschnitt und Lesebändchen zu schreiben, das ich (ohne dass ich es mir gewünscht hätte) zu meinem dreizehnten Geburtstag bekommen hab.
Ich gehe davon aus, dass Mama und Papa es mir als Tagebuch andrehen wollten. Malve schreibt ja seit Jahren Tagebuch und meine Eltern neigen idiotischerweise dazu, von ihr auf mich zu schließen. Dabei ist das, was Malve dazu bringt, Tagebuch zu schreiben, genau das, was mich von ihr unterscheidet. Meine liebe Schwester beschäftigt sich nämlich den ganzen Tag mit sich selbst – und zwar so, dass jeder um sie herum es mitbekommt, ob er will oder nicht. Seht her, Malve Weill, achtzehn, Mittelpunkt der Welt! Schön, schlau, unvergleichlich. Wie praktisch ist da doch ein Tagebuch, in dem auch noch alles festgehalten wird, was Malve Weill macht und Malve Weill denkt und Malve Weill fühlt. Die Nachwelt wird sich darauf stürzen!
Ich selbst finde Tagebuchschreiben so ziemlich das Uninteressanteste, was es gibt, aber ich bin natürlich auch nur Magali Weill. Reicht mir schon, jeden Morgen aufzuwachen und immer dieselbe zu sein, ich, ich und nochmals ich:
* mit all den komischen Gedanken, die mir beim Aufwachen als Erstes in den Kopf schießen (Was wäre wenn?, Wie würde ich dies?, Wann würde ich das? und: Werden Cara, Aurelia und Kimberley mich heute beachten oder werde ich in der Pause wieder mal allein rumstehen?)
* mit den immer gleichen Tagesabläufen (Schule, Hausaufgaben, bisschen Klavierüben, bisschen Rausgehen, Schlafen) und
* mit meinen leider viel zu langen Beinen.
Da muss ich nicht auch noch tagein, tagaus in einem Tagebuch über mich berichten.
Aber dann hab ich eben gesehen, wie Joël Hummel sich am Handgelenk über den Hinterhof zog, und ich dachte, er selbst wird das vielleicht nicht aufschreiben. Also wie er an diesem sonnigen Freitagnachmittag Ende März aufgebrochen ist, um ein Mädchen zu küssen (ich schätze, so ein zierliches, niedliches), während ich, gerade von meiner Klavierstunde zurück, mein Fahrrad abschloss und seine Zeugin wurde. Vielleicht wird es nicht mal das Mädchen notieren, selbst wenn Joëls Kuss der erste in seinem Leben war. Es wird wahrscheinlich nur eine Weile daran denken und dann einen anderen Jungen küssen und noch einen anderen und Joël Hummels Kuss irgendwann vergessen. Niedliche Mädchen müssen sich über das Geküsstwerden ja keine großartigen Gedanken machen.
Dabei ist es bestimmt unbeschreiblich, seinen ersten Kuss von Joël zu bekommen! Er hat einen schönen Mund in einem schönen Gesicht, er ist sechzehn und noch dazu ein halber Franzose. Außerdem ist er schätzungsweise 1,86, das würde sogar für mich genügen. Jedenfalls noch eine kleine Weile, sechs, sieben Zentimeter bleiben mir bis zum kritischen Punkt, der eigentlich schon viel zu hoch ist für ein Mädchen. Aber was soll ich sagen, meine Zielgröße wird zwischen 1,89 und 1,92 geschätzt (was es in unserer Familie noch nie gegeben hat), und spätestens dann wird es zu spät sein. Denn wer will schon den Jungen, der einem seinen ersten Kuss schenkt, überragen wie ein Fahnenmast? Also hat man bereits mit dreizehn voll den Stress, was diese Dinge betrifft, während andere Leute ihr Leben genießen. (Oder man bleibt eben für immer ungeküsst, was auch keine echte Alternative ist.)
Aber ich will ja nicht über mich schreiben, sondern über Joël und die Zierliche, die bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag zwanzig oder dreißig Jungen küssen wird, genau wie Joël zwanzig oder dreißig Mädchen küssen wird, und überhaupt über all diejenigen, die interessante Dinge tun, ohne dafür zu sorgen, dass die Nachwelt davon lesen kann. Ein Tagebuch von allen anderen ist nicht unsinnig. Und irgendjemand muss ja festhalten, was in der Welt so passiert. Die echten Dinge. Die einen umhauen. Auch wenn es nicht die eigenen sind.
