Schön wie die Acht - Nikola Huppertz - E-Book + Hörbuch

Schön wie die Acht Hörbuch

Nikola Huppertz

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Beschreibung

Malte liebt Zahlen und trainiert fleißig für die Mathe-Olympiade, bei der er unbedingt gewinnen will. Als einziger seiner Schule hat er sich für die Landesrunde qualifiziert. Doch Zuhause bricht das Chaos aus, als seine sechzehnjährige Halbschwester Josefine für vier Wochen bei ihnen einzieht. Sie eckt überall an, schwänzt die Schule und macht Malte das Leben schwer – wie soll er so vernünftig lernen? Zu allem Überfluss taucht auch noch Lale in seiner Mathe AG auf. Sie ist nicht nur eine ernstzunehmende Konkurrentin, sondern auch noch 'schön wie die Acht' und bringt ihn völlig durcheinander. Als ihm alles zu viel wird und er die Olympiade hinschmeißen will, rückt ihm ausgerechnet Josefine den Kopf wieder gerade. - Endlich mal Mathe nicht nur als Frustfach! - Eine ungewöhnliche Geschwisterbeziehung - Witzig und emphatisch erzählt

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Zeit:5 Std. 4 min

Sprecher:Fabienne Jäggi
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Nikola Huppertz

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Die Reproduktion von Rose Ausländers Gedicht »Zirkuskind« erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Rose Ausländer-Gesellschaft e. V., Köln. Unser herzlicher Dank gilt auch Klaus Kordon, für die Erlaubnis, sein Gedicht »Einfach alles« zu verwenden.

© 2021 Tulipan Verlag GmbH, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Text: Nikola Huppertz

Vermittelt durch die Literarische Agentur Barbara Küper

Umschlagmotiv und Illustrationen: Barbara Jung

ISBN 978-3-641-32914-3V001

www.tulipan-verlag.de

INHALT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Die Acht ist das Schönste, was ich kenne. Alle Zahlen sind schön, aber die Acht ist perfekt. Man kann sie an zwei Symmetrieachsen spiegeln und sie hat nicht diese ganzen Schwänzchen und Häkchen wie die anderen Zahlen. Außer der Null natürlich, aber bei der Null muss man sich fragen, ob sie überhaupt eine Zahl ist, bei den ganzen Extras, die für sie gelten: dass sie nicht positiv und nicht negativ ist, beim Addieren nichts hinzufügt, beim Malnehmen jede andere Zahl zur Null macht und dass man nicht durch sie teilen kann. Was natürlich alles cool ist, aber mir ist die Acht lieber. Die Acht ist einfach nur eine Acht mit ihren Links- und Rechtskurven und dem Richtungswechsel genau in der Mitte. Und wenn man sie auf die Seite legt, bedeutet sie Unendlichkeit.

Keiner kann sagen, das wär nicht schön.

Sie haben mich nicht gefragt, ob ich einverstanden bin. Mama nicht und Papa erst recht nicht, dabei ist es seine Tochter und seine Angelegenheit. Und einfach was dagegen sagen, dass Josefine jetzt bei uns ist, geht ja auch nicht. Wegen ihrer Mutter. Wenn jemand Krebs hatte und operiert worden ist, darf man gegen nichts was sagen. Dann muss man froh und dankbar sein, dass alles gut gegangen ist, die jetzt krebsfreie Mutter einen Platz in der Reha hat und, wenn alles glattgeht, in ein paar Wochen gesund zurück nach Hause kommt.

Versteh ich ja.

Auch, dass Papa sich solange um Josefine kümmern und sie hier zur Schule gehen muss, in meine Schule, genauer gesagt, weil das angeblich am unkompliziertesten ist.

Aber trotzdem mag ich nicht, wie sie an unserem Abendbrottisch sitzt und aussieht, als wollte sie alle umbringen. Und wie Papa sich diese Mörderblicke, die ihr x-fach gepierctes Gesicht unter der schwarzen Hoodie-Kapuze hervorfeuert, auch noch gefallen lässt. Wie er irgendwelche Sachen daherredet, die niemanden interessieren, von der Firma oder seinem letzten Tennistraining, und versucht, so zu tun, als wär es total normal, dass wir neuerdings zu viert sind.

