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Sven Hillenkamp erzählt von den Möglichkeiten der Liebe, des Sex, der Partnerwahl, der Ausbildung, der beruflichen und seelischen Selbstentwicklung, der Körpermanipulation, des Erfolgs, der Berühmtheit. Er erzählt von einer Welt, in der die Menschen sich permanent sehnen müssen, weil sie meinen, dass sie immer noch etwas Besseres erreichen könnten. Dies ist kein Sachbuch, denn es bleibt nicht sachlich. Es ist ein Buch, das maßlos übertreibt - über eine Wirklichkeit, die maßlos übertreibt. Es ist das expressionistische Gemälde einer Welt, die aus den Fugen geraten ist, die keine Grenzen mehr kennt, in der unendliche Freiheit umkippt in Zwang, unbegrenzte Möglichkeiten in die große Unmöglichkeit der Liebe. Am Ende steht, so der überraschende Befund, die Rückkehr zur Vernunftehe.
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Seitenzahl: 375
Sven Hillenkamp
DAS
GEFÜHLE
ENDE
IM ZEITALTER
DER
UNENDLICHER FREIHEIT
LIEBE
Klett-Cotta
Klett-Cotta Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Besuchen Sie uns im Internet: www.klett-cotta.de Klett-Cotta © 2009/2010 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart Alle Rechte vorbehalten Cover: sans-serif, Berlin unter Verwendung des Bildes »Stadion 7/I«-06 von Ralph Fleck © © VG Bild-Kunst, Bonn 2009 Printausgabe: ISBN 978-3-608-94608-6 E-Book: ISBN 978-3-608-10133-1
Stets befürchte ich, dass ich nur die Wahrheit niedergeschrieben habe, wo ich Seufzer aufzuzeichnen wähnte.
[7]INHALT
Vorrede Die große Übertreibung
Teil I – Die freien Menschen und die Nichtliebe
Eins Geschichten und Visionen
Zwei Das Zeitalter der unendlichen Freiheit
Drei Gefühle, Gedanken der Nichtliebe
Teil II – Die Unendlichkeit möglicher Partner
Vier Wie Unendlichkeit entsteht
Fünf Unbegrenztes Ich, enttäuschendes Du
Teil III – Was die Liebe in der Freiheit sein soll
Sechs Die Suche nach dem Meist-Erregenden
Sieben Die Suche nach dem Passenden
Acht Was die Menschen von der Liebe denken
Schluss des Buches (nicht jedoch der Suche)
Neun Die Rückkehr der Vernunftehe
Epilog Der kleine Sprung
Nachweise
Informationen über den Autor
[9]VORREDE
DIE GROSSE ÜBERTREIBUNG
Einem Soziologen wurde einmal vorgeworfen, er schildere die Gesellschaft aus Sicht eines Neurotikers, also maßlos übertrieben.
Der Soziologe sagte: »Es ist erwiesen, dass alle Menschen neurotisch sind. Also ist die neurotische Sicht die gewöhnliche, die übertriebene die objektive. Schon wenn ein Mensch die Farbe Rot wahrnimmt, nimmt er eine Übertreibung von Rot wahr. Sogenannte Objektivität käme also einer Untertreibung gleich, die kaum ein Mensch nachvollziehen könnte. Warum sollte ich Menschliches mit den Mitteln der Physik beschreiben?«
In dem Sinne ist auch dieses Buch ein wahrhaft objektives, also übertriebenes.
Das Phänomen, das dieses Buch erforscht, ist aber auch an sich eine Übertreibung. Es ist das Übel einer unendlich gewordenen Freiheit, unendlichen Auswahl in jedem Bereich, unbegrenzter Möglichkeiten – also einer gesellschaftlichen Übertreibung, die alles Menschliche ins Unendliche steigert und damit ins Unmenschliche.
Eine Folge, die erste und einschneidendste, ist das Ende der Liebe. Es ist die Tragödie zweier Geschwister. Die Liebe war eine Schwester der Freiheit. Nun reißt die Freiheit sie mit in den Tod.
