Fußabdrücke eines Fliegenden - Sven Hillenkamp - E-Book

Fußabdrücke eines Fliegenden E-Book

Sven Hillenkamp

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Beschreibung

Nach dem preisgekrönten »Das Ende der Liebe« legt Sven Hillenkamp erneut ein Buch vor, das sich allen Genres entzieht. »Fußabdrücke eines Fliegenden« vereint Erzählungen und Gedichte, Szenen und Bilder - oft nur von der Länge eines Witzes - zu einem poetischen Geflecht. Tiefgründiges Nachdenken über unsere Zeit in Kombination mit einem starken Sinn für die Möglichkeiten der Literatur - das zeichnet dieses Buch aus. Ein Fünfundzwanzigjähriger wird ins Altenheim eingewiesen. Der Pilot eines Flugzeugs stellt während des Landeanflugs fest, dass die Erde verschwunden ist. Auschwitz wird wiedereröffnet, weil alle Kunst über Auschwitz verharmlosend ist.   Hillenkamps literarisches Debüt Fußabdrücke eines Fliegenden ist ein Geflecht aus Geschichten, Lauf- und Standbildern. Komisch, düster, grotesk. Dem Schweren begegnet es mit Leichtigkeit, das Monolithische sprengt es in Stücke. »Gerade wenn das Schlimme überdeutlich verhandelt und in inneren Bildern nachvollzogen wird, ergibt sich eine temporäre Selbstheilung durch die tief inhalierte Sprache, durch den erlittenen und genossenen Stil, durch die rätselhaft schöne Wirkkraft gelingender Literatur.« Georg Klein, Laudatio auf Sven Hillenkamp zum Clemens-Brentano-Preis

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Seitenzahl: 106

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Sven Hillenkamp

Fußabdrücke eines Fliegenden

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Besuchen Sie uns im Internet: www.klett-cotta.de

Klett -Cotta

© 2012 by Sven Hillenkamp

Für die deutsche Ausgabe

© 2012 by J. G. Cotta‘sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

Unter Verwendung eines Bildes von Michaël Borremans

»The Advantage« 2001. 30 x 36 cm, oil on canvas.

Foto: Felix Tirry. Courtesy Zeno X Gallery, Antwerp

Datenkonvertierung: Koch, Neff & Volckmar GmbH, KN digital – die digitale Verlagsauslieferung Stuttgart

Printausgabe: ISBN 978-3-608-93964-4

E-Book: ISBN 978-3-608-10281-9

… wenn ich nach Dichterart eine Menge von nicht dahingehörenden Dingen mit aufnähme: Wohnstuben und Kleidungsstücke, schöne Gegenden, Angehörige und Freunde, so könnte aus dieser Geschichte eine ellenlange Novelle werden. Dazu habe ich jedoch keine Lust. Ich esse zwar Salat, aber ich esse immer nur das Herz.

SØREN KIERKEGAARD

Einst ging ein Träumer weit voran.

Jetzt gehn wie Uhren Fragen nach.

Nach dem kurzen Schlaf des Lebens

lieg ich als Toter lange wach.

Ich bin ich: in andern Fesseln.

Früh im Fieber, dann zu kalt.

Lieg auf meiner Sinne Nesseln.

Bin des Schiffes Aufenthalt.

Der Jüngre, er, sprach nur in Stürmen.

Worte trug die Luft wie Blätter.

Der Andre, ich, fand in der Flaute

endlich Laute, seinen Retter.

Doch alle Worte, die ich aufheb

am Ort des Schmerzes, bleiben Klagen.

Wörter müssen Wege machen

brauchen Stürme, die sie übertragen.

Sagen schweigen und Gestirne

beleuchten, ohne zu bedeuten.

Blumen, Wälder behalten ihre Bilder;

aus Meeren tönt kein Glockenläuten.

Warme Milch trank ich vor Jahren.

Dann kam des blöden Leides Scheide.

Ich bin ein schwerer harter Käse

den ich langsam nun in Stücke schneide.