»Malte, reichst du deiner Schwester noch mal den Brotkorb«, sagt er jetzt.

Dabei war vom Brotkorb vorher noch gar nicht die Rede, und sie ist auch nicht meine Schwester, sondern meine Halbschwester, das ist ein Unterschied im Verwandtschaftsgrad von hundert Prozent. Mal davon abgesehen, dass ich sie erst zwei- oder dreimal getroffen hab, zuletzt, als ich vielleicht sechs war.

»Wieso noch mal?«, frage ich, weil, von so was krieg ich Kopfjucken. Wenn Erwachsene falsche Sachen sagen, obwohl sie es eigentlich besser wissen. »Sie hat doch bis jetzt nur Tomaten gegessen. Und du weißt ja gar nicht, ob sie überhaupt Brot mag.«

»Malte!« Papas Stimme klingt plötzlich streng. Selbst Mama guckt mich ganz komisch an, fast, als wollte sie vertuschen, dass wir Josefine eigentlich gar nicht kennen. Und das, obwohl sie sonst immer betont, das Mädchen und seine Mutter, das war vor ihrer Zeit, damit hat sie nichts am Hut.

»Lass gut sein, Kleiner«, sagt meine Halbschwester da und greift quer über den Tisch, aber nicht, um sich was aus dem Brotkorb zu angeln, sondern noch eine Tomate. Die letzte. Sie beißt rein wie in einen Apfel, schlürft Saft und Glibber aus dem Inneren und steht mit dem Rest in der Hand vom Tisch auf. Noch ein Mörderblick in die Runde. Dann verschwindet sie einfach aus der Essecke in unserem Wohnzimmer.

Mama und Papa gucken sich an.

»Merkst du nicht, dass es eine schwierige Situation für Josefine ist, Malte?«, fragt Mama.

»Doch«, sage ich, kaue dabei mein Käsebrot. »Weiß ich. Und ich hätte ihr den Brotkorb ja auch gegeben. Ich hab nur gesagt …«

»Wir haben gehört, was du gesagt hast«, unterbricht Papa mich. Dann seufzt er. »Und? Was macht die Kunst?«

Jetzt greife ich tatsächlich noch mal zum Brotkorb. Das war der erste normale Satz bei diesem Abendessen.

»Montag geht die Vorbereitung für die Landesrunde los«, antworte ich.

»Wie viele sind denn jetzt eigentlich noch im olympischen Boot?« Papa schiebt mir die Butter rüber.

Ich schabe welche ab, schmiere sie auf die Brotscheibe, lege zwei Scheiben Gouda drauf. »Von unserer Schule außer mir niemand mehr. Kolja ist knapp dran vorbeigerutscht. Aber es kommt noch eine von der IGS dazu, weil die da keinen eigenen Matheclub haben.«

»Und die hat es ganz allein so weit geschafft?«, erkundigt sich Mama.

Ich erschrecke. Darüber hab ich noch gar nicht nachgedacht, und, zugegeben, einen Moment lang stresst es mich. Aber dann fällt mir ein, dass ich mir das Allermeiste auch selbst beibringe und der Zerhusen mir nur hilft, wenn ich ihn darum bitte. Weil das nämlich tausendmal mehr bringt. Und das sage ich Mama und Papa auch.

»Wie auch immer«, erwidert Papa. »Dann wird’s ja jetzt spannend.«

Im selben Moment hämmert unter uns im Hobbykeller, wo Josefine einquartiert ist, laute Musik los.

Ich setze mich an meinen Schreibtisch, ziehe das Übungsblatt aus der Mappe, lese zum weiß nicht wievielten Mal die letzte Aufgabe. Die anderen hab ich alle gelöst, sowohl Mengenlehre als auch Algebra, ziemlich schnell sogar, bloß diese eine mit der Sinusfunktion hat es echt in sich.