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Als ich im Treppenhaus an der Wohnungstür der Siemerdings vorbeikam, brüllten dahinter mindestens zwei der drei?, vier?, fünf?, sechs?, sieben? Kinder. Ich hörte dem Wahnsinn ein bisschen zu und nahm mir gerade vor, mir heute noch Snow auszuleihen, da kam mir Herr Krekeler entgegen, Albert R. Krekeler, wie es auf seinem Klingelschild steht.
Ich hab schon oft überlegt, wie er es macht, dass er sogar in seinem dunkelblauen Jogginganzug schick aussieht. Wirklich schick und kein bisschen seltsam, weil er 98 ist und ihn tatsächlich trägt, um laufen zu gehen (zwar eher in Zeitlupe, aber sehr viel ausdauernder, als es zum Beispiel Papa mit seiner Plauze und seiner Raucherlunge könnte – da nützt es ihm auch gar nichts, dass er fast fünfzig Jahre jünger ist und außerdem einen Dr. med. besitzt). Ich glaube, es liegt daran, wie Herr Krekeler geht, immer aufrecht und leicht federnd, und daran, dass der Jogginganzug an ihm sitzt, als wäre er maßgeschneidert. Also ohne das übliche Geschlabber, sondern eher straff – der Smoking unter den Jogginganzügen.
Herr Krekeler mag es offenbar, wenn etwas schön ist, nicht nur die Dinge, mit denen er sich umgibt (der Schornsteinfeger hat bei der letzten Gasthermenwartung erzählt, dass seine Wohnung von oben bis unten mit Büchern und Gemälden vollgestopft ist), sondern auch, was sein Äußeres betrifft. Er ist aber tatsächlich auffällig gut aussehend für einen 98-Jährigen, finde ich.
»Guten Tag, Magali«, sagte er und ich zuckte ein bisschen zusammen.
»Guten Tag, xy«, so sagt er immer, wenn er jemandem begegnet, und zwar auf eine Art, die verrät, dass er wirklich sieht, mit wem er es zu tun hat. Die meisten Leute gehen ja einfach an einem vorbei (siehe Joël Hummel). Selbst wenn sie grüßen, heißt das noch lange nicht, dass sie einen wahrgenommen haben. Vielleicht sehen sie einen aus den Augenwinkeln, aber spätestens nach dreißig Sekunden wissen sie nichts mehr davon. Was durchaus Vorteile hat, vor allem, wenn man gerade nicht gesehen werden will, aus Längengründen oder ähnlichem. Aber eben auch Nachteile, denn ganz ohne Gesehenwerden passiert nicht viel.
Herr Krekeler jedoch sieht einen, ob es einem passt oder nicht, und er sieht einen so gründlich, dass man sich regelrecht ertappt fühlt. Vor allem, wenn man vorher eine Spur zu lang auf dem Treppenabsatz der Siemerdings angehalten und gelauscht hat.
Ich tat so, als wäre ich bloß stehen geblieben, um in der Jackentasche nach meinem Schlüssel zu suchen und hätte ihn nun gefunden.
»Hallo, Herr Krekeler«, sagte ich und wollte mich schnell an ihm vorbeischieben, aber jetzt blieb er direkt vor mir auf dem Treppenabsatz stehen, rückte die Panoramascheibe seiner Sportbrille zurecht und betrachtete mich. Was bedeutet, dass er an mir hochguckte, denn so gut aussehend er für sein Alter auch ist, er ist schon reichlich zusammengeschrumpft. Nur seine Ohren werden größer und größer.
Schließlich sagte er: »Der Husky muss mal wieder einiges über sich ergehen lassen, nicht wahr?«, und das hat mich, obwohl mir die Situation peinlich war, ganz schön ge-flasht.
Ich meine, von Snow war in dem Moment nichts zu hören, sondern nur von den plärrenden Kindern. Also wusste er anscheinend, dass ich mich, was die Siemerdings betrifft, ausschließlich für Snow interessiere (der Rest der Familie ist nervig und sterbenslangweilig), und er hielt das Befinden dieses alten Huskys sogar für wichtig genug, um mich darauf anzusprechen. Und das, obwohl unsere Gespräche normalerweise nie über »Guten Tag, Magali« – »Hallo, Herr Krekeler« hinausgehen.