NILS NYCANDER

DIE DINGE IM VORDERGRUND

Als Ola Lundgren einsam war, waren die Geräusche von der Straße unerträglich laut. Auf dem Boden lagen haufenweise Haar, Staub und Schmutz. Überall waren Spiegel, in die Ola blicken musste. Er konnte keine Bewegung machen, ohne dabei gesehen zu werden. Er hatte so viele Gedanken, dass kein Moment ohne Gedanken war, selbst wenn in der Dusche das Wasser kalt wurde, rissen die Gedanken nicht ab. Die Gedanken waren alle so bedeutend, dass Ola sie aussprechen musste. Der Blick aus dem Fenster zeigte eine unendliche Landschaft. Olas Blick verlor sich in Bäumen, Wasser und Himmel. Wenn Ola durch die Stadt ging, stand auf allem, was er sah, etwas geschrieben, und Ola las alles, was geschrieben stand, und hatte gleichzeitig sehr viele Gedanken, die davon abweichen wollten. Ihn schmerzten alle Widersprüche, die Widersprüche in der Kleidung der Menschen und in allem, was geschrieben stand. Überall waren Widersprüche. Auch in der Stadt lag überall Schmutz, furchtbarer Schmutz. Ola betrachtete den Schmutz auf den Bürgersteigen und in den Mauerecken sehr genau. Die Zeit machte den Anschein, als hätte man etwas aus ihr herausgenommen. Sie lag wie ein leerer Schweinedarm in Olas Hand. Viele Frauen hatten etwas, das Olas Vorstellungskraft erregte. Ola betrachtete das Haar der Frauen und merkte es sich genau. Er merkte sich auch ihre Kleidung, den Schmuck und die Schuhe und hatte gleichzeitig sehr viele Gedanken. Überall waren andere Menschen. Sie saßen in Cafés, gingen über die Bürgersteige und lagen auf den Wiesen. Die Menschen bildeten Kreise. Überall waren Kreise anderer Menschen. In den Kreisen wurde sehr viel gesagt und gab es einen schnellen Fluss der Bewegungen, den Ola betrachtete, und gleichzeitig hatte er sehr viele Gedanken. Er konnte sich vorstellen, in den Kreisen zu sein, das Haar der Frauen zu berühren, den Schmutz auf den Bürgersteigen in seinen Mund zu nehmen. Gleichzeitig las er, was auf der Kleidung und der Haut der Menschen geschrieben stand, auf den Wänden und den Schildern. Überall waren Widersprüche. Auch in den Gedanken, die Ola hatte, waren überall Widersprüche. Alles war sehr laut, sehr dicht und roch stark nach irgendetwas. Ola hatte sehr viele Gefühle. Er konnte nichts ansehen, ohne ein starkes Gefühl zu haben. Er empfand immerzu Wut und Lust und Angst und Ekel und große Langeweile. Die Welt bedeutete Ola sehr viel. Jeder Ausblick war unendlich. Olas Blick ging in den Horizont hinein und kehrte nicht zurück. Er ging in die Wolken hinein und kehrte nicht zurück. Er ging in die Blätter der Bäume und kehrte nicht zurück. Er ging ins Wasser und kehrte nicht zurück. Der Blick ging in die offenen Wunden der Menschen in der U-Bahn und kehrte nicht zurück. Die Schönheit der Natur war unendlich, wie der Schmutz, der sich auf den Straßen und in der Wohnung sammelte, wie die Wunden und die Gedanken, die Ola zu allem hatte, wie die Widersprüche. Ola drehte sich nach allem immerzu um. Sein Kopf war immerzu verdreht. Er sah zu den Seiten, nach unten und nach oben, niemals geradeaus. Er blieb oft stehen, um etwas sehr genau zu betrachten. Bei jeder Frau wusste er sofort, wie es wäre, mit ihr zu leben, in ihrer Wohnung zu sein. Er sah das ganze Leben mit der Frau direkt vor sich. Er wusste, wie es in der Küche aussah, im Wohnzimmer, im Schlafzimmer, auf dem Balkon. Er sah jede Einzelheit. Olas Gedanken gingen in dieses Leben und kehrten nicht zurück. Alles war unendlich. Es gab unendlich viel Ekelhaftes und Erregendes, Ängstigendes, zu Hassendes und sehr Langweiliges. Ola hatte sehr viele Gedanken und Gefühle. Sein Körper pochte und juckte immerzu, er roch und schmerzte. Olas Körper umgab ihn wie eine Landschaft. In welche Richtung Ola sich auch wendete, er stieß auf seinen Körper. Er kratzte den Körper, tastete ihn ab, roch an ihm, versuchte, ihn zufriedenzustellen, doch der Körper wollte keine Ruhe geben. Auch in der Stadt waren überall Spiegel, in die Ola blicken musste, er konnte keine Bewegung machen, ohne sich zu sehen, von sich gesehen zu werden. Es gab sehr viel und andererseits sehr wenig. Jemand hatte etwas aus der Zeit herausgenommen, und Andres war dafür in die Zeit hineingekommen und größer geworden. Es hatte einen Abfall des Zeitdrucks gegeben, daraufhin hatte sich alles ausgedehnt, die Gedanken, die Geräusche, das Erregende, die Widersprüche, die Ausblicke, die Natur, der Schmutz. Jemand hatte Vordergrund und Hintergrund vertauscht. Das, was im Vordergrund gewesen war, war jetzt im Hintergrund. Das heißt, es war ganz verschwunden, und das, was im Hintergrund gewesen war, war in den Vordergrund getreten, das Einzige geworden. Jemand hatte sehr viel aus der Zeit herausgenommen, und Andres war an dessen Stelle getreten, notgedrungen, denn die Zeit konnte nicht leer sein. Die Zeit war immer gleich voll, was auch geschah. Wenn man etwas herausnahm, wurde alles Andere größer. Der Schweinedarm der Zeit war prall gefüllt wie eh und je, aber es waren andere Dinge darin, Dinge, die vorher im Hintergrund und klein gewesen waren und die jetzt unheimlich groß im Vordergrund standen. Im Vordergrund standen nun all diese Dinge, und wenn Ola das Fenster schloss, wurden die Geräusche in der Wohnung unerträglich laut. Es war Schmutz in der Wohnung – haufenweise Schmutz.