Phasenverschiebung.

Amplitudengröße.

Intervalle.

Davon hab ich bis jetzt nur so eine ungefähre Vorstellung.

»Aber ich krieg dich schon noch!«, sage ich und hole das Mathelexikon aus der Schublade.

Meine Kunst. So hat Papa es schon genannt, als ich in der Kita mit Bauklötzen Einmaleinsaufgaben gelegt hab und die Erzieherinnen sich bei Mama und ihm beschwert haben, weil sie dachten, ich würde zu Hause gedrillt.

Als wäre was dabei: Vier Würfel, vier Zylinder, vier Quader. Ergeben, tadaaa!, einszwodreivierfünfsechssiebenachtneunzehnelfzwölf.

Papa hat versichert, dass ich das nicht von ihm hab, Zahlen und Rechnen und so, sondern dass er sich damit immer irgendwie durchgemogelt hat. Von Mama hab ich es auch nicht, die hat es ja mehr mit Sprachen, während ich damals angeblich noch keinen richtigen Satz auf die Reihe gekriegt hab. Als die Erzieherinnen das gehört haben, mussten sie einsehen, dass ich die Bauklotzsache ganz von selbst gemacht hab.

Ich schlage das Lexikon auf, irgendwo, und schnuppere ein bisschen an den Seiten. Vielleicht ist es ja gar nicht so wichtig zu wissen, wo was herkommt. Viel wichtiger ist, dass man es eben hat. Weil es natürlich Spaß macht, also Mathe, auch wenn die meisten Leute es komisch finden, dass jemand sich freiwillig damit abgibt. Zum Beispiel mit der schwierigen Aufgabe, an der ich schon seit Tagen rumtüftle. Obwohl ich Sinus und Kosinus bis dahin noch gar nicht hatte. Nicht im Matheclub und im Unterricht sowieso nicht. Aber ich hab mich da jetzt reingelesen, in die ganze Sache mit dem Einheitskreis, dem Winkel- und Bogenmaß, den Seitenverhältnissen und den dazugehörigen Funktionen, und ich will die Aufgabe unbedingt bis morgen knacken. Bevor der Zerhusen sie mir erklären kann. Erst recht, wenn die IGSlerin dazukommt, die sich bis jetzt alles selbst beibringen musste. Ich meine, wär ja noch schöner, wenn sie das Übungsblatt dann allein hinbekommen hätte und ich nicht! Schließlich hab ich noch immer alles gelöst. Weil Mathe nämlich logisch ist, und logische Dinge kriegt man früher oder später raus. Aus A folgt B und so weiter. Man muss nur den Weg kapieren, Schritt für Schritt, dann zeigt sich das Ergebnis ganz automatisch. Wie eigentlich bei allem, solange man nur geordnet darüber nachdenkt. Und dann, plötzlich, versteht man es.

Jedenfalls brauche ich jetzt nur noch rauszufinden, welcher Wert in der Sinusfunktion zu welcher Verschiebung führt: nach links, rechts, oben, unten. Dann hab ich’s.

Vorausgesetzt, Josefine stellt ihre Musik endlich mal leiser. Weil, so kann ja kein Mensch überlegen.

»Du bist so ’n kleiner Verwöhnter, oder?« Meine Halbschwester legt den Kopf zur Seite und guckt mich von oben bis unten an. »Könntest du bitte ’n bisschen leiser drehen, ich löse gerade ein mathematisches Problem! Echt, ey! Haust du öfter so was raus?«

Ich weiß nicht, was ich sagen soll, also stehe ich bloß blöde auf den kühlen Kellerfliesen rum und schweige. Immerhin hat sie den Laptop zugeklappt und die Anlage neben der Schlafcouch ausgeschaltet. Aber jetzt einfach abhauen geht irgendwie nicht. Bei dem Blick unter dem doppelten Augenbrauenpiercing.

»Wie alt bist du noch mal?«, fragt sie weiter.