Ich: »Genau. Der würde jetzt bestimmt auch gerne laufen gehen.«
Und Herr Krekeler: »Möglich.« Er wandte nachdenklich den Blick ab. Machte mir dann in einer einzigen Bewegung Platz und ich einen Schritt an ihm vorbei. Aber als ich schon zwei, drei Stufen hochgegangen war, merkte ich, dass er doch noch etwas sagen wollte, und drehte mich um. Und tatsächlich, sein Blick war wieder auf mich gerichtet.
»Möglicherweise müsste der alte Wolf sich allerdings genauso dazu zwingen wie ich«, sagte er und kicherte ein bisschen in sich hinein, bevor er die Hand zum Gruß hob und nun wirklich weiter die Treppe hinunterfederte.
Es sah eigentlich nicht so aus, als würde er sich zu irgendwas zwingen, aber was weiß ich. Der Mann ist 98.
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Drei Etagen höher, in unserer Wohnung, legte ich meine Klaviernoten weg (es war die letzte Stunde vor den Osterferien gewesen und in den nächsten zwei Wochen hab ich nicht vor zu üben) und zog mir andere Schuhe an.
In der Küche gab es gerade mal wieder Streit zwischen Mama und Malve beziehungsweise eine Diskussion, wie es in unserer Familie heißt, und da auch Mama seit heute Mittag Ferien hat (»Von Ferien kann keine Rede sein, ich muss zwei Klausuren korrigieren!«), ist wohl damit zu rechnen, dass es in nächster Zeit noch mehr davon geben wird als normalerweise. Mama hatte diese Stimme, die immer schriller wird, wenn sie versucht, sachlich zu klingen. Sie räumte scheppernd den Geschirrspüler aus, Malve hatte sich gerade am Esstisch die Fuß- und Fingernägel lackiert und war dadurch vorübergehend bewegungsunfähig. Nur sprechen konnte sie völlig uneingeschränkt. Soweit ich es verstehen konnte, ging es um ihre Abiturvorbereitung, jedenfalls handelten Mamas Diskussionsbeiträge davon und die meiner Schwester von irgendeinem Studenten (»Viertes Semester!«), der mit ihr für eine Woche zu einem buddhistischen Meditationsfestival fahren möchte. Es war schwer zu entscheiden, wer von beiden mehr Bullshit redete. Vielleicht gab es eine leichte Tendenz zu Malve, aber Mama legte sich auch ganz schön ins Zeug. Zu allem Unglück stank es nach Räucherstäbchen, mit denen Malve ihre plötzliche spirituelle Ader betonen will, und ich machte, dass ich gleich wieder wegkam.
Snow!
Man muss sich das vorstellen. Ein Mann und eine Frau heiraten. (Die Siemerdings.) Sie versuchen, ein Kind zu kriegen, aber es kommt keins. Sie warten und hoffen, probieren und verzweifeln und schaffen sich schließlich anstelle des gewünschten Babys einen Hund an. Nicht irgendeinen Hund, nein, einen Husky, an dem sie sich so richtig austoben können. Jeden Tag nach der Arbeit gehen der Mann und die Frau weite Strecken mit ihm spazieren, sie fahren regelmäßig mit ihm in den Winterurlaub und lassen ihn durch den Tiefschnee tollen, sie bürsten liebevoll sein dichtes Fell und entsorgen Tonnen von Hundehaaren. Kurz: Der Husky lebt zwar nicht gerade in Sibirien und auch nicht in Lappland, er lebt nicht im Rudel, sein Wolfsgeheul wird von niemandem erwidert (schon gar nicht von einer hübschen, blauäugigen Husky-Lady) und seine unfassbaren Arbeits- und Rennkräfte laufen ins Leere, aber er hat es trotzdem ziemlich gut für ein Haustier – und zwar mehr als sechs Jahre lang.
Doch dann passiert es. Das langersehnte Kind ist unterwegs. Und dann das nächste. Eins nach dem anderen, sodass man den Überblick verliert, Zwillinge sind auch dabei. Und mit jedem Kind wird es um den Husky herum lauter und wuseliger. Die freie Zeit für ihn wird immer weniger, spätestens bei Kind Nummer drei bleibt nichts mehr davon übrig, und bei Kind Nummer vier ist er allen nur noch im Weg, danach: ein Klotz am Bein. Der Husky begreift die Welt nicht mehr. Er liegt, gepikt von Playmo-Männchen und Legosteinen, in einer Ecke der viel zu warmen Wohnung herum, er wird träge und dick. Wenn er heult, wird er angemeckert, weil schon genug Kinder heulen, hat er seinen Fellwechsel, fluchen die Siemerdings über das Allergierisiko wegen der Hundehaare und wenn es einmal im Jahr draußen schneit, bleibt er an der Leine und muss zusehen, wie die älteren der Siemerding-Kinder auf ihren Plastikschlitten den Winzhügel in der Eilenriede runterrutschen.