[10]Die Zwänge, die aus der Freiheit sich ergeben, haben andere benannt. Sie sind Gegenstand von Reportage und Polemik. Die Feststellung unbegrenzter Möglichkeiten ist daher nicht Zweck des Buches, sondern sein Ausgangspunkt. Es zeigt die Zwänge der Freiheit in Reinform, mit allen Konsequenzen. Es rechnet sie hoch, spielt sie durch, lässt ihrer Logik freien Lauf, offenbart ihren Charakter in der Extremsituation totaler Verwirklichung.
Das romanhafte Verfahren des Durchspielens und Hochrechnens wird jedoch stets eingeholt von der Wirklichkeit. Denn die freien Menschen wollen ja tatsächlich ihr Selbst in Reinform erfahren, ihr Leben bis zur letzten Konsequenz leben. Das Buch, das maßlos übertreibt, beschreibt eine Welt, die maßlos übertreibt.
Die Menschen, die schon heute nicht mehr lieben, sind von unbekannter Zahl. Doch hier geht es nicht um Zahlen. Es geht um eine Erfahrung. Diese Erfahrung ist typisch für die Zeit. Wenn es einen einzigen Satz gibt, der die heutigen Menschen charakterisiert, so ist es der Satz: »Ich liebe nicht.«
Das Bild, das jemand sich von der Zukunft macht, zum Beispiel vom Ende der Liebe, ist in Wahrheit ein Bild der Gegenwart – ein Bild, das nur das Typische einer Zeit zeigt, ungemischt, bar aller Vergangenheitsrelikte. Die Gegenwart ist wie Metall im Sand eines Flusses, mit bloßem Auge zuweilen schwer sichtbar, gemischt unter die Sedimente der Zeit. Sie ist in ihr selbst nur ein Teil, ein Anfang.
Der Autor, der, historisch und literarisch, maßlos übertreibt, sitzt in Wahrheit am Fluss der Zeit und siebt die Gegenwart heraus.
Viele leben in dieser Gegenwart, der Welt unendlicher Freiheit – und kein Weg, kein Beschluss führen sie aus dieser [11]Welt heraus. Man entkommt der Freiheit nicht, in keine Nische, kein Exil. Auch eine Partnerschaft bleibt – wie die Verehrung eines Gottes, eines Führers – eine freiwillig betretene Unfreiheit, also innerhalb der Freiheit. Die Menschen können mit keinem Schwur, keinem Schritt ihrer Freiheit entfliehen. Sie können den Möglichkeiten nicht entfliehen, die die Liebe unmöglich machen.
Wer dem Druck einer autoritären Gesellschaft nachgibt, passt sich an. Wer dem Druck einer freien Gesellschaft nachgibt – nachgeben muss –, wird zum Extremisten. Darum sind die Extremisten in der Freiheit der Durchschnitt: die Marathonläufer und Weltumsegler, die Künstler und Kandidaten, die Don Juans und Donna Juanas, die Swinger und Sadomasochisten, die Aufsteiger und Aussteiger, die Einwanderer und Auswanderer, die Esssüchtigen und Arbeitssüchtigen, die Körperveränderer und Seelenheiler, die Isolationisten und Exhibitionisten, Totalfitte und -kaputte, Terroristen und Amokläufer, Kriegsreporter und Katastrophenhelfer.
Das will nichts über die moralische Qualität des jeweiligen Extremismus sagen; derselbe kann gut oder schlecht sein. Es besagt nur, was Extremismus heute nicht mehr ist: Er ist kein Widerstand mehr. Extremismus ist Anpassung an die Freiheit.
Die Unmöglichkeit der Liebe entsteht nicht in einer kalten, lieblosen Gesellschaft, sondern – umgekehrt – aus einem Liebesextremismus.