»Zwölf«, antworte ich. Und füge schnell hinzu: »In zwei Monaten dreizehn.«

Josefine grinst, schief und ein bisschen fies. »Soso, in zwei Monaten dreizehn. Da hat unser Vater dich also gezeugt, als ich … warte mal … drei Jahre und fünf Monate alt war. Ich kann nämlich auch ein bisschen rechnen.« Sie steht von der Couch auf, guckt sich kurz im Hobbykeller um, tappt zur Fitnessecke, nimmt sich zwei Hanteln. Von den mittelgroßen, wohlgemerkt, bei denen ich es schon anstrengend finde, sie festzuhalten, und es ist mir fast unheimlich, als sie so mir nichts, dir nichts anfängt, Bizepscurls zu machen. »Worum geht’s denn?«, fragt sie irgendwann und klebt ihren Blick wieder an mir fest.

Es dauert einen Moment, bis ich kapiere, wovon sie redet.

»Um die Sinusfunktion«, sage ich. »Phasenverschiebung und so was.«

»Ach das«, erwidert sie. Nicht mehr und nicht weniger, und ich weiß nicht, ob es an den Gewichten liegt, die sie allmählich aus der Puste bringen, oder ob das Thema für sie schon durch ist. Also gucke ich zu, wie ihre Curls immer langsamer werden, sich ihr Gesicht von Wiederholung zu Wiederholung stärker verzieht, und schiebe sicherheitshalber nach: »Wegen der Matheolympiade. Ich mach da mit. Bald ist Landesrunde, da entscheidet sich, wer zu Jugend trainiert Mathematik darf.«

»Aha«, keucht sie, legt die Hanteln zurück und schüttelt die Arme aus. »Und was machst du sonst noch so in deinem Leben? Wenn du nicht gerade mathematischen Problemen hinterherläufst?«

Das ärgert mich. Nicht, weil ich sonst nichts mache, sondern weil es klingt, als wär Mathe nichts Richtiges. Also sage ich: »Jedenfalls hänge ich nicht mit dem Laptop auf dem Bett rum und nerve alle mit meiner Musik.«

Josefine zieht eine Augenbraue hoch. »Nicht schlecht, Kleiner!«, sagt sie, tappt zurück durch den Kellerraum und lässt sich wieder auf die Schlafcouch fallen.

»Und ich bin auch kein kleiner Verwöhnter.«

Sie grinst ihr schiefes Grinsen. »Na, dann ist ja gut.«

Plötzlich stehe ich wieder bloß blöde da und weiß nicht, was ich sagen soll. Aber wenigstens lasse ich mich nicht länger von ihrem Blick festtackern. Ich drehe mich einfach um und gehe. Als ich in der Tür noch mal kurz zurückgucke, hat sie ihren Laptop wieder aufgeklappt. Und streckt den Arm zur Anlage aus.

Erst nachdem Papa den Motor ausgestellt hat, kriege ich die Zähne auseinander. Die ganze Fahrt über hab ich überlegt, wie ich es sagen soll, hab ihm und Josefine von der Rückbank aus Löcher in die Hinterköpfe geglotzt, während Papa versucht hat, mit ihr Smalltalk zu machen, und sie nur eisig zurückgeschwiegen hat. Aber mir ist nichts Brauchbares eingefallen. Jetzt allerdings ist da draußen meine Schule, da sind Leute, meine Leute, und plötzlich schießt es ganz von selbst aus mir raus: »Wir gehen aber nicht zusammen!«

Papa dreht sich auf dem Fahrersitz zu mir um, sein Gesicht ein Fragezeichen.

»Wundern sich wahrscheinlich eh schon alle, warum ich nicht im Bus war«, erkläre ich, schnalle mich schnell ab, nehme meinen Rucksack vom Sitz neben mir. Aber Papa zu bitten, mich rauszulassen und selbst noch ein bisschen zu warten, traue ich mich nicht, denn das Fragezeichen ist immer noch da und hat auch noch eine Runzelstirn bekommen.