Ein solcher Hund hat ein richtiges Schicksal zu tragen. Er braucht Hoffnung auf etwas, das die endlose Langeweile unterbricht. Selbst ein Mensch könnte dieses Grauen kaum aushalten, dabei hätte der zumindest die Möglichkeit, sich in Gedanken wegzubeamen – jede halbwegs intelligente Person trainiert das im Schulunterricht. Snow aber kann bestenfalls vor lauter Nichtstun eindösen, vielleicht mal kurz im Traum durch stiebenden Schnee rennen, doch dann fängt garantiert gleich neben ihm ein Siemerding-Kind an zu krakeelen und er wird gnadenlos zurück in die Realität befördert.
Er braucht also Hoffnung. Und sei es nur auf unregelmäßige Stadtspaziergänge mit einem zu groß geratenen Nachbarsmädchen an zu warmen Frühlingsnachmittagen. Viel ist das nicht.
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Abends schrieb Malve fünf Minuten vor dem Essen, dass sie noch mit Mister Meditation unterwegs sei und sich was auf die Hand hole, was Mama und Papa in schlechte Laune versetzte, obwohl sie sich Mühe gaben, es vor mir zu verbergen.
Mama hatte ziemlich aufwendig gekocht, Tempura, die angeblich gesund sind, obwohl frittiert. Sie hatte einen Strauß Tulpen auf den Küchentisch gestellt (oder Esszimmertisch, wie sie gerne sagt, obwohl es bei uns nur eine Küche gibt, die gleich ins Wohnzimmer übergeht), Papa hatte eine Flasche Weißwein geöffnet und sich ordentlich eingeschenkt, und ich nehme an, sie hatten happy family im Sinn.
Meine Eltern sind nämlich der Ansicht, in die Familie Weill geboren zu sein, wäre ein Glücksfall. Einerseits weil Malve und ich bildungsmäßig bekommen, wovon andere Kinder nur träumen können. Heißt: Wir gehen aufs Gymnasium, sogar auf eins mit gutem Ruf, was auch immer das heißen mag, wir haben die »GEO« und »Spektrum der Wissenschaft« im Abo und bekommen Musikunterricht. Und damit wir nicht ständig aufs Handy glotzen und alles in der Wikipedia nachgucken, steht in unserem Wohnzimmer die letzte vollständige Papierversion der Encyclopædia Britannica: Dreißig Bände plus zwei Registerbände, 75.000 Artikel. (Ich gucke trotzdem in die Wikipedia. Ob Malve irgendwas nachguckt, weiß man nicht.)
Andererseits weil Mama und Papa sich für bewusste Elternschaft interessieren. Was unterm Strich bedeutet, dass sie sich für gute oder vielmehr bessere Eltern halten, die sich viele Gedanken darüber machen, was ihre Kinder brauchen, und entsprechende Entscheidungen für sie treffen. Auch mein Zimmer ist Ergebnis der bewussten Elternschaft. Es hat, seit ich denken kann, pastellfarbene Wände (genau derselbe lindgrüne Ton wie in Papas Praxis), die sich irgendwie harmonisierend auf mich auswirken sollen. Als ich geboren wurde, hatten Mama und Papa ja schon fünf Jahre lang Elternsein geübt, in voller Härte, wie man wohl sagen muss, und mit einigen Misserfolgen, und wollten bei mir gleich alles perfekt machen. Bei der Wandfarbe angefangen. Zwar kann ich dadurch kein einziges Bild aufhängen, ohne dass es total beknackt aussieht, aber bitte schön: Ich bin ein sehr harmonisches Kind, von meiner unharmonischen Körpergröße mal abgesehen.
Also, wir saßen beim Essen und Mama und Papa versuchten, ihre schlechte Laune zu unterdrücken, landeten aber schließlich doch in einem Gespräch über Malve. Wie eigentlich immer. Es ist einfach das Thema, über das sie sich am besten unterhalten können. Vermutlich sogar das einzige.