Die Menschen, die nie lieben, sind Menschen, die tatsächlich immer lieben – in jeder Sekunde, mit jedem Blick einen Anderen. »Ich liebe«, das heißt jetzt: »Ich liebe nicht«. Aus Möglichkeiten und immer noch mehr Möglichkeiten wird Unmöglichkeit. »Ich habe alle Möglichkeiten«, das heißt jetzt: »Ich habe keine«.
[12]Aus dem totalen Markt wird das Verschwinden des Marktes. Aus der Romantik wird nun, da es unbegrenzte romantische Möglichkeiten gibt, ein Romantikfanatismus.
Das Äußere, Gesellschaftliche nehmen die Menschen als Inneres, Psychisches wahr. Das unbegrenzte Eigene tritt ihnen als Fremdes entgegen, ihr Selbst als ein Anderer. Die Menschen werden von ihrem eigenen Willen terrorisiert und bezwungen. Aus Freiheit und immer noch mehr Freiheit wird Zwang. So stürzen die Worte in ihr Gegenteil. Nichts bedeutet mehr, was es einst bedeutet hat.
Wenn Gedanken und Geschichten in diesem Buch sich oftmals aneinanderfügen wie die Szenen eines Films – ohne das Gesagte nochmals zusammenzufassen, den Sinn des jeweiligen Teils für das Ganze zu erklären –, so darum, weil der Lesende Mensch bleiben soll, Erfahrender, nicht mutieren soll zum Allwissenden, Abgeklärten. Auch ein Chaos macht noch einen ordentlichen Eindruck, wenn man nur weit genug davon entfernt ist. Dann ist auch ein Weltuntergang ein liebliches Schauspiel. Statt dessen sei der Lesende hier aufgefordert, die Welt der Nichtliebe zu Fuß zu durchqueren, von einem der hier ausgelegten Steine auf den anderen zu springen, mitten durch den Fluss der Gedanken.
Dabei wird er sich allein verlassen müssen auf jene unscheinbaren Wörter, die Sätze verbinden (und die zwischen Gefühlen leider fehlen, weshalb Gefühle oft so schwer verständlich sind): ein Infolgedessen, ein Denn oder Weil, ein Und oder Also.
Wenn das Buch also die durchnummerierte Klarheit der Wissenschaft vermissen lässt, so ist das der Methode zuzuschreiben, nicht dem Willen, rätselhaft, also tief zu erscheinen. Unverständlichkeit, so heißt es, ist ein Vorrecht Gottes.
[13]In Teil eins des Buches werden Nichtliebesgeschichten erzählt. Es wird berichtet von dem neuen Zeitalter, in dem die Freiheit unendlich wird und umkippt in Zwang; und es werden die Gefühle der freien, also immerzu gezwungenen Menschen beschrieben. Teil zwei untersucht, wie eine Unendlichkeit möglicher Partner entstehen konnte und wie die Menschen mit dieser Unendlichkeit umgehen, vielmehr: nicht umgehen können. In Teil drei wird berichtet, welche Erwartungen die freien Menschen an die Liebe und an einen Geliebten haben – und warum diese Erwartungen sich nicht erfüllen können. Das Schlusskapitel handelt davon, wie die unendliche Liebessuche und das Leben in einer unendlichen Freiheit zwangsläufig münden in die Rückkehr der Vernunftehe.
Im Epilog scheint eine Hoffnung auf: wie die freien Menschen sich der großen Übertreibung durch einen kleinen Sprung entziehen.