»Na und?«, sagt Papa. »Wenn sie sehen, dass du heute gebracht worden bist, wundern sie sich nicht mehr. Ist doch praktisch!«

Nun wird es doch kompliziert. Hätten wir bloß hinten im Auto Türen, dann könnte ich einfach gehen. Stattdessen muss ich ihm irgendwie klarmachen, dass ich nichts mit seinem Besuch bei der Eckert zu tun haben will: Ah, die Familie Ripken! Dass es nicht meine Sache ist, wenn er Josefine ins Direktorat schleppt, obwohl sie beim Aufbruch so aussah, als wollte sie dort sofort Randale machen. Und überhaupt, dass es nicht meine Entscheidung war, meine Halbschwester in meine Schule zu stecken, ob sie da nun reinpasst oder nicht.

Wo sie sogar schon zum zweiten Mal in die Zehnte geht!

Josefines Entscheidung war es übrigens auch nicht, sie ist genauso wenig gefragt worden wie ich. Vielleicht hätte sie selbst ja auch was anderes passender gefunden, aber das interessiert Papa offenbar nicht. Der meint nur, wo das eine Kind hingeht, kann auch das andere hin.

Ich meine, Papa hat echt was auf dem Kasten, und auch, wenn er kein Mathemensch ist, kann er logisch denken. Aber in dem Punkt setzt irgendwas bei ihm aus. Und er scheint auch nicht zu kapieren, dass die Sache mit dem Nicht-im-Bus-gewesen-Sein noch das geringste Problem ist, das ich heute in dieser Schule haben werde. Es sei denn, er lässt mich jetzt endlich abhauen.

»Ich hab’s eilig«, sage ich und drücke meine Knie in seine Rückenlehne. »Wir haben Erste, Zweite Erdkunde beim Frings, da darf man nicht zu spät kommen.«

»Es ist zehn vor acht!«, erwidert Papa und das Fragezeichen auf seinem Gesicht verwandelt sich in ein Ausrufezeichen. »Wir können in aller Ruhe zusammen gehen.«

»Hör mal, Christian«, sagt Josefine da – Christian, nicht Papa! –, schiebt sich einen Streifen Kaugummi in den Mund, und ich sehe im Rückspiegel, wie sie ihn mit der gepiercten Zunge faltet und sich in die Backe schiebt, »du merkst doch wohl, dass es Malte peinlich ist, mit mir zusammen gesehen zu werden.«

Und das ist ja wohl das Unangenehmste der Welt, vor allem, weil Papa immer noch guckt und wahrscheinlich sieht, dass ich rot werde, und weil er dann auch noch fragt: »Ist es dir peinlich, mit deiner Schwester zusammen gesehen zu werden? Oder mit mir?«

»Quatsch«, murmle ich. »So meinte ich das nicht.«

»Na, dann.« Papa zieht den Zündschlüssel ab und steigt endlich aus dem Auto. »Auf geht’s!«

Seine Stimme klingt, als wäre die Sache für ihn erledigt. Er klappt die Lehne um, lässt mich aus dem Auto krabbeln, und was bleibt mir da anderes übrig, als hinter ihm herzulatschen – neben mir meine Halbschwester, die jetzt plötzlich vor sich hin grinst und ihren Kaugummi kaut und auch nicht den Anschein erweckt, als hätte sie vor, ihn bei der Eckert rauszunehmen. Überhaupt sieht sie nicht aus wie an einem ersten Tag an einer neuen Schule, an dem man einen guten Eindruck machen will. Im Gegenteil, sie wirkt eher so, als wollte sie einen ganz anderen Eindruck machen mit diesem fetten Loch im Hoodie, ohne Winterjacke, obwohl es höchstens sechs, sieben Grad sind, und den Haaren, die so verwuschelt unter der Kapuze hervorgucken, als wäre sie gerade erst aus dem Bett gekippt – was sie natürlich nicht ist. Sie war schon richtig früh wach und hat im Keller rumgelärmt und sich, wenn man mich fragt, sorgfältig gestylt, aber es fragt mich ja keiner. Bloß gucken tun alle, als wir über den Hof zum Schulgebäude gehen. Wer da Neues kommt und wer Nicht-Neues und dass Papa dabei ist, und vermutlich gehen dann auch schon die Spekulationen los: Woher dieses Mädchen plötzlich kommt und was ich mit der zu tun habe und wie das familientechnisch zusammenhängt.