»Bei diesem Potenzial!«, sagte Mama mit einem Seufzer. »Sie könnte im Abitur alles erreichen, was sie will, und dann verplempert sie ihre Zeit mit diesem unmöglichen – wie heißt er noch gleich? Ich komm da gar nicht mehr hinterher!«
Und der dazugehörige Stoßseufzer von Papa: »Malve stand sich immer schon selbst im Weg.«
Irgendwie taten sie mir leid, darum verkniff ich mir zu sagen, dass sie Malves Potenzial vielleicht geringfügig überschätzen. Ich sagte auch nicht, dass meine Schwester gar nichts erreichen will, abgesehen davon, sämtliche Blicke auf sich zu ziehen, insbesondere Jungenblicke (wobei sie sich nicht im Geringsten im Weg steht), sondern aß nur meine fettigen Tempura. Es muss hart für Eltern sein, wenn sich herausstellt, dass ihre erstgeborene Tochter nicht halb so großartig ist, wie sie immer gedacht haben. Und die zweitgeborene ist ja auch keine, die man voller Stolz vorzeigt.
»Und was hast du heute gemacht?«, fragte Papa mich auch erst, als ihm zu Malve nichts mehr einfiel.
Ich zuckte mit den Schultern. Dachte an Joël und das Mädchen, dachte an Herrn Krekeler, der sich zum Joggen zwingen musste (vielleicht), dachte an Snow, der mich am Mittellandkanal acht Kilometer auf dem Fahrrad gezogen hatte, mit einer Pause nach der Hälfte, während der wir zusammen am Ufer saßen und ich ihm als Gegengabe Geschichten ins spitze linke Ohr flüsterte und dabei die unfassbar weiche Stelle unter seiner Schnauze kraulte, und wusste gleichzeitig, dass Mama und Papa mit all dem nichts würden anfangen können. Ich wünschte, es wäre anders, aber meine Eltern sind, was manche Dinge betrifft – also für die haben sie einfach keinen Sinn.
Beispiel: Papa beguckt sich von morgens bis abends Hälse und Knie und Hautausschläge und belegte Zungen und weiß alles über Anatomie und Physiologie, hat aber keine Ahnung, was es eigentlich heißt, einen Körper zu haben. Seinen eigenen schiebt er jedenfalls durch die Gegend wie einen komischen Gegenstand, der nichts mit Dr. Andreas Weill zu tun hat, geschweige denn Dr. Andreas Weill ist.
Genauso wie Studienrätin Kristin Weill mit all ihren Oberstufenkursen Senecas »De vita beata« übersetzt, »Vom glücklichen Leben« also, und auch zu Hause immer wieder damit ankommt (ungefragt!), aber sofort ausweicht, wenn man sich erkundigt, wie denn ein glückliches Leben überhaupt gehe – hier und heute, meine ich. Sie erzählt nur irgendwas von Tugend und Vernunft und Ruhe, »weil das Gute jeglichen Anfang in der Tugend hat/quia omne bonis irgendwas«, aber was man tun muss, um all das zu erreichen, zum Beispiel wenn man mit Malve Weill in einem Haushalt lebt, dazu sagt sie nicht viel. Vermutlich hat dieser Seneca sich auch nicht dazu geäußert, wie man ein glückliches Leben führen kann, wenn man einen Kopf größer als alle anderen ist und einen niemals jemand küssen will.
Wie auch immer, ich erzählte meinen Eltern nichts von dem Bemerkenswerten oder auch nur davon, dass ich ihr Goldschnitttagebuch nun doch nutze, bloß anders. »Ich hatte Klavierunterricht«, sagte ich stattdessen.
Papa fragte nach, wie es gelaufen war (ganz gut, wie immer), und Mama, ob ich über die Ferien ein neues Stück aufbekommen hätte (nein, nur eine neue Etüde, die ich aber nicht erwähnte), und damit war auch dieses Thema durch.
Papa nahm sich einen ganzen Berg Udon-Nudeln nach, Mama schwenkte ihren Wein (macht man das eigentlich bei Weißwein?) und starrte dabei in ihr Glas, wobei sie für einen Moment nicht auf ihre Miene aufpasste, die ihr sofort wegrutschte. Ich aß noch eine Garnele und einen Shiitakepilz, bedankte mich fürs Abendessen und ging dann in mein pastellfarbenes Zimmer, um auch noch dies festzuhalten. Dreizehn Seiten an einem einzigen Tag. Und vermutlich könnten es noch mehr sein. Denn wenn man einmal angefangen hat, sich die Menschen genauer anzusehen, ist fast alles, was man dabei entdeckt, auf irgendeine Art bemerkenswert.