DER RUHEPUNKT

Der Bruder hatte das Schlagzeug im Esszimmer aufgestellt, immer wieder sprang er vom Tisch auf und trommelte. Die Schwester, die durch das Trommeln in ihrem Bericht unterbrochen wurde, nannte das Verhalten des Bruders gemein und ignorant. Sie sagte: »Ge, ge, gemein u und i, i, ig, ig, ignorrrant.« Die Schwester hatte eine Sprach- und Gehbehinderung. Jeder Bericht, jede Bewegung der Schwester dauerten sehr lange, während alles, was der Bruder tat, sehr schnell ging. Nach dem Tod der Mutter waren Bruder und Schwester im Haus der Mutter wohnen geblieben. Seit vierzig Jahren teilten sie sich das Haus der Mutter in Björkvik und führten dort Krieg, bis, eines Tages, ein Freund in Björkvik zum Abendessen eingeladen war und bemerkte, dass der Hass, den der Bruder für die Schwester empfinde, ein Langsamkeitshass sei, der Hass, den die Schwester für den Bruder empfinde, ein Geschwindigkeitshass. Vermutlich sei die Schwester aus Bosheit in den vergangenen vierzig Jahren immer noch langsamer geworden, habe ihr Stottern und Schleichen kultiviert, während der Bruder aus Bosheit immer noch schneller geworden sei, sein Sprechen und Trommeln zur Unterbrechung der Schwester immer weiter beschleunigt habe. Um Aufmerksamkeit von der Schwester und anderen Anwesenden zu erhalten, habe der Bruder die Geschwindigkeit und Unterbrechung eingesetzt, die Aufmerksamkeit häufig kurz auf sich gezogen, dagegen habe die Schwester, um Aufmerksamkeit vom Bruder und Anderen zu erhalten, alles unvorstellbar langsam gemacht, in eine unmenschliche Länge gezogen. Beide ersehnten nur Aufmerksamkeit, bekämen aber das Gegenteil, was wiederum das Verhalten eskalieren lasse. Je mehr Aufmerksamkeit die beiden brauchten, umso weniger bekämen sie. Die Lösung, so der Freund, sei, den Bruder und die Schwester zu trennen und in getrennten Einrichtungen zu behandeln, den Bruder zu verlangsamen, die Schwester zu beschleunigen. Vielleicht könnten sie im Alter wieder im Haus der Mutter zusammengeführt werden, gesetzt, die Geschwindigkeiten hätten sich ausreichend angeglichen. – So geschah es. Nach dreißig Jahren waren, wie sich bei einer Begegnung auf neutralem Boden zeigte, die Schwester so beschleunigt, der Bruder so verlangsamt, dass zwischen beiden ein Gespräch möglich war. Gemeinsam mit den behandelnden Ärzten wurde der Rückzug ins Haus der Mutter beschlossen. Bruder und Schwester verstanden sich wie nie, lebten ihre letzte Zeit in Frieden und Zufriedenheit.