Ein paar Leute aus meiner Klasse sehen uns auch, und Kolja, der da in seinen runtergelatschten Sneakers rumsteht, zusammen mit anderen aus der Zehnten, und als ich ihn im Vorbeigehen grüße, fällt mir glühheiß ein, dass Josefine ja vielleicht in seine Klasse kommt.

Der Frings lässt uns einen unangekündigten Test schreiben, Hausaufgabenkontrolle, wie er das nennt, weil wir zu jeder Stunde vorbereitet erscheinen sollen, egal, ob er es extra sagt oder nicht. Jedenfalls müssen wir Fragen zur extensiven Weidewirtschaft beantworten, Rentierhaltung in Lappland und dergleichen, und als die erste Pause beginnt, vergleichen die meisten erst mal ihre Antworten: Überweidung der Tundra, Verbiss der Jungbäume. Aber kaum sind die Brotdosen ausgepackt und alle auf dem Gang, kommt, was kommen muss.

»Wer war das heute Morgen mit dir und deinem Vater?«, fragt Mats, und Philipp schließt gleich auf, um mitzuhören.

Ich hab keine Lust zu antworten. Mats und Philipp sind nicht meine Freunde, was geht sie da so was an. Allerdings komme ich mit Schweigen nicht weit, jetzt geht einer rechts neben mir, einer links, und sie lassen nicht locker.

»Die sah irgendwie schräg aus«, sagt Philipp.

Mats nickt, und beide gucken so, als wäre ich ihnen nun aber wirklich eine Erklärung schuldig.

»Ach, nur meine Halbschwester«, erwidere ich, als wir auf dem Schulhof ankommen, weil, ganz verderben darf ich es mir mit Mats und Philipp auch nicht. Sie sind zwar nicht meine Freunde, aber wir stehen in den Pausen meistens zusammen rum, und das ist auch nicht ganz unwichtig.

»Wusste ich ja gar nicht!«, ruft Mats. »Dass du eine hast.«

»Doch, hab ich.« Ich zucke mit den Achseln, als wäre es das Normalste der Welt und nicht weiter erwähnenswert. Aber jetzt sind sie neugierig.

»Wie alt ist die?«

Und: »Wohnt die neuerdings bei euch?«

Und: »Sind die Piercings echt?«

Und: »Hat die auch Tattoos?«

Und: »Wer ist denn ihre Mutter?«

Nervig. Vor allem, weil Kolja gerade aus der Eingangshalle kommt und direkt auf mich zusteuert. Da fallen mir ganz andere Sachen zum Unterhalten ein, Mathesachen vor allem.

Kolja ist mein Freund, aber wir stehen in der Pause fast nie zusammen rum. Wenn einer in der Zehnten ist, stellt er sich nicht zu einem Siebtklässler, ist ja klar. Das geht einfach nicht und ich bin deswegen echt nicht sauer auf Kolja. Aber ich freu mich ziemlich, wenn er dann doch mal ankommt, es sind mit Abstand die besten Pausen. Letztes Mal haben wir uns über Fraktale unterhalten, diese selbstähnlichen Gebilde, und deswegen würge ich das Mats-und-Philipp-Gespräch jetzt auch mit einem knappen »Erzähl ich euch nachher!« ab, mache zwei Schritte von ihnen weg und auf Kolja zu.

Aber ich hätte es wissen müssen: Er fragt nach Josefine.

Nein, nicht Schwester, sondern Halbschwester.

Nein, nicht für immer, sondern nur für ein paar Wochen.

Mutter, Krebs, Reha.

Immerhin ist sie nicht in seiner Klasse, sondern in der C, aber in der ersten Doppelstunde hatten sie wohl Werte und Normen, da ist alles gemixt.