[15]TEIL I
DIE FREIEN MENSCHEN UND DIE NICHTLIEBE
[17]EINS
GESCHICHTEN UND VISIONEN
Das erste Kapitel: in dem die Unmöglichkeit der Liebe nur behauptet und von dieser nur erzählt wird, noch ohne Angabe von Gründen; in dem das Aussterben der Liebe angekündigt wird zu einer Zeit, da die Bedingungen der Liebe die besten aller Zeiten sind; in dem die Nichtliebe als eine Geisteskrankheit beschrieben wird, deren Träger sich nicht durch Irrsinn, sondern durch einen ausgeprägten Wirklichkeitssinn auszeichnen; in dem von einer Stadt erzählt wird, in der die Menschen aufeinander zu fallen, als liege die Stadt auf einer Senkrechten; in dem von Menschen erzählt wird, die trotz einer Partnerschaft weiter nach einem Partner suchen; die immer bis ans Ende ihrer Möglichkeiten gehen; in dem von einer Frau erzählt wird, die ihre »sexuelle Autobiografie« geschrieben hat, von einem jungen Mann, der bereits seine Kapazität erschöpft hat; und von einer nicht mehr ganz so jungen Frau, die ein Mann enttäuscht, weil er nicht weiß, wie der Regisseur Fassbinder mit Vornamen heißt
[18]Man stelle sich vor!
Die Liebe stirbt aus. Sie verschwindet wie Absolutismus und Sowjetsozialismus, wie die Ohnmachtsanfälle der Frauen, die Hysterie der Massen, das Unbehagen in der Kultur. Mehr noch als andere Phänomene wird die Liebe sich als historisch erweisen. Als Besonderheit, die mit ihren Bedingungen kommt und geht.
Die Liebe wird wieder sein, was sie einst war. Ausnahme, Seltenheit. Die Liebenden werden wieder, wie Millionäre oder Rollstuhlfahrer, zu einer kleinen Minderheit. Die Mehrheit wird die Ekstasen und Tragödien der Liebe in Filmen und Romanen verfolgen wie die Mehrheit des Theaterpublikums einst, im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert, die Liebe auf der Bühne. Tief berührt, doch ahnungslos.
Ein Mann lebt seit drei Jahren mit einer Frau zusammen. Sie haben sich kennen gelernt über eine Internetseite, die der Partnersuche dient. Die Frau ist achtundzwanzig, der Mann vierunddreißig. Eines Tages fällt der Frau ein, dass ihr Profil noch im Internet steht: zwei Fotos und der Text, den sie über sich und ihre Erwartungen an eine Partnerschaft geschrieben hatte. Die Frau geht online. Als sie die Fotos sieht, aufgenommen während einer Reise durch Vietnam, hat sie das Gefühl, zwischen der Person auf den Fotos und ihr liege eine Ewigkeit. In diesen drei Jahren, denkt sie, sei sie erwachsen geworden.
Sie sucht nach seinem Profil, lacht, als sie die Fotos sieht. Er hat noch kein graues Haar, die Augen sind groß und traurig, wie die eines Kindes, das man in der Fußgängerzone hat stehen lassen. Dann sieht sie den kleinen Sendemast, der rechts oben auf der Seite blinkt.
Als er nach Hause kommt, hat sie alle Entscheidungen getroffen. Er sagt, es sei nur ein Spiel gewesen, ein Zeitvertreib. [19]Er habe sich nie mit jemandem verabredet. Er habe nur die Nachrichten gelesen, nicht einmal geantwortet. Doch sie weiß, dass er, während der drei Jahre, die sie ein Paar gewesen sind (sie haben über Kinder gesprochen, den Kauf einer Wohnung, den Umzug in eine andere Stadt), weiter gesucht hat. Sie sagt: »Du hast weiter gesucht.« Als sei auch ihre Beziehung, ihre Liebe das Ergebnis einer Suche gewesen.
Sie sagt: »Während ich mit dir geredet habe, während ich dich geküsst habe, warst du gar nicht da. Ich habe drei Jahre mit einem Hologramm geredet. Du warst die ganze Zeit über an einem anderen Ort, in einer anderen Zeit. Ich bin ein Versuch für dich gewesen, nicht einmal das, ein Provisorium. Du hast dich in meiner Liebe, in unserem Leben aufgehalten wie in einem Wartezimmer.« Er streitet es ab. Doch irgendwann sagt er in die Stille: »Da war eine Sehnsucht, nach einer Frau… Ich weiß es auch nicht.«
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