Nachschrift: Victor, der Erzähler dieser Geschichte, hat fünfzehn Jahre in dem Haus mit dem Bruder und der Schwester verbracht, es waren die Jahre seiner Kindheit. Nach dem plötzlichen Tod der Eltern hatten Bruder und Schwester das Kleinkind auf der Stelle bei sich aufgenommen. Der permanente Wechsel der Geschwindigkeiten, vom Extremschnellen zum Extremlangsamen und vom Extremlangsamen zum Extremschnellen, beziehungsweise die Gleichzeitigkeit der beiden extrem unterschiedlichen, entgegengesetzten Geschwindigkeiten, führte dazu, dass Victor zwei Persönlichkeiten ausbildete, eine extrem schnelle und eine extrem langsame, und schließlich, schubweise, sich von seinem Körper und seinem Geist löste, sowohl den langsamen als auch den schnellen Körper verließ, sowohl den langsamen als auch den schnellen Geist, und die Welt aus sehr großer Entfernung betrachtete, von einem lebensrettenden Ruhepunkt.

DIE TAT

Nach fünfzehn Jahren drehte Otto Hermansson den Toaster um. Der Griff, der zum Versenken der Brote in den Toaster diente, war auf der tischabgewandten Seite gewesen, so dass Hermansson jedes Mal, wenn er toasten wollte, seinen Stuhl zurückschieben, aufstehen, sich vornüberbeugen und über den Tisch legen musste. Er hatte den Toaster damals, in den Tagen nach seinem Umzug, einfach so hingestellt. In den folgenden fünfzehn Jahren war sein Leben so beschaffen gewesen, dass ein Umdrehen des Toasters unmöglich gewesen war. Hermansson hatte in diesen fünfzehn Jahren pausenlos über sein Unglück nachgedacht, war in dem Unglück in sich selbst zusammengesunken gewesen und aufgestanden nur, um sich vornüberzubeugen, über den Tisch zu legen und zu toasten. Es hatte ihm die Kraft gefehlt, den Toaster umzudrehen. Vielmehr, das Nachdenken über sein Unglück hatte ein Nachdenken über den Toaster ausgeschlossen, ein Unglücksgedanke reihte sich an den andern und führte zu dem nächsten Unglücksgedanken, nie hätte dazwischen ein Gedanke an den Toaster aufkommen können. Doch an diesem Tag dachte Hermansson plötzlich: »Ich drehe den Toaster um.« Und wie er noch den Satz »Ich drehe den Toaster um« gedacht hatte, hatte er den Toaster schon umgedreht. Er hatte sich ein letztes Mal vornübergebeugt und über den Tisch gelegt, nicht um zu toasten, wie in den vergangenen fünfzehn Unglücksjahren, sondern um den Toaster umzudrehen. Es war nur ein Gedanke gewesen, ein Satz, eine Körper- und Handbewegung. In den folgenden drei Stunden räumte Hermansson die gesamte Wohnung um, verschob die Pflanze im Flur, um die er jedes Mal, wenn er durch den Flur ging, in einem Bogen hatte ausweichen müssen, so dass er nun gerade, mit Schwung durch den Flur gehen konnte. Er hängte die Deckenlampe im Schlafzimmer ein gutes Stück höher, so dass er nicht mehr gebückt durchs Schlafzimmer gehen musste. Er leerte die große Kommode, legte die Bettwäsche, die bisher in den oberen Schubladen gelegen hatte, in die unteren, die Unterwäsche, die bisher in den unteren Schubladen gelegen hatte, in die oberen, so dass er nicht jeden Morgen auf der Suche nach Unterwäsche auf dem Boden knien musste. Hermansson sah ein, dass die gesamte Einrichtung der Wohnung in den vergangenen fünfzehn Jahren eine Einrichtung zu seiner Behinderung und Erniedrigung gewesen war. Er war der Meinung, dass er nun alles würde ändern können. Er sagte: »Hätte ich in den fünfzehn unglücklichen Jahren nur geahnt, dass ich den Toaster umdrehen kann, wären es keine fünfzehn unglücklichen Jahre gewesen. Ich habe es aber nicht geahnt, das ist eben das Eigentümliche dieser Jahre gewesen.«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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