»Sie hat den gesamten Unterricht lahmgelegt«, sagt Kolja, und ich kann quasi hören, wie Mats und Philipp hinter meinem Rücken den Atem anhalten. »Die Eckert hat sie um zwanzig nach acht reingebracht und dann ging gar nichts mehr.«

»Äh, wieso?«, frage ich vorsichtig.

Kolja grinst, stößt sogar einen kleinen Lacher aus. »Och, eigentlich hat sie sich nur am Unterricht beteiligt. Aber frag mich mal, wie! Sie hat wohl ihre ganz eigenen Werte und Normen.«

Mir wird es mulmig. »Worum ging es denn?«

»Grob gesagt um Gleichberechtigung. Zumindest am Anfang.«

»Und dann?«

»Um alles, würde ich mal sagen. Abtreibung. Bienensterben. Klimaschutz. Emotionalen Missbrauch. Kopftücher. Funktionellen Analphabetismus. Versammlungsfreiheit. Willst du noch mehr hören?«

»Nee, lieber nicht«, murmle ich.

Kolja grinst wieder. »Aber cool ist sie ja. Irgendwie.«

Wir schweigen eine Weile. Dann, plötzlich, boxt er mir gegen die Schulter, verkündet: »Wir sehen uns im Matheclub«, dreht sich um und verschwindet wieder zu seinen Zehntklässlern.

Und diese letzte Bemerkung ist bis jetzt die beste, die heute jemand gemacht hat. Die einzig gute, genauer gesagt.

Nach der Mittagspause ist es dann so weit. Der Zerhusen lässt uns warten, vermutlich wegen der IGSlerin, die er noch in Empfang nehmen muss, aber der Raum ist offen und wir setzen uns schon. Viele sind wir in diesem Schuljahr nicht im Matheclub, Kolja aus der Zehnten, Pia aus der Neunten, Gregor, Chen und Leonie aus der Achten und dann noch ich. Eigentlich ist der Club ja erst ab Jahrgang 8, aber ich durfte ausnahmsweise schon in der Fünften mitmachen, und abgesehen von Kolja bin ich auch der einzige, der da echt was will. Matheolympiade und so was.

Und jetzt also auch die Neue. Ich stütze den Kopf in die Hand und linse zur Tür, während Kolja meine Aufgabe zur Sinusfunktion durchguckt.

»Soweit ich’s erkennen kann, ist alles richtig«, sagt er. »Aber sauschwer, das Teil. Hast du’s ganz ohne Hilfe rausgekriegt?«

»Mhm«, mache ich und versuche mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr ich mich freue. Nicht nur wegen der Aufgabe, sondern auch, weil er endlich über normale Dinge mit mir redet, über seine und meine Dinge. »Hat aber gedauert.«

»Trotzdem der Hammer.« Kolja schiebt mir das Übungsblatt zurück. »Das wird was in der Landesrunde.«

»Meinst du?«

»Aber hallo!«

Wir quatschen noch ein wenig, hierüber und darüber und kein bisschen über Josefine, und dann steht auf einmal der Zerhusen mit einem schwarzhaarigen Mädchen im Raum, Lale Erdem, wie er sagt. Und wiederholt noch mal alles, was wir schon wissen: Dass sie von der IGS ist, wie ich in die Siebte geht, zur Vorbereitung auf die Landesrunde bei uns mitmacht. Dann bittet er Kolja, sich zu Gregor zu setzen, damit Lale und ich zusammenarbeiten können, und zack, sitzt sie auch schon neben mir.

»Hallo, du bist also Malte«, sagt sie und lächelt mich breit an. Die Brackets an ihren Zähnen blitzen dabei genauso wie ihre dunklen Augen. »Ich hab gehört, du sollst richtig gut sein.«

Mein Gesicht wird heiß und in meinem Kopf gerät irgendwas durcheinander. Mir geht das zu schnell. Ich meine, ich wusste ja, dass das alles heute passieren würde, aber trotzdem. Wenn etwas plötzlich Wirklichkeit wird, ist es ganz anders, als man es sich vorgestellt hat. Vielleicht hab ich mir auch gar nichts vorgestellt, weiß nicht so genau, jedenfalls nicht die IGSlerin selbst, als richtige Person, oder dass sie mich einfach anquatschen und dabei so nett lächeln würde, und ich hab keine Ahnung, was ich sagen soll.