Gerade aufgewacht von einem Streit im Hinterhaus. Joël Hummel und Claire, seine Mutter. Lautstärketechnisch nehmen sie sich nichts.
(…?) rien de (…?) à faire!
(…?) totalement perdu la (…?)!
(…?) une insulte!
(…?) conard!
(…?) la dernière fois!
(…?) esprit dérangé!
(…?) merdique!
(…?) va te faire foutre!
(…?) te (…?) à la porte!
(…?)
(…?)
Lachen!
Das passiert ungefähr einmal in der Woche, und in der Schule hab ich in letzter Zeit echt in Französisch rangeklotzt, um zu verstehen, worum es bei dem Gebrüll geht. Mit dem DeepL-Übersetzer am Start verstehe ich inzwischen auch das eine oder andere Wort, aber nie einen Zusammenhang. Vielleicht geht es ja einfach nur darum, sich gegenseitig zu beleidigen. Und danach wieder zu vertragen.
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Wenn Joël Hummel mich küsst, muss das an einem Ort geschehen, an dem niemand damit rechnen würde. Kein romantischer Ort, sondern ein alltäglicher.
An einem romantischen Ort geküsst zu werden (Wasserfall, Meer bei Sonnenuntergang, rosenumrankte Gartenlaube), hat, glaub ich, weniger mit einem persönlich zu tun als mit dem Hintergrund, vor dem einfach etwas Romantisches passieren muss. Da würde man sich doch hinterher sein ganzes Leben lang fragen, wer nun eigentlich geküsst wurde, man selbst oder das Rauschen, der Sommerabend, der Blütenduft, das Gefühl, in ein schönes Bild gestiegen zu sein.
Damit es wirklich mein Kuss wird, müsste Joël es an einem Ort tun, der alles andere als ein Küss-Ort ist. Ein unscheinbarer, am besten sogar hässlicher Ort, sozusagen eine graue Kulisse, vor dem die Menschen an sich zu erkennen sind (also er und ich).
Zum Beispiel auf der Kellertreppe. Ich schleppe mein Fahrrad runter, weil es draußen in Strömen regnet. Alles an mir tropft und trieft, meine Haare hängen klatschnass runter, die Jeans ist durchweicht, mir ist kalt wie sonstwas. Was ich nicht weiß: Joël hat mich von seinem Hinterhausfenster aus gesehen. Er hat aufgemerkt und die langweilige Hausaufgabe, über der er gerade gesessen hat, liegen lassen, Geschichte vielleicht oder Erdkunde, weil ihm ein Gedanke gekommen ist. Nun beobachtet er, wie ich mich abmühe, hört sogar (Das Fenster ist gekippt!), wie ich leise vor mich hin schimpfe, während ich die Treppenstufen runterwanke. Dann verschwinde ich rechts im Kellergang, und während ich das Fahrrad verstaue, schlüpft er in seine Schuhe und dann raus aus der Erdgeschosswohnung. Als er seinen Fuß in den Hof setzt, wird er selbst ein bisschen nass, aber er läuft ohne zu zögern weiter zur Kellertür, und als ich wieder unten am Treppenabsatz ankomme, steht er mitten auf der Treppe, die Hände lässig in die Hosentaschen gesteckt.
Natürlich weiß ich nicht, was er vorhat. Ich denke auch nicht groß darüber nach, das Einzige, was ich in diesem Augenblick im Sinn hab, ist, in die Wohnung zu kommen und mir was Trockenes anzuziehen. Also stapfe ich die Stufen hoch, es ist zwar irritierend, dass er da so im Weg steht, aber ich lasse mich nicht abhalten.
Er lässt mich allerdings nicht durch, sondern bleibt, wo er ist, und da, auf einmal, sehe ich ihn richtig: sehe sein Gesicht, das lächelt, obwohl sein Mund sich keinen Millimeter bewegt, sehe seinen Blick, hinter dem sich irgendwas verbirgt. Eine Idee, eine geheimnisvolle Entschlossenheit.
Langsam gehe ich weiter, eine Stufe und noch eine, und erst als ich direkt unter ihm stehe, macht er einen halben Schritt zur Seite. Zögerlich steige ich noch eine Stufe höher, auf dieselbe, auf der er steht, aber unsere Schultern passen noch immer nicht aneinander vorbei, ohne dass jemand ausweicht, und ein Fuß bleibt in der Luft.