»Ich war voll überrascht, dass ich weitergekommen bin«, redet sie einfach weiter. »Eigentlich spiele ich ja Volleyball und hab die Olympiade nur so nebenbei mitgemacht.«

Das wurmt mich. Weil, die Matheolympiade ist normalerweise nichts für nebenbei, da reicht es nicht, wenn man ganz gut rechnen kann, sondern man muss richtig Ahnung haben. Und ich finde, das sollte diese Lale ruhig wissen, Nettigkeit hin oder her.

»In der Landesrunde kommt man damit nicht weit«, sage ich. »Da muss man schon ein bisschen ranklotzen, wenn man was erreichen will.«

»Deswegen bin ich ja hier«, gibt sie prompt zurück.

Was mich nun auch wieder wurmt. Denn wenn eine, die nur so nebenbei weitergekommen ist, richtig loslegt, kann da unter Umständen ganz schön viel bei rauskommen.

»Keine Sorge!«, sagt sie da und lächelt wieder von einem Ohr zum anderen. »Du bist bestimmt tausendmal besser als ich«, und im nächsten Moment kommt der Zerhusen zu uns und legt uns zwei Zettel auf den Tisch, und das bedeutet, dass ich erst mal nichts mehr sagen muss.

Die Zahlen kommen ja zum Glück ganz ohne das ganze Gerede aus. Die Zahlen brauchen nur sich selbst.

Als ich nach Hause komme, merke ich sofort, dass dicke Luft ist. Wie Mama die Tür aufreißt. Und ihr Gesicht – mit dieser steilen Falte zwischen den Augenbrauen. Papa ist um diese Zeit noch nicht von der Arbeit zurück, also muss irgendwas zwischen ihr und Josefine vorgefallen sein.

»Ich bin noch am übersetzen«, sagt sie, kaum dass ich einen Fuß im Haus hab. »Also sei bitte leise, okay?!« Ihre Stimme klingt scharf, und erst, als sie schon wieder halb in ihrem Arbeitszimmer verschwunden ist, kommt versöhnlich hinterher: »Hattest du einen guten Schultag?«

»Joah«, antworte ich unbestimmt, und es ist wohl auch schnuppe, was ich sage, weil Mama wahrscheinlich sowieso nicht zuhört.

»Schön«, sagt sie auch nur, »erzähl mir nachher davon«, und zieht die Zimmertür hinter sich zu.

Alles in allem ist das nicht gerade das, was ich gewöhnt bin. Wenn ich wegen des Matheclubs lange Schule hatte, hört sie normalerweise auf mit ihrer Arbeit oder macht zumindest eine Pause, und meistens setzen wir uns dann zusammen, trinken Kakao und unterhalten uns. Über den Matheclub und darüber, was ich sonst noch alles erlebt hab. Doch im Moment ist ja alles ungewöhnlich, und ich möchte nun wirklich wissen, was hier heute Nachmittag los war. Also stelle ich meinen Rucksack ab und gehe in den Keller runter. Hinter der Tür zu Josefines Zimmer ist es still, aber ich weiß genau, dass sie da ist.

»Josefine?«

Sie antwortet nicht. Trotzdem drücke ich die Klinke runter.

»Was willst du?«, blafft sie mir entgegen. Wieder sitzt sie auf der Schlafcouch und wieder hat sie ihren Laptop auf dem Schoß. Und nicht nur Mamas, sondern auch ihr Gesicht ist zerknautscht, die müssen echt aneinandergeraten sein.

»Hast du meine Mutter bei der Arbeit gestört?«, frage ich einfach zurück. Weil, dazu hab ich keine Lust. Dass andere sich streiten und mich dann anmotzen.

»Die stellt sich vielleicht an!« Josefine knallt den Laptopdeckel runter.